vonfini 22.12.2025

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

Mehr über diesen Blog

Liebe Nena,

dies ist eher eine kleine Zwischennotiz und weniger einer meiner üblichen Briefe – ich gehe deswegen auf Deinen 12. Brief beim nächsten Mal ein. Es ist vor Weihnachten 2025 und ich sehe plötzlich wieder etwas, das mir gefällt. Ich möchte mir eigentlich nicht nachsagen lassen, gerade zu Weihnachten so etwas wie „Hoffnung“ zu verbreiten, möchte es aber auch nicht verschweigen, nur weil es nicht in meine sonstige Lesart der Realität passt. Was ich in dieser Vorweihnachtszeit sehe und wahrnehme, ist soziale Tension. Das ist nicht besonders außergewöhnlich eigentlich zu dieser Jahreszeit, weil die meisten Menschen mit ihren familiären, christlichen, endjährlichen oder sonstigen Emotionen überfordert sind – und das alle gleichzeitig. Wir schrieben schon darüber, dass im Laufe diesen Jahres wirklich niemand um uns herum mehr Glück oder Leichtigkeit empfand (abseits rauschiger Zustände und glücklicher Momente). Laut Caspar steigt der Druck schon seit 2011 – 15 Jahre später und es hat sich zwar niemand zurückgeholt, was ihr*ihm gehörte, aber der Druck steigt immer noch. Weihnachten scheint mir in diesem Jahr ein noch stärkerer gesellschaftlicher Katalysator als sonst schon. Ich kann derzeit in der Region, in der ich wohne, keinen ÖPNV zu benutzen oder in die Innenstadt gehen, ohne dass mindestens eine Person richtig ausrastet oder sich Menschen mindestens anpöbeln. Überall ist Spannung in der Luft, jede kleinste soziale Ungereimtheit, jedes Gefühl der persönlichen Benachteiligung führt zur Explosion. Aus den Büros höre ich, dass Mitarbeitende für sie völlig untypische Kämpfe kämpfen und sich auf einmal übermäßig für die Schicksale von Kolleg*innen interessieren. Ich sah Männer am Schreibtisch weinen, unfähig, den Vorgaben der Vorgesetzten oder des Marktes zu entsprechen und gleichzeitig unfähig, dem Druck etwas entgegenzusetzen. Auch aus den Familien höre ich ähnliches: Mehr oder weniger große Kinder, die sich weigern, die Normen fürs Miteinander undiskutiert zu tradieren und in Auseinandersetzung um das gehen, was ihnen bald gehören wird. Die entsprechenden Eltern verstehen die Welt nicht mehr: „Das ist jetzt aber auch bisschen übertrieben.“.

Wie immer, wenn ich mich in die Kassandra-Rolle fallen lasse („Denn ich lebte weiter, um zu sehen und zog Lust – Lust nicht Hoffnung – aus dem, was ich sah“ – Kassandra Wolf diesdas), spreche ich gerne random Menschen auf ihr Erleben an. In diesem Falle, war das Erleben der Befragten meinem sehr ähnlich. Wenn wir uns die 90er und 2000er mit ihren Zukunftsversprechen anschauen und der damit einhergehenden politischen Lethargie, gefällt mir der Gedanke, dass einem „Alles zerfällt“ von Ökonomie und Umwelt auch tatsächlich ein soziales Aufbrechen dieser alten Steifigkeit einhergeht. Erhöht man den Druck auf eine Substanz, dann versucht sie zu entweichen und zu entkommen, spätestens indem sie auseinander fällt. Egal welche Formen der sozialen Angepasstheit, Individuen in den 90ern und 2000ern die Möglichkeit gegeben haben, dem steigenden ökonomischen und ökologischen Druck auszuweichen, langsam kommt er auch bei diesen an. Und dabei haben sich die Individuen so verbogen, ihre Körper geknechtet und ihr eigenes Realitätsempfinden ruiniert, dass sie fassungslos davor stehen, wenn ihnen diese Stabilität nun zwischen den Fingern zerrinnt. Da kann man schon mal wütend werden. Das allgemeine Gewaltpotential ist im Laufe des ganzen Jahres gefühlt immer weiter angestiegen, aber gerade in den letzten Wochen hatte ich immer wieder das Gefühl, dass es in verschiedenen Menschen einen großen inneren Aufschrei gab: „Es reicht! Mehr halte ich nicht aus!“. Sachlich hat uns die Geschichte gelehrt, dass Menschen eine Menge aushalten. Aber wofür? Verliert ein Mensch den eigenen Sinn, unabhängig davon was für einer es war (Glaube, Liebe, Familie, Reichtum, Schönheit, Kommunismus…), verliert sie auch die Motivation, etwas dafür auszuhalten oder durchzustehen. Resilienz braucht eine Art inneres „WHY“. Wenn die oben genannten Sinn-Möhren also nach und nach abgekaut sind, tritt der Esel unkalkulierbar aus, wenn man sich mit der Peitsche nähert.

Menschen sind da noch etwas interessanter als Esel, weil sie nicht nur unkalkulierbar austreten, sondern sich die eigenen Moralvorstellungen durch das Gebrösel der gesellschaftlich vorgegebenen und gewohnten Moralvorgaben drängen. Das, was ich sehe, sind nicht nur überschäumende Wut, sondern das „Es reicht!“ wird ergänzt durch ein: „Das ist nicht richtig so!“. Wer meine Texte kennt, weiß, ich halte nicht viel von Moral – unter anderem wegen der fehlenden Begründbarkeit. Zerfällt die gesellschaftliche Ordnung und Sicherheit, die eine Moral hervorgebracht hat, kippt auch die Moral. Zurück bleiben ungeschulte Einzelinteressen, die sich in individuellen moralischen Gefühlen oder subkulturellen Moralkodizes etablieren. Was für die einen dann direkt das Schreckensszenario eines moralischen Relativismus aufmacht, kann man auch lesen als Möglichkeit der spontanen Selbstorganisation von Individuen – eine neue moralische Organisation innerhalb eines Individuums sowie in seiner direkten Umgebung. Es gibt in der Philosophie dazu einen recht unterhaltsamen Vergleich zwischen Moral und Kunst: Man kann beides nur schwer definieren, aber anwenden – der Gedanke geht auf Wittgenstein zurück. Das bedeutet, wenn man eine Person losschicken und ihr auftragen würde, „Kunst aus einem Raum voller Dinge zu holen“, dann wird sie mit „Kunst“ zurück kommen. Genauso soll es sich nach der Philosophin Iris Murdoch mit der Moral verhalten: Auch im unübersichtlichsten Einzelfall kommen Menschen häufig mit „Moral“ an, denn auch eine moralische Erkenntnis ist eine Frage des „Sehens“ (meint bei ihr: Wahrnehmung) und nicht des Regelwissens. Der Kunsttheoretiker Nelson Goodman unterstellt dem ursprünglichen Gedanken zur Kunst von Wittgenstein, dass dieser naiv wäre, weil auch die direkte Wahrnehmung eines Menschen schon von Regelwissen und Theorie durchzogen sei. Das würde übertragen auf die Frage nach dem Moral bedeuten: Man hat irgendwann mal gelernt, was Mama, Papa, Oma, Opa, Schwester, Schulkamerad*innen, Lehrer*innen, die Polizei, beliebige Idenfitikationsfiguren usw. für gut oder schlecht halten und dieses implizite Wissen nimmt einen Einfluss darauf, was wir überhaupt als „gut“ oder „falsch“ wahrnehmen. Mit Goodman würde man also dieses spontane Aufbrechen von individuellen moralischen Gefühlen als Rückfall in irgendwann gelernte moralische Maßstäbe werten. In der Postmoderne ist allerdings die Variation beliebig weit zwischen den Moralvorstellungen, die ein Mensch im Laufe ihres Lebens so lernt. Sie wechseln quasi mit jedem Moment, in dem eine soziale Schicht, eine Altersstruktur, ein Arbeitsplatz, ein Kulturort, einen Staat usw. gewechselt wird. Soll heißen: Es gibt keine sonderlich einheitlichen Moralvorstellungen mehr und postmoderne Individuen sind vor allem darin geschult, sich möglichst schnell anzupassen.

Wie immer mit der Moralphilosophie: Könnte so sein oder könnte aber auch anders sein. Aber ich habe ich den Eindruck momentan genau diese Aushandlungen wahrzunehmen. Die ersten Menschen platzen unter dem Druck. Dadurch passiert nicht viel, die Maschine hält nicht zwangsläufig an, nur weil ein paar Menschen platzen, es gibt ja erst mal noch genug Nachschub. Aber langsamer wird sie dennoch und ihre Prozesse fangen an zu stocken, was den Druck an anderen Stellen immer weiter erhöht. Gleichzeitig brechen in den platzenden Menschen moralische Gefühle durch den Morast von Tradition, Erziehung und Popkultur. Es bleibt also spannend. Ich hoffe, unser Popcorn reicht, um zu erleben, wie es weitergeht. Die Frage ist und bleibt: Lässt sich Druck beliebig steigern?

Eigene Moralvorstellungen

Merry crisis meine Liebe,

liebst Fin

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/finiskleinerlieferservice/2025/12/22/der-druck-steigt/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert