vonromybornscheuer 05.08.2020

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Angst, pure Angst, lässt sie auf die Straße gehen. Anlass: ihre Asylanträge sind von der griechischen Regierung negativ beschieden worden, nun droht ihnen ganz aktuell die Abschiebung in die Türkei. Die friedliche Demonstration wurde von der griechischen Polizei gewaltsam aufgelöst; Sie verletzten ein Mädchen am Fußgelenk und schlagen einer schwangeren Frau in den Bauch. Wir treffen eine der Familien wenige Tage nach den Protesten im Flüchtlingscamp Moria und wollen erfahren, was Menschenrechte und das Recht auf freie Meinungsäußerung der EU wirklich bedeuten.

Es ist ein schwülwarmer Tag, Fliegen schwirren über Müll und Hundekot. Zelt reiht sich an Zelt in Moria, Europas größtem Flüchtlingscamp. Das „syrische Viertel“ ist eine umzäunte Zeltansammlung. Strom gibt es, wenn überhaupt, nur für zwei Stunden täglich und die Toiletten sind einfache Dixi-Klos, die von hunderte Menschen geteilt werden müssen. Das Camp liegt an einem Hang, Trampelpfade schlängeln sich zwischen den Zelten den Berg hinauf.

Eine Freundin der Familie begrüßt uns. Wir betreten ihre einfache Behausung. „Willkommen, meine Freunde“ sagt sie und wir setzen uns gemeinsam auf eine Matratze, die auf dem Boden liegt. Die Matratze teilen sich das Ehepaar Raaed und Dalia mit ihren sechs Kindern nachts, doch meistens könnten sie sowieso nicht schlafen, erzählt Dalia. Es sei zu warm, zu laut und zu gefährlich. Seit sieben Monaten lebe die Familie hier. Täglich müssten sie stundenlang anstehen, allein um Essen zu holen. Nur eine Flasche Wasser erhielten sie es pro Tag und Kopf. Ihre jüngste Tochter krabbelt ihr auf den Schoß: „Schaut euch an, wie wir leben. Meine Kinder haben nicht mal Kleidung.“

„Willkommen, meine Freunde“

Zu unserer großen Überraschung spricht Raaed Deutsch: „Ich habe zwei Jahre in Frankfurt gelebt und in Darmstadt als Mechatroniker gearbeitet.“ Auf die Frage hin, warum er nicht mehr in Deutschland sei, erzählt er uns, dass ihm der Familiennachzug verwehrt wurde: „Ich liebe meine Frau und meine Kinder. Sie waren in großer Gefahr, ich musste zurück nach Syrien, um sie zu beschützen.“ Und so beschloss er, freiwillig zurück zu kehren. Gemeinsam mit seiner Familie nahm Raaed die gefährliche Flucht gezwungenermaßen ein zweites Mal auf sich. Erneut musste er sich in die Hände von Menschenhändlern begeben, alles zurücklassen und die Überfahrt über das Meer wagen.

Doch die Stimmung in der EU ist seit seiner ersten Flucht gekippt: rechtsextreme Parteien gewinnen an Einfluss, Asylverfahren werden verschleppt und die Probleme auf die griechischen Inseln ausgelagert, weit weg von der Öffentlichkeit, hinter den Zäunen und Mauern der Camps. Und so wird der erste Asylantrag von Raaed und seiner Familie abgehlehnt. Die Begründung: Die Türkei sei ein sicheres Land für syrische Flüchtlinge.

Asylverfahren werden verschleppt

Internationale Organisation wie Amnesty International beklagen seit Langem die unmenschlichen Bedingungen in der Türkei, berichten von Ausbeutung, Folter und Misshandlungen. Und gleichzeitig ist die Türkei das Land weltweit, das mit Abstand die meisten Geflüchteten aufnimmt. Zum Teil wird Asylanten mit Gewalt gedroht, wenn sie die Dokumente über ihre angeblich „freiwillige Rückkehr“ nicht unterschreiben wollen.

Raaed und Dalia legen Widerspruch gegen den Asylbescheid ein: eine Rückkehr in die Türkei oder Syrien ist keine Option für sie. Geflüchteten wird die Möglichkeit geben, dies einmal zu tun, bei einem zweiten negativen Bescheid ist kein weiterer Widerspruch mehr möglich, sondern nur ein neuer Antrag und dies auch nur, wenn neue Fluchtgründe vorliegen. Das Problem dabei: Die Anträge von Syrern werden inzwischen kategorisch abgelehnt. Die Begründung ist immer die Gleiche: die Türkei sei sicher. So wird auch die die Ablehnung im Fall der Familie von Raaed begründet. Nur zwei syrische Familien haben dieses Jahr Asyl erhalten, in 1.400 Fällen wurden negative Bescheide ausgehändigt.

Vor einigen Tagen erhielt auch die Familie von Raaed den zweiten und damit letzten negativen Bescheid. Doch Raaed kennt seine Rechte, er weiß, dass die EU hier ihr eigenes Recht auf Asyl bricht. Er mobilisiert 14 weitere Familien und gemeinsam entschließen sie sich, friedlich zu protestieren.

Türkei angeblich sicher

Am 14. Juli versammeln sie sich am Hafen in Mytilene, der größten Stadt auf der Insel. Sie fordern ihre Weiterreise nach Athen. Seine sechs Kinder, sowie Dalia, sind bei ihm. Sie ist im achten Monat schwanger. „Freiheit“ steht auf der Brust ihres Sohnes. Sie alle sitzen am Straßenrand, friedlich und in der Hoffnung, dass jemand kommen wird und ihnen zuhört. Doch es kommt ganz anderes: Die Polizei greift zu Schlagstöcken und beginnt die Gruppe auseinander zu treiben. Plötzlich hört man Schreie – die Polizei schlägt auf Raaed ein. Dalia eilt ihrem Mann zur Hilfe und die Polizei schlägt der schwangeren Frau in den Bauch.

Ein syrisches Kleinkind beginnt zu schreien und wird ebenfalls Opfer Polizeigewalt. Eine weitere Familie wird angegriffen, die Menschen gezwungen den Hafen zu verlassen.
Später versammeln sich die Familien erneut am Saphos Square in der Innenstadt, doch die Polizei greift wieder ein und zwingt die Menschen ihren Protest aufzulösen – „Illegale hätten kein Recht zu protestieren“. Die Familien werden in einen Bus verfrachtet und nach Moria zurückgebracht.

Wir fragen die Familie, ob sie ärztlich betreut wurden und wie es der schwangeren Dalia gehe. Raaed lächelt milde: „Wenn man einen Arzt sehen möchte, muss man über Stunden hinweg in der Sonne anstehen. Riesige Menschenmassen versuchen jeden Tag bei den wenigen Ärzten einen Termin zu ergattern. Wenn man davor nicht krank war, ist man es spätestens danach.“

Kleinkinder werden Opfer von Polizeigewalt

Dalias Geburtstermin steht kurz bevor und sie erklärt uns: „Ich hoffe sehr, dass ich im Krankenhaus mein Kind zur Welt bringen kann. Aber oft kommt der Krankenwagen nicht. Und wenn ich dann im Krankenhaus bin, dann muss mein Mann sich entscheiden, ob er mich oder die Kinder alleine lässt. Kinder sind im Krankenhaus nicht erlaubt. Aber eine Betreuung für Kinder gibt es in Moria nicht.“

Wir sind von Raaed, Dalia und ihren Kindern beeindruckt – von ihrer Stärke und ihrem Mut. Während sich Brüssel Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte auf die Fahnen schreibt, zeigt die EU ihr wahres Gesicht an den Außengrenzen. Auf den ägäischen Inseln herrscht Willkür. Polizeigewalt und Rassismus sind Alltag geworden. Menschen werden ohne Anhörung abgeschoben. Kinder leben in Käfigen und schwerkranke Menschen sterben im Elend. Doch mit Corona hat die EU die perfekte Deckung gefunden, um Menschen hinter Mauern wegzusperren, sodass Touristen fröhlich ihren Cocktail am Strand genießen können.
Aus den Augen aus dem Sinn.

Von Romy Bornscheuer, Europeans For Humanity
Fotos: Yousif Alshewaili

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kommentare

  • Die schockierende Realität, die aus Flüchtlingslagern wie Moria ans Licht kommt, ist zutiefst verstörend. Die Gewalt gegenüber Menschen, die ohnehin schon Leid ertragen, steht im krassen Gegensatz zu den Werten, die die EU hochhält. Die Geschichten von Raaed, Dalia und ihrer Familie verdeutlichen, wie dringend Maßnahmen notwendig sind, um die Menschenrechte zu wahren und Flüchtlingen mit Würde zu begegnen. Es ist an der Zeit, dass die EU ihre Verantwortung ernsthaft übernimmt, um diese humanitäre Krise zu bewältigen und sicherzustellen, dass solche Tragödien nicht mehr geschehen können.

  • […] Die Organisation „Médecins Sans Frontières (MSF)“ bietet medizinische Hilfe auf der Insel Lesbos an und berichtet in der aktuellen Presseerklärung: „Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit […] haben sich als toxisch für die tausenden Menschen erwiesen.“ Die Konsequenzen der extremen Restriktionen zeigen sich auf viele Ebenen. […]

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