vonfreiraum 24.06.2024

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Von Tilly Sünkel, Vorstandsmitglied von LeaveNoOneBehind

1. Juni 2024 | „Ich vertraue dem Meer einfach nicht“, hat neulich jemand zu mir gesagt, der vor über 10 Jahren nach Europa geflohen ist. Es ging eigentlich nur um unseren Strandurlaub in Italien und darum, ob wir im Meer schwimmen gehen wollen. Ich habe gesagt, „klar, versteh‘ ich“. Aber wirklich verstehen tu‘ ich das natürlich kein bisschen.

Zwei Wochen später bin ich auf der griechischen Insel Lesbos. Mir fällt das Gespräch wieder ein und mal wieder fällt mir auf, wie wenig ich es tatsächlich verstehe. Vorgestern bin ich mit meiner Kollegin Janka hier gelandet, unsere Mission für eine Woche Lesbos und Samos: Möglichst viele aktuelle Eindrücke sammeln, die wir über LeaveNoOneBehind teilen können – die Auswirkungen europäischer Migrationspolitik live, ungefiltert, hautnah in den Instagram-Kanal spülen. Vielleicht bewegt es ja etwas.

Es ist Samstagmorgen um 10, unser Kollege Thanasis holt uns im Zentrum von Mytilene ab. Einen Tag lang sind wir zu dritt unterwegs und wollen Orte besuchen, an denen die Brutalität jahrelanger europäischer Abschottungspolitik mit voller Wucht auf uns einschlagen wird.

Nur wenige Autominuten entfernt von der Stadt liegt der lokale Friedhof der christlichen Gemeinde Mytilenes. Direkt daneben haben vor einigen Jahren ein Arzt und einige humanitäre Helfer*innen begonnen, einen weiteren provisorischen Friedhof zu etablieren. Er ist für die Menschen, die auf der Flucht über das Mittelmeer in die EU ihr Leben verloren. Etwa 150 Gräber sind auf der Fläche angelegt, jedes ist von einem weißen Steinrahmen umfasst. Nur die wenigsten haben eine Tafel, in die ein Name und ein Datum eingraviert sind. Auf den meisten dieser Gräber steht „Unknown“. Einige Steinplatten sind etwas kleiner, hier müssen Kinder begraben sein.

Ich laufe durch die Reihen auf einem schmalen Holzpfad, der wohl mal von irgendwem angelegt wurde. Auf einem Grab steht doch ein Name und ich muss kurz schlucken, denn ich kenne jemanden, der diesen Nachnamen hat.

Ist halt ein weit verbreiteter Nachname in Afghanistan, sage ich mir. Wie „Müller“ oder „Maier“. Und im selben Gedankenzug denke ich, ja gut, aber „Müller“ oder „Maier“ wird hier wohl nie zu finden sein.

Wir treffen uns wieder im vorderen Teil des Friedhofs, wo Thanasis uns erklärt, dass hier die Zeremonien für die muslimischen Begräbnisse stattfinden. Kurz schweigen wir, dann sagt er: „It’s sad. Come on guys, let’s go.“

Camp in Vastria

Vor nun knapp vier Jahren brannte das größte Geflüchtetencamp Europas ab, das damals noch in Moria war. Der Schock und die Erschütterung über diese Katastrophe waren groß. Man schwor, dieser Unmenschlichkeit ein Ende zu bereiten, solche Massenunterbringungen auf engstem Raum nicht mehr bis zum Anschlag auszureizen.

Die innovative Lösung, die darauf folgte, waren aber nicht etwa faire Umverteilung und sichere Fluchtwege. Nein, die gemeinsame europäische Antwort, die zum neuen Standard wurde, sind bis dato sogenannte „Closed Controlled Access Center“ (CACC), umgangssprachlich auch „Gefängniscamps“ genannt. Ein Geflüchtetencamp gibt es bereits in Mavrovouni, nahe Mytilene. Ein weiteres ist gerade in der Region Vastria in der Entstehung. Wir wollen uns die Baustelle und den Fortschritt des neuen CACC ansehen.

Die Fahrt zieht sich. Nach mehreren kleinen Dörfern biegen wir auf einen ungeteerten Waldweg ab, der uns noch weitere 20 Minuten über Schotter, durch Nadelbäume und vorbei an einer gigantischen Müllhalde an unser Ziel führt.

Von einem Hügel aus blicken wir runter ins Tal auf die weißen Boxen, die als Wohncontainer aufgestellt wurden. Das Gelände ist eingezäunt und gesäumt von hohen Masten für Überwachungskameras und Flutlichter. Im unteren Bereich liegt das „Detention Center“, daher der doppelte Stacheldraht um diesen Bereich, erklärt uns Thanasis.

„Wer soll denn da noch zusätzlich eingesperrt werden?“, frage ich. „Rejections“, seine knappe Antwort.

Ein Hochsicherheitstrakt also allein für Menschen, die laut Asylbehörde doch nicht genug in Gefahr waren, da wo sie herkommen oder auch nur da, wo sie mal durchgefahren sind auf dem Weg hierher. Sie hätten ja überall bleiben können, aber bitte nicht hierherkommen sollen. Für dieses Verbrechen müssen wir sie also leider einsperren, bevor wir sie irgendwohin zurückschicken.

Die Absurdität dieses Ortes macht mich sprachlos. Die Würde des Menschen wird hier mehr als nur angetastet werden, so viel ist sicher.

Zurückgelassenes Schlauchboot

Die Mittagssonne knallt inzwischen. Auf der holprigen Straße raus aus dem Wald kämpfe ich mit leichter Übelkeit.

Wir folgen der Küstenstraße weiter in den Norden der Insel. Von der norwegischen Organisation „Aegean Boat Report“ haben wir ein Video und einen Google Maps Standort erhalten. Vor zwei Tagen kam hier anscheinend ein Boot mit 16 Menschen an. In dem Video sieht man vollkommen erschöpfte Menschen unter Bäumen neben dem Wasser sitzen. Einer von ihnen ist verletzt und blutet am Bein, ein paar andere sind nahezu bewusstlos.

„Let’s see if we can find the arrival spot“. Thanasis lenkt uns die Küste entlang bis Janka irgendwann weit unten am Strand orangefarbene Punkte entdeckt. Das sind sicher Schwimmwesten. Wir halten an und versuchen durch einen Pfad aus Distelsträuchern ans Wasser zu gelangen. Leider unmöglich in kurzen Hosen.

Wir fahren noch ein Stück weiter, wo wir schließlich einen schmalen Weg an einer Hütte vorbei zum Strand finden. Da liegen tatsächlich mehrere Schwimmwesten und ein paar schwarze Schwimmreifen. Das Schlauchboot, mit dem die 16 Personen vor zwei Tagen hier angekommen sein müssen, liegt noch halb im Wasser, die Luft wurde ausgelassen. Zwischen den Steinen stecken noch ein paar Kleidungsstücke, ein weißer Schal, eine schwarze Nike-Käppi.

Ich gehe für einen Moment in die Hocke und blicke aufs Meer, das seichte Wellen gegen die Felsen schlägt. Ich bin mir nicht sicher, ob es dieses Meer wäre, dem ich mein Vertrauen entziehen würde, oder ob es die Menschen wären, die mich ertrinken ließen. Die mir dabei zusähen oder sogar nachhelfen würden.

Die türkische Küste scheint so greifbar nah vor uns zu liegen. Wenn ich will, kaufe ich mir ein Ticket für die Fähre nach Ayvalik. Ich zeige meinen roten Pass und fahre abends wieder zurück in die EU, die meine Rechte wahrt, die mich rein lässt, mich weiter reisen lässt, die mir keinen Zweifel an meiner Freiheit lässt.

„Take the life vest with you to Berlin“, sagt Thanasis und hält mir eine der orangenen Westen hin.

„As a reminder.“


Hinweis: Alle Fotos von Tilly Sünkel

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