vonBlogwart 05.02.2024

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von Lisa Berdunova

Um über migrantische Politik zu reden, muss man sich vielleicht erstmal die Frage stellen, wer ein_e Migrant_in ist. Auf den ersten Blick scheint das banal und einfach zu beantworten: Das ist jede Person, die migriert. Zählen wir aber wohlhabende Expats, die aus Großbritannien, den USA und Skandinavien usw. kommen als Migrant_innen? Es stellt sich heraus, dass wir doch auch eine praktische, politische Definition von “Migrant_in”im aktivistischen Kontext verwenden. Die_der “Migrant_in” ist auch ein politischer Fakt, ein Mensch, der sich im Emanzipationsprozess befindet bzw. unter staatlicher und gesellschaftlicher Diskriminerung leidet. Bei Migrantifa ist “Migrant_in” gleichzusetzen mit jemandem, der Rassismus erfährt – in diesem Kontext ist die Migrant_innenbewegung also primär ein antirassistisches Projekt.

Was ist mit Menschen süd- oder osteuropäischer Herkunft? In der Post-Ost-Community wird nicht zufällig der Antislawismus als Rassismusform thematisiert. Dadurch wird ausgehandelt, welche Rolle weiße Migrant_innen in der Migrant_innenbewegung haben. Viele jüdische Menschen bezeichnen sich auch als Migrant_innen, auch wenn sie selber nicht unbedingt Migrationserfahrung haben, weil sie von der Gesellschaft ohnehin als fremd wahrgenommen werden.

Es ist also schwierig, von einer einheitlichen Migrant_innenbewegung zu reden, von einer einheitlichen migrantischen Identität zu sprechen, wenn so viele unterschiedlichen Identitäten und Erfahrungen unter diesem Begriff fallen. Die ukrainische Aktivistin (die für Vitsche politische Arbeit leistet) Kateryna Rumyantseva (instagram: tschaynyk) hat es so in einem Post formuliert: “Wenn Nazis deportieren, dann deportieren sie alle Migrant_innen”. Sind wir denn alle gleichsam bedroht, wenn Rechtsextreme von “Remigration” sprechen?

Sprachliche Grenzen und politische Konsequenzen

Wir stoßen, wenn wir diese Frage stellen, gegen die Grenzen der Sprache. Wir können uns darüber streiten, an wen ein AfD-Politiker denkt, wenn er von “Migranten” redet. Vielleicht denkt er zuerst an Muslime. Vielleicht denkt er an alle Migrant_innen gleichzeitig. Schließt er die “guten” Migrant_innen aus, die eine wirtschaftlichen Mehrwert für das Land erschaffen, oder sind sie auch mitgemeint?

Bei dem Deportationsplan beim geheimen Nazi-Treffen scheint es tatsächlich um alle Migrant_innen gleichzeitig zu handeln – und die, die gar nicht migriert sind, aber wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft als fremd gelten. Die Frage, wie ein Deportationsplan in der Realität aussehen würde, kann ich nicht beantworten. Ich kann nicht in diese hypothetische Zukunft schauen. Ich kann mir vorstellen, eine Neonazi-Regierung würde mit einer bestimmten Gruppe anfangen und die Kriterien für die Deportation immer ausweiten. Oder würde man gleich alle Migrant_innen deportieren?

Die Frage, was oder wer ein Migrant ist, ist kein rein abstraktes oder ein rein sprachliches Problem, sondern hat weitreichende (politische, aktivistisch-organisatorische, materielle) Folgen.

Wir stoßen mit diesem Problem auch gegen das Problem der Repräsentation. Darüber schreibt Judith Butler in u.a. “Gender Trouble” – nur da bezieht sich Butler auf denFeminismus und die Frage, wer eine Frau ist. Interessanterweise kommt von Butler eine der bekanntesten philosophischen Kritiken an der Identitätspolitik, ganz im Sinne des Poststrukturalismus: Die strenge Kategorisierung durch Identitätspolitiken sei anti- emanzipatorisch. Genauer gesagt, der Versuch, “die Frau” begrifflich festzulegen, schließe Menschen aus und führe zu einer Essentialisierung der Weiblichkeit.

Vom Vorzug einer flexiblen Identitätspolitik

Identitätspolitik ist aber, meiner Meinung nach, an sich nicht falsch. Die Konstruktion einer politischen Gruppenidentität kann den Prozess erleichtern, sich zu organisieren, sich mit konkreten Menschen(-Gruppen) zu solidarisieren und eine Gegenerzählung zu repressiven Ideologien und Strukturen zu erschaffen. Partikularistische Kämpfe können die Werte des Universalismus an realen Beispielen konkretisieren.

Und wenn wagenkechtistische Linke (nicht Butler!) sagen, man müsse Politik für die Arbeiterklasse machen statt Identitätspolitik, muss ich fragen: Ist die Identifikation mit der Arbeiterklasse nicht auch eine Form der Identitätspolitik? Es ist auch nicht so, dass das eine materielle Grundlage hat und die andere nicht – Sexismus und Rassismus entstehen aus und erschaffen auch materielle Realitäten.

Eine zu stark verfestigte Identitätspolitik kann aber emanzipatorische Bewegungen spalten, Menschen aus aktivistischen Tätigkeiten ausschließen, essentialistisch und befremdlich sein. Ich würde mich an Butler in dem Punkt anschließen, dass es vielleicht gar nicht nötig ist, den Begriff Frau oder Migrant_in genau festzulegen.

Deportationspläne betreffen alle Demokrat_innen

Eine Freundin, die weiß und deutsch ist, z.B. hat bzgl. des Deportationsplans erzählt, dass sie auswandern will. Zuerst war ich etwas irritiert, denn sie ist ja eigentlich in diesem Plan nicht mit gemeint. Scheinbar aber geht die Wirkung des rechten Deportationsplan weit über Migrant_innen hinaus. Jede_r kann sich als Teil der migrantischen Gesellschaft verstehen – jede_r, die Migrant_innen im engen Kreis oder Bekanntenkreis hat, jede_r, die die Werte einer offenen, pluralen und diversen Gesellschaft vertritt. Diese Form einer nicht-migrantischen migrantischen Identität wurde bei einigen (migrantischen) Aktivista auf Kritik stoßen, denn der Begriff sollte ja uns gehören, unserer Identität und unserem Emanzipationskampf dienen.

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Doch die Unmöglichkeit, den Begriff Migrant_in genau festzulegen – und die Verbindungen zwischen Migrant_innen und anderen Gruppen – die lassen sich nicht so einfach beheben. Unsere gegenseitigen Abhängigkeiten kann man auch nicht leugnen. Kulturell, wirtschaftlich, politisch sind wir alle verflochten, auch wenn wir aus unterschiedlichen Positionen sprechen und leben. Wir sollten also weder unsere Unterschiede – unsere unterschiedliche Betroffenheit von Diskriminierung, etc. – ausklammern, noch zu trennscharf in unseren Begriffen sein. Denn manche sind mehr bedroht als andere, doch die gesamte demokratische Gesellschaft ist bedroht vom Aufstieg der extremen Rechte.

Vielleicht klingt das für viele nach einer sentimentalen, naiven Rhetorik von wegen“ Wir sind all im selben Boot”. Diese Kritik ist auch berechtigt. Die Frage ist: Wie überbrücken wir die Kluft zwischen diesen zwei Wahrheiten – dass es einerseits unmöglich ist, den Migrant_innen vollständig zu definieren, dass andererseits Menschen als Migrant_innen gehasst, bedroht, angegriffen werden?

Migrant_innen nach ganz vorne!

Ich würde die These vertreten, dass Migrant_innen sich als eine eigenständige politische Kraft organisieren sollten. Keine Bewegung kann ihre Umrisse so genau festlegen(!) und es geht nicht darum, dass keine Deutsche an einer Migrantenbewegung teilnehmen soll oder darf. Das kann man ja nicht verbieten – und Solidarität ist erstmal gut. Aber der Deportationsplan soll ein wake up call an alle Migrant_innen sein, die sich bisher von rechts nicht bedroht fühlen, bzw. immer noch die Illusion haben, als eine der Ausnahmen, “einer der guten Migranten” Diskriminierung vermeiden zu können. Es ist die Zeit, reflexiv eine migrantische Identität zu erschaffen – und zwar nicht nur individualistisch und für sich, sondern (in der Mitwelt, im Zwischenmenschlichen, im Öffentlichen) sich zu politisieren, positionieren und mit anderen Migrant_innen zu solidarisieren.

Wir brauchen eine Migrant_innenbewegung, die sich ins Zentrum der Migrationsdebatte stellt. Migrant_innen müssen in der Öffentlichkeit sprechen, statt das nur über sie gesprochen wird. Das ist keine einfache Aufgabe, denn strukturell sind Migrant_innen eben nicht im Zentrum. Aber durch Prozesse der solidarischen Identifikation und der praktischen Solidarität (von Migrant_innen selbst so wie von Nichtmigrant_innen) ist es möglich, eine wirkliche Brandmauer aufzubauen – der Schutz gegen Rechts ist der Aufbau einer politisierten migrantischen Gesellschaft. In der derzeitigen Anti-AfD-Bewegung müssen Migrant_innen und Menschen mit Rassismuserfahrung ganz vorne stehen. Dabei sollten wir uns nicht darüber zerstreiten, wer migrantisch genug ist und wer nicht. Migrantisch – klar, das sind wir, aber dieser Begriff umfasst auch eine Haltung: Das Fremdsein ist ein politischer Akt.

 

 

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kommentare

  • Identitätspolitik ist von ihrem Ansatz mit all den den Schubladen schon unterkomplex und im Kaschieren dessen selbst diskriminierend. Bei allen guten Absichten – diese Text ist der beste Beleg dafür. Allein ob seines elaborierten Codes grenzt er von vornherein seine Adressanten – Migranten – ob ihres geringeren Wortschatzes aus, verschärft durch Codes und Chiffren, die Neuhinzugezogenen nicht geläufig sein können. Das grenzt an Selbstbetrug. Außerdem: ich bin nicht „wir“.

    Leider ist der sich selbst nennenden progressiven Linken selbstkritisches Räsonnement nicht gegeben – das hat schon die Reaktion nach den Massakern der Hamas gezeigt. Gerade die identitätspolitische Linke und mit ihr die postkolonialistischen Stimmen waren auffällig still und wenn sie sich doch äußerte, bemühte sie Aber-Rhetorik oder schwurbelte verklausuliert im Judith-Butler-Stil.

    Ich sehe in der identitätspolitischen Linken die Gefahr, dass sie sich mit ihren Themen zum Trittbrettfahrer der demokratischen Proteste gegen die AfD aufschwingt und das aufkeimende Éngagement gerade dadurch zerstört. Es wäre zu wünschen, wenn die identitätspolitische Linke sich hier einfach mit Demut einreihen könnte und sich all ihre Themen verkneift. Der Münchner Auftritt von Lisa Poettinger von den Antifaschisten bestätigte leider Zweifel, dass die Linke bereit ist, sich zurückzunehmen und einzureihen.

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