Vom Fenster eines der vielen Hochhäuser aus blicken wir heute auf ein prächtiges riesiges Gebäude, das aussieht wie ein Schloss. Was ist das? Das ist der Scharia-Gerichtshof, erfahre ich. Ich lese nach, was die Bundeszentrale für politische Bildung zur Scharia zu sagen hat: „Der Begriff wird im heutigen Sprachgebrauch für «islamisches Recht» verwendet, bedeutet im engeren Sinne jedoch die von Gott gesetzte Ordnung im Sinne einer islamischen Normativität. Der Ruf nach Einführung der Scharia ist gegenwärtig in vielen muslimischen Staaten zu einem politischen Kampfbegriff geworden. Vordergründiger Ausdruck einer islamischen Rechtsordnung ist die Anwendung der koranischen Körperstrafen, was jedoch nur einen kleinen Teil des islamischen Rechtssystems umfasst. In mehreren Staaten wird die Scharia heutzutage in der Verfassung ausdrücklich als Quelle der Rechtsschöpfung anerkannt (etwa in Ägypten, Bahrain, Jemen, Kuwait, Libanon, Sudan, Syrien und in den Vereinigten Arab. Emiraten)“
Malaysia wird dort nicht erwähnt. Denn Gerichtsurteile vom Scharia-Gerichtshof werden in Malaysia nur für die muslimische Bevölkerung verhängt. Ihr Anteil beträgt ca. 60 Prozent. Um die Nationalität Malay in den Pass eingetragen zu bekommen, muss man Muslim sein. Alle anderen hier lebenden Bevölkerungsgruppen und Religionen bekommen ihre jeweilige ethnische bzw. religiöse Zugehörigkeit in den Pass eingetragen, also z. B. Hindus(6 %), Inder, Buddhisten (19%), Chinesen oder Christen (9%). Würden sie zum Islam konvertieren, werden sie automatisch Malaien und haben dadurch Vorteile, was Studienplätze und andere staatliche Erleichterungen etc. anbelangt.

Der malaysische Scharia-Gerichtshof verurteilt die Muslime hier im Land nur in Betreff auf familiäre und religiöse Angelegenheiten. Diese dürfen für die muslimische Bevölkerung nicht vom gleichfalls hier in Malaysia existierenden staatlichen Gerichtshof verhängt werden. Die Strafen, die vom Scharia-Gerichtshof verhängt werden, lese ist, dürfen allerdings nicht mehr als 3 Jahre Gefängnis, 5000 Ringit (1000 Euro) bzw. 6 Stockschläge betragen….immerhin; das ist weniger schlimm, als ich es vermutet hatte und doch irgendwie erschreckend. Dann erfahre ich aber, wie es hier in Malaysia mit LGBTQIA+ steht. Ich erfahre, dass es das Land mit der zweitstärksten Diskriminierung gegenüber Angehörigen von LGBTQIA+ ist. Die diesbezüglichen Gesetze sind noch aus der britischen Kolonialzeit und von 1871, inzwischen verschärft durch die islamische Gesetzgebung. Es drohen sowohl vom staatlichen als auch vom Schariagerichtshof Strafen von bis zu 20 Jahren für Schwule, Lesben und andere. Sie werden gnadenlos verfolgt. Die recht häufigen Attacken gegen sie und selbst Morde werden staatlicherseits nicht geahndet. Als ich davon erfahre, erschrecke ich, weil mir die scheinbar liberale Stimmung hier im Land auf einmal nicht mehr wirklich echt vor kommt. Frei zu leben ist etwas anderes…
Dabei zeigt sich doch der Islam hier in Malaysia, wo er Staatsreligion ist, scheinbar in einer einigermaßen milden Form, verglichen mit dem Islam, den ich aus der Türkei kenne. Alkohol wird überall ausgeschenkt und auch Schweinefleisch bekommt man ohne Probleme. Frauen und Männer wirken hier auch irgendwie gleichberechtigter, als ich es aus der Türkei kenne. Im Gespräch mit den verschiedenen Geschlechtern bemerkte ich nie Vorbehalte gegen mich als Frau. Viele Musliminnen tragen ein Tuch, es ist allerdings überhaupt nicht Vorschrift wie in Ländern wie dem Iran. Ich erfahre dann aber auch, dass sich in den letzten zwanzig Jahren der Islam hier in Malaysia verschärft hat und dass es in den 70er und 80er Jahren noch sehr viel liberaler zuging. Ein ähnliches Phänomen, wie ich es auch in der Türkei mitgeteilt bekam.
Heute ist unser letzter Tag in Malaysia. Wir fahren vom Blick auf den Scharia-Gerichtshof aus los ins Zentrum von Kuala Lumpur. In der Nähe des zweithöchsten Hochhauses der Welt (Merdeka 118) befindet sich der Central Market, der in überdachten Markthallen untergebracht ist.

Hier lässt sich allerhand an Mitbringseln der diversen Kulturen in Malaysia erstehen, zu Preisen, die sich wohl nur wenige Malaien leisten können. Der Central Market liegt an einem Fluss, der „Live River“ heißt, aber der eher als tot aussieht. Er ist komplett einbetoniert und nicht zugänglich, Unrat schwimmt auf bräunlichem Wasser. Ansonsten ist es auch in dieser Gegend wie auch in allen anderen Gegenden Kuala Lumpurs, in denen wir bisher waren, sehr sauber. Die Straßen sind gefegt, Unrat liegt nicht herum. Seltsam ist es schon, dass hier so wenig arme Menschen zu sehen sind. Vielleicht hat die Stadtverwaltung dafür gesorgt, dass sie nicht zu auffällig im Stadtbild, wo ja auch Touristen rumlaufen, zu sehen sind. Polizisten sieht man immer mal wieder, aber sie sind längst nicht so schwer bewaffnet und zahlreich wie in den Touristengegenden in Istanbul.

Gleich neben dem Central Market beginnt das „Chinatown“ von Kuala Lumpur. Die Petaling Street ist die Hauptverkaufsstraße, hier verkaufen wenige chinesische und viele Händler aus Nahost und Indien für wenig Geld Billigklamotten und gefakete Luxusuhren und Parfüms. Als wir hindurchgehen, werden wir von allen Seiten angesprochen, es ist genauso wie in Istanbul und auch die Waren sind gleich. Und es ist überhaupt nicht so ein „Chinatown“, wie wir es in Penang angetroffen haben, wo es ein Viertel mit alten buddhistischen Tempeln, chinesischen Restaurants und Geschäften ist, vor denen kleine Altäre mit Opfergaben für die Ahnen aufgebaut sind. Wir verlassen die Petaling Street ganz schnell wieder.
Wir bleiben vor einem Restaurant stehen, das mit großen stachligen Früchten wirbt. Was gibt es hier? Durian, sagt der Kellner. Durian wird von uns auch die Königsfrucht genannt.

und nicht jeder würde sie mögen, erklärt er uns noch. Sie wachsen an bis zu 40 Meter hohen Bäumen und viele Leute richten Affen ab, die sie von den Bäumen runterholen. Affen gibt es wohl auch in Kuala Lumpur, wir haben aber zwischen den Hochhäusern bisher noch keine gesehen. Die großen stachligen Früchte sind nicht günstig und unterschiedlich teuer, wohl je nach Qualität. Im südostasiatischen Raum gibt es Durianverköstigungen, die vergleichbar sind mit Weinproben in Frankreich. Für mich sehen die Früchte alle gleich aus. In allen Hotels, in denen wir bisher waren, gab es in den Fahrstühlen Warnschilder. Es ist verboten, Durians mit ins Hotel zu bringen. Weil es von der Durian heißt, dass sie eine Stinkfrucht sei, sind wir misstrauisch und bestellen uns nur ein Durianeis mit ein wenig Frucht und Kokos. Außerdem ist Mais und rote Bohnen dabei und etwas undefinierbar grünes.

Dann beobachten wir, wie die Einheimischen die Durian essen. Sie ziehen sich Plastikhandschuhe an und pulen die Frucht aus der geöffneten Schale und essen sie dann mit den Plastikhandschuhen. Anscheinend hat die Durian so einen unangenehmen Geruch, dass sie auch nicht in öffentlichen Verkehrsmitteln mitgenommen werden darf. Sie schmeckt eigentlich fast nach gar nichts, minimal nach Zwiebel, wenig süß, aber nicht unangenehm. Sie muss sehr gesundheitsförderliche Wirkstoffe haben und die Menschen hier in Malaysia scheinen sie zu lieben. Sie ist nur eine von vielen Früchten hier, von denen ich noch nie gehört habe, aber meine Lieblingsfrucht wird sie nicht werden. An vielen Ständen hier wird für wenig Geld so viele verschiedene Säfte und diverse Tees mit Frucht und Milch oder Soya oder ohne verkauft, das ich mich wundere. Diese Kultur der Getränke in hunderten von Sorten habe ich sonst noch nirgendwo gesehen. Ich bestelle mir einen Saft, der Verkäufer zeigt mir die Frucht, aus der der Saft ist, sie ist rot und hat dicke Blätter und in der Mitte eine Kugel und er nennt sie Rosenhibiskus; sie ist aus seinem eigenen Garten sagt er, ökologisch angebaut natürlich und sehr gesund. Auf Bio und Nachhaltigkeit wird hier viel Wert gelegt, auch das ist mir schon aufgefallen. Gesundheit scheint hier ein großes Thema zu sein und Zucker soll reduziert werden. Es ist heiß heute, 37 Grad, und ich gehe von einem Stand zum anderen und probiere immer wieder andere bunte und wohlschmeckende Tees und Saftmischungen mit und ohne Eis und rufe dann über meine App ein Taxi herbei, das noch viel weniger kostet als die Getränke.
Der Fahrer ist wie alle Fahrer bisher sehr interessiert und gesprächig. Erst reden wir über das malaiische Essen, das ich hier kennengelernt habe und darüber, wie man es isst, nämlich von Bananenblättern und mit der rechten Hand und nie mit Gabel und Löffel. Dann interessiert er sich für deutsches Essen und fragt mich, was ich ihm empfehlen könnte; aber es müsse halal sein, denn er sei ein Muslim. Da kann ich ihm leider nicht weiterhelfen: Mir will partout nichts einfallen! Soll ich ihm von sauren deutschen Äpfeln und von Labskaus berichten? Würstchen gehen nicht und so sage ich: Kartoffelsalat solle er probieren, wenn er mal in Deutschland sei.
Als wir über das Essen sprechen, denke ich: Schade auch, dass wir morgen wieder zurück nach Deutschland müssen! Wo liegt denn dieses Bremen, aus dem du kommst, fragt mich der Taxifahrer? Im Norden von Deutschland, sage ich ihm und frage ihn, ob er die Bremer Stadtmusikanten kennt. Ja, da hellt sich sein Gesicht auf: Von denen hat er schon gehört. Die gehen doch zu der Stadt, wo sie etwas besseres als den Tod finden! Genau, sage ich, nach Bremen! Und auf einmal bin ich doch ganz froh, dass ich wieder nach Hause fahre, wo es zwar nicht so gutes Essen und tolles warmes Wetter gibt. Aber wir können dort frei leben, es gibt keinen Scharia-Gerichtshof und Ächtung und Bestrafung für LGBTQIA+ und andere Gruppierungen der Gesellschaft.
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