vonfrida 24.12.2022

Frida, ich und du

Intimer Umgang mit Schmerz und Leid des Menschen in ihrer jeweiligen Rolle: Sozialisation, mothering, Feminist

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Hänsel und Gretel starrten Hagazussa an, Hänsel nachdenklich, Gretel ärgerlich und sie rief aus: „Ja, was ist denn das wieder für ein gehobelter Unsinn! Die Frage kann ich ja wohl mal voll vergessen.“

Hagazussa nickte wissend, während Hänsel völlig entgeistert seine Schwester anstarrte. Was zur Hölle meinte sie? Hatte er irgendwas nicht mitbekommen?

Aber sie sprachen erst einmal nicht weiter darüber.

Am selben Abend, nachdem Hänsel schlafen gegangen war, ging die aufgebrachte Gretel zu Hagazussa.

Sie beschwerte sich: „Was soll ich denn jetzt machen? Ich bin eine Frau!“

„Tja“, sagte Hagazussa, „du könntest mir zumindest hier helfen und das Unglück verhindern, das sich anbahnt, das Hänsel ungewollt schon dabei ist, anzurichten.“

Verzweifelt schaute Gretel Hagazussa an: „Gibt es denn gar keine andere Alternative? Er ist mein Bruder, mein Fleisch und Blut und ich liebe ihn doch.“

Hagazussa schüttelte den Kopf: „Nicht so jedenfalls.“

Als Hänsel am nächsten Tag erwachte, fand er sich in einem Käfig eingeschlossen wieder. Verwirrt erhob er sich, rüttelte an der Tür, rüttelte an den Stäben. Massiv. Da war nichts zu machen.

„He“, rief er. „Hey Gretel, he Hagazussa. Was soll ich denn hier drinnen? Lasst mich doch raus.“

Aber Gretel und Hagazussa reagierten nicht darauf.

Sie gaben ihm Essen und unterhielten sich auch mit ihm, wobei Gretel ihm nicht in die Augen sehen konnte. Aber keiner von beiden machte Anstalten, ihn aus dem Käfig heraus zu holen.

Zunächst fügte Hänsel sich in sein Schicksal, denn schließlich war es ihm schon schlechter ergangen, aber mit der Zeit wurde er ärgerlich. Schließlich war er doch der Mann im Haus und auch wenn die Zwei ihn versorgten, ihn fütterten und sich um ihn kümmerten, er wollte frei sein, hinauszugehen, abzuhauen oder irgendwas zu tun. Nicht, dass er etwas bestimmtes im Sinn hatte, aber es war doch verdammt nochmal sein gutes Recht! Und überhaupt, musste er nicht dafür kämpfen, dass er seine Freiheit, seine Macht, ja seine angeborene Überlegenheit verteidigte?!

Zuerst brachte er Gretel dazu, dass sie ihm schöne Dinge besorgte, ihm vorlas, ihm das Essen kochte, das er sich wünschte, dass sie sich ganz viel um ihn kümmerte und er klagte ihr sein Leid. Er erzählte ihr, wie sehr er unter der aktuellen Situation litt und gestand ihr weiter, wie sehr er verletzt sei, jetzt, da er sich an die Taten seines Vaters erinnerte. Denn Hagazussa hatte ihnen beiden die Augen geöffnet, ihre vergessenen Erlebnisse gezeigt und sie wissen lassen, wie es dazu gekommen war, dass sie allein und verhungert im Wald gelandet waren.

Hänsel überzeugte Gretel davon, dass sie beide Opfer seien, zuerst Opfer ihrer Eltern, dann Opfer im Chaos des Waldes und schließlich auch Opfer von Hagazussa, da Hagazussa von Anfang an doch mit ihnen machte, was Hagazussa wollte.

Gretel hin und her gerissen zwischen ihrer persönlichen Erkenntnis über den Sinn des Lebens und  ihrer Liebe, ihrer Verbundenheit, ihrer Gemeinsamkeit zu ihrem Bruder wurde zunehmend stiller, trauriger und verschlossener.

Hagazussa, der nichts entging, bemerkte diese Veränderungen, auch, dass es Hänsel in seinem Käfig immer besser ging, er fröhlicher und selbstbewusster wurde und sogar anfing, Hagazussa hin und her zu scheuchen, zuerst nur um Gefälligkeiten bat, dann aber immer fordernder wurde. Er nahm das Sein in dem Käfig als Grund, um Schuldgefühle zu verbreiten, alles andere als unfair, ausbeuterisch und ungerecht anzuklagen.

Hagazussa ermahnte ihn, erinnerte ihn an die Geschichte vom Sinn des Lebens und die anderen Erkenntnisse, die Hagazussa ihn gelehrt hatte.

Hagazussa bot ihm auch an, ihn aus dem Käfig in die Welt hinaus zu entlassen.

„Aber“, sagte Hagazussa, „du kannst nicht hierbleiben. Du zerstörst das Haus, mich, alles hier und auch Gretel. Deshalb darfst du sie auch nicht einfach mitnehmen, wenn sie nicht möchte, du musst dann allein in die Welt hinaus.“

Das wollte Hänsel aber auch nicht. Schließlich wusste er ja noch, wie es seinem Vater ergangen war, wie hart der für sein reines Überleben geschuftet hatte. Doch er wollte auch keinesfalls in diesem Käfig bleiben und er sah es auch nicht ein, dass Hagazussa immer recht haben sollte. Also redete er weiter auf Gretel ein.

Hagazussa bemerkte das und beschloss, Hänsel wieder dem Chaos zu überlassen. Damit er aber eine neue Existenz für sich einnehmen könnte, was Hagazussa ihm doch noch als letzte Zauberkraft mitgeben wollte, musste Hagazussa ihn in ihrem Ofen verbrennen, ihn der zerstörerischen Kraft des Feuer aussetzen, ihn reinigen und es dem Zufall, dem Chaos überlassen, welche Form er danach einnehmen würde.

Schließlich brannten Hexen schon seit Menschengedenken und erneuerten sich phönixgleich damit neu, entwickelten neue Kräfte. Tja, manche kamen auch nicht so heile wieder daraus hervor. Es war halt schon ein riskantes Unterfangen, aber es schien Hagazussa die einzige Möglichkeit und auch die fairste.

Hagazussa traf alle Vorbereitungen und weihte auch Gretel in den Plan ein.

Gretel machte sich irre viel Sorgen darum, dass Hänsel die Transformation vielleicht nicht gelingen würde, er dabei womöglich sterben würde, sie ihren geliebten Bruder verlieren könnte.

Als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, das Feuer lichterloh brannte und der richtige Zeitpunkt gekommen war, da stieß Gretel Hagazussa in das Feuer, befreite Hänsel aus seinem Käfig und rannte mit ihm davon, nicht ohne vorher noch einen großen Vorrat des Hexenhauses mitzunehmen.

Sie wollten sich in der ordentlichen Welt, jenseits des Chaos zusammen ein neues Leben aufbauen und dafür brauchten sie ein bisschen was vom Hexenhaus und Hagazussa war ja nun eh weg. Irgendwohin transformiert, wie Gretel Hänsel versicherte. Er zuckte die Schultern, denn selbst wenn Hagazussa dabei umgekommen war, und es hatte doch ganz so ausgesehen, geschah es der alten Vettel doch eigentlich ganz recht. Schließlich hatte Hagazussa ihn ja darein stecken wollen.

Wenn Gretel sich nachts schlafen legt, hört sie immer mal wieder das Gekicher von Hagazussa. Es graust ihr davor und sie versucht, sich dieser Träume nicht zu erinnern. Aber immer wieder wacht sie davon auf und wenn es ganz schlimm ist, meint sie Hagazussa flüstern zu hören: „Gretel, du wusstest doch, dass dir der Sinn des Lebens in dieser Welt, dort, wo du jetzt bist, verwehrt wird. Warum hast du dir das angetan?“

Wütend entgegnet Gretel dann: „Das kannst du doch gar nicht wissen. Hänsel ist ganz anders. Er wird mich zu einem Menschen machen!“

 

 

Märchen 1.Teil: Hänsel und Gretel Oder die Suche nach dem Sinn des Lebens I

Märchen 2.Teil: Hänsel und Gretel Oder die Suche nach dem Sinn des Lebens II

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