vonHans-Peter Martin 09.12.2018

Game Over

Hans-Peter Martin bloggt über die globale Titanic der Politik und Wirtschaft – und wie es doch ein „New Game“ geben kann. Krieg oder Frieden.

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Es ist so selbstverständlich geworden, wegzusehen. Große Opferzahlen bleiben unfassbar, die Millionen Tote der beiden Weltkriege etwa bleiben abstrakt.

 Die Stadtregierung von Paris hält nun mit einer 280 Meter langen Tafel dagegen. An der Mauer des weltweit legendärsten Friedhofs, dem Père Lachaise, finden sich jetzt die Namen aller Stadbewohner*innen, die im Grande Guerre zwischen 1914 und 1918 ihr Leben in der Verteidigung gegen die deutschen Truppen ließen. Es sind 94.415. Wen es da nicht schauert, besitzt nur ein eisernes Herz.

 Aktuelle Listen, die unter die Haut gehen, finden sich im soeben erschienenen Buch „Todesursache: Flucht“. Darin wird der Versuch unternommen, möglichst viele Schicksale von Menschen zu beschreiben, die bei ihrem Weg nach Europa ums Leben kamen. Mehr als 35.000 waren es in den vergangenen 25 Jahren.

Da gab es den 19-jährigen Zahid Mubarak – „in Großbritannien ermordet, nachdem er mit einem gewalttätigen Rassisten in eine Gefängniszelle geschlossen worden war.“ Ein Unbekannter aus Marokko, der „ertrank, nachdem die italienische Küstenwache ihr Boot verfolgt hatte“. Oder, am 30. September 2018, die sieben Unbekannten, 4 Frauen, 3 Männer aus Syrien: „ertrunken, zwei vermisst, Leichen wurden vor der Küste von Enez, Provinz Edirne (TR) gefunden, drei gerettet.”

 Der Satz eines Flüchtlings hallt nach: „Glaubt tatsächlich irgendjemand in Europa, dass auch nur ein Afrikaner seinen Kontinent verlassen würde, wenn er nicht müsste?“

Gewohnt nüchtern, aber dadurch vielleicht besonders eindringlich analysiert der Anwalt und Bürgerrechtsaktivist Rolf Gössner „die dunkle Kehrseite unserer westlichen Werte“. Immer wieder mahnt er eine „radikale Änderung“ ein. Doch die öffentliche Debatte ist in den vergangenen Jahren gekippt. Immer mehr Europäer*innen haben sich einen Panzer zugelegt. Jeder neue Streit um Flüchtlingsquoten und jedes neue Einzelverbrechen eines Asylbewerbers kräftigt ihn. Neben Gössner beschreiben unter anderem Heribert Prantl „Die Todsünden Europas“ oder die Marburger Schülerin Helene Seipelt „Das Meer“.

 Dieses Buch kann den Panzer der Verdrängung aufbrechen und das Wegsehen ins Hinsehen wenden. Kaufen. Ein hilfreiches Weihnachtsgeschenk, auch als Antidot gegen die Heuchelei zum großen Fest geeignet.

 Das Buch: Todesursache Flucht: Eine unvollständige Liste, Kristina Milz/Anja Tuckermann (Hrsg.), Hirnkost KG, erscheint am 10. Dezember 2018, 3,99 Euro.

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