„Wien ist die Welthauptstadt des Neides und der Niedertracht“, sagt der Allroundkünstler André Heller. Das Wiener Burgtheater sei der „Mount Everest“ aller Schauspielorte, meint die scheidende Direktorin Karin Bergmann. Die wirkliche Politik in dieser so aus der Zeit gefallenen Republik Österreich findet am Burgtheater statt, hieß es unter dem früheren Chef Claus Peymann.
Soeben präsentierte der neue Direktor Martin Kusej sein Programm. „Wir finden ganz Europa, mehr sogar, mindestens die halbe Welt, in Wien. Wir wollen das Haus öffnen. Es wird ein Raum der Extreme sein – extrem kontrovers, extrem vielgestaltig, extrem dringend, extrem zeitgenössisch, extrem laut. extrem leise, extrem österreichisch, extrem international“, so Kusej. Weg vom Nationaltheater, hin zur Vielsprachigkeit. Zur Globalität.
Ob das nicht mitten in das so vielbeschworene „Wiener Herz“ sticht? Trotz der Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten: Muss der Mauerfall jetzt auch im Burgtheater stattfinden, in der Selbstwahrnehmung vieler Abonnenten noch immer der heilige Gral aller Theater? Österreichisch, ja, sicher auch deutsch darf „die Burg“ sein, solange die Schauspieler und Regisseure beim Publikum ankommen. Aber so richtig international, gar aus Island und Israel, aus Belgien und Bosnien? „Ja, dürfen´s denn das?“, soll Kaiser Franz Ferdinand 1848 gefragt haben, als Revolutionäre durch die Innenstadt Wiens zogen. Und jetzt sind es wieder prekäre Zeiten – global, in Europa, national und in Wien selbst.
Für das Burgtheater mit seinen technikstrotzenden Spielorten und vielfältigen Auftrittsmöglichkeiten ist das eine faszinierende Chance. Es kann wieder in die Mitte der politischen und kulturellen Debatte rücken und dabei auch zum Zentrum eines Widerstandes gegen den allgegenwärtigen rechten Aufbruch werden. Ein unverzichtbarer Kulturfelsen, weithin sichtbar – zur Orientierung, als Hoffnungsvermittler, als Animator und Zufluchtsort, ein Haus voller Freude, eine kulturelle Hochburg im besten Sinne der Aufklärung.
In Österreich und Wien herrscht seit Jahren eine beängstigende kulturelle Lähmung vor, viele und vieles wirken erstarrt. Frühere Leuchttürme sind erloschen oder in hohem Lebensalter. Allenfalls unter ganz jungen Kulturschaffenden keimt etwas. Insgesamt besteht ein gesellschaftspolitisches und kulturpolitisches Vakuum.
Künstlerisch gibt es sicher Zillionen Möglichkeiten, da vieles aufzubrechen. Allerdings steckt das politische und publizistische Umfeld zumindest in Österreich voller Fallen. Der gestürzte Kanzler Sebastian Kurz, ein Heimatsänger aus Kalkül, erfährt in Leitmedien ungebrochene Unterstützung, die „Deals“ funktionieren. Bezeichnend, dass über die enormen Werbeausgaben der Regierung im Massenblatt „Kronenzeitung“, in der Gratispostille „Heute“ und im abwegigen Blatt „Österreich“ kaum berichtet wird. Der öffentlich-rechtliche ORF wird angeknabbert, ist auf Grund seiner fehlenden institutionellen Unabhängigkeit für Hofberichterstattung anfällig. Die Opposition schwimmt fast zur Gänze oder versagt. Bei den Neuwahlen Ende September dürfte die SPÖ ein Debakel erleben wie die SPD soeben bei den Wahlen zum Europäischen Parlament.
Auch in der Stadt Wien steht die sozialdemokratische Dominanz auf der Kippe. Bei den kommenden Wahlen, die spätestens im Herbst 2020 abgehalten werden müssen, werden die Rechten den „Kampf um Wien“ austragen. Kontinuierlich kritisieren der Bundeskanzler und seine Gehilfen die bisherige Stadtregierung, oft aus konstruiertem Anlass. Die Wiederwahl von Rot-Grün wird sehr schwierig, trotz Ibiza-Video rund um den Wiener H.C. Strache erreichten die beiden Parteien auch bei der Europawahl in der Bundeshauptstadt keine Mehrheit. Der bisherige Bürgermeister Michael Ludwig ist in der Gunst von „Krone“ und „Heute“ zumindest gegenwärtig zurückgefallen.
2020 könnten also erstmals in der Geschichte der österreichischen Demokratie sowohl im Bund wie auch in Wien rechte Regierungen an der Macht sein. Anders als zu Zeiten Claus Peymanns wird es keinen Bundesminister geben, der hinter der neuen Burgtheaterleitung stehen wird und vielleicht auch keinen Wiener Bürgermeister.
„Europäisches Theater“ als Kristallisationspunkt
Zwar gibt es die Einschätzung, dass es „eh wurscht ist, was das Burgtheater macht, weil das Theater und die Kulturszene inzwischen wurscht sind“. Doch der neue Chef Martin Kusej tritt an, um das Burgtheater wieder zu einem Kristallisationspunkt, zu einem Ort gesellschaftspolitisch relevanter Auseinandersetzungen zu machen. Für Wien wäre es eine Revolution – das Nationaltheater soll zu einer „europäische Bühne“ werden.
Da erwartet uns viel Düsteres. Und Aufbruch.
Kusej: „Das ist ein extrem auf Wien zugeschnittener Spielplan. Die Vielsprachigkeit ist eine der drei Säulen. Die Zweite: Das Publikum der Zukunft, wir müssen Weichen stellen, dass wir in 20 oder 30 Jahren noch hier Theater sehen werden.
Und das dritte: die Auseinandersetzung mit der digitalen Gesellschaft. Da nehme ich einen radikalen Standpunkt ein, Rückbesinnung auf das Schauspiel, das Live-Erlebnis.“ Isländische und israelische Schauspieler habe er, so Kusej, schon „animiert, Deutsch zu lernen“.
„Das Burgtheater wird sich also fortan und endgültig nicht mehr als ´teutsches Nationaltheater` begreifen, das nur mit einer Zunge spricht und nur auf einem Ohr hört“, so Kusej. Mit Regisseuren aus 13 Ländern, „die meisten tun das zum ersten Mal“, sagt Vizedirektorin Alexandra Althoff.
Insgesamt, so Kusej: „Das Burgtheater als Zentrum als Brennglas für Europa: Wenn es ein Nationaltheater Europas gibt, könnte ich mich damit anfreunden.“
Was Kusej durch den Kopf geht, wenn man bei diesem neuen Ansatz an eine „Kulturrevolution“ denkt: „Jessas. Aber manche unserer Regisseure werden sich nix scheissen, und dazu zähle ich mich auch. Und ich lege mich gerne quer.“
Hier das neue Programm:
Premiere am 12. September 2019, Burgtheater: Regisseur Ulrich Rasche, „Die Bakchen“ von Euripides
13. September, Akademietheater „Vögel“ von Wajdi Mouawad. Kusej: „Das ist eine Flagshipproduktion, Signature, fast hätte ich gesagt ´dish´, ein viersprachiges Stück.“
21. September, Burgtheater: „The Party“ von Sally Potter, Regie Anne Lenk. „Man könnte an reale Personen in Österreich denken und Bezüge herstellen, schauen wir einmal.“
November 2019, Burgtheater: Regisseur Martin Kusej „Die Hermannsschlacht“ von Heinrich von Kleist – mit der seinerzeit Claus Peymann das skeptische Wiener Publikum auf seine Seite zog – was für eine Herausforderung. Heinz Sichrovsky, die Verkörperung eines Wiener Theaterkritikers, spricht da von „Großvatermord“. Kusej meint: „Wenn man es ganz anders liest, wow, das passt ganz hervorragend in unsere Zeit. Großartige Stücke erfordern in verschiedenen Epochen verschiedene Interpretationen.“
Weiteres
- 14.9.2019 Burgtheater Edward Albee: Martin Kusej
„Wer hat Angst vor Virgina Woolf?“ (Ü) - 26.9.2019 Vestibül Dino Pesut: „Der Nicolas Charaux
(vor)letzte Panda oder die Statik“ (DEA) - 27.9.2019 Burgtheater Johann Wolfgang Martin Kusej
Goethe: „Faust“ (Ü) - Oktober 2019 Kasino Gesine Danckwart: Gesine Danckwart &
„Theblondproject“ Caroline Peters (UA) - Oktober 2019 Vestibül und Tove Applegren: Anja Sczilinski
mobil „Thomas und Tryggve“ (ÖEA, Ü) - Oktober 2019 Akademietheater Michail Bulgakow: Ene-Liis Semper & „Der Meister und Tiit Ojasoo Margarita“
- Oktober 2019 Burgtheater Neu erzählt von Thorleifur Örn
Thorleifur Örn Arnarsson Arnarsson & Mikael Torfason: „Die Edda“ - Oktober 2019 Kasino Joel Horwood nach Ingo Berk & Mervyn
Gillian Cross: Millar „Wie versteckt man einen Elefanten?“ (UA) - Oktober 2019 Burgtheater Friedrich Martin Kusej
Schiller: „Don Karlos“ (Ü) - November 2019 Akademietheater Kata Weber und Kornel Mundruczo Kornel Mundruczo, nach Victorien Sardou: „Tosca“ (UA)
- November 2019 Burgtheater Heinrich von Martin Kusej
Kleist: „Die Hermannschlacht“ - Dezember 2019 Akademietheater Maria Lazar: „Der Mateja Koleznik
Henker“ - Dezember 2019 Burgtheater Paul Wallfisch, Kay Voges Kay Voges &
Alexander Kerlin: „Dies irae – Tag des Zorns“ (UA) - Dezember 2019 Burgtheater Michael Frayn: Martin Kusej
„Der nackte Wahnsinn (Noises off)“ (Ü) - Jänner 2020 Akademietheater Dead Centre: „Die Ben Kidd & Bush
Traumdeutung von Moukarzel Sigmund Freud“ (UA) - Jänner 2020 Kasino Heiner Müller: Oliver Frljic „Die Hamletmaschine“
- Februar 2020 Vestibül David Wnendt und Anja Sczilinski Tina Müller: „Kriegerin“ (ÖEA)
- Februar 2020 Akademietheater Simon Stone nach Simon Stone
Maxim Gorki: „Die Letzten“ (UA) Februar 2020 Burgtheater Nach William Sebastian Nübling Shakespeare: „This is Venice (Othello & Der Kaufmann von Venedig)“ - März 2020 Akademietheater Franzobel nach Nikolaus Habjan
Ladislav Fuks: „Der Leichenverbrenner “ (UA) - März 2020 Vestibül und Roland Mia Constantine mobil Schimmelpfennig: „Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin“ (ÖEA)
- April 2020 Burgtheater Thorleifur Örn Thorleifur Örn Arnarsson nach Arnarsson Henrik Ibsen und Mikael Torfason: „Peer Gynt“
- April 2020 Vestibül Evan Placey: Mira Stadler
„Mädchen wie die“ (ÖEA) (ab 12) - Mai 2020 Kasino Lies Pauwels: Lies Pauwels „Stadt der Affen“
- Mai 2020 Burgtheater Anne-Cecile Anne-Cecile Vandalem: Vandalem „Tristesses“ (DEA)
- Mai 2020 Vestibül Siegerstück des Retzhofer Dramapreises 2019 (UA)
- Juni 2020 Akademietheater Alice Birch: Katie Mitchell „2020 oder das Ende“ (Arbeitstitel)
- UA: Uraufführung
ÖEA: Österreichische Erstaufführung
DEA: Deutschsprachige Erstaufführung
Ü: Übernahme vom Residenztheater
Vier Stücke nimmt Kusej aus München vom Residenztheater mit: Wer hat Angst vor Virginia Wolfe, Faust, Don Karlos, Der nackte Wahnsinn.
Oktober: „Meister und Margarita“ aus Tallinn, körperbetont, bilderstark.
Mai 2020 am Burgtheater: „Tristesses“ von Anne-Cecile Vandalen, Eigenregie, erzählt von den Dörfern aus der Provinz, Belgien
Ab Oktober 2020: Apropos Gegenwart: Debatten
Ab Januar 2020: Debating Europe (bleibt)
Januar-März 2020: Ein Europa ohne Nationen – Europamaschine
Vieles macht genußvolle Lust auf die Grande Dame aller Theaterhäuser.
geh, hans peter, alter freund: bevor du mich die verkörperung des klischee eines wiener theaterkritikers schimpfst, versuch doch zuerst einen ordentlichen genitiv zusammenzubringen