vonhausblog 21.03.2023

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Es ist nicht zu fassen: Niels Kadritzke, dienstältestes Redaktionsmitglied der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique, feiert seinen Achtzigsten!​

Seit Oktober 1995 – also (fast) so lange, wie es die deutsche LMd gibt – ist Niels fester Bestandteil der Redaktion. Er kann sich als politischer Zeitzeuge an Dinge erinnern, von denen wir anderen nur gelesen haben. Und wenn er nicht in Berlin ist, sondern auf seiner griechischen Insel ein Rudel teils sehbehinderter Katzen versorgt oder aus seinem Warschauer Domizil seine exzellenten Übersetzungen und Redigate liefert, kommt er immer mal wieder als Telefonjoker zum Einsatz.​

Niels hat ein enzyklopädisches Wissen. Es gibt mehrere Spezialgebiete, über die er aus dem Stegreif stundenlang referieren könnte – was er aber nicht tut. Wir haben ihn in all den Jahren – Jahrzehnten! – nie monologisieren hören. Er hat das nicht nötig, er ist nämlich ebenso bescheiden wie wohlinformiert und eines der seltenen Wesen, die prinzipiell das Gespräch suchen: in der Eisenbahn, beim Essen, in jedweder Runde. Ein im besten Sinn Neugieriger. Er kann zuhören, und er hört zu. Wahrscheinlich weiß er deshalb so viel.​

Das einzige Thema, bei dem er kaum zu bremsen ist, ist Fußball. Aber auch hier verliert Niels niemals seinen schmunzelnden Ton und seine gesunde Selbstironie: Selbst nach verheerendsten Niederlagen des VfB Stuttgart lässt er Anhänger gegnerischer Mannschaften großzügig zu Wort kommen.​

Niels ist ja Fluchtschwabe, er kam als kleines Kind aus dem einstigen Westpreußen in ein Dorf nahe Waiblingen. Gelegentlich erzählt er Geschichten von den Sprach- und sonstigen Integrationshemmnissen dieser Zeit, wobei sein Unterkiefer, die schwäbische Phonetik perfekt formend, auf unnachahmliche Weise zum Einsatz kommt. Schwabenwitze aus seinem Repertoire sind vor allem deshalb komisch, weil er es ist, der sie erzählt.​

Wo Niels wirklich zu Hause ist, wissen wir nicht. In Stuttgart wohnt sein Fußballherz, in Warschau seine Liebste, auf der Insel, von wo aus er seit sieben Jahren regelmäßig an seinem Griechenland-Blog für LMd schreibt, seine Katzenfamilie – und in Berlin wir, seine Redaktion. Niels ist ein wunderbarer Kollege, am Bildschirm, am Telefon, aber vor allem: in echt.​

Die Redaktion von Le Monde diplomatique


Von Ulrike Herrmann

Niels kannte ich lange Zeit nur aus der Ferne, denn Le Monde diplomatique saß damals in dem „anderen Gebäude“ und war gefühlt eine Weltreise entfernt, obwohl es sich faktisch nur um eine Straßenecke handelte. Diese freundliche Distanz endete ganz plötzlich, als im März 2010 die „Eurokrise“ ausbrach. Wir Öwis wussten sofort, wer der ideale Erklärer für uns wäre: Niels. Denn es war allseits bekannt, dass er fließend Griechisch sprach und lange in Griechenland gelebt hatte.

Wir gedachten also die Berichterstattung auszulagern und einem anderen Ressort aufzuladen, doch dieser bequeme Plan hatte einen Haken: Niels weigerte sich. Er wollte nicht in die Tagesproduktion einsteigen, sondern lieber längere Texte für Le Monde diplomatique schreiben oder betreuen. Niels sagte lächelnd zu mir: „Schreib Du doch die Artikel.“ Er würde mich gern beraten.

Für mich wurde es eine wunderschöne Zusammenarbeit. Niels bombardierte mich mit Informationen, Statistiken und Texten. Es ist nicht übertrieben: Fast alles, was ich über Griechenland weiß, weiß ich von Niels.

Ein begnadeter Netzwerker

Zugleich versorgte mich Niels mit seinen Kontakten. Niels ist ein begnadeter Netzwerker. Er will, dass sich seine Freunde, Bekannten, Kollegen und Quellen untereinander kennen. Ich kann hier gar nicht alle Namen nennen, aber sehr eindrucksvoll waren zum Beispiel die Begegnungen mit Kaki Bali, einer Athener Journalistin, die unter anderem den griechischen Premier Tsipras in der Eurokrise beraten hat.

Ganz früh lernte ich auch Giannis Stournaras kennen, der inzwischen die griechische Zentralbank leitet und alle Regierungswechsel unangefochten überstanden hat, weil kein Kabinett auf seine Kompetenz verzichten kann. So war es immer: Niels kennt (fast) jeden in Griechenland, und mit vielen durfte ich sprechen.

Eines Tages kam eine Mail von Niels. Er hatte irgendwie gehört, dass ich an einem Buch arbeitete. „Das Buch kannst Du doch auch auf einer Insel schreiben“, fand er. So lernte ich sein „Häuschen“ kennen und viele Katzen lieben. Auch dort profitierte ich von Niels Leidenschaft, Netzwerke zu schmieden und zu pflegen.

Einkaufen bei Dimitri

Unter anderem wurde ich instruiert, regelmäßig bei Dimitri einzukaufen, der einen kleinen Laden oben im Dorf führte. Denn Niels wollte, dass dieses Geschäft überlebt, damit die alten Dorfbewohner nicht die vielen Treppen zum Hafen hinabsteigen mussten, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Also war ich regelmäßig bei Dimitri – und lernte nicht nur seine Kanarienvögel gut kennen, sondern auch den griechischen Alltag. Das war heilsam, gerade in Zeiten der Eurokrise. Dank Niels sah ich, wie sie sich auf das Leben auswirkte, fernab der griechischen Zahlungsbilanzen.

Die Eurokrise ist momentan scheinbar vorbei, aber zum Glück nicht der Kontakt zu Niels. Ende Februar meldete er, dass er neue Wanderwege entdeckt hätte. Da kann ich nur sagen: Ich bin dabei!

Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der taz.


Von Thomas Schmid

Lieber Niels,

knapp zwei Stunden dauert heutzutage die Zugfahrt von Rosenberg (heute Susz), wo Du gestartet bist, nach Warschau, wo Du angekommen bist. Zum Glück hast Du einen beschwerlichen Umweg genommen (aber leichte Lösungen lagen Dir noch nie) – einen Umweg über Rommelshausen und Berlin. Zum Glück. Denn sonst hätten wir uns nie kennengelernt, und mein Leben wäre anders verlaufen. Nie hätte ich Trotzkis Reportagen über die Balkankriege gelesen, nie hätte ich meine eigenen Reportagen aus Griechenland und Zypern so schreiben können, wie es mir dank Deiner zahlreichen Hilfestellungen gelungen ist, und nie wäre ich in das Paradies auf einem von Katzen jeglicher Rasse bevölkerten griechischen Eiland eingetreten. Ich habe Dir also wahrlich viel zu verdanken.

Meine erste Erinnerung an Dich datiert vom Herbst 1973. Du warst 30 Jahre alt (jetzt bloß nicht weiterrechnen!). Das ist nun just ein halbes Jahrhundert her, und die Erinnerung verliert sich im Ungefähren, mag trügen. Da sah ich auf der Straße in einer Entfernung, die etwa jener zwischen dem Torwart und dem Elfmeterschützen entspricht, einen (schon damals) gut aussehenden Mann in weißen Sportschuhen, eine Mappe unter dem Arm. Der Genosse, der neben mir stand, sagte nur: „Da drüben steht Niels, Niels Kadritzke.“ Den Namen kannte ich natürlich, hatte ich auch schon gelesen. Aber leibhaftig war ich Dir noch nie begegnet. Wir führten nur ein kurzes Gespräch. Worüber, weiß ich nicht mehr.

Zwei Jahrzehnte später sind wir uns wieder begegnet, im Südosteuropakulturzentrum an der Großbeerenstraße. Wir waren beide Auslandsredakteure, Du bei der Wochenpost, ich bei der taz, und beide trieb uns der Krieg in Bosnien um. Du kritisiertest in unserem ersten Gespräch, an dessen Inhalt ich mich erinnere, einen Kommentar von mir. Ich war nicht erschüttert, ging aber doch nachdenklich nach Hause und in mich – und dachte: „Ja, der Mann hat recht.“ Eine Erfahrung, die ich noch oft machen sollte. Du hattest – ohne Rechthaber zu sein – (fast) immer recht.

Dein Urteil war scharf, apodiktisch

Kurze Zeit danach kamst Du zu einer Redaktionskonferenz der taz – als Blattkritiker. Es ging um die erste deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique. Ich saß neben Dir. Du hattest die Fahnen vor Dir liegen. Alles vollgekritzelt mit Bemerkungen und Korrekturen. Seite für Seite. Kaum ein Satz, übersetzt aus dem Französischen, der Deinen hohen sprachlichen Anforderungen genügte. Die Inhalte, die Du wie auf einem Seziertisch mit strenger Miene zerpflücktest, hatten zum Glück die weit entfernt lebenden Autorinnen und – öfter – Autoren zu verantworten. Dein Urteil war scharf, apodiktisch. Aber Du bliebst bei der Kritik nicht stehen, sondern halfst, die kritisierten Zustände zu verändern – und bist in die Redaktion von Le Monde diplomatique eingestiegen. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass das Blatt Dir viel zu verdanken hat. Deine Kolleginnen und Kollegen wissen das. Und sogar in Paris ahnt man es vermutlich, auch wenn man es nie zugeben würde.

Wie jeder Artikel muss auch dieser ja irgendwie rund werden, muss quasi in eine Nussschale passen, also komme ich zurück auf Rosenberg und Rommelshausen, Westpreußen und Schwabenland. Die beiden haben ja vieles gemeinsam, vor allem Sekundärtugenden, die oft verschmäht werden, obwohl sie eben Tugenden und nicht Laster sind. Du pflegst guten Stil, eine akribische Genauigkeit, die ich sehr schätze (und nur böse Zungen können da einen Erbsenzähler oder gar Korinthenkacker – helvetisch: Tüpflischiisser – am Werk sehen).

Wer, wenn nicht wir Journalisten, sollte – schon pour des raisons de déontologie – gegen die Verluderung und Verhunzung, ja Verwahrlosung der Sprache ankämpfen?! Und Sparsamkeit ist eben nicht Geiz, ist kein Laster, sondern eine Tugend, zumal in einer Welt, die mit ihren Ressourcen auf kriminelle Art verschwenderisch umgeht.

Maultaschensuppe und Käsebröckle

Deshalb werde ich immer gerne mit Dir in der Besenwirtschaft an der Uhlandstraße Maultaschensuppe und Käsebröckle essen. Geizig gehst Du nur mit Deiner Zeit um (jede und jeder, der Dich mal an der Strippe hatte, weiß das), ansonsten bist Du einer der großzügigsten Menschen, die mir begegnet sind, und ich denke da nicht nur an die vielen Kontakte, die Du mir für Recherchen und Reportagen vermittelt hast, und nicht nur an die Insel, wo ich urlauben durfte, auch wenn ich kaum Geld hatte.

Kurzum, Du bist ein preußischer Schwabe, ein Mischling sui generis, hast von beiden Stämmen das Gute geerbt, preußische Disziplin und schwäbische Bodenständigkeit, und das Schlechte von Dir ferngehalten, den preußischen Dünkel und das schwäbische Spießertum. Die Welt wäre eine bessere, gäbe es mehr Menschen Deiner Art. Alles Gute zum wievielten Geburtstag auch immer!

Thomas

Thomas Schmid war 1995 Chefredakteur der taz und unterschrieb damals den Lizenzvertrag für die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique in Paris.


Von Stefan Mahlke

Messerle schon genial

Für Niels zum 80.

Ein wenig gewundert hab ich mich schon, als du, lieber Niels, im vergangenen Jahr vor der Fußballweltmeisterschaft mir was vorschwärmtes von einem magischen Dreieck Kimmich/Gnabry/Werner, wobei da das Magische irgendwas mit der Herkunft zu tun haben musste. Was hattest du noch Jahre zuvor geflucht über den Chancentod Timo Werner (da spielte er noch für den VfB, den Klub seiner Geburtsstadt)! Aber du kannst eben nicht wirklich loslassen, was mich an Heiner Müller erinnert, der mal von seiner idiotischen Liebe zur DDR gesprochen hat.

Die gekaufte WM in gekühlten Stadien wolltest du ja dann eigentlich boykottieren, wusstest aber für einen Boykotteur erstaunlich gut Bescheid. Das mit dem Boykottieren hat dir aber eh keiner abgenommen, dazu liebst du das Spiel viel zu sehr. Und du durftest ja auch nicht die Schwaben aus dem Blick verlieren. Am 9. Dezember 2022 zum Beispiel, schon in der K.-o.-Phase des Turniers, nach dem ersten Viertelfinale, war die wichtigste Nachricht: VfB immer noch dabei.

Klumpfuß Friedrich

Es fing bestimmt früh an, dass du wie ein Ahnenforscher immer alle Teams gescannt hast, ob da nicht irgendwo ein schwäbischer Fuß gegen den Ball tritt. Beim Blick in die Unterlagen sehe ich, dass du mich schon bei der WM 2010 (unsere erste gemeinsame Weltmeisterschaft) „unter uns“ darauf hingewiesen hast, dass in der Berichterstattung zum legendären 4:2 der Deutschen gegen die Engländer „folgende Details nicht auftauchen beziehungsweise systematisch unterdrückt wurden. Sie haben alle mit der Beteiligung eines bestimmten Spielers an allen Toren zu tun. Der Reihe nach:

1. Wer hat eigentlich Neuer bei seinem fabelhaften Abschlag den Rücken freigehalten?
2. Wer hat den fünfletzten Pass in der Ballstafette gegeben, die zu Podolskis Glücks-Kunstschuss zum 2: 0 führte (bitte die Aufzeichnungen noch mal zu studieren)?
3. Wer hat vor dem dritten Tor durch einen Klassesprint in die Strafraummitte die englische Deckung auf sich gezogen und damit dem Duo Schweini/Müller erst den Raum für ihre erfolgreiche Aktion geöffnet?
4. Wer hat den phänomenalen Steilpass auf Özil gespielt, den dieser zur Vorlage für das zweite Müller-Tor inspirierte?

Alle Antworten beginnen mit den Buchstaben Kh. Mehr will ich nicht verraten, wohl aber einräumen, dass bei Punkt 4 die Sache umstritten ist. Man könnte auch den Eindruck gewinnen, dass der Pass aus der Deckung von der Nummer 3, also einem Spieler namens Friedrich kam. Da diese Aktion aber jenseits aller technischen Möglichkeiten des genannten Spielers liegt, ist klar, dass es der Nebenspieler Kh. gewesen sein muss oder dass der wenigstens den Klumpfuß Friedrich durch seine Ausstrahlung zu einem solchen Ball inspiriert (wenn nicht verbal angeleitet hat).“

Bestens informiert über das Schwabenaufkommen im DFB-Kader

Dieser Kh., geboren in Stuttgart, klar, wird vier Jahre später nach dem noch viel legendäreren 7:1 gegen Brasilien vom Guardian als einziger Spieler mit 9 von 10 Punkten benotet, worüber du mich natürlich umgehend informiertest. Das Schwabenaufkommen im DFB-Kader wuchs dann weiter, und auch diesbezüglich hieltest du mich immer auf dem Laufenden.

Ja, das waren große schwäbische Zeiten. Zwischendurch allerdings sollte ich schon mal den Kranz für die Trauerfeier zum VfB-Begräbnis bestellen („Oder reichen deine Sympathien nicht mal so weit?“) oder wurde dienstverpflichtet, dem VfB die Daumen zu drücken. Ich hab das alles nicht nur klaglos ausgeführt, sondern dem VfB immerzu Siege gewünscht – außer freilich gegen den BVB, aber damit konntest du, großzügig wie du bist, leben.

Wenn du mal nicht auf Stuttgarter Spuren im Weltfußball unterwegs warst, hast du – dann doch ein schwäbischer Impuls? – geschaut, „wo das Geld spielt“ – und schon 2012 im gleichnamigen Text für Le Monde diplomatique prognostiziert, dass professioneller Spitzenfußball auf dem besten Weg ist, zum „Hollywood des 21. Jahrhunderts“ zu werden: als das „neue Freizeitspektakel für die Massen in aller Welt, vornehmlich für deren männlichen Teil.“ Wobei du schon wusstest, „dass sich der Fußballbranche noch weit größere kommerzielle Möglichkeiten bieten, weil sich aus ihrem Kernprodukt, dem Stadionereignis, zahlreiche sekundäre Geschäftszweige entwickeln lassen.“

Kaufmännische Dummheit der Fans

Unbestechlich, wie du bist, hast du bei dieser Würdigung die Fans keineswegs außen vor gelassen: „Gibt es einen groteskeren Gegensatz als den zwischen dem vagabundierenden Spielerunternehmer, der seinen Marktwert mithilfe und zum Nutzen professioneller Agenten ständig zu steigern versucht, und dem Fußballfan, der seinem Verein eine bedingungslose Treue hält, die er seiner Freundin oder Frau nie schwören würde?“

Was dich besonders geärgert hat und vermutlich immer noch tut, ist die kaufmännische Dummheit der Fans: „Denn gibt es Dümmeres, als mit dem Tragen von Vereinstrikots im Stadion und auf der Straße für Klubsponsoren zu werben, ohne dafür Geld zu kassieren? Und stattdessen 100 Euro draufzuzahlen; und zwar jedes Jahrs aufs Neue, weil die Vereine pro Saison eine neue Trikotvariante auf den Markt werfen?“

Einen Satz allerdings hattest du in jenem Text noch vor dem Auftritt der Zensoren selbst schon geopfert, um – wie du sagtest – sensiblen Fans wie mir nicht wehzutun: „Die Liebe macht gewöhnlich blind, die Fußballliebe ungewöhnlich dumm.“ Was aber nicht stimmt, Niels, du bist ja das beste Beispiel fürs Gegenteil. Ohne Liebe und Leidenschaft kann man gar nicht so viel wissen über Fußball wie du.

Messis schwäbischer Uropa

Als ich dich während des Halbfinales bei der Katar-WM (Marokko – Frankreich) fragte, ob dich als Halbgrieche die Marokkaner mit ihren Defensivkünsten nicht an ottonische Zeiten erinnern würden, hast du gleich fachkundig korrigiert: „Nee, die sind besser. Und ham keinen importierten Trainer. Aber genauso schönen Torwart. Sehe trotzdem die Kolonialmacht gewinnen, dank des kolonialen DNA-Erbes.“ So kam es dann auch.

Vor dem Finale musste ich dich natürlich fragen, ob es bei den Argentiniern irgendeine schwäbische Großmutter gibt, was die Aussichten, das Spiel zu gewinnen, natürlich hätte steigen lassen. Und wieder hattest du einen Informationsvorsprung: „Na ja, Messis Uropa hieß noch Messerle, aus Schwäbisch Hall, bleibt aber unter uns.“

Dein Kommentar zum Finale dann: „Sieger egal. Ein Kunstwerk. Leider finanzialisiert.“

Und: „Messerle schon genial.“

Stefan Mahlke liest seit 2006 LMd Korrektur und ist seit 2019 Mitherausgeber des „Atlas der Globalisierung“.


Von Christiane Grefe

Lieber Niels,

zu Deinem 80. Unaussprechlichen, Unerwähnten, Unterschlagenen, Unbegangenen, Unbedeutenden will ich jetzt nicht Deine einschlägigen Vorzüge besingen. Also den brillanten Übersetzer, weltläufigen Wochenpost-Auslandschef, peniblen Le Monde diplomatique– und Buchredakteur, bestinformierten Journalisten, wirklichen Bildungsbürger, hoch belesen; den ideologiefreien Linken, unbestechlichen Analytiker, präzisen Formulierer, humorvollen Erzähler, solidarischen Kollegen, herausragenden Griechenlandkenner, bekennenden Remstaler, bescheidenen Menschen, liebevollen Freund, loyalen Wegbegleiter, immer schon Emanzipierten, 1A-Schwimmer, immer schon Fußball- und irgendwann überraschenderweise auch Katzenfan.

Lieber will ich Dich an das erinnern, was ich am meisten vermisse, seit Du als – noch so eine tolle Eigenschaft: wirklicher Europäer – so oft in Warschau oder Griechenland und daher kaum mehr in Berlin bist: Deine Fähigkeiten als Zocker!

Diese Leidenschaft teilen wir, wobei sich die Deine natürlich nicht auf ordinäre Poker- oder andere Automaten, Monopoly oder Malefiz richtet wie bei mir. Du ziehst ein kosmopolitisches, das vielleicht älteste Spiel der Welt, zumindest Europas vor: Backgammon.

Vor dem Würfelglück sind alle gleich

Aber das passt doch gar nicht zu Niels!, mögen viele jetzt denken. Flach, schwarz-weiß und in diesem banalbinären System auch noch zugespitzt: Das ist doch das genaue Gegenteil seines differenzierten Denkens. Außerdem zählten laut Wikipedia Royals wie Kaiser Claudius oder Alfons von Kastilien zu den größten Backgammon-Fans oder Leute wie Christina Onassis, Hugh Hefner und Gunter Sachs. Wirklich nicht das richtige Milieu.

Andererseits steht Backgammon auch für equity oder zumindest gleiche Startchancen; aus Sicht der Spieltheorie ist es ein „Zwei-Personen-Nullsummenspiel mit perfekter Information“. Hier gibt es keine vererbten oder erschlichenen Vorteile. Vor dem Würfelglück sind alle gleich.

Glück? So eine Kategorie ist eigentlich auch schon wieder zu schlicht für den in der Wolle gefärbten Intellektuellen. Doch kein Hinderungsgrund: Bei Backgammon muss man die Optionen, die das Glück eröffnet, schließlich erst mal erkennen und umsetzen können. Außerdem erhöht es die Spannung für das, was mindestens genauso zählt: kühle Strategie.

Mindestens drei Runden Tavli

Einem Geistesmenschen wie Niels kommt zudem entgegen, dass Backgammon nie langweilig werden muss. Allein in Griechenland gibt es zahllose Varianten von Plakoto bis Nackgammon; zudem englische, türkische, ägyptische, irische, spanische und tausend andere Kulturen, in denen Tavli, Tavla, Tablas Reales, Tric Trac, Wurfzabel, Puff Puff mit unterschiedlichen Regeln gespielt wird. Es bietet sich für tagelange Turniere an, auch mit Xenia, gern auf der griechischen Insel im Schatten. Ebenso kann man es unter den Arm klemmen und auf jedem Dorfplatz spielen.

In Berlin nahmen wir es am liebsten abends nach der Arbeit mit zu Yorgos an der Leibniz/Ecke Goethestraße. Weil das Lokal leider der Pandemie zum Opfer gefallen ist, sind wir ins Baba Angora oder in die Besenwirtschaft umgezogen. Erst gibt es viele kleine Meze-Schüsselchen zum Teilen, wahlweise Maultaschen, dazu guten Retsina oder Lemberger und das große Update-Gespräch über Politik und den jüngsten Frust, Spaß und Klatsch. Dann, irgendwann, die Abrundung des geselligen Gesamtkunstwerks, jetzt aber! Tavli. Mindestens drei Runden, gern auch mehr.

Wer nun glaubt, der höfliche Niels, der bei aller Konfliktfähigkeit stets auf Harmonie aus ist, wäre zu defensiv, um seinen Gegner zu blockieren, auszutricksen, rauszuwerfen, ihn offensiv platt- und niedermachen zu wollen, der lernt hier eine vielleicht selten offenbarte Seite dieses vielschichtigen Menschen kennen: die eiskalte, brutale.

Aber, lieber Niels: das kann ich auch! Deshalb geht es bei uns letztlich fast immer unentschieden, also friedlich aus. Happy birthday und: bitte bald wieder!

Christiane Grefe, ZEIT-Autorin, lernte Niels 1991 beim deutsch-deutschen Zeitungsprojekt Wochenpost kennen und ist zutiefst dankbar für 32 Jahre freundschaftliche Reise durch glückliche und traurige Zeiten.


Von Mathias Greffrath

Lieber Niels,

am Ende eines dieser umfangreichen Konvolute, die mir Du mir schickst, wenn ich Dich wieder einmal um eine schnelle Hilfe gebeten habe, weil ich gerade keine Meinung habe über eine weitere unangenehme Verschlingung des Weltgeschehens, schreibst Du, im Übrigen müsse man wohl noch viel mehr Details berücksichtigen, um zu einer soliden Einschätzung zu kommen. Und dann kommt der abschließende Satz: „Mein altes dilemma in a nutshell. Es ist alles viel komplizierter als auf den ersten Blick, weshalb ich entweder gar nichts oder viel zu lang schreibe.“

Gar nichts geht hier nicht, auch wenn es konsequent wäre, auch den 80. Geburtstag von einem, der sich so konsequent und jahrzehntelang Geburtstags- und auch sonstigen personenstandsbezogenen Feiern entzogen hat, zu übergehen. Also steige ich in mein unsystematisches Archiv, und das erste Dokument, das ich finde, ist der einzige Artikel, jedenfalls der einzige, den ich kenne, in dem Du von Dir erzählst: eine Kolumne in der Wochenpost aus dem Jahr 1993, eine Erinnerung an den 21. August 1968, den Einmarsch der Sowjetarmee in die Tschechoslowakei.

Die Ohnmacht, die man nicht vergißt

„Ganz woanders ist etwas geschehen“, so beginnst Du, „aber man erinnert sich wie an einen Eingriff ins eigene Leben. Wahrscheinlich ist es die Ohnmacht, die man nicht vergißt.“ Die Ohnmacht angesichts des Zerbrechens der Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, angesichts der „Macht des funktionierenden Faktischen“ eines „brummenden Kapitalismus“. Die Ohnmacht, die so schlimm sich anfühlt, dass sie schnell kompensiert werden muss, durch Größenphantasien oder die Romantik ferner Revolutionen. Am Ende dieses kurzen Textes steht eine Absage an die „selbstverliebte Radikalität“, die Illusionen und eine „Solidarität, die den Menschen in der CSSR galt, aber mehr noch den eigenen Ideen und Prinzipien. Die sollten nicht nur die Menschheit glücklich, sondern auch uns selber wichtig machen. Man könnte es auch als Opportunismus der selbstverliebten Radikalität bezeichnen.“

25 Jahre zuvor druckt der Berliner Extra-Dienst eine Rede ab, die du am 28. August 1968 vor der Westberliner Militärmission der CSSR gehalten hast. Sie beginnt mit dem Satz „Wir haben uns heute von einer Illusion zu trennen (…) Die Tradition des sozialistischen Internationalismus in der Sowjetunion ist für lange Zeit beendet. (…) Für uns in den Ländern des Westens und in Berlin gilt es, keine politische Resignation aufkommen zu lassen. (…) Im Abschied von außenpolitischen Illusionen haben wir unsere verändernde Kraft nun erst recht zu beweisen.“

Nun erst recht. Das hieß, die eigenen psychischen Bedürfnisse und Erlösungswünsche und die nächsten Schritte nicht zu vermengen. Den langen Marsch antreten – das romantische Wort allerdings habe ich von Dir nie gehört. Dafür meldet der Berliner Extra-Dienst im Februar 1970, dass Du und vier weitere Jusos sich vor einem Charlottenburger Amtsgericht bereit erklärt hatten, als Notvorstand der Berliner SPD zu fungieren, in der die Frontstadtsenioren sich mit Hilfe eines Blockwahlsystems gegen die Linken in der Partei abschotteten. Das scheiterte natürlich und irgendwann hast Du dann wohl, wie viele, die Partei verlassen. Und wurdest zum lebenslangen Aufklärer. „Ich unterschreibe nichts, ich schreibe lieber selber“ – ich glaube, auch der Satz stammt von Dir.

Krimi-Tips, Agentenromane und angelsächsische Literatur

Zum ersten Mal begegnet sind wir uns im Winter 1967, bei Schulungsabenden (die hießen damals noch nicht so) im SHB-Heim im Sven-Hedin-Weg in Zehlendorf, das fest in den Händen von ein paar Schwaben aus demselben Waiblinger Gymnasium war, und wo ich als ziemlich unbelecktes Erstsemester der juristischen Fakultät erste politische Aufklärungen entgegennahm. Du hattest damals schon eine kurze Amtszeit als Asta-Vorsitzender hinter Dir und kamst mir sehr erwachsen vor. Du hattest eben zwei Jahre Vorsprung und gefühlt hast Du sie bis heute. Gelegentlich spukst Du sogar durch meine Träume, wenn sie politisch verkleidet sind: als einer, der mir Artikel abverlangt über Themen, zu denen ich nicht gründlich recherchiert habe, oder als jemand, den ich um Rat bitte, und dabei über Berge von Leitern klettern muss.

Näher kennengelernt haben wir uns erst , wenn ich von meinen kärglichen Versuchen beim Soziologen-Volleyball im Tiergarten absehe – ich gab nach einiger Zeit auf, aber erinnere mich schwach an die Eleganz Deiner Spielweise – ein Vierteljahrhundert später. Da warst Du Außenpolitikredakteur der Wochenpost und versorgtest die Zeitung mit internationalen Autoren und mich mit Krimi-Tips, Agentenromanen und anderer angelsächsischer Literatur.

Irgendwann um die Zeit begann ein sporadisches Ritual: diese Samstagmittage beim Italiener in der Uhlandstraße mit der rotkarierten Tischdecke. Eine feste Burg mit dem immergleichen Ablauf: Spaghetti aglio e olio, kurze Erörterung der Weltlage mit Vertiefungen hinsichtlich der Lage im östlichen Mittelmeerraum, gefolgt von intensiven biografischen Erkundigungen und, ja doch, moralischen Erörterungen über die politischen Verirrungen von Freunden, die Temperatur der Beziehungen, die erstaunlichen Eigenarten von Freundinnen, das Neueste über Geschwister oder Kinder, des Weiteren: Berichten über die interpretatorischen Feinheiten und Empfindungen bei Deinen letzten Konzerterlebnissen inklusive einiger Tips, wie man noch auf den letzten Drücker umsonst in die Philharmonie kommt, gefolgt von Klagen über die Verrohung der Sitten, die beklagenswerte Verschandelung der Stadt, die Privatisierung des öffentlichen Raums und abschließender Selbstkritik und wechselseitigen Warnungen vor altersbedingtem Nörglertum. Das dauerte selten länger als eine gute Stunde, aber es war eine feste Größe in meinen Wochengewohnheiten. Ebenso wie die rituelle Quarkspeise mit den Granatapfelkernen, die Du Jahr für Jahr zum Neujahrsfrühstück und auch sonst zu anderen Gelegenheiten mitbrachtest.

Der jede ungedeckte Behauptung mit Fakten unterminiert

Das wurde anders, als das Haus in Griechenland stand, Deine Musiktips chopinlastiger wurden und Dein Leben im Dreieck Berlin–Griechenland–Warschau zu kreisen begann. Seitdem fehlt mir etwas, aber so ist es nun mal mit älteren Brüdern: Die rauschen gelegentlich vorbei, mit gedrängtem Programm, in das zunehmend auch das Erstaunen über so etwas wie Zipperlein aufgenommen wird, dann setzen sie sich wieder auf ihr Fahrrad und verschwinden für mehrere Wochen, denn sie haben immer noch viel zu tun, und manchmal müssen sie sogar eher abreisen, weil es den Katzen auf einer Insel in der Ägäis schlecht geht. Aber die Versorgung mit Fotos ist gesichert, ebenso wie die mit tiefschürfenden Analysen, die mit Sätzen wie „hier noch ohne Gewähr“, „anbei ein weiteres Mosaiksteinchen“ oder „in der Summe verstärkt sich der Eindruck“ enden.

Für mich ist es eine beglückende Hintergrunderfüllung: das Wissen, dass da jemand da ist, den ich um Rat fragen kann, der jede ungedeckte starke, gar feuilletonistische Behauptung mit Fakten unterminiert, der nie vergisst, nach den Nächsten zu fragen, und ganz unerwartet gelegentlich eine Mail mit einem Gedicht schickt.

Lieber Niels, ich möchte hier ebenfalls nicht viel zu lang schreiben, also nur so viel noch: Da steht noch zumindest ein längeres Gespräch an, für das ich die Reise auf Deine Insel gern unternähme: auf Deiner Terrasse sitzen, hoch über dem Hafen, die Schiffe ein- und auslaufen sehen und über das Verhältnis von Schönheit und Radikalität reden. Das klingt sehr nach alten Männern, dafür bleibt also noch Zeit, einstweilen haben wir ja noch zu tun, aber in diesem Zusammenhang könnte ich Dir dann zum Beispiel erzählen, wie es eigentlich dazu kam, dass ich mit meinen beiden Bundeswehrfreunden damals im SHB-Heim aufschlug.

Mathias Greffrath, Jahrgang 1945, Soziologe, Autor u.a. für taz und Radio, ehemals Chefredakteur der Wochenpost, in der Niels Auslandschef war.

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