
Manchmal hören wir in der Lokalredaktion Berlin den Vorwurf, wir würden zu viel über die Themen direkt unserer eigenen Haustüre berichten: Die taz hat ihren Sitz in Kreuzberg, viele Redakteure wohnen in Kreuzberg – daher auch so viel Kreuzberg in der Berichterstattung.
Doch dieser Vorwurf lässt sich durch einen Blick ins Archiv eindeutig widerlegen. In diesem Jahr erschienen auf den Berlin-Seiten jeweils so viele Artikel, in denen folgender Ortsteil auftaucht:
Kreuzberg: 727
Friedrichshain: 375
Neukölln: 367
Schöneberg: 147
Pankow: 139
Hellersdorf: 119
Köpenick: 118
Treptow: 109
Spandau: 101
Wilmersdorf: 63
Zehlendorf: 59
Steglitz: 56
Reinickendorf: 41
Die gleiche Bilanz für die FAZ:
Kreuzberg: 88
Neukölln: 60
Friedrichshain: 36
Schöneberg: 27
Spandau: 22
Wilmersdorf: 15
Hellersdorf: 12
Köpenick: 15
Pankow: 11
Steglitz: 10
Zehlendorf: 9
Treptow: 6
Reinickendorf: 5
Und im Spiegel:
Kreuzberg: 34
Neukölln: 17
Friedrichshain: 13
Schöneberg: 9
Pankow: 6
Zehlendorf: 5
Köpenick: 4
Spandau: 4
Treptow: 4
Reinickendorf: 4
Hellersdorf: 2
Steglitz: 2
Wilmersdorf: 0
Es zeigt sich: Auch in der FAZ und im Spiegel wird wesentlich häufiger über Kreuzberg berichtet als über andere Bezirke. Da diese Medien aber ihren Sitz dort nicht haben und deren Redakteure dort nicht wohnen, muss es andere Gründe dafür geben.
Meine These ist, dass die Medien so viel über Kreuzberg berichten, weil dort so viel Relevantes passiert. Dass die offizielle Politik eine Cannabis-Legalisierung anstrebt, dass das Bundestags-Direktmandat immer an einen ausgewiesenen Kriegsgegner von den Grünen geht, dass Flüchtlingen die Besetzung eines Platzes und einer Schule zwei Jahre lang erlaubt wird, dass Unisex-Toiletten beschlossen werden, dass die Straße vor der Daimler-Vertriebszentrale nach einer Daimler-Zwangsarbeiterin benannt wird, dass die CDU bei der letzten Bezirkswahl nicht mal 8 Prozent schaffte, dass die Bezirksbürgermeisterin grün und lesbisch ist – das gibt es sonst nirgendwo. Der Bezirk ist ein Labor für gesellschaftliche Veränderungen und auch Projektionsfläche für bestimmte Vorurteile (wie beim Märchen vom Weihnachtsmarktverbot). Jedenfalls stößt Kreuzberg auf besonders viel Interesse.
(Aus der Wertung fielen:
– Tempelhof, weil es in den Artikeln oft um den Flughafen statt um den Bezirk geht
– Charlottenburg, weil es dort in vielen Artikeln um Insolvenzen geht, die beim zentralen Unternehmensregister am Amtsgericht Charlottenburg gemeldet werden
– Lichtenberg, Georg Christoph
– Mitte)
Die Frage ist jetzt aber nicht ernst gemeint, hoffe ich?!
Kleiner Tipp: Könnte eine Lokalredaktion (üblicherweise ortsansässig) möglicherweise einen ganz anderen Blick auf „ihre“ Stadt haben als eine überregionale Redaktion?