Als Aushilfshausmeister führt man eigentlich ständig Befehle aus: Da muß ein Regal aufgestellt werden, dort ein kaputter Ventilator ausgewechselt werden usw.. Man spricht hierbei von Weisungen, Anweisungen, Bitten usw.. Bei einigen finde ich Widerworte. Z.B. hatte ich gerade auf Wunsch der Fotoredaktion eine Kühlvitrine in der Kaffeeküche abgebaut und in den Keller transportiert, da „befahl“ man mir, die wieder dort hin zu stellen, wo sie war, weil sie im Keller wegkommen würde. Ich durfte mir dafür jedoch gnädigerweise ein paar Tage Zeit lassen. Überhaupt nimmt der tägliche taz-Umgangston kaum mal einen strikten Weisungscharakter an. Alles ist hier eben alternativ, also easy oder soft.
Jean Baudrillard hat darüber einmal gesagt: „Die Menschenrechte, die Dissidenz, der Antirassismus, die Ökologie, das sind die weichen Ideologien, easy, post coitum historicum, zum Gebrauch für eine leichtlebige Generation, die weder harte Ideologien noch radikale Philosophien kennt. Die Ideologie einer auch politisch neosentimentalen Generation, die den Altruismus, die Geselligkeit, die internationale Caritas und das individuelle Tremolo wiederentdeckt. Herzlichkeit, Solidarität, kosmopolitische Bewegtheit, pathetisches Multimedia: lauter weiche Werte, die man im Nietzscheanischen, marxistisch-freudianistischen (aber auch Rimbaudschen, Jarryschen und Situationistischen) Zeitalter verwarf. Diese neue Generation ist die der behüteten Kinder der Krise, während die vorangegangene die der verdammten Kinder der Geschichte war. Diese jungen, romantischen, herrischen und sentimentalen Leute finden gleichzeitig den Weg zur poetischen Pose des Herzens und zum Geschäft. Sie sind Zeitgenossen der neuen Unternehmer, sie sind wunderbare Medien-Idioten: transzendentaler Werbeidealismus. Dem Geld, den Modeströmungen, den Leistungskarrieren nahestehend, lauter von den harten Generationen verachtete Dinge. Weiche Immoralität, Sensibilität auf niedrigstem Niveau. Auch softer Ehrgeiz: eine Generation, der alles gelungen ist, die schon alles hat, die spielerisch Solidarität praktiziert, die nicht mehr die Stigmata der Klassenverwünschung an sicht trägt. Das sind die europäischen Yuppies.“
Zu Zeiten der Studentenbewegung und auch noch in der ersten taz-Phase waren diese Yuppies anders drauf. Aus einem relativ antiautoritären Elternhaus kommend, dazu Bundeswehr-Deserteur noch vor der Einberufung und seit über dreißig Jahren fast immer selbständig (also so gut wie nie angestellt) habe ich sowieso kaum Erfahrung mit Befehlen. In den Sechzigerjahren arbeitete ich jedoch einige Jahre als Dolmetscher und Truppenbetreuer bei der US Air Force – auf einer kleinen „Radio Relay Station“ bei Bremerhaven, die Teil des Raketenfrühwarnsystems der NATO war. Elf „Airmen“ waren dort stationiert sowie ein Unteroffizier. Nur einmal im Monat kam ein Offizier vorbei – zur Kontrolle. Einmal hatten sich alle in der Zwischenzeit einen Schnurrbart wachsen lassen. Der Offizier sagte nichts, aber als er schon in seinem Auto saß und wir uns vor der Tür versammelt hatten, um ihn zu verabschieden, kurbelte er noch einmal die Scheibe runter und sagte: „Ich hab nichts gegen Bärte, aber bitte schneidet sie so wie ich es tue.“ „Hä?!“ fragte ich die anderen – als er weg war, „was soll das denn bedeuten? Der hat doch gar keinen Bart!“ „Genau,“ meinte unser Sergeant, „das bedeutet, wir sollen sie abrasieren.“ Das war also ein amerikanischer Befehl! Heute sagt der Spieß übrigens nicht mal mehr bei der US Army: „Ich befehle Ihnen…!“ sondern er brüllt: „Do we communicate?!“ Bei der Bundeswehr geht es inzwischen sogar noch verquetschter zu – wovon zuletzt Sven Regner in seinem Buch „Neue Vahr Süd“ sehr schön berichtete. Mir erzählten zwei Freunde, die ihren Wehrdienst in einem hessischen Panzergrenadierregiment ableisten mußten, wo man den deutschen Adel konzentriert (sie haben dort eine eigene Sektmarke namens „Satteltrunk“ im Offizierskasino), dass sie in den Manövern stets einem schwulen Major als dessen Adjudanten zugeteilt wurden – und der sagte ihnen: „Ihr müßt immer nur in meiner Nähe bleiben, immer in meiner Nähe.“ Auch das war ein Befehl. Eine der für die Berliner Studentenbewegung wichtigsten Schriften – von Klaus Heinrich hieß „Über die Schwierigkeit, Nein zu sagen“.
Meinen ersten echten Befehl bekam ich von einem ostdeutschen Atomphysiker – am Baikalsee, wo dieser zusammen mit einer Gruppe russischer Physiker Neutrinos „angelte“. Als wir an einem sonnigen Tag im April mit dem Lastwagen über den zugefrorenen See nach Burjatien fahren wollten, sagte er zu mir, ich solle meine Fellmütze mitnehmen und aufsetzen. Ich sagte „Nein, mir ist nicht kalt!“ Der Wortwechsel ging ein paar Mal hin und her – bis er schließlich meinte: „Ich befehle dir, die Felmütze aufzusetzen!“ – Woraufhin ich mich prompt fügte. Da hatte ich schon gemerkt: In der Sowjetunion bzw. jetzt in Russland geht man autoritärer miteinander um als hierzulande, etwas was mich schon in Berlin – beispielsweise an meinem Russischlehrer Victor – manchmal befremdet hatte. Dafür hat mir der erste sowjetische Befehl noch außerordentlich gut gefallen. Alexander Solschenizyn zeichnete ihn in seinem monumentalen Geschichtswerk „Das Rote Rad“ nach:
Bereits am Ersten März – alter Zeitrechnung – fing die internationale Presse an, die russische „Februar-Revolution“ als „die kürzeste und unblutigste der Geschichte“ zu loben. Den anfänglichen Streiks der Petrograder Betriebe hatte so gut wie niemand Bedeutung beigemessen, aber dann war ein Regiment nach dem anderen aus den hauptstädtischen Kasernen „nach draußen“ gegangen. Offiziere, die sich ihnen in den Weg stellten, wurden entwaffnet und erschossen. Die Gefängnisse geöffnet, die Polizeiwachen und einige Gerichte in Brand gesetzt, die Polizisten erschlagen. Als sogar die kaiserlichen Garden sich der in Permanenz tagenden neuen Doppelherrschaft im Taurischen Palast – Staatsduma plus Sowjet der Arbeiterdeputierten – unterstellten, verfaßten mehrere Intelligenz- Fraktionen im Duma-Gebäude Aufrufe an die Soldaten, sich wieder ihren Offizieren unterzuordnen. Nicht wenige Offiziere hatten unterdes -nach einer Schrecksekunde – selbst die Fähigkeit in sich entdeckt, auf der Revolutionswelle zu surfen. Einige Soldaten wandten sich daraufhin im Taurischen Palast aufgeregt an Nikolaj Dmitrijewitsch Sokolow. Der Rechtsanwalt und außerfraktionelle Sozialdemokrat war Mitglied im Exekutivkomittee des Sowjets der Arbeiterdeputierten. Die Soldaten bestürmten ihn, den Versuchen, die neue Freiheit wieder abzuwürgen, entgegenzutreten. Er erkannte das Problem und sagte ihnen Unterstützung zu. Zusammen mit Sokolow suchte die Gruppe sich einen freien Raum im Taurischen Palast, um sofort zu beraten, was zu tun war.
Sokolow setzte sich an den Tisch und nahm Papier und Feder zur Hand. Neben ihn setzte sich der Sozialist und Journalist Maxim Kliwanskij. Der Kriegsfreiwillige Linde, „am plumpen Soldatenmantel trug er das Universitätsabzeichen“, stellte sich an die andere Seite. „Gleich kann’s losgehen“. Sokolow sammelte seine Gedanken. Ein flammender Appell schwebte ihm vor. In den letzten Tagen hatten sie nie anders als „flammend“ – Flugblätter, Entschließungen, etc- formuliert und ebensolche Reden gehalten. Statt Brot verlangte jetzt alles nach „Reden“. Die Duma- und Sowjet- Mitglieder mußten täglich Dutzende von Reden – auf Bahnhöfen, in Fabriken und Kasernen, aber vor allem vor Delegationen am und im überfüllten Gebäude der Staatsduma – halten. Alle waren heiser. Sokolow hatte in seinem Leben schon viele Gesuche, Beschwerden, Proteste verfaßt. An wen sollte sich aber das Dokument jetzt richten? Er zögerte. Er war übermüdet. Nicht einmal die Form war ihm mehr klar. Beschluß des Arbeiter- und Soldatenrates? Appell? Aufruf an die Garnison? Er schaute fragend den Journalisten Kliwanskij an. Die Soldaten spürten die Unsicherheit vorne am Tisch und rückten mißtrauisch näher.
Da rief plötzlich der Kriegsfreiwillige Linde halblaut aber beschwörend: „Befehl!“. Der Zivilist Sokolow war entrüstet: Wie kann es ein Befehl sein? Wessen Befehl? Der gerade erst hinzugekommene Bolschewik Steklow-Nachamkes sagte: „Als ehemaliger Soldat bin ich auch für Befehl“. Daraufhin schrien mehrere: „Auf Befehl des Duma-Präsidenten und auf unseren Befehl!“ Denn für sie war klar: Nur ein Befehl wird ausgeführt. Was ist das schon – ein Aufruf?! Soldaten sind es gewohnt, daß man sich mit Befehlen an sie wendet, recht so.
Eigentlich gar nicht schlecht – ein revolutionärer Befehl! Aber von wem? Befehle werden von Generälen unterschrieben…
„Und bei uns unterschreibt der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, antwortete Steklow-Nachamkes.
„Aber wie werden Befehle geschrieben?“ Steklow dachte nach. Sein Militärdienst in einem jakutischen Kommando lag schon Jahre zurück, wenn er auch in der Kompanie der beste „Muschkote“ gewesen war und ein Offizier ihm zur Flucht aus der Verbannung verholfen hatte. Und hier gab es keine Offiziere, auch keine altgedienten oder jüngeren Unteroffiziere. Doch die Soldaten erinnerten sich an dies und das aus den früher erhaltenen Befehlen. Einer beugte sich vor und zeigte auf das Papier: „So’n Befehl muß da’ne Nummer haben!“ Wieso Nummer? Es ist doch bis jetzt noch gar kein anderer Befehl ausgegeben worden. Der Soldat ließ nicht locker: „Na, dann eben Nummer eins!“ Sokolow beugte sich und schrieb – in schönen, großen Buchstaben: „Befehl Nummer eins“
Die im Raum versammelten rückten noch näher. Der Soldat ergänzte: „Und da muß das Datum hin!“ „Gehört denn das Datum an den Anfang?“ „Gut, den wievielten haben wir heute?“ „Herrje, so viel haben wir erlebt, und es ist immer noch der 1. März?“ Sokolow schaute in die Runde, die Soldaten zündeten sich eine neue Zigarette an – und aus ihren frischen Erinnerungen kam es wie gedruckt: „An die Garnison des Petrograder Militärbezirks. Allen Soldaten der Garde, der Armee, der Artillerie und der Flotte….“
Klangvoll und laut, aber noch zuwenig, ihr erster Befehl sollte mehr enthalten. „Zur unverzüglichen und genauen Ausführung!“ Sie wußten selber, daß man so etwas nicht schreibt. Aber auf solche Worte wurde immer gehört. Und dieser Befehl verteidigte ihre Köpfe. Also schreib es hin. Sokolow schrieb, dann stutzte er: „Halt mal, Genosse… Und wo stehen die Genossen Arbeiter? Die Arbeiter muß man mit einbeziehen.“ „Braucht man nicht“. „Arbeiter geht das nichts an!“ Ein Soldat mit Schnurrbart erklärte: „Befehl – das ist Befehl! Gilt nur für uns.“ Der Journalist Kliwanksij hielt dagegen, daß ohne Arbeiter gar nichts gehe. Den Soldaten tat es leid um die Form des Befehls. Man stritt hin und her. Schließlich: „…Den Arbeitern zur Kenntnisnahme…“
Und was wird in Befehlen weiter geschrieben? Alle bewegten sich gedanklich gewissermaßen auf Neuland. Weiter wird geschrieben: Ich befehle! Aber wer ist „ich befehle“? Wer ist „ich“?
Alles stockte. Von hinten diktierte Steklow-Nachamkes laut: „Der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten hat beschlossen…“ Na ja meinetwegen. Und nun weiter die Hauptsache. Die Soldatenkomitees, damit mußte man anfangen. Sie waren der Hebel des Archimedes. Aber wie schreibt man das in einem Befehl? „In allen Kompanien, Batterien, Schwadronen…“ Linde mit geschlossenen Lidern, als höre er Musik, lächelte fast: „Schreib: und Bataillonen!“ „Schreib: und Regimentern!“ „Und wie heißt es bei den Matrosen?“ Ein anwesender Matrose: „Auf den Schiffen der Kriegsmarine.“
„…sind unverzüglich Komitees aus gewählten Vertretern der Mannschaften zu bilden.“ „Auch Unteroffiziere?“ „Sie gehören zum Mannschaftsstand“. „Und die Komitees wozu – was machen die?“ „Die machen alles. Alle müssen ihnen gehorchen“. „Das klappt nicht!“ „Nee! Ohne Offiziere kann man nicht“.
Die Soldaten stritten. Sokolow ging derweil zum Konkreten über: „…Je ein Vertreter pro Kompanie …Mit schriftlicher Beglaubigung…Am 2. März um zehn Uhr morgens…Im Gebäude der Staatsduma“.
Die Armee der Staatsduma wegnehmen. Und das schon morgen früh! Steklow-Nachamkes hakte nach: „Nikolaj Dmitritsch, betonen Sie: In allen politischen Angelegenheiten untersteht jeder Truppenteil dem Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten seines Komitees. Niemandem sonst“. Sokolow schrieb es. Kliwanskij diktierte ihm weiter: „Befehle der Militärkommission der Duma sind nur auszuführen, wenn sie zu den Befehlen und Beschlüssen des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten nicht in Widerspruch stehen…“
Die Soldaten diskutierten weiter über die Hauptsache, so wie sie sie auffaßten: Wer kriegt die Waffen? „Die Offiziere kriegen keine!“ „Wegen der Freiheit müssen wir sie selber nehmen!“ „Aber wenn der Offizier nicht über die Regimentswaffen verfügen darf, was für eine Truppe ist das denn? Wozu soll die taugen?“
Die Gebildeten am Tisch waren anderer Meinung: „Da gibts nichts zu diskutieren! Den Offizieren darf man unter keinen Umständen Waffen geben.“ „Schreib noch mal extra auf: Gewehre, Maschinengewehre…“ „Granaten und Panzerwagen, laß nichts aus.“ „Und etcetera! Überhaupt muß ein Etcetera immer hin, könnte ja sein, daß wir mal was auslassen.“
„…Müssen sich in den Händen und unter Kontrolle der Kompanie- und Bataillonskomitees befinden und dürfen unter keinen Umständen den Offizieren ausgeliefert werden.“
Nun wurde alles diskutiert: Offiziere müssen in der Kaserne wohnen; die Schulterstücke kriegen sie abgenommen, und wen seine Kompanie nicht bestätigt – auf die linke Flanke. Und wie geht das jetzt?
Linde reckte seinen Arm wie einen Flügel: „Ja ja! Genossen! Wenn die Komitees wählbar sind, dann die Offiziere erst recht!“ Die Soldaten – ungläubig: Einen, den wir selber zum Offizier möchten? So zur Verzierung?
Kliwanskij erklärte: Nicht gerade aus den Reihen der Soldaten, sondern die besten von den Offizieren. Habt ihr schlechte gehabt, dann weg mit ihnen. Die Soldaten wurden unsicher, derweil vorne weiter geschrieben wurde. „Nee, nee! Alles muß ganz genau mit Militärdisziplin sein, anders nicht. Der Deutsche steht im Land, wie soll’s da in der Armee ohne Ordnung gehen?“ Die Soldaten wollten Disziplin haben. „Gut,“ räumte Sokolow ein.
Er wunderte sich über die Ängstlichkeit der Herde, und wiederholte noch einmal laut, was er schrieb: „Bei Ausübung ihres Dienstes müssen die Soldaten strengste militärische Disziplin einhalten.“ Recht so. Die Soldaten feixten. Ohne Ordnung – was wäre das für eine Armee? „Und außerhalb des Dienstes ist trotzdem Freiheit. Die Soldaten genießen volle Bürgerrechte!“ „Und sie brauchen nicht mehr zu salutieren,“ ergänzte Kliwanskij.
Wieder waren die Soldaten unzufrieden: „Was für’n Dienst ist das denn – ohne Salutieren?“ Linde wurde rot und rief: „Auf keinen Fall salutieren!“ Sokolow versuchte zu vermitteln: „Man kann es doch auch so machen: außerhalb des Dienstes keine Ehrenbezeigung. Ein Schritt aus der Kaserne und schon braucht ihr nicht mehr zu salutieren.“
Ja, so ist’s richtig. Is ja jetzt auf der Straße auch schon so üblich. Selber haben sie den Säbel abgegeben und haben es anerkannt. „Stark – Brüder, haben unsere Kommandeure bloß ausgesehen, in Wirklichkeit sind es Schlappschwänze.“
„Und was ist mit ‚ Euer Hochwohlgeboren‘ fragte Sokolow – und antwortete sich selbst: „Etwa auch im Dienst? Wozu? Wird abgeschafft!“ „Ja, ist recht! Was soll das noch?“ Sokolow schrieb: abgeschafft! „Auch die Du-Anrede muß abgeschafft werden!“ rief Linde. „Was soll man denn sonst sagen?“ „Unbedingt abschaffen!“ insistierte Kliwanskij, „das ist Herabsetzung eurer Menschenwürde“. Plötzlich ihr und wir.
Sie sahen das nicht so. Was für Hammel! „Und wie soll man anreden?“ „Mit ‚Sie'“. „Wenn ich mal mit einem allein bin, dann kann ich doch nicht plötzlich ‚Sie‘ zu ihm sagen. Da fällt einem ja der Kiefer runter.“ Alle lachten. Kliwanskij drängte Sokolow – und der schrieb: „Das Duzen der Soldaten ist verboten… Jede Übertretung dieser Anordnungen…Ist den Kompaniekomitees zu melden…“
So, und jetzt Schluß damit. Es ist alles gehörig erledigt. Doch einer der Soldaten erinnerte sich noch: „Ein richtiger Befehl muß den Einheiten vorgelesen werden – allen Kompanien, Batterien, Schwadronen, Equipagen etcetera.“ Damit war es endlich vollbracht. Sokolow entließ die Soldaten und sortierte seine Blätter. Am nächsten Tag erschien der Text als Flugblatt. Wenn man nicht die alte Armee desorganisiert, dann desorganisiert sie die Revolution.
In der taz hängt auch so ein Flugblatt auf allen Etagen – mit einem richtigen Befehl – der Geschäftsführung in diesem Fall, die damit ein allgemeines Rauchverbot durchsetzte. Auch dabei gab es Widerworte, erst kürzlich in einem Artikel von Katharina Rutschky. Es ist ja auch zu blöd: Bloß weil die bürgerlichen Politiker, denen die Nationalökonomie unter den Fingern zerrinnt, bald nichts Vernünftiges mehr zu regeln haben, regieren sie immer mehr in die Privatsphäre der Bürger rein – und verbieten z.B. das Rauchen, erlauben Tierehen, diskutieren das Für und Wider von Kopftüchern und animieren Akademikerinnen zum Kinderkriegen. Aber dazu hat die wunderbare Alenka Zupancic bereits alles Wichtige gesagt – in „Das Reale einer Illusion“. Ihr geht es mit Lacan darum, „dass der Kampf für ein Reales der Ethik zu wichtig ist,…um ihn den Moralisten zu überlassen.“ Was heute um so dringlicher erscheint, da die Ethik inzwischen zu einer der Ordnungsbegriffe der ’neuen Weltordnung‘ geworden ist. Dabei geht es ihr „nicht etwa um einen Aufruf ’nach unseren tiefsten Überzeugungen‘ zu handeln, eine Haltung, der heute eine Ideologie entspricht, die uns ermahnt, unseren ‚authentischen Neigungen‘ und unserem ‚wahren Selbst‘ Gehör zu schenken.“ Denn „das Kennzeichen einer freien Handlung liegt darin, dass sie den Neigungen des Subjekts ganz fremd ist“, wie Zupancic anhand ihres Traktats „über“ Kant, der eine „Rückkehr zur Zukunft“ ist, herausarbeitet. Es geht darin um Kants „Ethik“, die im Zuge der Umwandlung des Sozialstaats zu einem Sicherheitsstaat, der mit kostengünstigen Gesetzen nur so um sich wirft, immer mehr in deren Dienste genommen wird: Und das eben ist die Scheiße! Denn dadurch wird die Ethik etwas „im Kern Restriktives, eine Funktion“. Möglich wird dies laut Zupancic dadurch, dass man „jeder Erfindung oder Schöpfung des Guten entsagt und ganz im Gegenteil als höchstes Gut ein bereits fest Etabliertes oder Gegebenes annimmt (das Leben etwa) und Ethik als Erhaltung dieses Gutes definiert.“ Das Leben mag die Voraussetzung jeder Ausübung von Ethik sein, aber wenn man aus dieser Voraussetzung das letzte Ziel der Ethik macht, ist es Schluß mit der Ethik. Sie basiert nunmehr auf einer regelrechten Ideologie des Lebens. „Das Leben sagt man uns, ist zu kurz und zu ‚kostbar‘, um sich in die Verfolgung dieser oder jener ‚illusorischen‘ Projekte verstricken zu lassen“. Die Individuen müssen sich immer öfter Fragen lassen: Was hast du aus deinem Leben gemacht? Du hast zehn Jahre mit einer Sache verloren, die zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hat? Du hast keine Nachkommen? Du bist nicht einmal berühmt? Wo sind denn die Ergebnisse deines Lebens? Bist du wenigstens glücklich? Nicht einmal das! Du rauchst?“ Zupancic fährt fort: Man wird nicht nur für sein Unglück verantwortlich gemacht, „die Lage ist noch viel perverser: das Unglück wird zur Hauptquelle der Schuldigkeit, zum Zeichen dafür, dass wir nicht auf der Höhe dieses wunderbaren Lebens waren, das uns ‚geschenkt‘ worden ist. Man ist nicht etwa elend, weil man sich schuldig fühlt, man ist schuldig, weil man sich elend fühlt. Das Unglück ist Folge eines moralischen Fehlers. Wenn du also moralisch sein willst, dann sei glücklich!“
Nein! Aber was das Rauchen in der taz betrifft, da habe ich mich dennoch so gut wie gefügt. Ach!
Was Befehle – und was daraus werden kann – betrifft, sei an die unsterbliche Nummer von Wolfgang Neuss erinnert, die INNERE FÜHRUNGS-KETTENREAKTION
„Der Oberst sagt zum Adjutanten:
Morgen früh um neun ist eine Sonnenfinsternis. Etwas, was nicht alle Tage passiert. Die Männer sollen im Drillich auf dem Kasernenhof stehen und sich das seltene Schauspiel ansehen. Ich werde es ihnen erklären. Wenn es regnet, werden wir nichts sehn. Dann sollen sie in die Sporthalle gehn.
Der Adjutant zum Hauptmann:
Befehl vom Oberst: Morgen früh um neun ist eine Sonnenfinsternis. Wenn es regnet, kann man sie vom Kasernenhof nicht sehn, dann findet sie im Drillich in der Sporthalle statt. Etwas, was nicht alle Tage passiert. Der Oberst wird erklären, warum das Schauspiel selten ist.
Der Hauptmann zum Leutnant:
Schauspiel vom Oberst: Morgen früh neun Uhr Einweihung der Sonnensfinsternis in der Sporthalle. Der Oberst wird erklären, warum es regnet. Sehr, sehr selten so was!
Der Leutnant zum Feldwebel:
Seltner Schauspielbefehl: Morgen neun Uhr wird der Oberst im Drillich die Sonne verfinstern, wie es alle Tage passiert in der Sporthalle, wenn ein schöner Tag ist. Wenn’s regnet: Kasernenhof!
Der Feldwebel zum Unteroffizier:
Morgen um neune Verfinsterung des Obersten im Drillich wegen der Sonne. Wenn es in der Sporthalle regnet, was nicht alle Tage passiert, antreten auf dem Kasernenhof. Äh … sollten Schauspieler dabei sein, solln sich selten machen.
Gespräch unter den Soldaten:
Haste schon gehört, wenn’s morgen regnet? Tja, ich weiß — der Oberst will unser Drillich verfinstern. Das dollste Ding: Wenn die Sonne keinen Hof hat, will er ihr einen machen. Schauspieler sollen Selter bekommen, typisch. Dann will er erklären, warum er aus rein sportlichen Gründen die Kaserne nicht mehr sehen kann.
Schade, daß das nicht alle Tage passiert.
Wen wundert es da noch, daß auf den Truppenübungsplätzen die Manöver-Beobachter nie voll getroffen werden!“