Als Aushilfshausmeister ist man u.a. auch für die Ordnung und Sauberkeit auf dem Hof zuständig, wo zehn Müllcontainer stehen, aber manchmal doch was danebengeworfen wird. Gestern fand ich – bereits zum vierten Mal – ein Paar Schuhe dort: Damenschuhe. Auf solche stößt man auch bei Spaziergängen im Wald oder in Parkanlagen ständig. Eigentlich gibt es nur eine Erklärung dafür: Da wurde eine Frau bedrängt – und um sich dem schneller, durch Flucht, zu entziehen, entledigte sie sich ihrer unbequemen Stöckelschuhe. Apropos: An anderer Stelle hatte ich bereits erwähnt, dass die kollektiv zusammenarbeitenden Rinderzüchterinnen in der Wüste Gobi mich wegen ihres selbstbewußten Auftretens kürzlich außerordentlich beeindruckten. Man hätte am Liebsten sofort mit ihnen Pferde stehlen mögen. Was ich nicht erwähnte, war, dass die Frauen dort in der Wüste fast alle vornehme hochhackige Damenschuhe trugen – bei ihren Meetings in der „Community-Jurte“. Später besuchte unsere Reisegruppe eine Frauen-Genossenschaft, die u.a. Filzstiefel herstellt. Anschließend kamen wir auf das bei uns langsam aussterbende Schusterhandwerk zu sprechen.
Einst gehörten die Schuster zu den Radikalsten. Nicht selten ergriffen Wehrunfähige und Krüppel diesen Beruf, dafür waren sie sehr gebildet, stellten oft die Dorfschreiber und beschäftigten bisweilen sogar Vorleser während ihrer Arbeit. Es ist der Beruf, der lange Zeit die meisten Philosophen, Agitatoren und Terroristen hervorbrachte, daher die obrigkeitliche Warnung „Schuster bleib bei deinen Leisten!“ In der DDR erinnerten die PGH „Hans Sachs“ und „Jakob Böhme“ an diese Tradition, auch Ceaucescu war übrigens ein Schuster. Doch die industrielle Revolution und zuletzt die exproletarischen Men-in-Sportswear-Banden im Verein mit dem Turnschuhminister und der Sneakerjugend ließen die Schuster langsam aussterben. 2004 hat Eric Hobsbawm noch einmal an ihre ruhmreiche Rolle in der frühsozialistischen Bewegung erinnert. Und ich habe etwa zur selben Zeit der vielen alt gewordenen und deswegen entlassenen blonden Schuhverkäuferinnen in Berlin gedacht, die jetzt zur Aufbesserung ihrer schmalen Rente Anschaffen gehen.
Ansonsten gibt es nun immer mehr Schuhmuseen: in Weißenfels, in Hauenstein, in Offenbach (das zuletzt die Schuhe von Guido Westerwelle erwarb); ferner eins in Florenz vom Schuhfabrikanten Ferragamo, in Zlin von der Bata-Dynastie, in Schönenwerd von Bally, und auf der Vogelinsel vor Neuwerk sammelt der Vogelwart alle angeschwemmten Badelatschen. Daneben werden auch noch in den diversen „Museen des Kommunismus“, „der Okkupation“ und den „Gedenkstätten des „Totalitarismus“ bzw. „Faschismus“ gerne Schuhe ausgestellt: Im Warschauer Museum des Kommunismus ist es ein Paar linke Schuhe. Dazu wird erklärt, dass es sich dabei um eine Prämie handelt, mit denen in den Fünfzigerjahren Arbeiter des Stahlwerks „Warszawa“ ausgezeichnet wurden. Im Eisenhüttenstädter Zentrum für DDR-Alltagskultur ist es ein Paar rote Damenschuhe, die in der DDR für den westdeutschen Konzern Salamander produziert wurden: So wie heute fast alle Schuhe in Billiglohnländern gefertigt werden. Im Okkupationsmuseum von Tallin ist es ein Paar zerfetzte Schuhe – mit denen ein einst nach Deutschland verschleppter Este wieder in seine Heimat zurückkehrte. In Riga ist es ein paar rote Filzstiefel – mit denen ein nach Sibirien verbannter Lette sich wieder nach Hause schleppte. Im Moskauer Weltraummuseum sind die silbernen Kosmosstiefel von Juri Gagarin ausgestellt und im dortigen Revolutionsmuseum ein Paar Bastschuhe, das zeigen soll, wie arm die Bauern vor der Kollektivierung waren. Im Gulag-Museum von Perm-36 ist es ein mit Draht zusammengehaltenes Paar Halbstiefel, das von einem Häftling getragen wurde. Im Marikina Museum von Manila sind dreihundert edle Damenschuh-Paare ausgestellt, die der Diktatorengattin Imelda Marcos gehörten. Sie hat das Museum sogar selber eingeweiht. In Amerika sagt man angesichts einer solchen Sammelmacke bereits: „that’s imeldas!“. Im Revolutionsmuseum von Havanna sind die Schuhe und Socken, die Ché Guevara zuletzt trug, aufbewahrt. Im Saigoner Museum für Ho Chin Minh sind dessen aus Autoreifen geschnittene Sandalen ausgestellt. Ähnliche gibt es dutzendweise auch im Foltermuseum von Pnom Penh zu sehen – ohne Kommentar. In Auschwitz hat man gar einen Haufen mit tausenden von Schuhen ausgestellt, die von ermordeten KZ-Häftlingen stammen: Im Internet gibt es allein dazu inzwischen 39.000 Eintragungen. Die meisten dieser Gedenkstätten mit Schuhexponaten sind in einer „Internationalen Koalition der Gewissens-Museen“ zusammengeschlossen.
Der österreichisch-kommunistisch-kroatische Philosoph Boris Buden hält all das für eine bedenkliche postmoderne Verkultivierung von Geschichte, Ökonomie und Politik, die bloß anzeigt, dass die Zeit zum Stillstand gekommen ist. Die Betrachtung der Schuhe in den Museen des Kommunismus, mindestens der zwei linken in Warschau, mündet dafür aber für Buden am Ende immerhin in eine Moral: „Frag nie: Wer ist diese unterdrückte, hilflose, bemitleidenswerte Kreatur, die in den Schuhen des Kommunismus herumirrte? Du bist es! Du schreitest, hier und jetzt, in den Schuhen des Kommunismus!“ – Obwohl man damit, wie gesagt, eigentlich gar nicht richtig vom Fleck kommt.
Julius Langbehn (aus: „Der Geist des Ganzen“):
„Die amerikanische ‚Durchschnittsphotographie‘, d.h. jenes Verfahren, zehn Lichtbilder von Schustern übereinander zu kopieren, um so den Typus eines Schusters heraus zu bekommen, veranschaulicht klar das Grundverfahren falscher Kennerschaft und Kunst, falscher Wissenschaft und Religion.“
Zu erinnern sei ferner an das ganz ähnliche Verfahren, bei dem tausend übereinander photographierte Amerikaner unterschiedlichster Herkunft – das Bild eines Indianers ergeben.