Mit dem taz-Archiv habe ich als Aushilfshausmeister, aber auch als Aushilfsautor fast nur noch zu tun, wenn dort mal wieder die blaue Tonne voll ist und gegen eine leere ausgetauscht werden muß. Das Archiv ist jetzt in „Sibirien“. Und das kam so: Als die „tazzwei“-Redaktion eingerichtet wurde, verdrängte sie im Vierten Stock einige kleinere Redaktionen, die zwar z.T. in den ehemaligen Filmentwicklungsraum ausweichen konnten, der nicht mehr gebraucht wurde (mit der Chemie ist es erst mal vorbei), aber vor allem ging es um die Le-Monde-Diplomatique-Redaktion, die in den sechsten Stock umziehen wollte – unters Dach, wo sich bisher das taz-Archiv und Randys Bar befand. Noch bevor das alles ausdiskutiert war, mietete die Geschäftsführung neue Räume im Bürohaus auf der anderen Seite der Kochstraße an. Wer würde nun dort hinziehen? Alle sagten „Wir nicht!“, auch die Archiv- und Dokumentationsabteilung, aber sie zogen dennoch die Arschkarte – und mußten schweren Herzens nach „Sibirien“ abwandern, wie die Büros auf der anderen Straßenseite im taz-internen Netz genannt wurden. Das Problem dabei ist vor allem der ununterbrochen fließende Verkehr auf der Kochstraße: Wenn man in Gedanken versunken ist, nur mal eben schnell was in einer der archivierten Zeitschriften (sagen wir: in der „Geheim“) nachkucken will – und deswegen die Straße überquert, kann es leicht passieren, dass einen irgendwelche Scheißpolitiker, -diplomaten, -unternehmer oder ähnliche Wichtigtuer bzw. ihre Polizeieskorten überfahren. Theodor W. Adorno hat dieses Problem an anderer Stelle und zu seiner Zeit bereits öffentlich gemacht (mit einem Leserbrief an die faz):
„Beim Überschreiten der Senckenberganlage, nahe der Ecke Dantestraße, ist eine unserer Sekretärinnen, Frau Woch, überfahren und erheblich verletzt worden, nachdem an derselben Stelle wenige Tage vorher ein Passant tödlich verunglückt war. Nachdem ich auf die Mißstände der Verkehrsregelung auf der Senckenberganlage dort, wo sie an der Universität vorbeiführt, verschiedentlich aufmerksam gemacht habe, ohne etwas erreichen zu können, wende ich mich heute an die Öffentlichkeit. Die Senckenberganlage hat sich zu einer der verkehrsreichsten Ausfallstraßen entwickelt. Breit und mit mehreren Bahnen, lädt sie geradezu die Autos dazu ein, loszufahren. Zugleich aber muß diese Straße dauernd von all denen überquert werden, die ebenso an der Universität wie an den auf der anderen Seite der Senckenberganlage befindlichen Institutionen arbeiten. Verkehrslichter fehlen. In unwürdiger Weise muß man über die Straße rennen, um nicht im buchstäblichen Sinn unter die Räder zu kommen; auf der Seite der Mertonstraße ist die Situation besonders gefährlich, weil die Senckenberganlage einen scharfen Knick macht, der die Wirkung hat, die Autos weit nach links zu treiben; es ist für den Überschreitenden fast unmöglich, die Distanzen richtig abzuschätzen. Sollte ein Student oder ein Professor in jenem Zustand sich befinden, der ihm eigentlich angemessen ist, nämlich in Gedanken sein, so steht darauf unmittelbar die Drohung des Todes; der Erklärung bedürfen nicht die Unfälle, sondern einzig, daß nicht viel mehr passiert. Es wäre dringend notwendig, daß zunächst durch Verkehrsampeln in dem ganzen Universitätsgebiet, dann aber durch viel radikalere Maßnahmen Abhilfe geschaffen wird. Die Haltung der Automobilisten selbst, bei denen man den Eindruck hat, daß sie, sofern sie nur das grüne Licht und damit nach ihrer Meinung das Recht auf ihrer Seite haben, die Fußgänger als störende Objekte betrachten, trägt zu deren Gefährdung das Ihre bei; da aber nicht darauf zu hoffen ist, daß sie anderen Sinnes werden, so sind verkehrstechnische und polizeiliche Maßnahmen dringend notwendig. Eine Verzögerung wäre nicht zu verantworten.“
Im taz-Archivfall ist man auf die Lösung „Fußgängerampel“ bisher noch nicht gekommen. Eher machte sich dumpf die Erkenntnis breit, dass das Archivwesen mit der Ausweitung des Googlewesens und der Digitalisierung der taz (die im Herbst abgeschlossen ist – und dann also bis zur ersten Nummer reicht) in eine Krise geraten ist – und dass die Abschiebung des taz-Archivs nach Sibirien bloß eine Folge davon ist (Verpißt euch, niemand vermißt euch!). Früher lief in der Tat ohne das Archiv gar nichts, jetzt überlegt es sich jeder drei mal, ob er da rüberläuft. Höchstens, dass noch telefonisch Rechercheaufträge nach drüben gegeben werden (etwa 4 – 6 täglich). Daneben gibt es auch noch Anfragen von außerhalb, die was kosten, und es werden die gesammelten tazzen als CD-Rom vermarktet. Letzteres bekomme ich allerdings nur im Weihnachtsgeschäft mit – da wird der Aushilfshausmeister nämlich im taz-shop als Paketepacker eingesetzt. Randys Bar ist nicht mit umgezogen, sie wurde demontiert und zu Teilen im Pavillon, dem kleinen Sitzungssaal im Fünften Stock, wieder aufgebaut, wo sie nun – ohne Randy – ähnlich genutzt wird: für Abschiedspartys.
Das taz-Archiv entwickelt sich damit und dabei genau entgegengesetzt zu den anderen Archiven und Bibliotheken in Berlin. Ringsum hat nämlich der Umbau von der erst ab etwa ab 1880 voll entwickelten Industriestadt zu einem Knotenpunkt der Informationsgesellschaft nicht nur zu einer grotesken Musealisierung und Gedenkstättenvermehrung geführt, sondern auch zu einer erstaunlichen Archiv- und Bibliotheks-Explosion. Nicht nur werden dafür laufend neue Gebäude errichtet, die Einrichtungen konkurrieren auch zunehmend untereinander und präsentieren sich dazu immer eventöser. Schon gibt es einen neuen Studiengang: Museums-Eventmanager.
„Über keinen Gegenstand der Welt werden mehr Bücher geschrieben als über Bücher,“ meinte Michel Foucault, während sein amerikanischer Kollege in Vincennes, Jim Haynes, davon überzeugt war: „A Book a Day keeps Reality away!“ Das muß kein Widerspruch sein – in jedem Fall platzen die Leihbüchereien trotz Digitalisierung und Internet schier aus allen Nähten.
Für das geplante „Speichermagazin“ der zusammengelegten zwei Staatsbibliotheken war erst das anstelle des Palasts der Republik wiederentstehende Stadtschloß vorgesehen: Das sah dem provisorischen Berliner Ersatzbürgertum jedoch zu sehr nach einem späten Triumph der Aufklärung über den Feudalismus aus: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben,“ hatte der letzte sowjetische Generalsekretär Gorbatschow zuvor bereits an Ort und Stelle verkündet. Stattdessen wird das Schloß nun, ebenso wie das neue Bertelsmann-Palais nebenan erst mal nur mit mehr oder weniger besinnungsloser Repräsentation „gefüllt“. Ähnlich dem von Kanzler Kohl initiierten „Deutschen Historischen Museum“ vis à vis, für das sein erster Direktor Stölzl mit zig Millionen DM alle möglichen und unmöglichen historischen Souvenirs aufkaufte. Seine Nachfolger jammern noch immer: „Wohin bloß mit dem ganzen Zeug?“ Die halbe Engels-Kaserne hinter dem Zeughaus ist bereits damit vollgestopft. Schon die DDR hatte dort von märkischen Faustkeilen bis zum Zollstock von Wilhelm Pieck und der ersten Jeans aus eigener VEB-Produktion alles mögliche abgelagert. Stölzl interessierte sich dann mehr für die Toilettenutensilien der deutschen Kaiser und Bismarcks Pfeifenbesteck.
Das neue Magazin für die Stabis, das eher abgelegte Themen und abgelebte Bücher fassen und somit gerade kein „Publikumsmagnet“ werden soll, kommt nun an den Stadtrand – nach Friedrichshagen hinter Köpenick. Aber auch dort wird nicht gekleckert: der Gewinner des Architekturwettbewerbs für den flachen Riesenkasten auf einem 11 Hektar großen Grundstück, Eberhard Wimmer aus München, bekam allein an Preisgeld 50.000 Euro. Weil die zwei Stabis, die zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehören, jährlich 140.000 Bände neu anschaffen, sind ihre Lagerkapazitäten spätestens 2010 erschöpft, deswegen soll ihr neuer Speicher in Köpenick, der 12 Mio Bücher faßt, pünktlich 2009 fertig sein. Dorthin kommen dann auch die Lagerbestände des Ibero-Amerikanischen Instituts und des Bildarchivs. Gleichzeitig wird daneben noch ein weiteres „Depotgebäude“ errichtet – für die im Keller der Staatlichen Museen gestapelten Kunstwerke, deren Speicherplätze ebenfalls überquellen. Für die Bestände der Zeitschriftenarchive diverser Institute hatte man zuvor bereits die leerstehenden Speicher am Westhafen angemietet.
Der Übergang von Waren zu Wissen geht einher mit der Umwandlung von Wissen zu Waren: Auch die ganzen Videotheken und Internetcafés der Stadt stellen gespeichertes Wissen zur Verfügung. Nicht anders als die Freunde der deutschen Kinemathek, die beiden Zoos, das Arboretum und der Botanische Garten, die Stadtteilbibliotheken und Bereichsbibliotheken der Unis, der Fachhochschulen und Schulen, die Landesbildstelle, die Gauckbehörde, das Document-Center, das Bundesarchiv, das riesige Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, das Archiv des Amtes für Lastenausgleich, das Flugwaffenmuseum in Gatow, das geheime preußische Staatsarchiv, die überraschend interessante Mitropa-Bibliothek, das Archiv des Patentamts und der Bundesanstalt für Materialprüfung, die ganzen Gerichtsarchive, das Archiv „Grünes Gedächtnis“, sowie das des Umweltbundesamtes, des Kartellamtes und der Stiftung Warentest, das Ullstein-Bildarchiv, das Landesarchiv, die Bezirksarchive, die zusammengelegte Berlinbibliothek und die überquellenden Kirchenarchive: „Die Bibel hat sich in einen Buchladen verwandelt und der Glaube in Lesewut,“ meinte wiederum Michel Foucault….Außerdem gibt es noch die vielen in Potsdam konzentrierten Militärarchive, die vollgestellt sind mit „grauer Literatur“, d.h. mit Dienstvorschriften, Reglements, Gebrauchsanweisungen und Ausrüstungsnachweise. Ferner das Archiv des Deutschen Instituts für Normung (DIN), dessen Vorläufer, der Münchner Verein „Brücke“ von Wilhelm Ostwald, bereits zur Lösung des „Raumnot“-Problems der Bibliotheken ein „Weltformat“ vorschlug, d.h. sie sollten nur noch Bücher in „Normgröße“ ankaufen und aufstellen – und alle anderen an den Stadtrand verbannen.
Mit der Ersetzung der Industrie durch die Information kommen viele Techniken, Gewerke, Patente etc. an ihr Ende – woraufhin sie von ihren letzten Nutzern und Liebhabern prompt musealisiert werden. Nicht nur hat sich seitdem das Museum für Technik geradezu obszön vergrößert, drumherum gruppieren sich auch noch jede Menge neue Industrie- und Technikmuseen: vom Medizinhistorischen Museum in der Charité, das von der Max-Planck-Gesellschaft betreut wird, und dem Friseurmuseum bis zum Museum des Werks für Fernsehelektronik (heute Samsung) – das u.a. den ersten Mikrowellenherd der DDR aufbewahrt für alle Zeiten. Daneben gibt es im Umland weitere 27 Technikmuseen, die zu einem Verbund zusammengeschlossen sind: u.a. das Riesenbaggerensemble „Ferropolis“ in der Lausitz, das Schiffshebewerk in Niederfinow und das Hutmuseum in Guben. Darüberhinaus entstanden aber auch und zugleich noch mehrere Museumsdörfer und Landwirtschafts- bzw. LPG-Museen, sowie inzwischen elf Tierparks, die sich auf aussterbende Haustierrassen spezialisiert haben. Und gerade hat die „Heinz Sielmann Stiftung“ die Döberitzer Heide, die zuletzt der Roten Armee als Schießlatz diente, aufgekauft, um dort die einst ausgestorbenen, aber wieder rekonstruierten Wisente und Przewalskipferde weiter zu züchten – eine gleich dreifache Musealisierung an einem einzigen Ort! Ähnliches passierte mit dem Hauptquartier der Roten Armee in Wünsdorf bei Zossen, das zuvor, bis 1945, die preußischen bzw. deutschen Oberkommandos beherbergt hatte und nun eine „Bücherstadt“ mit Antiquariaten, die ihre Wissensbestände teuer übers Internet vermarkten, sowie einen „Bücherstall“ – gefüllt mit 1-Euro-Büchern. Daneben gibt es dort noch ein Militärgeschichtsmuseum und eine Kneipe, in der ein Plakat hängt mit der Aufschrift „Capucchino – das Trendgetränk im Stil der neuen Zeit“.
Mit fremdem Militärbesitz, nämlich mit dem Kriegsfilmarchiv der vietnamesischen Armee, das mehrere Millionen Meter Dokumentarmaterial aus dem „Amerikanischen Krieg in Vietnam“ enthält, befaßt sich derzeit das „Staatliche Defa-Filmarchiv unter dem Dach des Bundesarchivs“ und sein „Progress Filmverleih“, die das ganze Material sichten, konservieren, archivieren – und später auch vermarkten wollen. Neben ihrem Filmmaterial wurden in der DDR ganze Städte musealisiert, so als hätte „der Westen“ sie mit einer Eishaut überzogen, um sie zu konservieren: Peenemünde, Eisenhüttenstadt, Görlitz, Oberschöneweide.
Ein derartige Konversion ins Archivarische geschieht seit einiger Zeit auch in den Nacht-„Clubs“ der Stadt, die nicht zufällig gerne in Industriemuseen logieren: einmal zwangsläufig durch die ganzen „Retrowellen“, die man auch eine Zeitdokumenten-Wiederaufbereitung nennen könnte, und die als solche Teil eines allgemeinen Trends zur Wiederaufbereitung (von zumeist knapper werdenden Ressourcen, inklusive der Zeit) ist…Und zum anderen dadurch, dass die DJs langsam aber sicher die Musiker ersetzen. Die Disjockeys, ich denke dabei nur an Westbam, Ipek, Lieutnant Surf, Wladmir Kaminer, Don Rispetto, Daniel Bax…, sind nichts anderes als Archivare. Zwar kann man noch nicht sagen, dass die Musiker bereits ihr letztes Lied pfeifen, aber wahr ist, dass immer mehr von ihnen Biographien schreiben: Bob Dylan, Eminem und einige schwarze Rapper beispielsweise, aber auch etliche ihrer „Groupies“. Sogar eine 21jährige Kellnerin und Ecstasy-Dealerin aus dem Techno-„Bunker“ in Mitte veröffentlichte neulich schon ihre Erinnerungen – im Ullstein-Verlag. Überhaupt ist die Memoiren- und Bekenntnisliteratur geradezu lawinenartig angewachsen. Es gibt in dieser Stadt derzeit einen wahren Musealisierungs- und Archivierungswahn.
Davon wissen nicht zuletzt die Psychiater und Sozialarbeiter zu berichten, die mit immer mehr „Messies“ konfrontiert werden, wie sie durchaus liebevoll all jene zumeist Arbeitslosen bezeichnen, die irgendwann angefangen haben, etwas zu sammeln und zu archivieren – und nun fast daran ersticken: der Schriftsteller Falko Henning und sein Vorbild Walter Kempowski wären hier zu nennen. Aber auch beim Unfallforscher Wilhelm Schröer würde ich von einem „Vermüllungssyndrom“ reden: Er sammelt seit Jahr und Tag alle Unfallmeldungen in Zeitungen: Bei seinem Umzug mußte ich allein für dieses sein Archiv sieben Mal mit einem Kleinlaster von Robben & Wintjes hin und her fahren. Hinterher war ich richtig sauer, dass er immer noch nicht auf Computer, also auf Disketten- und CD-Speicher bzw. Suchmaschinen im Internet – umgestiegen war. Hierbei hinkt sowieso das Bewußtsein noch fatal dem Sein hinterher, also der alte Wunsch, etwas in der Hand zu haben, mindestens etwas schwarz auf weiß Gedrucktes. Dahinter steckt zugleich aber auch die ganz richtige Einschätzung, dass virtuelle Texte irgendwie nicht real sind!
Die reichen Privatsammler finden oft einen Ausweg aus ihrem Messie-Dasein darin, dass sie ihr Archiv einfach der Stadt „schenken“ oder auch nur „leihen“: Das ist z.B. bei der „Sammlung Flick“ der Fall, wo bemängelt wurde, dass seine Familie dabei allzu brutal aus Waren (die von Zwangsarbeitern hergestellt wurden) Wissen, d.h. wertvolle Kunst, abgeschöpft hatte. Reine Freude herrscht dagegen über die leihweise Verstaatlichung der „Sammlung Berggruen“ in der Garde-du-Corps-Kaserne. Solche Schenkungen sind meist dann umstritten, wenn der Sammler große Museumsansprüche stellt, wie der Expressionistensammler Buchholz am Starnberger See. In Potsdam stellte man dagegen einem großen „Investor“ aus Westberlin gerne ein kleines Museum für seine Zinnsoldatensammlung zur Verfügung. Sein früherer Geschäftspartner sammelt Ritterrüstungen, bei diesen weigerte sich Berlin jedoch bisher, sie auf Kosten der Steuerzahler zu musealisieren. Während ein dritter sich selbst ein Museum Unter den Linden für seine „Uecker-Nagelkunst-Sammlung“ baute. Ähnlich entstand auch das „Gründerzeitmuseum“ von Charlotte von Malsdorf, das „Friedensmuseum“ im Wedding, die „Friedensbibliothek des Antikriegsmuseums der evangelischen Kirche“, das „Lügenmuseum“ in Gantikow, das „Ernst-Fuhrmann-Archiv“ von Bert Papenfuß in Alt-Käbelich und das meistbesuchteste Berliner Museum – für DDR-Fluchten und Schlepperbanden, Fluchthelfer einst genannt, am Check-Point-Charly. Gescheitert ist dagegen erst einmal der Versuch von Heinz Kloss, für seine riesige Pornosammlung ein ebenso kostenfreies wie würdiges Domizil zu finden, obwohl derzeit in Spex, FAZ, und anderen Zeitungen, ausgehend von dem US-Film über den US-Porno „Deep Throat“, eine vielfältige Historisierung und Archivierung des Pornos stattfindet. Dies signalisiert jedoch nicht sein langsames Ende, sondern im Gegenteil, dass es ein Massenkonsumartikel geworden ist: Die Hälfte aller Internet-Eintragungen bestehen inzwischen aus Pornos – im weitesten Sinne.
Mit der Übereignung von Privatarchiven an den Staat wird das Wissen wieder für die Allgemeinheit zugänglich gemacht, wobei man jedoch oft noch zwischen Hochkultur- und Volkskulturgut unterscheidet: So ist z.B. das Museum für Stadtgeschichte in Edinburgh fast ein Schloß, das für seine Geschichte der Arbeiterbewegung dagegen nur ein kleines Mietshaus. Immerhin sind Form und Inhalt hierbei kongruent. Neben dem Verdauen von Übereignungen und Ankäufen versuchen die staatlichen Sammlungen, meist nach Kriegen, auch noch ihre geraubten Bestände wieder zurück zu bekommen. Die erste „Beutekunst-Debatte“ fand bereits kurz nach der russisch-deutschen Eroberung von Paris statt. Der polnische Staat reagierte jüngst sehr souverän auf Forderungen, einige deutsche Archive, die sich seit 1945 auf polnischem Gebiet befinden, wieder herauszurücken: Die deutschen Forscher könnten doch einfach nach Polen fahren, um sie dort zu studieren, hieß es dazu aus dem Kulturministerium, wobei man auf die polnischen Archive verwies, die sich bereits seit dem schwedischen Krieg 1660 in Uppsala befänden und wo seitdem die polnischen Forscher ebenfalls hinfahren müssen. Umgekehrt möchte man in Berlin auch nicht den geraubten und dann mühsam rekonstruierten „Pergamon-Altar“ wieder an die (jetzt türkische) Stadt Bergama zurück geben.
Aber irgendwann überfordert den Staat das alles im neoliberalen Informationszeitalter – vielleicht fast ebenso wie mit dem Auslaufen der Industriegesellschaft seine ganzen Sozialleistungen. Die ersten Kulturkritiker schlagen bereits Alarm: Erwähnt seien Boris Buden und Mark Terkessidis, die beide darüber klagen: „Alles wird Kultur“. Spätestens seit 1989 und vor allem seit dem 11. 9. würden die politischen Probleme zunehmend nur noch als kulturelle wahrgenommen, „es gibt geradezu eine Hegemonie des Kulturbegriffs“: Man spricht von Körperkultur, Wohnkultur, politischer Kultur, Eventkultur, Unternehmenskultur, Cultural Clash usw.. Mit der Verkulturierung aller Lebens- und Todesäußerungen (Berlin besitzt mit 252 Friedhöfen die meisten in Deutschland, die Gräber von Angehörigen der Eliten sind alle katalogisiert) überführt man diese jedoch in eine Art Endlager: „Die Kultur läßt sich in nichts anderes mehr übersetzen,“ klagt denn auch der Philosoph Buden.
Schon gar nicht von den „Kulturwissenschaften“, wie sie nun überall, sogar an den Fachhochschulen, hastig gegründet werden. Für die Archive bedeutet dies eine enorme Ausweitung, indem jetzt z.B. für eine Kulturgeschichte des Stiefels oder der Absätze alle möglichen Schusterunterlagen archiviert werden oder für eine Kulturgeschichte des Bikinis die Mode- und Kaufhäuser-Archive „erschlossen“ werden (müssen). Vor den Diplom- und Doktorarbeiten der Kulturwissenschaftler ist kein Gegenstand mehr sicher. Und die Wissenschaftshistoriker sind ihnen auf den Fersen. Gerade befindet sich ein umfangreiches Werk über die Berliner Präservativ-Marke „Fromms“ in Vorbereitung. Daneben bekommen immer mehr „Minderheiten“ ihre Archive: das Schwulenmuseum, das Roma-Museum in Brno, das 68er-Archiv in Hamburg, das 68er-Werkbundarchiv usw.. Über kurz oder lang werden wahrscheinlich wahre archivarische Verteilungskämpfe ausbrechen, die man nur durch immer höhere Nutzungsgebühren „schlichten“ wird. Nachdem die Büchersammlung von Max Stein zur Geschichte der Arbeiterbewegung in die FU-Zentralbibliothek integriert worden war, bedienten sich daraus fast sofort die Raubdrucker, die das Wissen mit ihren Schnelldruckverfahren zwar verbreiteten, zugleich aber wieder zu einer Ware werden ließen. Der SDS fühlte sich deswegen Ende der Sechzigerjahre verpflichtet, einen regelrechten Beschluß darüber her zu stellen: Das Raubdrucken wichtiger Werke sei zwar zu begrüßen, die Hersteller sollten dabei jedoch ihre Profitspanne möglichst niedrig halten, sonst…
Halten wir fest: Überall werden neue Wissensspeicher eingerichtet, erweitert, umgebaut, aber auch zugleich privatisiert und profitabel gemacht: So habe ich z.B. gerade für eine kleine Recherche im Gruner & Jahr-Archiv 138 Euro bezahlt. Die taz, die allerdings auch nicht 1,5 Mio „Medienträger“ im Angebot hat, nimmt nur 10 Euro. In diesem Segment des Archivangebots führen steigende Preise notgedrungen zu einer Verflachung des Journalismus: Ich kann mir jedenfalls eine 138-Euro-Recherche bei einem Artikelhonorar von 180 Euro nicht oft leisten.
Die Archive profitieren aber nicht nur von der sich vertiefenden Informationsgesellschaft, diese bereitet ihnen auch selbst große Probleme: So mußte z.B. bei der Umstellung der beiden Stadtbibliotheken von Karteikartenkarten auf Computer extra eine große ABM-Maßnahme geschaffen werden, wobei dann 20 arbeitslose Türkinnen, meist alleinerziehende Mütter, damit beschäftigt waren, alle Buchtitel abzutippen: „Computerkurs“ nannte das Arbeitsamt diese Maßnahme verlogenerweise. Den Frauen gefiel sie trotzdem, weil sie sich dabei ausgiebig miteinander unterhalten konnten. „Wir dürfen nicht mehr miteinander reden – wir müssen kommunizieren!“ meinte Jean Baudrillard bereits 1980. Das war sehr hellsichtig – besonders angesichts der unzähligen jungen Menschen des Informationszeitalters, die nun alle mit einem Handy rumlaufen, das ja auch nichts anderes als ein Wissensspeicher ist – für Adressen, Telefonnummern, Spiele, Sportnachrichten, SMS etc.. Und deswegen seinen Besitzern auch nicht geringe Archivierungsprobleme bereitet. So hat z.B. der Rabbiner Levinson, der auf Mallorca lebte, dort schon drei mal alle seine elektronisch gepeicherten Telefonnummern verloren: Einmal fiel ihm der Speicher ins Wasser, ein andern Mal zerbrach er ihm in der Gesäßtasche, ein drittes Mal trat eine rätselhafte Disfunktion im Gerät auf. Er brauchte jedesmal Tage und Wochen, um die Daten wieder zu rekonstruieren, beim letzten Mal sendete er sie „zur Sicherung“ alle rüber zu seiner Tochter nach Heidelberg, womit er ihr das (eigentlich überwunden geglaubte) Sekretärinnen-Problem aufhalste , sie fortan ständig „updaten“ zu müssen.
Es gibt bereits etliche Firmen in der Stadt, die darauf spezialisiert sind, die Daten auf „veralteten Trägern“ (z.B. Acht-Millimeter-Filme, Shelllack-Schallplatten und große Tonbänder), für die es keine Abspielgeräte mehr gibt, auf neue Träger zu überspielen. Ähnliches gilt für viele Archive, die ihren Datenschatz elektronisch abspeichern wollen – und dabei aufgrund des schlechten Dokumentenzustands nicht auf Scanner zurückgreifen können: So ließ das Spiegel-Archiv z.B. seine Jahrgänge zwischen 1945 und 1986 in China von ebenso fleißigen wie billigen jedoch völlig deutschunkundigen Frauen abtippen, um bei der täglichen Arbeit einen besseren und schnelleren Zugriff zu haben und um die „Informationen“ zukünftig via Internet vermarkten zu können. Als die taz, die bis dahin acht Jahrgänge noch nicht gespeichert hatte, ebenfalls auf diese chinesische Firma zurückgreifen wollte, bot eine deutsche Firma diesen Datenerfassungs-„Service“ bereits billiger an. Eher umgekehrt verhält es sich mit den Computerdesignern – z.B. bei den Drei-D-Animationen u.a. für Trickfilme, bei denen die meisten „Jobs“ auf die Philipinen gehen. Dort sind nicht nur die Produktionskosten noch niedriger, sondern die Leute auch versierter als hier: Die ehemalige Kolonie Spaniens und dann der USA hat nämlich das Industriezeitalter – und vor allem das Ingenieurdenken – gezwungenermaßen glatt übersprungen, und ist deswegen heute für die Informationsgesellschaft besonders gut gerüstet, weil man dort nicht nostalgisch den alten Produktionsbedingungen nachhängt und die Hochschulen gar nicht erst den mühsamen Umstieg von der Hard- auf die Software-Ausbildung bewerkstelligen mußten. Gleichzeitig nimmt Asien jedoch auch viele in Europa und den USA ausrangierte Industrien und Fertigungsstrecken auf.
Ich wollte mir neulich die Herstellung von Leuchtdioden (LEDs) bei Osram in Regensburg ankucken – und bekam auch von der Firmenleitung die Erlaubnis dazu. Vor Ort durfte ich mir dann jedoch „nur“ einen dreistündigen Vortrag des Chefentwicklers anhören, von dem ich kaum etwas verstand, obwohl der Professor sich größte Mühe gab. Bei den LEDs handelt es sich seit langer Zeit mal wieder um eine deutsche Erfindung, die international sehr gefragt ist: Sie besteht aus kleinen Halbleiterplättchen, durch die Strom geschickt wird, wodurch Photonen emittiert werden. Diese Lichtquelle nun hat man derart optimiert, dass sie schon bald viele Lampen (z.B. bei Autoscheinwerfern und Ampeln) ersetzen wird. Die Optimierung ist jedoch äußerst kompliziert: Es werden dabei bis zu 14 gasförmige Metalle auf das winzige Plättchen aufgedampft, das anschließend geschliffen wird, um den Lichtstrahl zu bündeln. All diese Bearbeitungen, die wie in Black Boxen vor sich gehen, kann man sich nicht einfach ankucken – zudem befinden sich die LETs-Produktionsanlagen „sowieso in Malaysia“, wie mir der Osrammanager trocken mitteilte. In Regensburg befindet sich quasi nur noch das Wissen dazu. Und deswegen sieht die dortige „Fabrik“ auch genauso aus wie inzwischen alle Firmen, Ateliers und Behördenbüros: Es stehen dort nur noch Schreibtische mit Computern und ein paar Bücher- bzw. Aktenordnerregale sowie Photokopierer, Drucker und Gummibäume in Töpfen.
Aber auch all jene leerstehenden Fabriken und einstigen Produktionsetagen in den Berliner Hinterhöfen, die jetzt von Unis, Fach- und Kunsthochschulen, Instituten und Theaterschulen oder Ballett- und Sprachschulen genutzt werden, sind genau genommen nur noch Archive oder „atmende Bibliotheken“, denn die Schüler und Studenten holen sich dort einzig Wissen ab. Und wenn nicht, bedeutet das meistens ein schnelles Ende für diese Einrichtungen, da sie von Studiengebühren leben. Das gilt auch für die ganzen Shiatsu, Fernöstliche Weisheit, Kräuterkunde oder Urschreie lehrenden „Schulen“, von denen es inzwischen über 20.000 in der Stadt gibt. Sie sind jedoch mehr als alle anderen von Konjunkturen und Moden abhängig – deswegen könnte man sie mit einem Oxymoron auch als „nomadische Archive“ bezeichnen.
Allerdings geben auch die kritischen „User“ des neuen zentralen Speichermagazins der Stabis zu bedenken, dass gerade dieses so standorttreue staatliche Wissensarchiv damit künftig noch weniger flexibel auf Diskurskonjunkturen und wechselnde bzw. verschlungene Forschungsinteressen reagieren könne: Denn nach Köpenick ausgelagert wird immer das werden, was zuvor kaum ausgeliehen wurde und also absehbar auch nicht blitzschnell für die Benutzer zur Verfügung stehen muß. So hat man z.B. bei den Naturwissenschaftsbibliotheken an der FU eine Reihe von Schriften über den politisch und wissenschaftlich Ende der Fünfzigerjahre abgetanen sowjetischen Agrarbiologen Lyssenko sogar „ausgesondert“, d.h. billig an Antiquariate abgegeben. Was, wenn jetzt über diese „antigenetische Biologie“ geforscht wird? Aktuell betrifft das z.B. die Literatur zur Kybernetik, die inzwischen großenteils „veraltet“ ist: Neuerdings haben jedoch einige Leute angefangen, wieder über Kybernetik zu forschen, sogar Doktorarbeiten darüber zu schreiben und kürzlich fanden schon zwei Workshops über „Travestien der Kybernetik“ statt, also darüber, wo sich dieses Wissen seit 1948 hinzerstreut hat – in welche Forschungs- und Anwendungsbereiche und welche Wandlungen es dabei erfuhr. Auf solche genealogischen oder archäologischen Vorhaben müssen die Wissensspeicher zunehmend gefaßt sein.
Die Kritiker des neuen Speichermagazins der Stabi in Köpenick halten dabei jede Zentralisierung für einen Fehler. Berlin, so sagen sie, zeichne sich gerade dadurch aus, dass es überall in der Stadt verteilt Wissensarchive gibt: mehr als in den meisten anderen Großstädten. Der faschistische Staatsrechtler Carl Schmitt schrieb einmal dem linken Steglitzer Antiquar Hans-Jörg Viesel: „Glauben Sie mir, es existieren in Berlin mehr Werke über den Humanismus als die Bibliothek von Alexandria Bücher besaß, man muß sie nur finden“. Sie sind zwar archiviert und katalogisiert, aber die Kataloge selbst werden immer labyrinthischer. Das hängt nicht zuletzt auch mit der Teilung der Stadt zusammen: Erst wurden beide Hälften äußerst üppig mit Archiven und Bibliotheken ausgestattet, wobei diese Form von „Erbepflege“ im Sozialismus auch noch besonders hoch gehalten wurde, und jetzt gibt es hier fast alle Einrichtungen doppelt. Einige hat man inzwischen zusammengelegt: z.B. die Weltraum- und Raketenforschung – in Adlershof und die Radio-Tonarchive aus Ost und West, aber viele Einrichtungen sind dafür zu speziell: z.B. das Museum der bedingungslosen Kapitulation des deutschen Faschismus im Großen Vaterländischen Krieg in Karlshorst, die Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus in der Normannenstraße oder die adlig-bürgerliche Widerstandsstätte 17.Juni im Bentler-Block, die alle auch noch ihre eigenen Archive, Buchreihen und Zeitschriften besitzen.
In der so genannten Umbruchsphase und dann noch einmal während der Umstellung auf elektronische Datenverarbeitung waren viele Archive und Bibliotheken erst mal für ihre Benutzer kaum noch ansprechbar. Dafür verausgaben sie sich jetzt geradezu in vordergründiger „Öffentlichkeitsarbeit“ einschließlich Beteiligung an Events und „Servicefreundlichkeit“. Das gilt absurderweise auch für die Geheimdienste, deren „Effektivität“ ebenfalls zu 99% aus Archivierung und Dokumentierung besteht und wo die neuen Hightech-Möglichkeiten der „Informationsbeschaffung“ zunächst eine „neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) nach der anderen bewirkten. Hier wie dort hat das inzwischen zu einer Spezialisierung des Berufsbildes geführt, die noch längst nicht abgeschlossen ist. Der ehemalige Staatsarchivar Andreas Müller teilte mir dazu mit: „Ich bin nicht Archivar, sondern Dokumentar. Das mag wie eine Haarspalterei klingen, ist es irgendwo auch, bringt aber die Unterschiede nicht zum Verschwinden. Kurz gesagt: Der Archivar sammelt Informationen und hebt sie zum Zwecke der Unterrichtung der Nachwelt auf. Der Dokumentar analysiert Informationen, erschließt sie der Form und dem Inhalte nach und bereitet sie zum Zwecke der jeweiligen Nutzanwendung auf.“ Vom taz-Archivar Randy Kaufmann weiß ich, dass er während seines Studiums in New York bereits den neuen Beruf des „Informationsmaklers“ ansteuerte. Diese sind hierzulande jetzt im „Ring deutscher Informationsmakler (IM)“ organisiert.
Daneben gibt es auch immer mehr Künstler und Schriftsteller, deren Arbeiten eine gewisse Archivtätigkeit voraussetzen oder sogar zum Ergebnis haben. Die Kuratorin Helen Adkins hat kürzlich eine Reihe von Künstlern in die Akademie der Künste eingeladen, um „über die Archivbestände dort nachzudenken und eine Art Neubewertung vorzunehmen“. Denn – mit einem Wort des Direktors der Kunstakademie Münster Manfred Schneckenburger: „Nicht das Museum adelt das Leben, sondern der Alltag bringt das Museum zum Leuchten“. Darüber wird in der Akademie nun diskutiert. Ähnliches gibt es auch bei den Kultur- bzw. Medienwissenschaftlern und den Wissenschaftshistorikern, die sich vermehrt den Speichertechniken bei verschiedenen Wissensformen widmen. So veröffentlichte z.B. Michael Glasmeier einen charmanten kleinen „Führer“ durch die „Peripheren Museen“ – im Merve-Verlag und bereitet derzeit eine Ausstellung über 50 Jahre „documenta“ vor: „archive in motion“ genannt. Bei den nomadischen Völkern waren die Gräber ihre einzigen Archive, von den neuen nomadischen Künstler befassen sich einige nur noch mit Archiven: Boris Nieslony sei hier erwähnt. Dieser Kunst nähern sich wiederum die Geisteswissenschaftler an: Markus Krajewski schrieb eine Geschichte der Karteikästen, Uwe Jochum eine „Bibliotheksgeschichte“, Arlette Farge eine Studie über den „Geschmack des Archivs“ und Peter Berz eine Würdigung der „Kriegs-Sammlung“ der Stabis. Sie stellt ein Archivnovum dar, insofern damit über Jahrzehnte und von Kriegsfall zu Kriegsfall eine Querschneise angelegt wurde, die Ähnlichkeit mit der künstlerischen Rekonstruktion der untergegangenen Bibliothek von Alexandria durch Anne und Sidney Poitier hat, wobei es jedoch nicht um Säle, sondern um das Kreieren eines Sammlungs-„Systems“ ging: „Aleatorischer Standortkatalog und alphabetischer Katalog, alphabetisch geordneter Schlagwortkatalog, systematischer Zettelkatalog und das notierte, verzifferte Schema des Systems sind seine Speicherstruktur“.
Das wirklich kreative Wuchern mit den Beständen begann, wenn ich nicht irre, 1970 mit der Antrittsvorlesung von Michel Foucault am Collège de France: „Die Stadt hat einen neuen Archivar“, so wurde hernach darüber geurteilt. Seine zuvor erschienene „Ordnung der Dinge“ bedeutete zunächst einmal nichts anderes, als das Wissen darüber neu zu ordnen – und es u.a. von seiner Autorenanbindung zu lösen. Wobei diese Pariser „Diskursanalysen“ immer auch ein „globales Projekt“ darstellten – dessen sozusagen staatsarchitektonische Krönung dann das 1977 eingeweihte „Centre Pompidou“ war.
Vorher waren bereits die Bibliotheks- und Archivsysteme der amerikanischen Eliteunis sowie auch die dazugehörige Gesetzgebung (bis hin zum „Freedom of Information“-Act, der jedoch durch die „Copyright“-Gesetze jetzt wieder eingeschränkt wird) als vorbildlich gepriesen worden. Der Bremer Staatsrechtsprofessor Ulrich K. Preuss schwärmt noch heute von seinem Besuch in der Bibliothek von Princeton 1975: Sie hat rund um die Uhr geöffnet und ihre Bücher auf Lager werden mittels Hightech zur Ausleihe hochgeschossen, von wo aus livrierte Diener sie einem auf Silbertabletts am Arbeitsplatz servieren. Überhaupt haben die Amerikaner weltweit derartig viele Archive und Bibliotheken aufgekauft, dass das, was sie seitdem daraus gewinnen – an neuen Einsichten und Veröffentlichungen, geradezu lächerlich ist: die Publikationswut hat sich dort derart verschärft, also die Verwandlung von Wissen in eine Ware, die primär der Autorenkarriere dient, dass deren ebenso massenhaft wie gedankenlos in alle Sprachen übersetzten Werke nun andersherum die Zugänge zum Wissen vom Rest der Welt verstopfen, was man als Kulturimperialismus bezeichnet hat. Die Größe des Archivs und das, was damit gemacht wird, verhalten sich oft umgekehrt proportional zueinander: z.B. das Ukrainearchiv in Harvard und Robert Conquests daraus entstandenes Machwerk „Ernte des Todes“ oder der Wilhelm-Reich-Nachlaß, der von einer rechten politischen Stiftung in Kalifornien aufgekauft wurde, die außer ein paar antikommunistische Dumpfpamphlete gar nichts damit anstellte, bis Dusan Makavejew ihn einfach kurzerhand für seinen Film „Mysterien des Orgasmus“ plünderte. Über den Regisseur gelangte dann auch die taz – kostenlos – an einige der Archivkostbarkeiten. Ähnlich war es dann mit dem Archiv der Bonhoefer Heilstätten, aus dem eine Krankenschwester heimlich Teile der Franz-Jung-Akte „entführte“.
Viele Archive sind nicht-öffentlich: z.B. das des 1945 neugegründeten Instituts für Psychotherapie: Zwar können Bewerber, wenn sie zur Ausbildung dort angenommen wurden, ihre Akte anfordern, aber die abgelehnten Bewerber nicht. Dabei sind sie wahrscheinlich viel mehr an der gutachterlichen „Begründung“ interessiert. Neben solch einer selbstauferlegten Verschwiegenheitspflicht macht auch der Datenschutz vielen Archivbenutzern zu schaffen: So wurde mir z.B. 1990 meine Verfassungsschutzakte ausgehändigt, aber Dreiviertel aller Sätze in den Spitzelberichten darin waren eingeschwärzt und somit unlesbar, weil der Datenschutz das leider so verlangen würde, wie die zwei Westberliner Verfassungsschützer am Service-Counter mir grinsend erklärten. Auf der anderen Seite kommt man z.B. schwer an die Akten der Guckbehörde ran – aber der Spiegel „erwirbt“ sie gleich zentnerweise, so dass viele Journalisten inzwischen gleich in seinem Archiv anklopfen. Einige Forscher versuchen ihr Glück auch bei Staatsanwälten, die ihre Akten eigentlich nicht herausgeben dürfen: Der Historiker Andreas Hansen stellte neulich einmal eine solche Akte öffentlich vor – von einem jungen Mann aus Neubrandenburg, der 1955 wegen dreier politischer Telegramme in einer Irrenanstalt gelandet war. Zwar bekam er nach 1990 eine Haftentschädigung in Höhe von 230.000 DM, blieb aber bis zu seinem Tod 1994 in einer „geschlossenen Abteilung“ (im Westen). Andreas Hansen hatte alle in seinem Referat vorkommenden Namen selbst eingeschwärzt – dem Staatsanwalt zuliebe, der sie ihm kostenlos überlassen hatte. Die Tendenz geht jedoch dahin, dass man an alle Akten rankommt, wenn man nur genug zahlt. Besonders die Osteuropaforscher haben es sich angewöhnt, bei Archivbesuchen nicht mit Bestechungsgeldern zu geizen.
Zur Umwandlung der Industrie- in eine Informationsgesellschaft gehört auch der massenhafte Abbau von Männerarbeitsplätzen und die gleichzeitige Entstehung neuer computerisierter Frauenarbeitsplätze in Größenordnungen. Dies geht einher mit der Auflösung der traditionellen Ehe, in der die Frau für den Mann so etwas wie eine Festplatte war…Man erinnert sich: Da erzählte der Ehemann, „wir waren im Urlaub in Wieheißtderortnoch?“ Und blickte (klickte) dabei kurz seine Frau an, die daraufhin den Ortsnamen auszuspucken hatte. Das war ihr Beitrag zum Gespräch: dass sie stets alle Namen, Daten, Plätze und Orte wußte. In dieser Hinsicht bedeutete eine Scheidung oder plötzliche Witwernschaft meist einen enormen Lagerschaden – ähnlich dem Brand der Anna-Amalia-Bibliothek. Aber damit ist es nun vorbei, die meisten Frauen verwalten jetzt keine sozialen Daten mehr, sondern nur noch an ihren Bürocomputern Marktdaten, diese dafür in rauhen Mengen. Wenn sie die dazugehörigen Programme – z.B. Datev, Mikro oder Fibu – beherrschen, sind sie fast unkündbar.
Langer Rede kurzer Sinn: Je mehr das Wissen die Waren verdrängt, desto mehr wird es hierzulande selbst zur Ware, wobei sich das Problem der Produktion, Lagerung und Distribution bzw. des Marketings (z.B. in Form von Events) erneut stellt. Insgesamt ist der Vorgang der Musealisierung und Archivierung Berlins jedoch nur zu begrüßen: Denn wer seine Bestände sichtet und sei es auch nur, um damit zu wuchern (wie dies u.a. der „Museumspädagogische Dienst“ und die „Berlin Marketing GmbH“ im Senatsauftrag tun), der ist nicht mehr nach vorne – in die Zukunft orientiert, d.h. aktiv, expansiv und aggressiv, sondern eher vergrübelt und retrospektiv gestimmt. Schon ein Fliegenschiß auf einem wohlmöglich historischen Dokument kann ihm den ganzen Tag versauen und so mancher zukünftiger Autor ist bereits an einem Programmabsturz irre geworden. Das letzte Mal geschah dies meines Wissens ironischerweise bei einer philosophischen Doktorarbeit über Foucault. Andererseits kann der Entsetzensschrei „Alle meine Daten sind weg!“ auch eine wahre Befreiung bewirken. So hat z.B. die Vernichtung der schleswig-holsteinischen Finanzarchive Ende der Zwanzigerjahre durch die Brandbomben der Landvolkbewegung ganze Dörfer und Kleinstädte glücklich gemacht – bis heute.
Daneben gibt es noch eine sanfte Vernichtung: Die findet alljährlich in der Stabi statt, wenn dort nach Sylvester die Gymnasiasten einrücken, um sich fürs Abitur vorzubereiten. Es geht ihnen dabei nicht um die Bibliotheksbestände – sondern nur um die Ruhe (fernab aller Fernseher, Computer, CD-Player und Handyanrufe). Außerdem wollen sie sich dort en passant auch schon mal mit den Studenten, die sie bald selber sein werden, atmosphärisch anfreunden – wenn nicht anbändeln. Die weiblichen Studenten, Diplomanden und Doktoranden reagieren auf die weiblichen Abiturienten jedoch eher feindlich: „Diese Scheißschüler blockieren alle unsere Plätze,“ mosern sie in der Stabi-Caféteria. Die männlichen Studenten schieben ihnen jedoch immer wieder gerne und heimlich kleine Karteikärtchen (sic!) rüber – mit handschriftlichen Einladungen zum Kaffeetrinken: „Du, ich finde Dich echt scharf.“