vonHelmut Höge 20.07.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Heute habe ich den 18. Ventilator bei Karstadt am Hermannplatz gekauft. An vielen Orten waren sie ausverkauft, aber jemand aus der Werbeabteilung hatte sich telefonisch erkundigt. Obwohl es bei Karstadt angenehm kühl ist, scheinen die wenigen noch nicht entlassenen VerkäuferInnen sich vor den Kunden regelrecht zu verstecken, auch im Restaurant verdrückt sich die Bedienung andauernd. Wenn man dann aber doch mal eine der Verkäuferinnen erwischt, sind sie meistens ganz freundlich. Die Kassiererin sagte grinsend: “Sie schon wieder?!” und fügte dann hinzu: “Sie arbeiten wohl auch innem Projektemacher-Büro, sonem Loft?!” Ja, kann man sagen, antwortete ich. “Die kaufen jetzt ständig diese Dinger da,” erwiderte sie und zeigte auf den Haufen Ventilatoren in drei verschiedenen Ausführungen und Preisklassen – gleich hinter der Kasse.

Diese Projektemacher: Selbst wenn einer nur eine kleine Buchrezension schreibt, redet er inzwischen bereits von einem “Projekt”. Und auf Parties und Ausstellungseröffnungen wird man ständig gefragt: “An was für einem Projekt arbeitest du denn gerade?” Das war schon mal so – in Russland!

Dort wurden vor der Revolution mehr Menschen ausgebildet als es Arbeitsplätze für sie gab. Man nannte diese Leute “Luftmenschen” – Dostojewski hat einige von ihnen porträtiert. Besonders viele “Luftmenschen” gab es in den jüdischen Siedlungsgebieten, wo die Alphabetisierungsrate teilweise bei 100% lag und die Arbeitslosigkeit besonders hoch war. Fast jeder war dort schriftkundig, was dazu führte, dass auch noch lange nach der Revolution die Juden in vielen russischen und österreichischen Schulen bzw. Universitäten eine Mehrheit stellten. Keiner wußte so recht, wovon diese Luftmenschen lebten: sie hatten nichts, außer mehr oder weniger verzweifelte Pläne und Ideen, waren bettelarm – und warteten auf ein Wunder, das auch – säkularisiert – ein Zufall sein konnte. Das war dann für alle auf einmal die russische Revolution, die aus ihnen “Projektemacher” zauberte. Wenn sie sich weiterhin illegal betätigten, z.B. im Lebensmittel- oder Menschenschmuggel, sprach man – jiddisch – von “Machern”.

Nach Festigung der Revolutionsorgane wurden diese von Projektemachern geradezu bestürmt: Mit ein bißchen Überredungskunst und Wissen schafften es viele, von den neuen Behördenleitern, die ebenfalls zumeist aus Projektemachern bestanden, Mensch und Material sowie Räume und Essensmarken zur Verwirklichung ihrer “revolutionären Ideen” zu bekommen. Im Laufe der Zeit wurden diese Projekte immer gigantischer – bis hin zu landesweiten Elektrifizierungs- und Industrialisierungsvorhaben, Staudämmen, neuen Städten, Raketenprogrammen, Atombomben und der Umleitung sibirischer Flüsse. Diese Staatsprojekte schluckten auf dem Wege der Massenmobilisierung ganze Bataillone von Projektemachern – die dadurch langsam zu den entscheidenden Trägern des neuen Sowjetsystems wurden, das seinerseits ein Projekt war – zuerst weltweit und dann in einem Land.

Doch es gab auch Zigtausende von Luftmenschen die auswanderten – zumeist nach Amerika. Dort befaßte sich u.a. die neue Chicagoer Schule für Soziologie, die von Robert Park gegründet und geleitet wurde, mit den Emigranten. Diese Menschen waren zwar arm, konnten meist die Sprache nicht und mußten sich so in der Neuen Welt alleine aus ihrer wie man es nannte “Marginal Man Position” kämpfen, aber sie befanden sich dafür – wie Robert Park und seine Mitarbeiter herausfanden – in einer “optimalen Erkenntnisposition”. Sie waren nicht mehr mit ihrer Heimat verbunden und noch nicht integriert – mit um so wacheren Augen betrachteten sie das ihnen vollkommen fremde, aber doch allzu vertraute Geschehen um sich herum, versuchten es zu verstehen und suchten gleichzeitig nach einer “günstigen Gelegenheit”, um sich irgendwo einzuklincken, wie man heute sagen würde.

Während man im alten Europa schon nach einem dreimaligen Berufswechsel als Gescheiterter gilt, ist in den USA umgekehrt eine Biographie ohne große unterschiedliche Berufserfahrungen fast unausgereift. Der Luftmensch und Projektemacher ist Amerika immer willkommen gewesen. Vielleicht kann man sogar sagen, dass der “Projektemacher”, der sich den Europäern Ende des 17.Jahrhunderts erstmalig aufdrängte, immer wieder in wahren Schüben nach Drüben abgeschoben wurde, wo er dann seine wahre Heimat fand.

Laut dem Projektemacher-Forscher Georg Stanitzek begann nach erscheinen des “Essays upon Projects” von Daniel Defoe (1697) geradezu eine “Projektenperiode”. Schon in den ersten aufklärerischen Publikationen wimmelte es von Anregungen zur “Verbesserung”, wurden Preisaufgaben gestellt usw.. In Diderots “Enzyclopédie” wird das Projekt definiert als “ein Plan, den man sich vorgibt, um ihn zu realisieren”, genauer: “ein Arrangement von Mitteln, welche eine Absicht (un dessein, synonym mit procet) ausführbar machen sollen”.

Im 19. Jahrhundert gab es schon so viele Luftmenschen bzw. Projektemacher, daß z.B. die Sparkasse von Emden solchen Leuten damals ihr Geld geradezu aufdrängte, damit sie sich ein One-Way-Ticket nach Amerika kauften – und aus Ostfriesland verschwanden. Und der große friesische Schriftsteller Theodor Storm wurde mit einem Drama über einen gescheiterten Projektemacher berühmt: “Der Schimmelreiter”. Es geht darin um den Deichgrafen Hauke Haien, der mit seinem Ehrgeiz und seinen hochfahrenden neuen Deichplänen an der sturen friesischen Kollektivität scheitert. Heute ist seine Küstenschutzidee übrigens längst überall verwirklicht.

Für den protestantischen Bürger und Unternehmer insgesamt waren die Projektemacher zunächst alles “windige Geschäftemacher”, d.h unseriöse Konkurrenten und überhaupt charakterlose, unmoralische Menschen. Bereits im “Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste” von 1741 wird vor ihnen gewarnt, “weil sie insgemein Betrüger sind”. In seiner “Einleitung zur wahren Staatsklugheit” erklärte ein Autor 1751, Grundling, auch warum: “Solche Leute machen gemeiniglich fürtrefflich scheinbare Projecte auf dem Papier, und thun dem Herrn allerhand Vorschläge; können sie aber selten ausführen, und kommen darüber in Ungnade”. Die Verachtung des “lächerlichen Projectanten” (Josef Richter 1811) geht einher mit einer – bis heute – wachsenden allgemeinen Wertschätzung von Projekten. Währenddessen geraten nicht nur immer mehr soziale Gruppen und Schichten in die Position von Luftmenschen und Projektemachern, deren “Freisetzung” wird sogar neuerdings vom Staat noch propagiert und gefördert: in Deutschland z.B. durch das neue Insolvenzrecht, mit finanziellen Starthilfen für Existenzgründungen und so genannte “Ich-AGs”, mittels Risikokapital-Fonds und anhaltendem Outsourcing.

Auf dem Weg bis hierhin könnte eine Auseinandersetzung zweier Großbürger uns etwas über den sich ständig verändernden Antagonismus zwischen Unternehmern und Projektemachern sagen: die Debatte zwischen Siemens und Rathenau über das damalige Hightech-Produkt Glühbirne. Letzterer hatte in Paris die Patentrechte für das “Edisonsystem” erworben und wollte dies nun zusammen mit Siemens vermarkten. Zwei Strategien standen dabei zur Debatte: von oben durch Einwirkung auf die europäischen Mächtigen – wie gehabt bei derartigen Großprojekten oder von unten, indem man ein Massenbedürfnis – in diesem Fall an elektrischer Beleuchtung – weckte. Diese Strategie empfand Siemens als unseriös – mit der Folge, dass sein Konzern zwar heute noch existiert, aber der staatskorrumpierendste Konzern der Welt geworden ist. Rathenau trennte sich von Siemens, gründete die AEG und startete mit seinem Chefingenieur eine Reihe ebenso kreativer wie aufwendiger Werbeprojekte: z.B. illuminierten sie eine Münchner Theateraufführung und das Berliner Café Bauer Unter den Linden. Damit weckten sie das Interesse am neuen Licht. Später beteiligte der Sohn seine Firma sogar als Lizenzgeber am Aufbau von AEG-Fabriken in der ganzen Sowjetunion. Wegen seines Kooperationsvertrags mit den Bolschewiki in Rapallo wurde er kurz darauf von Antisemiten erschossen. Nach der Wende zerschlug man seinen Konzern endgültig: “Aus Erfahrung gescheitert”, wie die arbeitslos gewordenen AEG-Arbeiter in Bonn skandierten.

“Wer sich dem Projektemachen widmet”, schreibt Georg Stanitzek, “fährt nicht in den sicheren Hafen eines ‘Charakters’, sondern zieht es vor, immer von neuem, von Projekt zu Projekt, die unsichere Zukunft herauszufordern”. Bereits 1761 hatte ein Projektemacher selbst, Gottlob von Justi, sich darüber erste Gedanken gemacht – und war dabei zu dem Schluß gekommen, daß doch im Grunde alle Menschen so sein sollten wie er, denn es sei doch wohl wünschenswert, daß ein jeder “einen wohl überlegten Plan und Project seines Lebens” entwerfe und nach ihm handle. Man kann sagen, dass dieser Gedanke geradezu Ausgangspunkt der amerikanischen Verfassung wurde.

Justis “Lebensart” zielte bereits auf das, was man heute “Karriereplanung” nennt. Und “Karrieren”, so die Analyse von Niklas Luhmann, dem ich hier mit Stanitzek folge, “bestehen aus Ereignissen der erfolgreichen – oder mißlungenen – Verknüpfung von Selbstselektion und Fremdselektion. Die Selektivität der Handlungszusammenhänge, in denen Positionen besetzt oder verweigert, in denen Karrieren gemacht werden können, ist für deren Verlauf mitkonstitutiv. Der Projektemacher nun ist darauf aus, die Unwahrscheinlichkeit des Zueinanderfindens von Selbst und Fremselektion methodisch zu reduzieren, indem er mit seinem Projekt die Selektionen prospektiv engführt, d.h. in Form des Projektes gleichsam ein Exposé zu ihrer Verknüpfung vorlegt. Wenn die Selbstselektion sich in Projektform annonciert, so ist sie von vorneherein präzise auf eine Fremdselektion hin adressiert, steuert sich nah an sie heran, macht sich beobachtbar und beurteilbar”. Dieses Suchen der Nähe tatsächlicher Anschlußmöglichkeiten läßt sich – mit Stanitzeks Worten – “durchaus Opportunismus nennen”. Bis heute attestiert man hierzulande erfolgreichen Projektemachern und durchsetzungsfähigen Karrieristen quasi automatisch Opportunismus.

Georg Stanitzek hakte zunächst an der Differenz zwischen Ingenieur und Bastler an und sah den Projektemacher als ihren “Springpunkt” – als “der von ihr ausgeschlosssene und in diesem Ausschluß eingeschlossene Dritte”: Er hat wie der Ingenieur stets das Gelingen, den Erfolg, also das Utopische, im Sinn, bastelt aber auch und zugleich immer an der sozialen Akzeptanz seiner Projekte. “So ist er sowohl Bastler als auch Ingenieur – nicht mehr lächerlicher Bastler und noch nicht ehrenwerter Beamter, hat der Projektemacher seinen Ort an der ‘Quelle’ der Differenz”.

Der Hang zum Basteln hat inzwischen dank der Heimwerkermärkte und all der Produkte, die man selbst zusammenbauen muß epidemische Ausmasse erreicht. Gerade schlug der R+V-Versicherungskonzern Alarm: “Statistisch gesehen verunglück in Deutschland alle zwei Minuten ein Heimwerker so stark, daß er einen Arzt aufsuchen muß”. Die Ingenieurwerdung (bei Siemens und der AEG hießen sie nebenbeibemerkt tatsächlich Beamte) habe ich bereits im Zusammenhang der Sowjetunion erwähnt. Dort krönte er, der ideelle Gesamtingenieur, sein Werk im übrigen mit dem Weltraumflug von Jurij Gagarin. Folgt man dem Philosophen des Judentums Emmanuel Lévinas, dann wurde damit das Privileg “der Verwurzelung und des Exils” endgültig beseitigt, d.h. seit Gagarin gilt die einstige jüdische “Juxtaposition” für jeden und niemanden mehr! Im Endeffekt sind wir also nun alle Projektemacher (und auch alle mehr oder weniger exiliert).

“Der Gestus Münchhausens, wie er sich und sein Pferd aus dem Sumpf zieht, wird zum Schema einer jeden Erkenntnis, die mehr sein will als bloßer Entwurf”, so sagte es Theodor W. Adorno. Dazu drei aktuelle Beispiele – von Projektemachern, die sich selbst als Erfinder bezeichnen. Ich habe ihre Tätigkeit hier als “variieren, applizieren und grübeln” bezeichnet – und somit unterschieden.

1. Der Variierer: Peer Wagner aus Leipzig, ein arbeitsloser Elektriker. Er machte sich zunächst mit einem fahrbaren Imbißkiosk vor einem Großbetrieb selbständig. Als dieser immer mehr Leute entließ, suchte Peer Wagner einen neuen Standort, bekam aber nirgendwo mehr eine Genehmigung. In dieser Not erfand er in seiner Garagenwerkstatt zu Hause einen “Bratwurstbauchladen”. Der besteht im wesentlichen aus vier Camping-Kühlakkumulatoren, einer Flüssiggasflasche, dem Grill, einem Sonnenschirm und Tragegurten. Einschließlich der Ware – 80 Würsten und ebenso viele Brötchen sowie Senf – wiegt alles zusammen 30 Kilo. Und nichts davon darf während des Verkaufsvorgangs den Boden berühren: “Das ist der Knackpunkt”, sagt Peer Wagner. Denn sonst bräuchte man eine Standgenehmigung. So braucht es nur einen kräftigen Verkäufer, der zudem noch von einer Hilfskraft mit neuer Ware bedient werden sollte. Als Verkaufsslogan empfiehlt der Erfinder den Satz: “Mit jeder Wurst wirds leichter!” Neben dem Gebrauchsmuster hat er auch noch das Warenzeichen geschützt und für die technische Konstruktion ein EU-Patent erworben. Schon längst ist er nicht mehr selbst mit seinem Bratwurstbauchladen unterwegs, er bietet sie stattdessen bundesweit unternehungslustigen Arbeitslosen an: in Form von Lizenzverträgen mit günstigen Abzahlungsbedingungen sowie einem Gebietsschutz.

2. Der Applizierer: Dr. Bernd Pieper, ein Agrarökonom aus Neuruppin. Er ist ebenfalls ein Garagenerfinder – und besitzt inzwischen das deutsche Patent zum Stoppen von Silage-Sickersaft. Das kam so: Er fand nach der Wende zunächst bei Müller-Milch eine Anstellung, wo er für die Standortvorbereitung im Rahmen der Expansion des Konzerns in den Osten verantwortlich war. Dabei erfuhr er einmal von einem Sportgetränke-Hersteller Näheres über “organische Hydrokolloide”. Sie sind wichtiger Bestandteil von Tapetenkleister, beim Sportgetränk sorgen sie für die Sämigkeit. Pieper hatte nun die Idee, sie zum Binden des Sickersaftes bei Viehfutter-Silage zu verwenden. Wieder arbeitslos geworden, arbeitete er sich in die Literatur ein und experimentierte in seiner Garage. Heute beschäftigt er dort bereits fünf Mitarbeiter. Zur Steigerung der Grünfutter-Qualität bietet die Firma Pieper inzwischen noch eine Reihe weiterer “intelligenter und umweltfreundlicher Silierhilfen” an sowie auch Geräte für ihre Anwendung. Fast regelmäßig meldet er dafür neue Patente an, außerdem ging er Kooperationsabkommen mit der Universität von Kentucky und einigen US-Agrarkonzernen ein: “Langsam rechnet es sich,” meint Pieper. Sein unternehmerischer Optimismus äußert sich in der Agraringenieur-Utopie: “Mit der Verwissenschaftlichung der Grünfutter-Silierung wird das Heu irgendwann überflüssig, schon jetzt bestimmt sich über 60% der Leistung einer Landwirtschaftsbetriebs über die Silagequalität”.

3. Die Grüblerin: Gisela Kielmann. Sie arbeitet in der Materialwirtschaft der Reichbahn, nunmehr Bundesbahn, hier wie dort hat sie immer wieder Ärger mit Vorgesetzten. Zum “Streßabbau” beschäftigt sie sich nebenbei mit verschiedenen Forschungsgebieten und Problemen, wozu sie u.a. die Ostberliner Patentbibliothek und die des Meteorologischen Dienstes in Potsdam benutzt. Die gelernte Kauffrau und Laborantin hat schon viele Dinge erfunden. Eins hat sie nach der Wende auch patentieren lassen. Dabei handelt es sich um “ein Verfahren und eine Vorrichtung zum Einbau in Spezialflugzeugen zur Bekämpfung von Wirbelstürmen”. Diese werden in der Luft durch eine Explosion quasi zerstreut. Zwar interessierten sich mehrmals die Medien für die Erfinderin und ihr Patent, und außerdem meldeten sich auch eine Reihe von aktiven Fürsprechern – wie z.B. ein Hamburger Flugkapitän im Ruhestand, aber bisher hat sich noch kein seriöser Investor dafür gefunden. Dennoch möchte Gisela Kielmann “die Beschäftigung mit solchen Dingen” langsam aber sicher zu ihrem Hauptberuf machen, also ihre Brotarbeit bei der Bundesbahn aufgeben, wo die Vorgesetzten ihr ihre Medienauftritte jedesmal übel nehmen. Zur Zeit ist sie noch eine “Mondschein-Erfinderin” – aber schon auf dem Sprung!

Über die neuen Medien und das Internet verknüpft sich neuerdings immer öfter das bastlerische und das technische mit dem künstlerischen Denken. In der Kunst ist der Projektbegriff denn auch am weitesten gediehen – oder auf den Hund gekommen: wie man will! “Künstler rettet den Kapitalismus”, titelte die FAZ. In dem Artikel ging es darum, dass sich jetzt anders als früher die Wirtschaft immer mehr der Kunst anbiedert – “in ihrem Schoß verkriecht”, wie es hieß. In Westdeutschland wurden nach dem Krieg als Führungskräfte von der Wirtschaft ausschließlich Offiziere rekrutiert. Inzwischen greift man, nicht immer – aber immer öfter, auf Kultur- und Geisteswissenschaftler zurück. Von Andy Warhol stammt bereits der Gedanke “Good Business is the Finest Art!” und die Biographie des erfolgreichen New Yorker Immobilienspekulanten Donald Trump heißt nicht zufällig “The Art of the Deal”.

Der freischaffende Künstler ist von Anfang an eine ganz wesentliche Ausprägung des Projektemachers, da er spätestens seit der Renaissance in einer Reihe mit den ebenfalls damals ökonomisch selbständig werdenden Wissenschaftlern (Mathematikern) und den Ingenieuren (Festungserbauern) auftritt. Das Künstler-Werden ist seitdem aber auch zu dem Ausweg aus Unterqualifizierung und Selbstfindungsproblemen geworden, sogar eine drückende Armut läßt sich als Künstler leichter ertragen, denn man ist ja voll von symbolischem (kulturellem) Kapital. In Berlin – Ost wie West – war dieser Ausweg immer besonders beliebt. Wie der Neuköllner Künstler Thomas Kapielski sagte, zog die Stadt in den letzten 50 Jahren vor allem solche Leute an, die im Rechnen eine fünf, aber im Malen eine eins hatten. Ihre Scenen wurden quasi zu Therapiezentren – für Radikale ebenso wie für Kriminelle und Gescheiterte. Bei dem Kaufhaus-Erpresser “Dagobert” (Arno Funke) z.B. war die Kunst bereits in seinen wunderbar-vertüftelten “Geldübergabegeräten” angelegt, im Knast dann reifte er vollends zum (taz-) Autor, Drehbuchschreiber und Karikaturisten. Ausgehend von seinen “GÜGs” (Polizeijargon) organisierten wir 1996 einmal eine “Messe für Geldbeschaffungsmaßnahmen”.
Daneben lassen sich auch viele Macken, Manien und Mängel durch Verkunstung gleichsam retten. So wurde hier z.B. der Pyromane Karawahn zu einem hochgeehrten “Feuerkünstler”. Umgekehrt widmete man den paranoischen Wandparolen des “Sendermanns” vor einigen Jahren eine ganze Kunstausstellung. Die Künstler sind symbolische Kapitalisten, deswegen geht der Drang zur Kunst in aller Regel mit einer von Distinktion geleiteten Entsolidarisierung einher. Man könnte hierbei auch von einer symbolischen Individualisierung sprechen, denn der Kunsterfolg ist ganz wesentlich ein Bedienen von Trends und Moden: “Die Produktivität der Künstler resultiert aus ihrer Fähigkeit, sich den verschiedendsten geistigen Strömungen anzupassen – aus ihrer moralischen Verkommenheit,” so sagte es einmal ein nach New York ausgewanderter Künstler, der gerne von Joachim Fest in der FAZ plagiiert wurde. Nicht auf die genialische Kreativität, sondern auf den projektemacherischen Opportunismus des Künstlers wird hierbei abgehoben. Gleichzeitig wurde diese symbolische Form von Kapital- und Individualitäts-Bildung aber auch gesellschaftlich immer eindringlicher – bis hin zu Kunstkursen in Knästen, Neonazi-Jugendclubs und Kinderheimen. Immer wieder werden ganze Schübe von Zukurzgekommenen für die Kunst gewonnen. Parallel dazu gründete der Partisanen-Theoretiker und FDP-Politiker Rolf Schroers vor 20 Jahren die Künstlersozialversicherung – im strukturschwachen reaktionären Marinestandort Wilhelmshaven: KSK genannt. So heißen jetzt sinnigerweise auch die Partisanen-Bekämpfer der Bundeswehr: Krisen-Spezial-Kräfte. Und so reden sie denn auch in den Führungsstäben vom “Kongo-Projekt” und dass die Bundeswehr sich derzeit in einer Schaffenskrise – sprich: “Transformationsprozeß” – befinde. Die Künstlersozialkasse sollte aus partisanischen Randexistenzen legal gewerblich tätige Mitbürger machen. Und das tat sie so erfolgreich, daß spätestens mit der Wiedervereinigung das halbe Volk Mitglied in der KSK wurde. Korbflecher nannten sich in Flechtkünstler und Dachausbauer in Holzskulpturisten um, selbst Prostituierte sind dort nun als Tänzerinnen oder Sängerinnen zu Zweidritteln subventioniert versichert. Das geht natürlich ins Geld! Folglich möchte man die KSK wenn schon nicht Abschaffen, dann doch wenigstens gesundschrumpfen – also alle unsicheren Kantonisten rausschmeißen, d.h. die gesamte kulturelle Landschaft nach geschäftsuntüchtigen Projektemachern durchkämmen – und diese danach wieder zur Zwangsarbeit beim Sozialamt ansiedeln. Als Ausweg wird den Betroffenen heute gerne die Gründung von Firmen auf Basis einer kreativen Geschäftsidee nahegelegt. Und das wird auch gefördert. Dennoch wächst die Zahl der Künstler stetig.

Allein schon durch die ganzen “Doppelgänger”, die ebenfalls alle in der KSK versichert sind. Die Doppelgängerei ist ein zumindestens zeitweiliges Lebensprojekt. Man spricht auch von “Look-Alikes”, weil sie aus Amerika über uns gekommen sind. Bereits kurz vor der Wende eröffnete die ehemalige Borsig-Chefsekretärin Rosemarie Fieting im Berliner Märkischen Viertel die erste deutsche “Look Alike Agentur” – mit einer Lizenz vom Arbeitsamt. Sie vermittelt ihre “Künstler” in “weisungsgebundene Tätigkeiten”, d.h. diese treten – weil sie irgendeinem Prominenten zum Verwechseln ähnlich sehen und gegebenenfalls auch so gekleidet sind und so reden, singen oder tanzen können – auf Veranstaltungen oder in Shows auf, wo sie für Verwirrung und Heiterkeit sorgen -und dafür ein gutes Honorar einstreichen. Seit acht Jahren gibt es im Neuköllner Estrelhotel zudem einen regelmäßigen “Look-Alike-Contest”. Schwierig wird es mit den Doppelgängern von Prominenten, die plötzlich versterben – z.B. von Marilyn Monroe und Humphrey Bogart. Rosemarie Fieting hat inzwischen mehrere hundert Künstler in ihrer Kartei, ihr Bogart mußte über 10.000 Euro bisher ausgeben, um sich durch Schönheitsoperationen dem berühmten Vorbild immer wieder anzunähern. Genauso ist es mit ihren vielen Marilyn Monroes. Eine hat sich deswegen sogar umgebracht – und zwar auf die gleiche Weise wie die richtige Monroe. Neuerdings bewerben sich viele Frauen aus Polen bei der Agentur, weil sie meinen, sie sähen Claudia Schiffer ähnlich. Aus Dessau kam ein arbeitsloser Brauingenieur, der meinte: “Ich selber kuck wenig Fernsehn, aber die Kollegen behaupten, ich sehe aus wie Herbert Feuerstein. Wenn ich eine Hornbrille aufsetze, sehe ich ihm noch ähnlicher”. Frau Fietings erster Bil Clinton war ebenfalls ein Ingenieur aus dem Osten: “Er sächselte, war aber sehr höflich und schüchtern. Der wurde also laufend rot im Gesicht – und dann sah er Clinton noch ähnlicher. Sein erster Auftritt in Frankfurt am Main war auch sehr gut. Leider hat ihm dann seine Frau alle weiteren verboten”. Viele Doppelgänger können mit der Zeit nicht mehr zwischen sich und ihrem Vorbild unterscheiden. So “flucht und trinkt” z.B. ihr Udo-Lindenberg-Double aus Rostock genauso gerne und viel wie sein Vorbild. Dazu tragen auch die Medien selbst bei: So bekam z.B. Frau Fietings Pamela Anderson-Double einmal das Angebot, in der echten Baywatch-Serie mitzuspielen, die Ostberlinerin lehnte jedoch ab: “Da sollte ich bloß als doofe Blondine rumstehen, das mach ich doch schon in der Harald-Schmidt-Show die ganze Zeit”, sagte sie. Nun ist sie angeblich reich verheiratet: “Big tits come everywhere!” hatte sie sich gesagt – und die ihren enorm vergrößert.

Die Vernetzung und Verbreitung der Medien hin zu einem “globalen Dorf” scheint die Produktion von lauter Look-Alikes zu forcieren, wobei die Ausstrahlungskraft ihrer jeweiligen Vorbilder durchaus noch regional bzw. nationalstaatlich begrenzt zu sein scheint: So kommen z.B. die vier Queens in Rosemarie Fietings Kartei alle aus London, wo sie auch – vor dem Buckingham-Palast – meistens ihre Phototermine haben. Aus London stammt auch ihr Margaret Thatcher-Double. Von den drei Lady Dis kommen zwei aus England und eine aus dem britischen Sektor Westberlins. Ihre Marlene Dietrich stammt aus Schöneberg, ihr George Bush ist Amerikaner, alle fünf Hitlers sind dagegen Deutsche und Otto ist – natürlich – ein Ostfriese. Für die Agenturchefin Fieting besteht das größte Problem beim Vermarkten ihrer Doppelgänger darin, daß sie nicht nur alle so aussehen wollen wir ihr prominentes Vorbild, sondern auch immer so behandelt werden wollen: “Das ist manchmal ganz schön anstrengend!”

Um Vorbild-Lieferung und -Findung geht es auch in den Umschulungs- und Weiterbildungszentren.

Der Regisseur Harun Farocki hat mehrere Jahre diese gigantische deutsch-deutsche Reeducation-Maßnahme begleitet – und daraus drei aufklärerische Filme: “Leben BRD” (1990), “Die Umschulung” (1995) und “Die Bewerbung” (1997) gemacht. In den Bildungszentren wird den Teilnehmern u.a. beigebracht, wie man sich richtig bewirbt. Es sind videogestützte Auftritts-Schulungen, in denen das wirkliche Leben geübt werden soll – für eine neue Gesellschaft, die laut Harun Farocki vollständig auf ihr Abbild hin organisiert ist. “Angst haben alle”, sagt einer der Ausbilder in dem Film “Umschulung”. Der vom Arbeitsamt bezahlte Kursus dient denn auch zur Bekämpfung dieser Lebensangst, die inzwischen einschließlich der Umschulungskurse ganz Westdeutschland erreicht hat. Dies ist vielleicht die letzte große sozialstaatliche therapeutische Maßnahme – auf der “830-Kilometer-Couch BRD”, wie der Sozialphilosoph Ulrich Sonnemann das vorzeitig genannt hat.

In den USA ist man da schon weiter – hier sucht man das Heil statt in teurer Staatspädagogik eher in privat zu bezahlender Biochemie.

Aber ob chemische oder pädagogische Umschulungsmaßnahmen – sie zielen allesamt auf eine erfolgreiche Performance bzw. Präsenz – wie sie schon die ersten Projektemacher einst beherrschten, sofern sie erfolgreich waren. In ihrem “Projekt deutsche Wiedervereinigung” hatte das damalige Ministerium für Gesamtdeutschland übrigens schon 1961 empfohlen: Um des sozialen Friedens willen alle mit der Vereinigung in Ostdeutschland arbeitslos werdenden Menschen sofort umzuschulen bzw. weiter zu bilden.

Kommen wir nun – über den kreativen Künstler, den Prominenz-Doppelgänger und den anonymen Auftritts-Geschulten – zu den Projektemachern als begnadete Performer. Diese sozusagen anonymen Prominenten nennt man auch Hochstapler.

Auf dem 1. Kongreß in Berlin 1999, der sich ausschließlich mit dieser Spezies befaßte, wurde der Hochstapler folgendermaßen definiert: Er ist “1. ein Revolutionär, der durch Affirmation die herrschenden Charaktermasken entlarvt, 2. ein Reaktionär, der das Normen- und Regelwerk überbeherrscht und 3. ein Vorreiter jenes gesellschaftlichen Mainstreams, der die Dominanz des Scheins über das Sein besiegelt – und damit derzeit ein Trendsetter”. Die Wertschätzung der Hochstapler im modernen Kapitalismus ist alt. Der amerikanische China-Korrespondent Edgar Snow berichtet, daß einige chinesische Bauern 1935 in einem von der Roten Armee “befreiten Gebiet” einen Steuereintreiber fingen, der vorgab für die Kommunisten zu arbeiten. Die Bauern hatten ihm geglaubt – bis sie erfuhren, “dass die Roten gar keine Steuereintreiber ernannten”. Es kam zu einem öffentlichen Prozeß, auf dem Edgar Snow anwesend war. Er schrieb: “Meine eigene Reaktion auf diese Geschichte war, dass ein Mann, der die Frechheit besaß, in einer solchen Situation als Hochstapler aufzutreten, über Talente verfügt, deren man sich bedienen sollte”. Die mit den Kommunisten sympathisierenden Bauern dachten jedoch anders: Er wurde ohne Gegenstimme zum Tode verurteilt. Als Hochstapler entlarvt zu werden, kommt einem Scheitern des Projekts gleich. Und nur manchmal bekommt man eine zweite Chance. Dies galt z.B. für den Sohn eines chinesischen Konterrevolutionärs, Xiao Yinong, der sich, um studieren zu können, als Sohn eines stellvertretenden Parteisekretärs ausgab, er fälschte sogar seine Kaderakte. Als er dennoch aufflog, wurde er zur Umerziehung aufs Land geschickt. Hier gelang ihm seine Rehabilitation und er wurde schließlich ein in ganz China berühmter Autor.

Der derzeit berühmteste deutsche Hochstapler – der Bremer Briefträger Gerd-Uwe Postel – arbeitete immer wieder als Irrenarzt, zuletzt in einer psychiatrischen Klinik bei Leipzig, wo er aufflog. Eine Freundin, die Ärztin war, hatte ihn einst auf die Idee gebracht, sich als Arzt auszugeben, indem sie ihn auf eine Arztparty mitgenommen hatte. Anschließend sagte er sich: “Das kann ich auch!” Als Dr.Dr. Clemens von Bartholdy bewarb er sich dann in einer Lübecker Klinik und wurde sofort eingestellt. Von ihm erschien vor zwei Jahren eine Autobiographie – mit dem Titel “Doktorspiele”. Daneben wurde auch noch eine amerikanische Hochstapler-Story veröffentlicht – von dem Pseudo-Piloten Frank Abagnale: “Catch me if you can”, dieses Buch wurde 2002 in Hollywood verfilmt. Beide Bücher sind ihrerseits Hochstapeleien, insofern sie von den Autoren nicht selbst verfaßt wurden. Nichtsdestotrotz kommt ihnen in allen “Auftrittsschulungen”, in denen das wirkliche (westliche) Leben geübt werden soll – für eine neue Gesellschaft, die laut Harun Farocki vollständig auf ihr Abbild hin orientiert ist, eine Art Lehrbuchfunktion zu.

Wie die letzte Shell-Studie zeigt, hat die deutsche Jugend dieses Auftritts-“Ziel” aber bereits mehrheitlich gefressen: “In” sind danach – für 82 Prozent der Befragten – die individuelle “Karriere” sowie – für 88 Prozent – das “tolle Aussehen”. Für beides sind die oben erwähnten Hochstapler vorbildhaft – jedenfalls bis zu ihrer Verhaftung – gewesen. Frank Abagnale schreibt: “Noch vor meinem zwanzigsten Lebensjahr hatte ich es zum zweieinhalbfachen Millionär gebracht. Jeder Pfennig dieser Summe war gestohlen, und ich gab einen Großteil davon für exklusive Kleidung, Essen vom Feinsten, luxuriöse Unterkünfte, fantastische Bräute, teure Autos und andere sinnliche Genüsse aus.” Ähnlich klingen auch die “Geständnisse” von Gert Postel, nur dass er zuletzt als Oberarzt an einer Klinik etwas weniger verdiente. Was die beiden außerdem eint, ist die strenge Orientierung nach oben, ihre vollständige Ausrichtung auf diejenigen, die es geschafft haben. Das geht einher mit einer großen Verachtung aller, die von ihnen abhängig, die “unten” sind – vor allem Frauen. Bei dem falschen Arzt Postel waren das erst Prostituierte und zuletzt Patientinnen mit psychischen Problemen. Das gilt auch für einen weiteren Hochstapler, der zur Zeit immer noch von der Polizei gesucht wird: Ein Penner aus Passau, der sich zuletzt als militärischer Berater bei den Rettern der Elbeflut-Katastrophe einklinkte. Bereits in den Jahren davor war er immer wieder – in Phantasieuniformen – als Sicherheitsdienstleister aufgetreten – zum Entsetzen seiner armen Mutter, wenn man den Medien glauben darf. Mal trat er mit einer Feuerwehruniform angetan in Erscheinung, mal als Rotkreuzhelfer mit einem Notarztkoffer, ein andernmal mit einer Bundeswehruniform. Zu seinem Elbe-Einsatz erschien er als “Leutnant der Militärpolizei”, dort nahm er besonders die freiwilligen Helfer hart ran: “Absitzen – antreten – zack, zack, Sandsäcke füllen,” so scheuchte er die Jugendlichen herum. Der echte Feuerwehrman am Steuer des Sandsacklasters dachte sich laut Spiegel dabei: “Na ja ein Leutnant, der darf das ja!”

Der Gerichtsreporter Gerhard Mauz schrieb – ebenfalls im Spiegel – über den Hochstapler Gerd Postel alias Dr. Dr. Bartholdy, “dass da ein Künstler sein Spiel trieb”. Eher sollte man von einem Charakterschwein reden. Ob eine lumpenproletarische Gewissenlosigkeit die Hochstapelei erleichtert, mag jedoch dahingestellt sein – Tatsache ist, dass Postel damit das Fehlen einer soliden – universitären – Ausbildung kompensierte, indem er diese oberflächlich umso perfekter nachäffte. Mit dieser “Artistik” sind die Hochstapler allerdings keine Außenseiter mehr, insofern die Universitäten selbst längst Hochburgen des Auftrittsbetrugs geworden sind: des “großen Bluffs”, wie das eine Rotbuch-Studie in den Siebzigerjahren bereits nannte. Heute würde man vielleicht von einem Surfen auf Oberflächen sprechen.

Im schroffen Gegensatz zu solchen Auftrittsbetrügern steht der Querulant – ebenfalls ein Projektemacher. Z.B. Herr Ritter aus Spandau, ein Krankenpfleger, der einen Maßschuh erfand, welcher sich maschinell herstellen läßt – mittels einer mathematischen Formel und mehreren Berechnungspunkten. Der Erfinder versuchte damit bei allen möglichen Innungen, Verbänden, Firmen, Erfinder- und Innovationsmessen zu landen. Zugleich war er jedoch derart mißtrauisch, dass man ihm dabei seine Idee, die er aus den selben Gründen niemals patentieren ließ, klauen würde, daß er nirgendwo “zur Parade” kam, wie man früher sagte. Selbst die ganzen Medienvertreter, die er für seine Sache fernmündlich interessieren konnte – wobei sein rhetorischer Werbespruch lautete: “Und jetzt kommt das Entscheidende” -, stieß er reihenweise vor den Kopf. Ich darf mich rühmen, ihn trotzdem einmal für eine Zeitung porträtiert und seine Geschichte hernach in einem Buch veröffentlicht zu haben. Doch auch ich ließ mich schließlich am Telefon verleugnen, wenn er wieder mal anrief, obwohl eine seiner empirisch-pessimistischen Theorien lautete: “Am Telefon erreicht man gar nichts!” Er verlor schließlich seinen Krankenpflegerjob und kam in eine Irrenanstalt. Es gibt viele Erfinder die statt an geldgierigen Geschäftsleuten unter eingebildeter Verfolgung leiden. Als antiparanoische Einrichtung hat sich in Berlin der regelmäßig im Café Blisse tagende “Erfinderstammtisch” des deutschen Erfinderverbandes bewährt. Es ist eine Projektemacher-Schulung durch Austausch bitterer Erfahrungen.

Da gibt es z.B. einen BVG-Busfahrer, der einen Rückspiegel ohne toten Winkel in seinem Bastelkeller konstruierte – und patentierte. Erst fand er heraus, daß alle Rückspiegelfirmen in den Händen von nur wenigen Automobilkonzernen sind, dann wurde ihm dort gesagt, daß das “Prinzip” verbessert, d.h. “eleganter” sein müßte – wofür er insgesamt dann 70.000 Euro ausgab und worüber ihm seine Ehe “kaputt” ging: nur um zuletzt zu erfahren: “Wir sind naturgemäß gar nicht an einer Reduzierung der Zahl der Unfälle interessiert”. Ähnlich wie diesem Projektemacher mit professionellem Busfahrer-Hintergrund geht es vielen Erfindern, auch hauptberuflichen. “Mit jeder Erfindung ist der Unfall, das Scheitern mit erfunden,” meint Paul Virilio. Es gibt viele Querulanten, die gar nicht wissen bzw. denen es egal ist, dass sie reine Projektemacher sind, weil es ihnen dabei “nur”, wie sie sagen, um die Gerechtigkeit geht.

Laut Katharina Rutschky hat der Querulant mit dem Exzentriker dies gemein: “daß neben dem eher belanglosen Zwang zur Selbstreferenz in der Rede die Psychose droht”. Dafür “stammen jedoch 50% aller weltweit in die Praxis umgesetzten Erfindungen aus England”.

Die Querulanz und der Querulant bildeten sich paradoxerweise zugleich mit dem ordentlichen Rechtswesen heraus. Im “Großen Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Kuenste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden wurden” (Leipzig und Halle 1741) ist “Querulatus der Beklagte” und “Querulus der Kläger”. Dazwischen findet sich aber bereits der Hinweis “Querulieren…zanken, hadern, unnöthige Händel anfangen”. Damit nimmt die begrifflich festgeschriebene Querulanz ihren Anfang. 1810 wurde der bis dahin entwickelte Begriff durch eine literarische Arbeit angereichert: Heinrich von Kleist veröffentlichte – inmitten einer Zeit epidemisch werdender Querulanz – die Geschichte von “Michael Kohlhaas”. Er bezog sich dabei auf eine tatsächliche Begebenheit, die sich zwischen 1532 und 1540 abgespielt haben soll. Einem Hans Kohlhaasen wurden zwei Pferde gestohlen. Nach langem erfolglosem Rechtsstreit, der Veröffentlichung eines Fehdebriefes und einer Brandstiftung, von der ihn auch Luther nicht abhalten konnte, wurde er nach Berlin gelockt, verhaftet, bekommt seine Pferde zurück – und wird hingerichtet. Bei Kleist werden Kohlhaasens Söhne anschließend jedoch zu Rittern geschlagen – weil bei ihm die Gerechtigkeit wenigstens post mortem triumphieren soll. Im “Brockhaus Conversationslexikon” von 1886 taucht neben dem “Querulanten” erstmals der “Querulantenwahnsinn” auf. In der sechsten Auflage greifen beide Begriffe ineinander: “Querèla (lat. Querè.),…Diese Beschwerde- und Prozeßsucht ist immer ein Zeichen geistiger Abnormalität (s.Querulantenwahnsinn)”. Zu letzterem führen die Autoren aus: “…Da die Verteidigung von den ,Prozessern’ meist mit großer Rechtskenntnis und nicht ohne Scharfsinn und Redegewandtheit geführt wird, so entgeht es der Umgebung meist, daß eine Geisteskrankheit vorliegt…” 1941 heißt es im “Neuen Brockhaus” (Leipzig) zu “Querulant”: “…’Prozeßhansl’, Nörgler, ich queruliere, (habe queruliert), quengle, betreibe boshaft oder krankhaft Prozesse, mache wiederholt unbegründete Eingaben”. 1955 schreibt der “Große Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben” (Freiburg) in seiner fünften, überarbeiteten Auflage – kleinlaut: “Querulant, der (lat.) klagesüchtiger Mensch”. 1968 heißt es noch kleinlauter: “Querulant m (lat.) Klagesüchtiger”. Unter einem neuen Stichwort dafür: “Querulantenwahn, meist kein echter Wahn, sondern eine Form der Psychopathie…von H.v.Kleist treffend geschildert in ‘Michael Kohlhaas'”. Tatsächlich gärte es im Volk, und insbesondere unter den jungen Leuten 1968 ganz ähnlich wie 1810, als Kleist seinen Kohlhaas veröffentlichte. Der Querulantenbetreuer Richard Herding, der die projektemacherische Querulanz selbst zu einem (politischen) Projekt gemacht hat, merkt zu dem damaligen Pseudo-Querulantenwahn an: “Das Krankheitsbild muß man zweimal lesen, weil es – genau wie bei dir und mir – eine krankhafte Sucht ist, an allem rumzumäkeln und mit nichts zufrieden zu sein – unfähig, sich Ersatz zu suchen und zu finden. Alle radikalen Gruppen oder Parteien oder auch Ideenausdenker sind unfähig, sich Ersatzziele zu suchen”.

Wenn gesagt worden ist, daß nun auch im neuen, noch amerikanischeren Deutschland mit dem erweiterten “Beschwerderecht” aus der Sicht der davon Betroffenen (den Behörden) eine wahre Querulanz-Lawine losgetreten wurde, dann muß man dazu auch die vielen neuen Ventile im Vorfeld erwähnen: die “Offenen Kanäle”, alle Mitmach- und Vorort-Sendungen sowie die Nachmittags-Talkshows. Hier kommen zunehmend auch Meinungs-Querulanten zu Wort, werden geschult, knüpfen Kontakte und verbessern ihr Anliegen. Die Querulanz als gemeinschaftsbildender Faktor. Das geschieht jedoch hinter deren Rücken. Die Querulanten selbst sehen sich früher oder später meist als Gescheiterte – selbst wenn sie in Prozessen obsiegen, nehmen sie das nur am Rande zur Kenntnis.

Damit sind wir beim Scheitern angekommen, das inzwischen schon zu einem Modewort geworden ist. – Bei Zigtausend Konkursen jährlich – und der Tendenz: steigend. Inzwischen gibt es nicht nur einen Berliner Fußballverein, den 1. FC Union, der das Scheitern zu seinem Erfolgsprinzip gemacht hat, sondern auch schon eine regelmäßige “Show des Scheiterns” im Kulturzentrum Podiwil sowie den beliebten “Club der polnischen Versager” in der Torstraße. Und gleich mehrere “Buchprojekte” befassen sich mit der Schulung im Scheitern. In den FAZ spricht man salopp von “Losern”, und davon, daß ihnen allein die Zukunft gehöre. In ihrem Artikel – “Über den Reiz der Niederlage” – kommt eine FAZ-Autorin gar zu dem kühnen Schluß, “daß der Loser sich in einer Win-Win-Situation befindet”. Der Verlierer kann also nur gewinnen, anders gesagt: Der Verlierer ist der Gewinner! FAZtypischerweise geht es der Autorin bei ihrer auf privilegierte bzw. prominente Projektemacher eingeschränkten Sicht nicht um “Chancengleichheit”, sondern um “eine zweite Chance” – für die “Beautiful Loser”, wie bereits ein Buch von Leonard Cohen Ende der Sechzigerjahre hieß.

Daneben oder darunter gibt es eine zunehmende Zahl von Projektemachern, die sich kollektiv organisieren – und zudem eher handarbeiter-orientiert sind. Und dies, obwohl Soziologen wie Claus Offe angesichts der aktuellen “Vervielfachung von individuellen Optionen” gerade das Verschwinden der “kollektiven Optionen” beklagen. Besonders in Osteuropa entstanden mit dem Zerfall der Großkollektive jede Menge neue – von unten. Die Zentren dieser selbstorganisierten Kleinkollektive, das sind die neuen Marktplätze.

Schon ab 1990 wurden viele große Sportstadien sofort zu Märkten umgerüstet. Der “Jarmark Europa” im und am Warschauer Stadion in Praga entwickelte sich sogar zum größten Arbeitgeber Polens. Gleichzeitig bildeten die von der globalisierten neuen Ökonomie überall freigesetzten Arbeitermassen Men-in-Sportswear-Banden, die einen schwunghaften Handel mit illegalen Waren bis hin zu Menschen betreiben. Überhaupt wurden die “Men in Sportswear” (MiS) bereits zum Sinnbild aller postproletarischen Projektemacher. Auch die nun nicht mehr vom Osten oder vom Westen gesponsorten Partisanenbewegungen machten sich weltweit auf diese oder ähnliche Weise wirtschaftlich selbständig. Der Berliner Politikforscher Herfried Münkler spricht hierbei von “privatisierten Kriegen” – als “Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln”. Wohingegen der Jerusalemer Konfliktforscher Martin van Creveld diese Kriege als Fortsetzung des Sports mit anderen Mitteln begreift. Darauf deutet nicht nur die aus den schwarzen US-Ghettos stammende Banden-Mode “Sportswear” hin, sondern z.B. auch die Verwandlung des Fanclubs “Roter Stern Belgrad” in eine Tschetnik-Einheit. In der ehemaligen Sowjetunion besteht nach wie vor das Gros der Body-Guards von kriminellen Banden und ihren Clubs aus ehemaligen Profisportlern.

Mit dem Zerfall der ideologischen Großsysteme, so kann man vielleicht sagen, sind Sport, Krieg und Ökonomie eine neue privatpolitische bzw. projektemacherische Verbindung eingegangen. Ihre Erforschung steht erst noch am Anfang. Als Pionierin auf diesem Gebiet gilt, neben einigen Kriegsforscherinnen die in Oxford lehrende Soziologin Malgorzata Irek. Sie forschte allein drei Jahre lang im “Schmugglerzug Warschau-Berlin-Warschau”, ihre Ergebnisse erschienen 1998 im Berliner Verlag Das Arabische Buch. Hier gründete sich neuerdings auch die erste – erfolgreiche – Schlepperbande, die Osteuropäer von Westen nach Osten schleust – nämlich all jene Arbeitsemigranten, die mit einem 3-Monats-Touristenvisum einreisten, das sie wegen des Notwendigkeit, hier Geld verdienen zu müssen, überzogen. Um bei der Ausreise kein Wiedereinreiseverbot eingestempelt zu bekommen, zahlen sie nun der Berliner Schlepperbande bis zu 500 Euro, um schwarz über die Oder/Neiße-Grenze zu gelangen. In umgekehrter Richtung ist es sehr viel teurer – und auch umständlicher. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern für alle Waren: das Risiko, vom Zoll bzw. Grenzschutz erwischt zu werden – wird durch eine höhere Profitrate ausgeglichen. Ein junger Mann namens Kamal aus Bangladesch mußte z.B. 7000 Dollar für seinen Transfer über Moskau nach Berlin zahlen, wo er nun im “Treptower Kinderasyl” Aufnahme fand. Die Schlepperbande, der er sich 1999 anvertraute, war – so wie die zuletzt gegen die Deutschen kämpfenden kommunistischen Partisanen – landsmannschaftlich organisiert, d.h. hinter jeder Grenze wurde seine Flüchtlingsgruppe von einer anderen Bande übernommen, wobei teilweise sogar die alten Partisanen-Schleichwege wieder benutzt wurden. In ihrem Buch “Transitgeschichten” berichtete Lilli Brand, wie der Frauen-Schlepp-Service von Kiew über die Karparten nach Berlin abläuft. Er ist bedeutend bequemer, weil er mit gefälschten bzw. über Bestechung erschlichenen Einreisevisa und per Zug funktioniert, aber in etwa genauso teuer. Und er wird jetzt noch teurer, nachdem man den bestechlichen deutschen Visabeamten in Kiew verhaftet hat.

Bereits während der deutschen Okkupation und der Ausplünderung des Ostraumes waren zigtausende von Menschen gezwungen, vom Produktions- in den Informations- bzw. Dienstleistungssektor überzuwechseln, d.h. die Landwirtschaft, ihr Handwerk oder den Industriearbeitsplatz aufzugeben und Schmuggler (Macher) zu werden. Die selbe Situation haben wir dort auch heute wieder, wobei der “Ameisenhandel”, wie man das jetzt nennt, sich inzwischen bis nach Asien und Afrika hin erstreckt. So filmte z.B. die polnische Dokumentaristin Jolla Grazyna die gefahrvolle Tour einiger Kirgisen, die regelmäßig auf dem Automarkt in Stuttgart einige PKWs kaufen und sie dann in ihre Heimat überführen, wo sie sie weiterverkaufen. Das Schlimmste unterwegs sind die korrupten Polizisten, sagt einer. Auf dem Luftweg blüht der deutsch-mongolische Kleinhandel – dank der Direktflugverbindung Ulan-Bator-Berlin und einer schon wieder auf etwa 4000 Menschen angewachsenen mongolischen “Diaspora” allein in Berlin.

Der springende Punkt, den jetzt die postproletarischen Massen im Osten ins Auge fassen müssen, das ist die Frage: “Was Tun – damit es sich lohnt?” Den in Frankfurt/Oder lehrenden linken Slawisten Karl Schlögel kann man inzwischen geradezu als Sänger dieses neuen marktwirtschaftlichen Denkens bezeichnen. Schon die Titel seines letzten diesbezüglichen Essays deuten das an: “Die Geburt des Basars aus dem Zerfall” und “Der Ameisenhandel kennt keine Grenzen”. Als Wissenschaftler unterscheidet er zwischen mehreren Phasen – wobei die “Basarphase” in einigen Ostblockländern “schon wieder vorbei ist”. – Ebenso wie in einigen russischen Metropolen die Men-in-Sportswear-Bandenmode. Als Dichter sieht er aber vor seinem geistigen Auge das große Ganze: Ein riesiges “Netzwerk der Warenströme, das die östlichen Städte mit der Welt draußen und das die Städte ihrerseits mit der Provinz tief im Landesinneren verbindet”. Die Menschen, die daran beteiligt sind, bezeichnet Schlögel mit dem russischen Wort “Tschelnok” – als Weberschiffchen: “Es rast hin und her und erzeugt mit dem Faden, den es abspult, jenes Gewebe, aus dem dann der feste Stoff entsteht”. In einer russischen Untersuchung, die Schlögel zitiert, wird dieser “neue Beruf” als “kleiner Händler – in der Regel mit Hochschulbildung” definiert, “der die Funktionen des Staatsmonopols zur Gewährleistung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und alltäglichen Bedarfsartikeln auf sich genommen hat”.

Man sieht ihn förmlich vor sich – diesen neuen hochgebildeten jungen Pionier. “Geh nach Sibirien junger Mann, dort wachsen Dir die Gürkchen ins Maul,” riet bereits Gorkij einem Arbeitslosen und neuerdings der Gouverneur von Jekaterinburg den ausgewanderten Rußlanddeutschen, die sich hier überflüssig vorkommen. Die Vietnamesen oder Kirgisen, die in umgekehrter Richtung als Kleinhändler diese Riesenstrecke durchqueren, erledigen dabei, so sagt Schlögel, ihre “Shoppingtouren per Charterflug”. Und Hunderttausende lernen dabei im Westen, daß man “‘normal’ leben und die Früchte seiner Arbeit genießen kann”. Auf diese Weise werden die Marktbesuche ihnen zu “Schulen des Lebens”, d.h. wenn man ein Leben “im Sog und im Schatten des Basars” führt, werden “nicht Institutionen ausgewechselt, sondern eine ganze Lebensform”. Diese ist zwar nicht mehr geplant – wie im Kommunismus, sie hat dennoch eine, wenn auch schwer erkennbare “Ratio”: Sie wird nämlich (wieder) gelenkt von einer “unsichtbaren Hand” (der Marktwirtschaft selbst), die “nicht nur stärker als die Faust jedes noch so mächtigen Diktators ist, sondern auch effizienter”, denn sie setzt sich aus der “kollektiven Intelligenz Tausender von Menschen” zusammen – aus der Summe ihrer Handelstätigkeiten quasi. Das Menschheitsbeglückende würde sich damit hinter dem Rücken der Beteiligten herstellen.

Man merkt diesem Westberliner Marktbeobachter bzw. Basarbesucher bei seiner Verherrlichung derartiger Projekte an, daß er sein Geld nicht im Kleinhandel oder gar mit Prostitution verdienen muß, ja nicht einmal als Konsument dabei auftritt. Denn eine ständige und stabile Konzentration auf das, was sich lohnt, also auf die mögliche Gewinnspanne beim An- und Verkauf einer Ware, die einem an sich völlig gleichgültig ist, verblödet einen Menschen nicht nur, sondern macht ihn – besonders all jene osteuropäischen Kleinhändler “mit Hochschulbildung”, die gezwungen sind, sich für den Rest ihres Lebens als Schmuggler durchzuschlagen – schier verrückt, mindestens depressiv. Vom Westen aus ist es – unverschämt, diese massenhafte Deklassierung einfach als Zugewinn abzubuchen, während es dort eher als Weltverlust empfunden wird, in der neuen Ordnung alle Dinge in Zahlen umrechen zu müssen.

Sehr eindrucksvoll schildert dies ein Film von Zoran Solomun und Vladimir Blazevski: “Der chinesische Markt” in Budapest. Es geht darin um vier Intellektuelle aus Jugoslawien, Rumänien, Mazedonien und Ungarn, die mit dem Zerfall des Kommunismus ihre Existenz verloren haben und nun als Handlungsreisende noch einmal von vorne anfangen. Eine erzählt: “Alles brach um mich herum zusammen – es war ein Alptraum!” Ein anderer rasiert sich jedesmal, bevor er sich wieder nach Budapest aufmacht, damit er nicht “wie ein Schmuggler” aussieht. Auf dem Markt arbeiten 5000 chinesische Händler, aber auch z.B. ein ehemaliger Professor aus Kabul: Er verkauft dort chinesische Waren auf Kommission. Die Kleinhändler klagen: “Man muß jede Woche neu verhandeln”. Ihre großen schwarz-weißen Taschen, mit denen sie ihre Waren transportieren, nennen sie “Kühe”, weil sie so viele Menschen ernährt: die Großhändler, das Marktpersonal, Zöllner, Busfahrer…und am Ende dieser Kette auch noch sie selbst, d.h. “wenn noch etwas übrigbleibt”. Um das Risiko zu verringern, kaufen sie jedesmal alles Mögliche in Budapest ein: Lippenstifte, Mützen, Turnschuhe, Jacken, Uhren, Deosprays, Spielzeug etc.. Und so, wie die mit dem Zug nach Berlin reisenden polnischen Kleinhändler sich in Gruppen organisieren, wobei der Älteste den Schmuggeltarif mit den Zöllnern aushandeln muß, scharren sich die mit dem Bus regelmäßig Budapest ansteuernden Händler um ihr Buspersonal. Diese listen auf der Rückfahrt – bis zur ersten Grenze – alle mitgeführten Waren auf und verhandeln dann mit dem Zoll. Wenn es gut geht, gibt es anschließend keine Beanstandungen bei der Einzelkontrolle der “Kühe”, die jeder Kleinhändler den Zöllnern draußen noch einmal vorführen muß. Und danach wird im ganzen Bus gefeiert und gesungen. Aus gutem Grund.

Während die Großhändler in Budapest zumeist von den chinesischen Fabriken abgesandt wurden, sind die Standbesitzer auf den regionalen Märkten – in Sarajewo und in Tetovo (Mazedonien) z.B. , denen die vom Filmteam begleiteten Kleinhändler ihre Ware liefern, ebenfalls “früher” oft Lehrer, Akademiker, Journalisten und sogar Betriebsdirektoren gewesen oder sie kamen nicht mehr mit ihrer Rente hin.

Der Regisseur des Films über den chinesischen Markt in Budapest, Zoran Solomun, ist kein amtlich bestellter Sänger der Marktwirtschaft, sondern ein ehemaliger Belgrader Fernsehredakteur, der sich hier im Exil als selbständiger Filmprojektemacher durchschlägt. – Und der deswegen mit seinen fünf grenzüberschreitend tätig werdenden Einzelhändler-Helden mitfühlt. Einer seiner Kleinhändler hat stets seinen Parteiausweis dabei: “als Amulett, das Glück bringt”. Er war früher Partisan, glaubt noch immer an den Kommunismus, und ist am Ende seines Lebens wieder zu einer Art Partisan des Alltags geworden. Dazu verhalf ihm am Anfang ein Existenzgründerdarlehen über 1500 DM von der Deutschen Bank-Filiale in Sarajewo. Bei jeder Verkaufstour kann er nun “400 DM für sich rausholen”.

Dieses traurige Schicksal wird von den neuen Neoliberalen und den Apologeten von Projekten meist mit Statistiken vergoldet – über die optimistisch stimmende Entwicklung der Märkte selbst. Ihre frohe Botschaft kann jeder Besucher z.B. der “Polenmärkte” gleich hinter der Grenze mit eigenen Augen bestätigen: Anfangs gab es nur ein paar Bretter auf Steinen, dann Zelte, Buden und schließlich ganze Boutiquen aus Chrom und Glas mit Neon. Gleichzeitig schritt die nachholende Entwicklung zügig vom Kiosk über den Laden bis zum Supermarkt fort: Man kann sozusagen aufatmen und Business as Usual vermelden – bis weit hinter den Ural bzw. von einer gelungenen Transformationsphase faseln. Vollends abgehoben ist es, davon zu schwärmen, daß der Ameisenhandel keine Grenzen kennt: Gerade die daran Beteiligten, vom Schmuggler bis zum LKW-Fahrer, kennen die Grenzen genau, geradezu intim. Dazu gehört auch das Wissen, daß weniger Angebot und Nachfrage die Preise regeln, sondern eher die Verfolgung. Nicht nur durch konkurrierende Banden. Auf den Märkten an der Grenze zwischen Polen und Rußland beispielsweise kommt es regelmäßig durch Staatseingriffe zum sogenannten Kaliningrader Schweinezyklus: Auf Druck der polnischen Alkoholhändler vertreibt der Zoll mit Razzien die russischen Wodkaschmuggler, die damit aber auch als zahlungskräftige Kunden wegfallen, woraufhin die übrigen polnischen Geschäftsleute protestieren und die Zöllner schließlich nachgeben – bis sich die Lage an der Grenze nach einiger Zeit wieder “normalisiert”.

Die Reprivatisierung der staatlichen Versorgungs-Netzwerke hat insgesamt zur Folge, daß es einen permanenten Druck hin zur Legalität gibt (den man in Deutschland erst auf das nicht-versicherungspflichtige Hauspersonal ausübte und jetzt auf die bisher nicht-versicherungsrechtlich anerkannten Prostituierten – die sich damit ebenfalls als Projektemacher begreifen, wie einige Studien über Putzfrauen und Prostituierte gerade deutlich gemacht haben). Man kann das als Fortschritt feiern, umgekehrt ließe sich aber auch die Flexibilität und Kreativität der Illegalen als “Waffen der Schwachen” und “alltäglichen Widerstand” begrüßen, wie das jüngst Janet MacGaffey und Rémy Bazenguissa-Ganga in ihrer Untersuchung “Transnational Traders on the Margins of Law” getan haben, in der sie sich mit den Netzwerken der ebenfalls meist überqualifizierten Händler aus Brazzaville und Kinshasa befassen, die eng mit der kongolesischen Diaspora in Paris kooperieren. Ähnlich beeindruckt von ihren subversiven Fähigkeiten scheint die Filmemacherin Ulrike Ottinger von den Händlerinnen und Prostituierten in Odessa gewesen zu sein, Ihre Mitarbeiterin Katharina Sykora berichtete über die Dreharbeiten, wobei man den Eindruck gewann, daß viele Frauen dort sogar die Heirat mit einem Amerikaner bereits als partisanischen Akt in Angriff nehmen.

Dazu paßt, das sich in den USA und in Deutschland ein neuer Wirtschaftsratgeber mit dem Titel “Guerilla-Marketing” derart gut verkaufte, daß der Autor Jay Conrad Levinson gleich noch ein Buch mit dem Titel “Guerilla Verkauf” nachschob. Wenn aber jeder Kleinhändler und Projektemacher gleich zum “Privatpartisan” erklärt wird, dann ist die neue Marktwirtschaft selbst ein einziger Bürgerkrieg – dessen Gefechte aus unfreundlichen Übernahmen, Mobbing, Kartellen, Razzien, Steuerfahndungen, Entlaubungsaktionen, Beschlagnahmungen etc. bestehen.

Genau umgekehrt sehen das die französischen Autoren einer Aufsatzsammlung über die “Ökonomie der Bürgerkriege”, in der sie sich mit den Befreiungsbewegungen rund um den Globus und ihre Versuche, sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wirtschaftlich zu konsolidieren, befassen. Gerade dabei wird die Wirtschaft angeblich von ihnen in den Boden gestampft. Egal, ob die Guerillagruppen sich kommunistisch, nationalistisch, ethnisch oder religiös begreifen, ihre Geschäfte machen sie inzwischen meist mit Drogen, Waffen, Menschenschmuggel, im Sklavenhandel, als Erpresser, fliegende Zöllner oder Ähnlichem. Beunruhigt sind die Autoren vor allem deswegen, weil die heutigen Rebellen dahin tendieren, ihre “befreiten Gebiete” so lange auszuplündern, bis nichts mehr da ist – einschließlich der internationalen Hilfslieferungen. Kommt noch hinzu, diese “Low intensity conflicts” mehr und mehr an die Stelle der regulären Staats-Kriege treten – und das kriegerische Handwerk – in Form von Söldnern – wieder goldenen Boden hat. Das begann bereits im libanesischen Bürgerkrieg. Oftmals werden jetzt schon Kinder gezwungen, vom Produktions- in den Destruktionssektor überzuwechseln. Es wird also böse enden.

Statt Luftkurorte, Erholungsheime und Recreation Center brauchen wir wahrscheinlich bald “Inseln der Integrität”: befreite Gebiete, wo jeder Handel untersagt ist – sowie jede Projektemacherei. Aber auch das wäre schon wieder ein ziemliches Projekt.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/07/20/lauter-projektemacher/

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kommentare

  • Dave…

    Interesting topic… I’m working in this industry myself and I don’t agree about this in 100%, but I added your page to my bookmarks and hope to see more interesting articles in the future…

  • Mein Kommentar kommt etwas spät, aber um die Hausmeisterblogs zu lesen benötigt man schon etwas Muße. Im Beitrag zum Beitrag entdeckte ich das “Joint (venture) mit dem Hanfhaus.”

  • Hier noch ein Beispiel von seriösen Projektemachern:

    PERSÖNLICHE KAMPFZIELE – So übertitelte einmal der Polymerchemiker Max Olschewski seine kurze Geschichte vom Plastikforscher in der Akademie der Wissenschaften der DDR zum Geschäftsführer der Köpenicker Firma seiner Frau Dr. Brigitte Olschewski, die ihr Labor nach der Wende als “Cycloclean BO Umweltchemie GmbH”, kurz CC BO, im Handelsregister eintrug.

    Die beiden – er ist 63 und sie 58 Jahre alt – waren zuvor vom westdeutschen Wissenschaftsrat “positiv evaluiert” worden, d.h. ihre Forschung in der Akademie wurde als “erhaltenswert” eingestuft. Da man jedoch zugleich ihr Institut “abgewickelt” hatte, waren sie zunächst auf Basis von ABM in einer gemeinnützigen Beschäftigungsgesellschaft für arbeitslose Akademiker gelandet. Auch dort wurde geforscht. Max Olschewski hatte jahrzehntelang vor allem mit Tensiden gearbeitet, und in der Verbindung von Forschung und Produktion u.a. ein Kunstleder aus Polyurethan entwickelt, das als Schuhoberteil die Eigenschaft hatte, nach außen wasserabweisend und nach innen atmungsaktiv zu sein.

    In der deprimierend lethargischen Vorwendezeit beschäftigte ihn – inspiriert von Thomas Pynchons V2-Raketen-Roman – die Erfindung eines erektionsfähigen Plastematerials, mit dem die Peenemünder angeblich in den Vierzigerjahren bestimmte Teile ihrer Raketen ausstatten wollten. Dann interessierte er sich für die Räder von Skateboards, sie waren von einem 1968 in Berkeley relegierten Chemiestudenten erfunden worden und bestanden aus weichem Plastik, dass jedoch kaum Abrieb hatte. Und schließlich arbeitete er sich in die Müllprobleme der 3.Welt ein, u.a. in die Energiegewinnung aus Plastik, denn dort gibt es einen immer bedrohlicher werdenden Holzmangel und gleichzeitig einen großen Überschuß an Plastikmüll.

    Der Herbst 1989 und die darauffolgende Auflöfung der DDR sowie der Akademie und seines Instituts riß Max Olschewski aus seinen Träumen. Wenig später in der Beschäftigungsgesellschaft kamen die beiden Olschewskis als Polymerforscher in einem Projekt unter, in dem es um patentreife Erfindungen im Umweltbereich – konkret: “um nützliche Produkte aus mikrobiellen Biomassen, d.h. um biologisch abbaubare Kunststoffe” ging.

    Nach einiger Zeit meldeten die Olschewskis zwei Patente an – zum Thema “Bioformstoffe und Derivate”. Diese wurden jedoch von der Beschäftigungsgesellschaft beansprucht – mit der Begründung: “Wir verwerten sie selbst”. Das geschah dann jedoch in einigen von den Geschäftsführern der gemeinnützigen Beschäftigungsgesellschaft gegründeten Privatfirmen. Um wieder an die Patente heranzukommen, versuchte das Forscherehepaar alles mögliche – bis hin zu Kleinen Anfragen im Berliner Abgeordnetenhaus.

    Noch schwieriger wurde es dann, als die Olschewskis zur Verwertung ihrer Patente eine eigene Firma zu gründen beabsichtigten und dafür Geschäftspartner suchten, die sie nicht nur übers Ohr hauen wollten. Damals wimmelte es im Osten geradezu von Glücks- und Konkursrittern aus dem Westen, die auf Schnäppchensuche nach Immobilien, Geschäftsideen, Patenten und Notverkäufen waren. Die beiden Olschewskis gerieten gleich mehrmals an solche. In Summa:

    “Es ging rauf und runter in dieser ‘Gründerzeit’: Im Rahmen unserer hilflosen Streifzüge gerieten wir auch an einen Bootsbauer aus dem Rheinland, Herrn Gerd Heinz. Er erschien uns glaubwürdig, zumal er mit einem sehr sympathischen Bootsbauer aus dem Spreewald, Fritze Lehmann, zusammenarbeitete. Max Olschewski und Gerd Heinz flogen nach Abu Dhabi und verhandelten dort mit dem Scheich Ibrahim Alhadidi. Es kam nichts dabei raus, aber rückblickend meint Max Olschewski doch: “Heinz war als Gauner drei Nummern besser als die Geschäftsführer unserer Beschäftigungsgesellschaft”. So schaffte er es z.B. vom Staatssekretär des brandenburgischen Umweltministers, Dr.Hesse, 40.000 DM für die Gründung einer “Brandenburger Umweltforschungs- und Entwicklungs-GmbH” (BUFEG) zu bekommen, deren Prokurist er dann wurde: “Das Stammkapital dafür, 50.000 DM, zahlte er am 13.Mai ein und am 14. hob er es wieder ab”. Die Zeitschrift Forbes überreichte ihm 1993 ihren “Managerpreis” des Jahres. Heinz stellte Max Olschewski dann als Geschäftsführer der BUFEG ein. Wenig später förderte das Umweltministerium das BUFEG-Forschungsthema “Bodenwäsche” mit 1,15 Mio DM. Dieses Geld lenkte Heinz jedoch sofort in die Firma “Umwelttechnik Lehmann GmbH”, dort waren Max und Brigitte Olschewski ebenfalls als Geschäftsführer angestellt. Insgesamt bekamen sie aber nur anderthalb Gehälter überwiesen. Im Antrag stand, daß der Eigenkapitalanteil für die BUFEG von der Firma “Yachtwerft Lehmann GmbH”, einer weiteren Firma, kommen sollte, der kam aber nie. Später erfuhren die Olschewskis, daß Gerd Heinz wegen einer zurückliegenden Konkursverschleppung erst ab 1995 wieder Geschäfte machen durfte. Desungeachtet erwarb er mit den Forschungsgeldern mehrere Yachten. Eine “Tina” – stellte er dann laut Bild-Zeitung dem für Unternehmenskredite zuständigen Mitarbeiter des Potsdamer Wirtschaftsministeriums zur Verfügung. Bald war die Steuerfahndung hinter dem Hochstapler her – und der Heinz verschwand auf Nimmerwiedersehn, dafür hatte dann das Ost-Ehepaar Lehmann jede Menge Schulden, denn mehrere Firmen waren von Heinz auf ihren Namen eingetragen worden.

    Max und Brigitte Olschewski warteten von Ende 1993 bis April 1994 auf die Fördergelder für ihre eigene Firma “Cycloclean”. Im Mai meldeten sie sich arbeitslos. Vier Monate später wurde Brigitte Olschewski eine Laborantenstelle vom Arbeitsamt nachgewiesen. “So, habe ich da zu ihr gesagt,” erzählt Max Olschewski, “jetzt fangen wir einfach mit unserer CC BO an, die es ja de jure schon gab, wir mußtens sie bloß vitalisieren”. Dies geschah zum einen dadurch, daß Brigitte Olschewski beim Arbeitsamt ein “Überbrückungsgeld zur Existenzgründung” (in Höhe einer sechsmonatigen Arbeitslosenunterstützung – insgesamt etwa 11.000 DM) beantragte, sowie eine “Existenzgründer-Prämie” (24.000 DM auf ein Jahr in drei Raten) bei der Berliner Senatorin für Arbeit und Frauen. Zum anderen kümmerten sie sich um Förderungsgelder des Bundesforschungsministeriums – speziell für Technologieorientierte Unternehmensgründungen. Hierbei gab es ebenfalls jede Menge Ärger und Zeitverluste – in diesem Fall mit der dazwischengeschalteten “Berliner Bank für kleine und mittlere Unternehmen” (BKMU), für die Max Olschewski die Geschäftsführerin und Bankmiteignerin Susanne Schulz (der Name wurde von der Redaktion geändert) verantwortlich macht, die nach der Wende angeblich ebenfalls im lukrativen Beschäftigungsgesellschafts-Geschäft mitgemischt hatte. Schließlich riet das Bundesforschungsministerium der Ich-AG Olschewski: “Fangen Sie doch einfach schon mal an”. Im Verlauf des Jahres 1995 kamen auch bereits die ersten Einnahmen – durch Forschungsaufträge – herein. So wie die Förderung beginnt, muß man auch Leute einstellen.

    Der erste Mitarbeiter der Olschewskis war ein gestandener Polymerchemiker. Er richtete das Labor mit ein, das sie inzwischen im “Innovationspark Wuhlheide”, einem ehemaligen NVA-Standort, angemietet hatten. Ihr Angestellter erwies sich in der täglichen Arbeit sehr schnell als “eine Katastrophe: Er suchte ein trockenes Plätzchen und war devot”. Statt an Versuchen arbeitete er meist am Computer – schrieb sogar eigene Programme: “Wir brauchten so etwas aber gar nicht. Deute mir mal einen Computer. Seine Kurven sahen gut aus, waren intelligent aufgebaut, aber erstens durchschaute ich sie nicht und zweitens hatten sie praktisch keinen Wert. Davon hätten wir kein einziges Produkt verkaufen können. Als er dann auch noch ein viel zu teures Randwinkel-Meßgerät zu seiner Selbstbefriedigung anschaffen wollte, haben wir ihm gekündigt. Als nächstes wurde eine 38jährige Diplom-Chemieingenieurin eingestellt, die im VEB “Berlin-Chemie” mit Tensiden gearbeitet hatte – “also zu unserem Fach gehörte: Sie ist lebhaft und angenehm”. Bei CC BO kocht sie nun meistens die Tenside. Als “Perle” bezeichnen die Olschewskis ihren 34jährigen Diplomchemiker, den sie über das Arbeitsamt vermittelt bekamen: “Zwei Monate hat er gar nichts gesagt, er reflektiert alles in Arbeit, bei uns stellt er Tensid-Experimentreihen zusammen”. Als Laborantin wurde dann noch eine 32jährige arbeitslose Schriftsetzerin eingestellt.

    Über einen ehemaligen Kollegen aus der Akademie der Wissenschaften kamen die Olschewskis mit einem ABM-Projekt zur Bodensanierung auf dem ehemaligen Gelände einer Treptower Farbenfabrik in Kontakt. Dem Maßnahmenleiter dort legten sie ihre Idee, Bodenwaschen mit Tensiden, nahe. Es kam auch zu einer gewissen Kooperation, aber mit Auslaufen der ABM endete sie Anfang 1997 wieder. Die Olschewskis verfolgten ihre Idee der Bodenwäsche sowie die damit verbundenen technischen Reinigungsprobleme jedoch weiter. “Wir hatten immer zu unterscheiden: Sagen wir es unserem Betreuer im Bundesforschungsministerium, Dr. Ruhrmann, oder sagen wir es ihm nicht? Wenn es um Wasser-in-Öl-Tenside geht, dann kann es die Förderung betreffen. Dabei gibt es eine Forschungspflicht – 137 Stunden pro Monat. Im umgekehrten Fall – Öl in Wasser – betrifft es die Förderung nicht. Das ist dann Kür für uns. Wir bringen ihm alle Aufträge zur Kenntnisnahme, daraus ergibt sich die gesamte Arbeit des Labors. Wobei immer vermarktungsfähige Produkte bei rauskommen müssen. 95% aller Veröffentlichungen auf diesem Gebiet betreffen im übrigen Öl in Wasser”.

    Bei den zu vermarktenden Produkten braucht es natürlich Abnehmer – Kunden. Auch hierbei waren die bisherigen Erfahrungen der Olschewskis durchwachsen. Im November 1995 rief z.B. ein junger Schwabe bei CC BO an: Er habe 200 Bauern in Griechenland unter Vertrag – produziere auf 5000 Hektar Baumwolle, daraus fertige er Textilien. Er wollte eine Lizenz zur Herstellung von Tensiden nach dem Olschewski-Verfahren kaufen, damit wollte er dann in Griechenland selber Tenside herstellen, um auch noch seine ölhaltigen Nebenprodukte zu verwerten. CC BO sollte 5-6% vom Gewinn bekommen – dies sei der übliche Anteil in der chemischen Industrie. Max Olschewski antwortete ihm, dass er seine Rezeptur für die paar Kubikmeter Öl nicht verrate. “Das ist ein typisches Beispiel für West-Geschäftsbenehmen, in dem mein Part darin zu bestehen scheint, vom vielen Geld oder der vielen Sprache beeindruckt zu sein”.

    Gegenbeispiel: Eine kleine Firma in Brandenburg, die Ultraschallgeräte baut. Man kann damit z.B. technische “Abälle” recyceln, indem man die Verunreinigungen ablöst. Das betrifft u.a. Eisenbahnschotter, Walzzunder und Kunststoffschredder. Es ist ein relativ einfaches Verfahren, aber nicht ganz billig – wegen des Energieaufwands. Andererseits geht es mit Tensiden allein auch nicht. Beide Methoden zusammen wären eventuell brauchbar. “Diese Firma war redlich! Einer ihrer Mitarbeiter führte mir das Vermischen von Diesel und Wasser mit Ultraschall vor. Daraufhin habe ich ihm Diesel und Wasser mit einem speziellen Tensid vorgeführt, später schrieben wir ihm: “Sind immer noch beeindruckt von ihrer Innovation. Diesel-Wasser-Gemisch mit Ultraschall hat sich entmischt. Diesel-Wasser-Tensid-Gemisch hat sich jedoch noch immer nicht entmischt… Redlich an ihm war, daß er gesagt hat, was er kann und was er nicht kann”. Da das Diesel-Wascher-Tensid-Gemisch auch nach mehreren Monaten noch stabil blieb, konnte dafür das Interesse eines mittelständischen Unternehmers geweckt werden, der mit der Mischung im Test eine Turbine betrieb. Max Olschewski erzählte diese Geschichte als ein Beispiel für eine “gute Geschäftsanbahnung”.

    Als Negativbeispiel erwähnte er dann einen “kleinen mittleren Waschmittelhersteller”: “Wir haben eines seiner Waschpulver mit unseren Tensiden verändert. Er hat ein Labor und wir haben da gewaschen und geprobt. Nach vier Monaten meinte er: ‘Wir seien zwar schon ganz schön weit, aber es wäre noch nicht gut genug!’ Inwischen war jedoch unser Ergebnis besser als seins. Und das war es dann zwischen uns! Er hätte uns erklären müssen, was denn sein Ziel gewesen war. Er entschied also ohne sachliche Gründe. Und wir merkten langsam, ohne Geld zu verdienen, dass er nur unsere Rezeptur wollte”.

    Aber erst einmal lernten die Olschewskis über ihn dann die Geschäftsführer des Berliner Hanfhauses kennen, die an Waschmitteln auf Hanföl-Basis interessiert waren. “Wir haben das gleich noch bei dem Waschmittelhersteller ausprobiert. Mit seiner alten Mischtechnik. Weil das Pulver beim Mischen heiß geworden war, wurde es klumpig. Die Reaktion des Fabrikbesitzers darauf war: ‘Wir müssen etwas weniger Tenside reinschütten, dann wird es pulvriger’. Er wollte nur schnell wieder ins Geschäft reinkommen – mit dem neuen Waschmittel ‘Sative’ – produziert von ihm. Wir hätten dagegen lieber ein bißchen mehr Tenside beigegeben, um die Waschkraft zu stärken, dazu hätten wir jedoch einen Extruder benötigt. Also eine Mischmethode, bei der das Wasser rausgezogen wird. Weil wir uns nicht einigen konnten, trennten wir uns von dem Waschmittelhersteller, dem ich später in einem Brief schrieb, dass er nun schon der Dritte sei, dem wir unsere Rezeptur nicht verraten”.

    Da wir alleine weiter machten, brauchten wir dringend eine Vertriebsfirma. Es meldete sich eine aus Hessen, ich bat einen der Geschäftsführer des Hanfhauses dazu. Die haben dann diskutiert. Der aus Hessen hat immer ganz groß, aber unsachlich was versprochen, die Berliner Hanfleute dagegen haben auch mal einen Versuch bezahlt – und blieben ansonsten immer sachlich. Das Waschmittel wollte der Hesse über Tengelmann vertreiben. Im Endeffekt kam dann heraus: “Eine Gruppe von Wirtschaftsweisen sollte und wollte ein Marketingkonzept erstellen – und das sollte Tengelmann angeboten werden. Die Vermarktungsfirma und CC BO – wir hätten halbe halbe gemacht (nach Abzug aller Spesen). Der Rat der Wirtschaftsweisen hätte z.B. 300.000 DM bekommen. Der Besitzer der Vermarktungsfirma hatte davor schon eine andere Firma gehabt, die 1,4 Mio DM Miese gemacht hatte – konkursverschleppt. Seine neue Firma war aber nicht die Nachfolgefirma, er war auch nicht ihr Geschäftsführer, das war ein Anwalt. Er selbst war seine Firma – alle seiner 13 Angestellten waren längst entlassen, ohne Gehalt und sogar sein Telefon war bereits abgeklemmt. Er sollte vor Gericht gestellt werden – und hatte nur noch eine Chance, nicht in den Knast zu müssen: Wenn er glaubhaft machen konnte, daß er mit den Tensiden alle Schulden bezahlen könnte. Wir brachen dann natürlich alle Geschäftskontakte zu ihm ab. Stattdessen entwickelte sich die Zusammenarbeit mit dem Hanfhaus ganz wunderbar. Max Olschewski bekam von ihnen einen halben Liter Hanföl – und daraus machte er in zwei Wochen ein Waschpulver, “das weißer als die bewährten Waschmittel wusch! Die Brisanz war auf beiden Seiten enorm”. Zum einen konnten die Olschewskis ihr bereits liebgewonnenes Waschpulver nun “doch noch an den Mann bringen, dazu auch noch ökologisch und dann auch noch mit Hanf – der neuzeitlichen Superpflanze aus grauer Vorzeit” Zum anderen würden die Hanfhausleute mit dem Waschpulver namens “Sativa” über eine “innovative Wunderwaffee verfügen, die die Altvorderen noch nicht kannten – also über ein wirklich neues Hanfprodukt”.

    Nachdem abrundend aus den Waschmittel-Bestandteilen auch noch das Phosphat entfernt worden war, damit es nicht so staubte, wurde aus dem Pulver ein Granulat gemacht. Sodann wurde ein Produzent in der Lausitz gewonnen, ein Granulierer aus Sachsen, und dann noch ein Abfüller in Thüringen. Auch die Gestaltung der Werbetexte verlief mit dem Hanfhaus zunächst “frisch und unkompliziert”. Die Einvernehmlichkeit dauerte jedoch nur so lange, bis die erste Tonne Waschpulver der Marke “Sativa” verkaufsbereit war. Auf den Verkaufskartons hieß es, daß das ganze eine Auftragsentwicklung der Hanfhaus GmbH im Joint Venture war und im Internet tauchten die beiden Erfinder dann gar nicht mehr auf. Darauf folgte ein Fax-Krieg, der von seiten des Hanfhauses in solch stereotypen Sätzen wie “Hast Du denn nicht gecheckt, dass 89 eine Wende stattgefunden hat?!” gipfelte. Die Olschewskis kündigten daraufhin wütend den Vertrag mit sofortiger Wirkung – wegen “Mißachtung der Urheberrechte”.

    Ab 1996 war das Hanfhaus dann nur noch ein normaler Kunde, sie verkauften ihm etwa 20 Tonnen pro Jahr, keinesfalls 100-150 Tonnen, wie die Hanfhaus-Geschäftsführer vorausgesagt hatten. Und ihre Zahlungsmoral wurde auch immer schlechter. Dafür traten andere Hanfläden als Kunden an ihre Stelle, sowie auch diverse Olivenöl- und Hanföl-Händler in der Türkei und in Brandenburg, die daraus mit den Produkten der Olschewskis Tenside herstellen wollten. Das Franchisingunternehmen Hanfhaus ging 2000 in Konkurs, nachdem es erst wegen der Hanfsamen in seinem Angebot mit dem Betäubungsmittelgesetz in Konflikt geraten war und dann auch noch sämtliche Hanfläden in Griechenland aus dem selben Grund schließen mußten. Bei ihrem Sativa-Hersteller CC BO stabilisierte sich jedoch die Auftragslage immer mehr.

    Abschließend sei noch etwas über die Arbeitsteilung zwischen dem Forscher-Ehepaar gesagt, die nicht frei von Widersprüchen ist. So meinte Max Olschewski z.B.: “Meine Frau ist das Genie und ich bin ihr Propagandist, das Mundwerk”. Es stimmt, er redet gerne und mehr als seine Frau. Sie hält jedoch eher ihn für genial und bezeichnet sich selbst als gründlich: “Er macht seine chemische Arbeit, das, was ihm Spaß macht, und hält nebenbei noch Vorträge, gibt Interviews, macht Verträge usw. Die unangenehmen Sachen bleiben dagegen oft bei mir liegen. Beispiel: Unser neues Shampoo – da konferiert er mit den Abnehmern und ich kriege dann heraus: Was fordert der Gesetzgeber für Angaben auf dem Etikett – also letztendlich was für Inhaltsstoffe? Dazu gibt es vom Industrieverband für Körperpflege die Sechste Änderungsrichtlinie, an die man jedoch, ohne Mitglied zu sein, nicht herankommt. Also muß ich erst einmal eine Firma auftreiben, die sie mir kopiert. Für das Bezahlen der Rechnungen bin ich ebenfalls zuständig, desgleichen für die Probleme mit dem Steuerberater und den diversen Behörden”.

    Auch auf den Zwang, immer wieder neue Aufträge hereinzuholen und abzuarbeiten, reagieren Max und Brigitte Olschewski unterschiedlich: “Ich würde z.B. die Produkte gerne länger testen als er. Wir sind generell gezwungen, schneller als mir lieb ist, die Produkte auf den Markt zu bringen. Wir können zwar, bei unserem neuen Shampoo etwa, die Düfte nicht endlos ausprobieren, aber einige Tests sind unumgänglich: Erstens müssen wir uns die ‘Abbaubarkeit’ testieren lassen und einen ‘Hautverträglichkeitstest’ vornehmen lassen, mit dem der transepidermale Wasserverlust-Faktor getestet wird; zweitens muß man beim Umweltbundesamt eine ‘UBA-Nummer’ für Wasch- und Reinigungsmittel beantragen, dazu wird dort ein ‘Sicherheits-Datenblatt’ angelegt und dann wird gemäß der europäischen Norm ein Tier- und Pflanzentest bzw. Algentest gefordert, der zur Einschätzung der Wassergefährdungsklasse des neuen Mittels herangezogen wird. Das muß man alles erst einmal bezahlen”.

    Ähnlich kompliziert ist es auch bei den anderen Anwendungen ihrer Erfindungen. Brigitte Olschewski erwähnt fünf: “Da geht es z.B. in der Lausitz um den Abbau und die Verwertung der Teerseen im Braunkohlerevier. Der Teer soll mit unseren Tensiden verflüssigt und in Rohren transportiert werden. Wir müssen da also wenig Wasser in viel Öl reinbringen. Dabei muß man erst mal experimentieren. Ein weiterer Markt für unsere Erfindungen wären industrielle Reinigungsmittel: zum Lokomotiven-Waschen oder für die Motorwäsche auf Tankstellen. Einmal handelt es sich da um den Noch-Monopolbetrieb Deutsche Bahn AG und zum anderen um viele, viele Tankstellenpächter. Soll man die alle abklappern? Man bräuchte dabei eine andere Herangehensweise: Großproduktion und dann mit Vertrieb. Den Tankstellenpächtern ist z.B. im Gegensatz zur Bahn AG die Abbaubarkeit egal, die wollen es vor allem billig haben. Ein vierter Anwendungsbereich wäre die Textilreinigung – noch vor dem Färben der Faser. Auch auf diesem Markt müßte man sich erst einmal mit den möglichen Vertriebswegen befassen. Ähnlich sieht es – fünftens – mit Kühl-Schmiermitteln aus, die beim Bohren, Fräsen usw. als Sondermüll anfallen. Auch hier war unser Mittel im Probeeinsatz erfolgreich- Nur müßte man nun erst einmal die gängigen Mittel physikalisch-chemisch untersuchen: Was sie leisten, wieviel Temperaturen sie z.B. aushalten usw.. Es sind einfache Verfahren denkbar, mit denen das Mineralöl zusammen mit unserem Tensid abbaubar wäre. Die optimale Rezeptur für ein bestimmtes Anwendungsgebiet ist immer abhängig von der Ungesättigtheit der einzelnen Fettsäuren, die in dem Öl, das wir verwenden, enthalten sind. Bei den Waschpulvern haben wir die besten Ergebnisse mit Hanföl hinbekommen, es ist jedoch noch zu teuer, am billigsten ist noch das Sonnenblumenöl”.

    Brigitte Olschewski hat bei aller Begeisterung für die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten ihrer Erfindungen jedoch langsam das Gefühl, auf die Bremse treten zu müssen: “Mich macht es schon nervös, wenn auf dem selben Labortisch einmal Teer mit Wasser gemischt wird, um die Viskosität zu testen, also die Rezeptur noch einmal zu überarbeiten, bevor der Großversuch gekocht wird – und wenn, sagen wir, daneben der Duft für ein Shampoo kreiert wird. Schon allein vom Geruch her ist das nicht gut…Andererseits hat eine kleine Firma wie wir immer die Schwierigkeit, daß man sich mit jedem Auftrag sofort beschäftigen muß, der hereinkommt. Dabei bekommt man jedoch die ganzen Kosten, die auf einen zukommen, erst mit der Zeit heraus. Wir schließen als nächstes erst einmal eine Produkt-Haftpflicht-Versicherung ab. Beim Waschmittel ‘Sativa’ haben wir z.B. immer draufgeschrieben ‘100% abbaubar’. Das hat ein OECD-Screening-Test – für 1.800 DM – ergeben. Diese Formulierung hätte aber eigentlich einen Metaboliten-Test für 20.000 DM vorausgesetzt. Den haben wir noch nicht machen lassen, stattdessen haben wir die Formulierung auf der Verpackung nun erst einmal geändert in: ‘Vollständig abbaubar’. Das sind alles so Stolpersteine – und die wirken auf mich lähmender als auf meinen Mann.

    Max sagt: ‘Machen wir erst mal, hinterher wird zusammengefegt’. Ich fühle mich dagegen doppelt verantwortlich. Er bearbeitet möglichst viele Themen gleichzeitig, ich arbeite lieber etwas vollständig ab. Er erwartet, daß ich das eine tue, aber zugleich auch den Gesamtüberblick behalte. In der chemischen Arbeit ergänzt sich das jedoch sehr gut. Da greift er gerne auf meine gründliche Arbeit zurück, hat aber gleichzeitig mehr Mut, etwas Neues zu versuchen. In der Tensid-Forschung da setzt er z.B. mehrere Fette gleichzeitig an. Ich sage dazu: Die Parameter müssen stimmen: Um zu vergleichen, darf immer nur ein Parameter zur Zeit verändert werden. Das liegt ihm aber nicht. Er kocht das eine mit 80 Grad, das andere mit 70. Das kann er aber nur, weil ich in der Zeit schon derart gesicherte Erfahrungswerte herausgeholt habe, daß er damit arbeiten kann. Er bewegt sich sozusagen auf der genialen Ebene und ich auf der der Grundlagenforschung. Die ganze Arbeit würde sehr viel länger dauern, wenn wir nicht so zusammenarbeiten würden wie wir es tun. Wobei er ein Produkt viel zu früh auf den Markt bringen würde und ich ewig forschen würde. Er ist 1993 z.B. darauf gekommen, daß Hefe und Klärschlamm beide die selben Eigenschaften haben – als mikrobielle Biomasse: den selben polymerchemischen Aufbau. Das wäre mir nie eingefallen!”

    1996 kamen die Olschewskis nach einer Fernsehsendung über ihre Erfindungen mit einer westdeutschen Vertriebsfirma für ökologische Produkte in Kontakt, die sie mit auf die japanische Messe “New Earth” nach Osaka nahmen, dort ergaben sich dann sogleich mehrere Kontakte zu japanischen Firmen, die an den CC BO-Produkten Interesse hatten. Es wurde also nach der Rückkehr alles noch viel hektischer als es sowieso schon war. Außerdem vergrößerten die Olschewskis ihre Produktion, sie stellten neue Mitarbeiter ein und mieteten weitere Räume auf dem Innovationspark Wuhlheide an, darunter ein mit Kupfer ausgeschlagenes Labor, das einst eine abhörsichere Stasi-Zentrale gewesen war.

    Dann hörte man jedoch in ihrer Branche, dass die großen Chemiekonzerne eine Reihe von Produkten um die Olschewski-Patente herum entwickelt hätten und CC BO vom Markt zu verdrängen suchten. Ich war zu der Zeit mit anderen Dingen beschäftigt. Als ich mich jedoch daran machte, diesen Vortrag auszuarbeiten, rief ich Ende Juli bei Brigitte Olschewski an, um den letzten Stand der Dinge zu erfahren. “Lebt ihr noch?” fragte ich sie sogleich.

    “Ja, uns gibts noch,” wurde mir versichert. “Und wir haben jetzt auch endlich die Genehmigung von der EU: Unsere Tenside dürfen in den Boden – und die von Dow Chemical nicht! In Belgien und im Ruhrgebiet beginnen demnächst bereits die ersten Bodenwaschungen!”

    “Das ist ja hervorragend,” freute ich mich. Was gibts sonst noch Neues?” “Und dann habe ich mich von meinem Mann getrennt,” berichtete mir Brigitte Olschewski. Er hat zuletzt immer mehr für sich geforscht – sogar privat Patente angemeldet. Jetzt ist er Rentner und ich schmeiße hier den Laden alleine!”

    (Helmut Höge)

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