vonHelmut Höge 21.07.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Schon Ende 1989 griff ein wahres Start-Up-Fieber um sich. In der Fahlhorster Rindermastbrigade der Saarmunder LPG “Florian Geyer” war es unser Kollege Egon, der in den Pausen im Sozialraum als erster anfing, alle möglichen Existenzgründungs-Ideen zur Diskussion zu stellen. Das reichte von einem Imbißstand am nahen Badesee bis zum Getränke- und Eisverkauf von seinem Wohnzimmerfenster aus. Egon wohnte im schlechtesten Haus der LPG, gleich neben der Schweinemast an der Dorfstraße, auf der so gut wie nie jemand vorbeikam. Immerhin besaß er ein großes Grundstück, auf dem er Blumen und Gemüse anbauen wollte, es glich jedoch noch einem Schrottplatz. Schon vor der Wende hatte Egon sich in diversen Nebenerwerben versucht gehabt: Autos repariert, Einwegfeuerzeuge wiederaufgefüllt und auf den Westmüll-Kippen des Kreises Betten und Kissen gesammelt, deren Feder-Inhalt er reinigte und weiterverkaufte. Bevor er wegen seiner angegriffenen Gesundheit zur LPG kam, hatte der gelernte Streckenarbeiter lange Jahre in Bahnhofsrestaurants gekellnert.

Nachdem all die halbherzigen Versuche, die LPG als Ganzes in die neue Marktwirtschaft “rüberzuretten” so gut wie gescheitert waren, gehörte Egon dann mit zu den ersten, die konkrete Schritte unternahmen, um sich neue Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen. So sammelte er z.B. allen Autoschrott in seinem Garten zusammen und versuchte anschließend, diese als “Ersatzteile” in der Potsdamer Fußgängerzone zu verkaufen. Das ganze war jedoch ein “Minusgeschäft”. Obwohl er immer der Fleißigste und Pünktlichste in der Brigade gewesen war, entließ ihn die LPG-Leitung als ersten! Er konnte es zuerst gar nicht fassen, dann begann er aber, mit seinem alten gelben Skoda die Umgebung abzuklappern. Schon bald gewann er Gefallen an diesen Ausflügen, sein Aktionsradius wurde immer größer.

Schließlich nahm er in einem Steglitzer Hotel einen Job als Reinigungskraft an. Erst als er diese “West-Anstellung” wieder – wegen zu geringer Bezahlung – hinschmiß, sagte man ihm, daß das Kleingeld auf den Kissen sein Trinkgeld gewesen war: Er hatte es stets unangetastet gelassen, im Glauben, man wolle damit nur seine Ehrlichkeit testen. Danach fing er als Detektiv beim ersten Heimwerkermarkt in Teltow an – wieder scheiterte er in gewisser Weise an seiner Ehrlichkeit: Er erwischte einen Familienvater mit acht PVC-Rohren. Der Mann ging in seiner Not zum West-Geschäftsführer und der ließ sich erweichen: Der Kunde sei noch nicht mit dem neuen West-Kassensystem vertraut gewesen. Egon empfand das als Ost-Schmähung – und wurde barsch. Am Ende verlor er seinen Job. Sein Nachbar, Michael, hatte unterdes eine Anstellung als Plakatwand-Aufsteller gefunden. Es gelang ihm, Egon in “seiner Firma” unterzubringen. In Sachsen-Anhalt rissen Unbekannte ihnen mehrere Plakatwände um. Ihr Chef bezichtigte sie daraufhin der falschen Aufstellungsabrechnung. Sie kündigten und fingen bei der Konkurrenz an, die sie mit Polaroid-Kameras ausstattete. Damit gab es nun kein Vertun mehr. Aber dafür hatten sie bald das Rumfahren und ewige Imbiß-Essen satt. Egon träumte von einer Kneipe – und sammelte dafür schon mal alles Brauchbare unterwegs ein.

Da traf es sich, dass sein Freund Ulli, ihm von einem leerstehenden Laden im Nachbardorf erzählte, der 600 DM Monatspacht kosten sollte: “Da kannst du doch alles auf einmal machen – Getränke und Eis verkaufen und Blumen und Gemüse noch dazu,” meinte er zu Egon, der inzwischen jedoch vorsichtig geworden war. Zudem war seine Frau, Anneliese, die zuletzt in einem mittlerweile aufgelösten Agrarinstitut als Putzfrau gearbeitet hatte, mehr als skeptisch. Gegen die Eröffnung einer Kneipe im Nachbardorf sprach, dass es dort bereits eine gab, den “Mühlengrund”. Und deren Umsätze waren bereits seit der Währungsunion und den Massenentlassungen in der Pflanzen- sowie der Tier-LPG erheblich zurückgegangen. Außerdem hatte Egon so gut wie keine Kontakte zu den Dorfbewohnern, nicht einmal zu den Sportvereinsleuten. Aber dann gab er sich einen Ruck – und mietete kurzentschlossen doch den Laden an. An die Schaufensterscheibe heftete er einen Zettel: “Hier eröffnet demnächst ‘Egon’s Taverne'”. Zugleich steigerte er seine ausgeprägte Sammel-Leidenschaft aufs äußerste: Wo er fuhr und ging suchte er nach brauchbaren Teilen bzw. Ideen für seine Kneipe. “Wir müssen konkurrenzfähig sein,” schärfte er seiner Frau eins ums andere mal ein. Beim Einbau der Toiletten half ihm sein ehemaliger Arbeitskollege Michael, der Maurer gewesen war und in einer Umschulung zum Graphikdesigner steckte. Zuvor waren die beiden etliche Male nächtens auf Kneipentour gegangen. Egon vor allem, um sich vom Interieur inspirieren zu lassen. Mehr und mehr sah er diese Dinge jetzt mit anderen Augen: Festgeschraubte Barhocker z.B. nahm er nicht einfach nur so hin, sondern erwog beim Draufsitzen sorgfältig ihr Für und Wider, prüfte die Verankerung, das Sitzgefühl und versuchte außerdem, unaufdringlich ihren Preis sowie die Bezugsquelle herauszubekommen. In einer Gaststätte in Großbeeren entdeckte er an den Toilettentüren ein Männlein und ein Weiblein aus Bronze. Der Wirt verwies ihn an einen neuen Gaststätten-Einkaufsmarkt in Schönefeld. Dieser Großhandel erwies sich als ein wahres Einkaufsparadis für zukünftige Kneipiers mit einem Hang zu nutzlosen Einrichtungsgegenständen – von altdeutschen Kupfertellern über Styropur-Faßdeckel bis zu Niedervolt-Lichtorgeln. Als erstes packte Egon dort ein Schild “Montags geschlossen” in seinen Einkaufswagen, dann fiel ihm aber ein, daß der “Mühlengrund” an diesem Tag immer geschlossen hatte. Er war schon im Begriff, das Schild zurückzulegen und stattdessen “Dienstags geschlossen” zu nehmen, aber so einfach war die Angelegenheit nicht zu regeln. Mangels einer “genauen Marktanalyse”, wie er es nannte, nahm er schließlich alle sieben “Geschlossen”-Schilder – und bekam dafür sogar noch einen kleinen Mengenrabatt von der Kassiererin, die bei der Herausgabe des Wechselgeldes anerkennend meinte: “Ja, man muß flexibel sein.” Die Toiletten-Männlein und -Weiblein gab es dort auch, in allen Variationen und Materialien sogar, sie waren ihm aber sämtlichst zu teuer. Immerhin kam ihm dabei die Idee, stattdessen die zwei kleinen Bronzefiguren, die zu Hause auf dem Fernseher standen und seiner Frau gehörten, umzufunktionieren. Es handelte sich dabei um eine Nachbildung der Warschauer Sirene und des Hamburger Hummel-Hummel. Er brauchte bloß die Standsockel abzumontieren, dann konnte er sie durchbohren und an die Türen schrauben. Dies ein Beispiel, wie neben seiner Sammelleidenschaft auch eine gewisse Kombinationskunst zur Geltung kam. Im Potsdamer Verbandsbüro für das Gaststättengewerbe entdeckte er ein Handbuch über zukünftige Betriebsorganisationen, in dem ihn ein Satz besonders beeindruckte: “Die geforderte Strukturkreativität zeichnet sich durch flexible Einheiten aus, deren interne Arbeitsteilung bewußt Handlungsspielräume und lose Kopplungen ermöglicht: Projekte statt Dauerlösungen, also flüchtige Organisations-Strukturen…” Das gefiel Egon.

“Lose Kopplungen”: Im Endeffekt stand dann neben dem Spielautomaten ein Fax-Gerät, und neben der Eistruhe ein Schwarz-Weiß-Kopierer, im Gang zur Toilette konnte man sich an einem Drehgestell mit Postkarten aus der Region sowie mit Glückwunschkarten aller Art eindecken, daneben hingen ein Kaugummi- und ein Präservativ-Automat sowie ein Schild “Für Garderobe wird nicht gehaftet”. Dem eher zufälligen Besuch einiger Taxifahrer folgte bald ein selbstgemaltes Schild am Fenster: “Für Taxifahrer verbilligtes Angebot – Kaffee 1 DM”.

Außerdem hatte Egon sich für das “Donnerstags geschlossen”-Schild entschieden, obwohl es keinen Grund dafür gab, im Gegenteil: An diesem Tag traf sich in seiner Kneipe – zunehmend regelmäßiger – eine Gruppe von Nachbarn, die sich an der Theke im Stehen über Geschäftsgründungen, Kredite, Marktchancen, günstige Bezugsquellen und die leidige Konkurrenz unterhielten. Neben Bier tranken sie – wie in alten Zeiten – Kirschwhisky. Und dazu erzählten sie sich auch wieder die ersten Witze: z.B. “Es gibt drei Möglichkeiten, einen Betrieb zugrunde zu richten – Mit Weibern; das ist die Schönste. Mit Saufen; das ist die Sicherste. Durch einen Wessi; das ist die Schnellste.”

Egons Frau, Anneliese, konnte sich diesem um sich greifenden “Unternehmer-Wahn”, wie sie es anfänglich nannte, auf Dauer nicht entziehen. Zumal sie, die zuerst noch – vergeblich – nach einer neuen Putzstelle gesucht hatte, sich bald wie selbstverständlich für die Sauberkeit in der Kneipe verantwortlich fühlte. D.h. sie schloß morgens den Laden auf, spülte die Gläser, putzte die Theke, wischte den Boden usw.. Egon war dann meist schon unterwegs, auf der Suche nach neuen “Schnäppchen” und um frische Vorräte einzukaufen.

Er kannte bald alle Heimwerker- und Trödelmärkte rund um Berlin. Da er überall seine neuen Visitenkarten hinterließ, faxte der eine oder andere Geschäftsführer bzw. Händler ihm auch schon mal seine “Sonderangebote” zu. Wenn das Gerät losratterte, verstummten jedesmal die Gespräche in der Kneipe. Nachdem Jugendliche mehrmals hintereinander die einzige Telefonzelle im Dorf zerstört hatten, kamen immer mehr Frauen vormittags zum Telefonieren in die Kneipe. Dies inspirierte Anneliese zur Anschaffung einer “anständigen Kaffeemaschine”. Außerdem nahm sie noch “Milchschnitten” und Bonbons ins Programm auf. Der Vertreter der Süßigkeitenfirma stellte ihr dafür ein drehbares Tischregal auf die Theke neben das Telefon. Auch so manches kunsthandwerkliche Souvenir aus Ungarn, Rumänien und dem Erzgebirge wanderte aus ihrem Wohnzimmer in die Kneipe, die bald von Egon und Annelieses Wohnzimmer kaum noch zu unterscheiden war. Egon war weit davon entfernt, seine Frau bei diesen Aktivitäten zu bremsen, zumal sie dadurch seinen eigenen “Investitions-Vorschlägen” zunehmend weniger skeptisch gegenüberstand. Manchmal unterhielten sie sich noch nachts im Bett über weitere Anschaffungen oder Umdekorierungen. Und am nächsten Morgen kam Egon dann mit seiner neuen Black&Decker-Bohrmaschine an, um wieder einen neuen Haken dafür in die Wand zu dübeln. Anschließend überließ er Anneliese das Feld und die ersten Kunden.

Am frühen Nachmittag kehrte er jedoch zurück und trank an der Theke erst einmal ein “gepflegtes Bier”, dann fuhr er nach Hause, um sich in seinem Garten umzutun. Zwar wechselten sie sich eigentlich abends in der Kneipe ab, da aber Egons Anwesenheit mangels Gästen und Umsatz genaugenommen bald nur noch Donnerstags notwendig war, wenn der Kreis der neuen Selbständigen tagte, konnte man leicht den Eindruck gewinnen, daß Anneliese den Laden übernommen hatte. Anläßlich der Fußball-Europameisterschaft schaffte sein ehemaliger Arbeitskollege Michael sich einen neuen Fernseher an, den alten stellte er in die Kneipe. Egon, der kurz nach der Wende bereits beim Privatsender Sat1 angerufen hatte, weil er damals, als DDRler noch, nicht am “Glücksrad” teilnehmen durfte, schaute sich diese seine ehemalige Lieblingssendung zwar immer noch gerne an, aber nun interessierte ihn an den dort im Mittelpunkt stehenden Haushaltsgeräten, Hifi-Anlagen und sonstigen Konsumgegenständen vor allem ihr möglichst gewinnbringender Einsatz. Ein Mikrowellenherd z.B.: Seine Anschaffung zog nicht nur prompt einen Vertrag mit einer Westberliner Firma nach sich, die Egon fortan regelmäßig mit tiefgefrorenen Hot Dogs, Mini-Pizzas und “Heiße Hexen” belieferte, sondern sie inspirierte ihn auch zu einem Speisekarten-Designauftrag für Michael, der sich in Potsdam zum Computergraphiker umschulen ließ. Der brachte anschließend auch noch einen Hinweis auf das neue Imbiß-Angebot am Fahrradständer vor dem Laden an. Man bekam den Eindruck, daß Egon sich vorgenommen hatte, sämtliche tragenden Begriffe des neuen marktwirtschaftlichen Systems empirisch durchzudeklinieren, unterstützt von Anneliese und dem zukünftigen Werbegraphiker Michael, die beide ebenfalls der Meinung waren, daß sie allesamt und immerzu “professioneller” werden müßten.

Dazu überredete Michael die beiden, statt in die ehemalige LPG-Sauna in Saarmund zu gehen, wo sich die “Einheitsverlierer” trafen, um über Ausländer und Rote Socken herzuziehen, ein paar Dörfer weiter zu fahren – wo eine schicke “Privat-Sauna” eröffnet hatte, in der die neuen Selbständigen schwitzten – und über nichts anderes als Existenz-Gründungen, -Darlehen und -Fördermittel redeten.

Egon lernte dort einen Außendienst-Mitarbeiter des “Heideparks Soltau” kennen. Dieser besuchte ihn und bat, ein Werbeschild in seinem Garten aufstellen zu dürfen. Egon bekam dafür zwei Freikarten für den Vergnügungspark – inklusive Hin- und Rückfahrt. Man wurde mit dem Bus – von Potsdam aus – abgeholt. Egon nahm seine Frau Anneliese mit. Die Fahrt nach Soltau war mit einer Verkaufsveranstaltung für Rheumadecken und Billigwerkzeuge verbunden. Egon erwarb einen Radiowecker – und gewann dazu eine weitere Busreise für zwei Personen: diesmal nach Spanien. Auf dieser Fahrt begann er, sich zu langweilen und bat den Busfahrer, sich nützlich machen zu dürfen: Er servierte fortan im Bus Kaffee und belegte Brötchen. Dafür brauchte er selbst nichts zu zahlen.

An der Costa del Sol langweilte er sich wieder – und half im Hotel-Frühstücksraum aus. Dabei lernte er einige Leute aus Ostfriesland kennen, die eine Werbeveranstaltung für ihr jährliches “Emder Matjesfest” organisierten. Einer lud Egon und seine Frau aufs Fest ein. Er war ein Palästinenser, der schon lange in Norddeutschland lebte. Er besaß ein Kapitänspatent und unternahm mit einem ehemaligen Krabbenkutter sogenannte “Butterfahrten” – wobei er kurz Holland “anticken” mußte. Das interessierte Egon – ein paar Monate später fuhr er nach Emden – ebenfalls wieder mit dem Bus. Als er dort ankam, lag jedoch das “Butterfahrten”-Geschäft bereits danieder: Eine neue EU-Verordnung verbot alle Duty-Free-Angebote off-shore. Weil Egon jedoch oft mit seinem aSkoda auf “Schnäppchenjagd” bis an die Oder gekommen war, wußte er, daß dort die Polenmärkte boomten. Er fuhr mit dem Palästinenser hin. Anschließend konnten sie einen ostfriesischen Busunternehmer überreden, ein “Pilotprojekt” nach Polen zu starten. Egon war wieder für die Verpflegung unterwegs zuständig.

Er kam kaum noch nach Hause. Anneliese wurde schon langsam sauer, obwohl dadurch Geld reinkam. Und so schaute er sich nach einer neuen Arbeitsstelle in der Nähe um. Eine Speditionsfirma in Langerwisch stellte ihn als Beifahrer für ihre tägliche Thüringen-Tour ein – zu einem Hungerlohn. Als er sich einmal krankschreiben ließ – wurde er entlassen. Nachdenklich saß er auf der Veranda seines Hauses in der Sonne. Anneliese, die in der Kneipe immer weniger Umsatz machte, drängte ihn, sich arbeitslos zu melden. Er ging zum Arbeitsamt. Die verlangten erst einmal Nachweise für sämtliche Tätigkeiten ab der Wende – d.h. seit seiner LPG-Arbeit. Und dann bekam er von seinem Sachbearbeiter gesagt, wegen seiner vielen Jobwechsel sei er nun nur noch schwer-vermittelbar. “Was für ein Beschiß,” schimpfte Egon anschließend, “da raten sie einem immer, daß man sich selbst um einen Arbeitplatz kümmern soll, und wenn man das dann tut, muß man sich hinterher anhören, man hätte zu viel gearbeitet!”

Die “Privat-Sauna” hatte ihr Fitness-Angebot um ein “Bodybuilding-Studio” und ein Solarium namens “Malibu” erweitert. Um Egon wieder in Schwung zu bringen, lotsten Michael und Anneliese ihn mehrmals dort rein. Alle drei sahen danach wie ausgewechsel aus: glatte gebräunte Gesichter,lässiger Gang. Anneliese trug nun bisweilen große goldene Ohrringe, ihre blonden Haare hatte sie sherryfarben getönt. Die beiden Männer hatten sich neue Anzüge und Kombinationen zugelegt: alles irgendwie in Minolfarben und mit wattierten Schulterpolstern.

Einmal zerbeulte ein Unbekannter auf dem Sauna-Parkplatz das Heck von Egons Skoda. Schimpfend machte er sich zu Hause sogleich daran, den Schaden wieder auszubessern. Und nicht nur das: Weil er sich ewig darüber geärgert hatte, daß nur die Potsdamer Stasi-Leute in den Genuß der Zuteilung von Nebelscheinwerfer und Spoiler gekommen waren, hatte sich bei ihm eine Autozubehör-Macke entwickelt – diese bewältigte er nun sogleich mit, indem er mit dem übriggebliebenen Rest der Spachtelmasse einen Heckspoiler auf den Kofferraum seines Skodas sich formte. Michael lackierte ihm anschließend das ganze Auto neu – ebenfalls minolfarben. Zuvor entfernten sie all die seit der Wende wahllos an die Karosserie geklebten Aufkleber – von “Hurra Deutschland” und “Take it Gysi” über Prilblumen bis zu “Alles Frisch” und “Sony – Qualität vom Feinsten”. Auch die Entfernung dieser schweinemäßig festhaftenden Aufkleber gehörte in gewisser Weise noch zum Privat-Sauneeffekt.

Zu den Donnerstag-Gesprächen in Egons Taverne kamen gelegentlich einige Arbeiter aus der Batteriefabrik Belfa in Schöneweide. Das Werk sollte gerade mit einem Management-Buy-Out-Buy-In-Konzept privatisiert werden. Darüber wurde in der Kneipe einige Wochen lang diskutiert. Anschließend bat Egon seinen Kumpel Michael, dem er immer mehr Geld schuldete, damit in das Kneipen-“Projekt” einzusteigen und die Schulden damit zu verrechnen – ein klassisches MBI. Michael war einverstanden: es würde seinen Ideen mehr Gewicht verleihen. Egon schien jedoch noch ein anderes Ziel mit seinem Vorschlag verfolgt zu haben.

Schon mehrmals hatte er das Batteriewerk besucht und dort an einigen Sitzungen der Arbeiter teilgenommen, die erst gegen die Schließung ihrer Fabrik durch die Treuhand gekämpft hatten und dann gegen die immer weiter gehenden Entlassungen. Sie hatten ihren Betrieb besetzt gehabt, einen mehrtägigen Hungerstreik durchgeführt und dann auch noch eine “Protestproduktion” begonnen. Dabei hatte Egon den Betrieb gründlich kennengelernt. Als die Arbeiter wieder einmal am Donnerstag bei ihm in der Kneipe auftauchten, unterbreitete er ihnen nach einigen Verlegenheitsrunden Bier sein “Belfa-Konzept”.

Sie waren zuerst skeptisch, aber da gerade erneut ein Investor (aus Düsseldorf) abgesprungen war, halfen sie ihm dann sogar, es auszuformulieren, denn schaden konnte es allemal nicht, wie sie meinten. Anschließend faxten sie das Konzept sogleich an die Treuhand, zu Händen der beiden für Belfa verantwortlichen Privatisierungs-Manager von Bismarck und van Joest:

“Sehr geehrte Herren,

basierend auf den Produktionsstätten der Firma Batterie GmbH Belfa, inklusive der Maschinen und dem Gelände am Bruno-Bürgel-Weg, sowie ausgehend von den derzeit noch 160 Beschäftigten, möchten wir hier ein neues MBO/MBI in Vorschlag bringen. Wie eine Untersuchung ergab, sind die Märkte, insbesondere über die Kaufhäuser und Handelsketten, für Gerätebatterien nahezu dicht. Andererseits ließ der Verband der Fitness-Center-Betreiber gerade ermitteln, daß der Ostmarkt für diese Studios noch überhaupt nicht richtig erschlossen werden konnte. In den Fünf Neuen Ländern scheint es aufgrund des hohen Arbeiteranteils in der Bevölkerung (fehlende Zweidrittelgesellschaft) noch jede Menge Widerstände gegen die Idee zu geben, daß man sich an modernen Maschinen in industrieller Atmosphäre körperlich verausgabt (stählt) – und dafür noch bezahlt. Diese zwei Probleme des Mangels zusammengenommen ermöglichen das neue Privatisierungs-Angebot für die Belfa. (Skizze)

Erklärung dazu: Es soll damit die Idee verfolgt werden, die Belfa-Maschinen, die alle in sehr gutem gepflegten Zustand sind (70er-Baujahre zumeist) mit einer Batterie von Bodybuilding-Geräten zu verkoppeln, dergestalt daß der Fitness-Center-Besucher als Maschinen-Antrieb funktioniert – anstelle des elektrischen Aggregats. Die Verkopplungen, inklusive der dafür notwendigen Umbauten, können vom jetzigen technischen Personal in den mechanischen Werkstätten geleistet werden. Ein Kunde kann dann an mehreren Geräten, deren muskelbildende Spezifik mit der des Produktions-Ablaufs für die Herstellung einer der fünf Batterien des Belfa-Sortiments harmoniert, in einem durchschnittlichen Tages-Trainingsprogramm leicht bis zu 200 Batterien produzieren. Diese Batterien können (und sollen) vermarktet werden. Denkbar wäre dabei eine Bewerbung, die das “hand-made” des Produkts – im Sinne einer Verdichtung menschlicher Energie, bei der, vulgär gesagt, Schweiß in Batteriesäure umgewandelt wird – besonders herausstreicht.

Nicht unwichtig für das Funktionieren einer solchen Doppel-Funktion ist das Belfa-Umfeld. Einmal in näherer Hinsicht das industrielle Ambiente mit den alten Waffenfabrik-Unterkellerungen und einer gewissen wertschöpfenden Geschäftigkeit. Und zum anderen die Sportanlagen, Segel-Clubs, Kleingärten und Vereinsheime am Flußufer links und rechts der Fabrik. Diese eigenartige Gegensätzlichkeit wird vom Body-Builder an den etwa Dutzend verkoppelten Geräte-Maschinen sozusagen wiedergespiegelt – als Arbeit-Vergnügen-Verquickung. Durch diesen Doppelcharakter der Tätigkeit wird auf der einen Seite dem Vertrieb ermöglicht, organisch, d.h. langsam aber kontinuierlich, ein Händler-Netz aufzubauen, und auf der anderen Seite braucht dadurch die Einrichtung in ihrem Charakter als Fitness-Center nicht als Fremdkörper dem Ort quasi implantiert zu werden.

Dies läßt sich bereits anhand der maschinären Begrifflichkeit verdeutlichen: So heißt z.B. die Maschine zur Herstellung der Stahlhülsen “Body-Maker”, sie ließe sich eventuell mit einer “Steel-Maid” (für die Rückenmuskulatur), aber auch mit einem “Adduktor” (mit dem die innere Beinmuskulatur bearbeitet wird) verbinden; wohingegen der “Abduktor” (für die äußere Beinmuskulatur) z.B. an die “Kniehebelpresse” (mit der die Zinkbecher hergestellt werden) passen könnte. Usw.

Auf diese Weise bekäme die Batterie-Fertigung strenggenommen nur eine zusätzliche Funktion. Und daran ließen sich dann natürlich weitere anknüpfen – wie Café, Restaurant, Sauna, etc. Von einem befreundeten Wirtschaftsberater kommt zum Problem der Verkopplung der Vorschlag, an den Sportgeräten die Energie bloß zu akkumulieren, um dann damit, in einem zweiten Prozeß, die Produktionsmaschinen zu betreiben.

Diese technisch etwas einfachere Variante erscheint uns jedoch weniger elegant (so etwas gibt es!). Bei Zugrundlegung unserer Privatisierungs-Variante ergäbe eine erste grobe Beschäftigungs-Struktur in etwa folgende Aufstellung: Vertrieb/Marketing (16), Geschäftsführung/Verwaltung (24), mechanische Werkstatt (16), Betrieb/Wartung der Geräte (50), Verpackung/Versand (10), Cafe/Restaurant/Sauna (30), Energieladen (6), Gebäude/Freianlagen/Reinigung (8). Wegen der langen Öffnungszeiten müßten einige Fitness-Bereiche doppelt besetzt werden. Die Zahl 160 ergibt sich aus der Tatsache einer Ausgründung und einer Auslagerung vo 13 Mitarbeitern.

Als Mitgesellschafter kommen einige Bodybuilding-Studio-Betreiber in betracht. Zu einem Batterie-Handelsunternehmen bestehen bereits seit längerem Kooperationsbeziehungen. Wie eine Boden-Untersuchung ergab, ist das Gelände in 1-2 Meter Tiefe “extrem belastet” – mit Kupfer, Blei, Zink und Quecksilber, es befindet sich zudem in der Wasserschutzzone Johannisthal. Die Gutachter gehen indes davon aus, daß bei fortdauernder Versiegelung der Oberfläche keine Umweltgefahren bestehen. Der Bezirk Treptow hat den Wunsch, das Flußufer öffentlich zu nutzen. Beidem kann mit unserem hier vorgetragenen Privatisierungskonzept Rechnung getragen werden.

Da wir den Freizeit-Aspekt der Firma vorläufig “Breite Schultern und langer Atem” nennen wollen, bietet sich für den zukünftigen Gesamtbetrieb der Name “Belfa/Bresla” an. Überflüssig zu erwähnen, daß die Sportgeräte natürlich so verkoppelt werden sollen, daß sie ein zusätzliches Antriebsaggegrat für die Produktionsmaschinen darstellen, d.h. in den Zeiten der Nichtauslastung des Fitness-Bereichs können die Auftragseingänge auch auf die bisherige Weise abgearbeitet werden. Für eine wohlwollende Prüfung dieses Privatisierungskonzepts wären wir Ihnen dankbar. Mit freundlichen Grüssen…”

Egon bekam nie eine Antwort von der Treuhand. Die beiden Privatiseure – August van Joest und Rumpeldupumpel von Bismarck – verhandelten stattdessen noch einmal – diesmal erfolgreich – mit zwei Münchner Jungunternehmern, die einen “Design-Batterie-Vertrieb” besaßen, d.h. sie kauften billige Batterien und beklebten sie mit Dinosaurier- und Marilyn-Monroe-Motiven, auf Wunsch auch mit dem Vereinswappen des 1.FC Bayern. Sie nannten das eine “Nischen- und Private Label-Strategie”. Diese sollte nun auch für das Batteriewerk greifen, wo bald so gut wie gar nichts mehr produziert wurde, weil es billiger war, die Gerätebatterien im Ausland zu kaufen. Deswegen speckten die neuen Betreiber nach und nach die Belegschaft auch bis zunächst auf 16 Mitarbeiter ab, um schließlich sogar den Betrieb ganz zu schließen – was Egon wiederholt zu der Bemerkung verleitete: “Siehste!”

Das nützte ihm jedoch wenig – eine neue Idee für ihn selbst mußte her. Nach einigen Monaten Rumfahrerei und Sichumhören fand er endlich einen neuen Job – wenn auch nur halbtags: als “Deputy Facility Manager” (Aushilfshausmeister) in einer ausländischen Firma, die sich kurz zuvor auf der ehemaligen Grenzkontrollstelle Dreilinden angesiedelt hatte – als ein “modernes Dienstleistungsunternehmen”. Dort ist er noch immer beschäftigt.

Ich hatte ihn Anfang Dezember 1989 kennengelernt, da hatten die geschasste taz-Redakteurin Dr. Sabine Vogel und ich über die schon offene Grenze nach Teltow rübergemacht mit unserem manilagrünen Audi – und bald darauf eine Anstellung als Ersatzrinderpfleger in der LPG “Florian Geyer” bekommen. Man teilte uns der Rindermastbrigade in Fahlhorst zu, wo Egon arbeitete. Unsere Brigade bekam im Frühjahr sogar eine Prämie. Nur weil die beiden Wessis da arbeiten, lästerten die leer ausgegangenen. Egon und dem Rest der Brigade war es jedoch egal, welch niedere Motive die LPG-Leitung bewogen hatte, gerade uns, “die Fahlhorster”, auszuzeichnen. Aber was ich sagen wollte: Egons Karriere und meine gleicht sich nun langsam an. Das Gegenteil passiert jedoch ebenfalls gelegentlich: So hat es z.B. ein Freund von mir, der 1981 als Aushilfshausmeister bei Peek & Cloppenburg anfing, heute schon bis zu einem anerkannten Modedesigner gebracht, der dreißig Leute unter sich hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/07/21/kollegen-karrieren-1/

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  • zur KSK – Künstlersozialkasse noch folgende Pressemitteilung:

    25 Jahre Künstlersozialversicherung – Erfolgsgeschichte und Zukunftsmodell

    02. Mai 2008 | Anlässlich des Festaktes zum 25-jährigen Bestehen der Künstlersozial-versicherung am Montag, 6. Mai 2008 erklären die Sprecherin der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales Andrea Nahles, die Sprecherin der Arbeitsgruppe Kultur und Medien Monika Griefahn und die zuständige Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion Angelika Krüger-Leißner:

    25 Jahre Künstlersozialversicherung (KSV) – das sind 25 Jahre soziale Sicherheit für selbständige Künstler und Publizisten. 25 Jahre KSV – das ist eine Erfolgsgeschichte und ein Modell mit Zukunft. Wirklich ein Grund zum Feiern, denn trotz aller Versuche im Laufe der Jahre, das Gesetz zu kippen, ist dieser Versicherungszweig zu einem festen Bestandteil unseres Sozialversicherungssystems geworden, um den wir im Ausland beneidet werden.

    Die Schaffung der KSV Anfang der 80er Jahre war ein sozialdemokratisches Projekt. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass die soziale Absicherung von freiberuflichen Künstlern nur in den wenigsten Fällen in die Sozialgesetzgebung Bismarckscher Prägung passte. Denn die meisten Künstler und Publizisten haben eine schwankende Auftragslage und damit kein regelmäßiges Einkommen, manche leben am Rande des Existenzminimums. Da erwies sich die KSV als ein notwendiges Angebot, über das die Künstler in die solidarische Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung einbezogen werden, und das zugleich die beruflichen Besonderheiten berücksichtigt.

    Wie Arbeitnehmer zahlen sie nur den halben Beitrag in die Künstlersozialkasse (KSK). Die andere Hälfte teilen sich die Verwerter (30 Prozent) und der Bund (20 Prozent). Inzwischen gibt es fast 160.000 Versicherte – Tendenz steigend, denn aufgrund der anhaltenden Verdrängung aus abhängiger Beschäftigung wird die Zahl weiter zunehmen. Entsprechend mehr Mittel braucht die KSK. Mit der dritten Novelle des KSV-Gesetzes haben wir im vergangenen Jahr dafür gesorgt, dass künftig alle abgabepflichtigen Unternehmen erfasst werden, damit mehr Einnahmen fließen und der Künstlersozialabgabesatz stabilisiert wird. Auf der anderen Seite wurden stärkere Kontrollen bei den Versicherten eingeführt. Ziel ist Beitrags- und Abgabegerechtigkeit.

    Bis 2011 schreibt die Rentenversicherung gezielt Arbeitgeber an, bei denen eine Abgabepflicht in Betracht kommt. Die ersten Ergebnisse bestätigen die Richtigkeit unserer Maßnahmen: Bereits jetzt ist eine Steigerung der abgabepflichtigen Unternehmen um rund zehn Prozent zu verzeichnen. Damit wird eine weitere Absenkung der Künstlersozialabgabe wahrscheinlich, die derzeit bei 4,9 Prozent liegt. Zumindest wird sie stabil bleiben können. Das wird entscheidend zu ihrer Akzeptanz beitragen.

    Aktuellen Versuchen von Seiten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) sowie des Zentralverbandes des deutschen Handwerks (ZdH), die KSV grundsätzlich in Frage zu stellen, treten wir mit aller Entschlossenheit entgegen. Wer sich bisher der Abgabepflicht entzogen hat, hat gegen das Gesetz verstoßen. Soweit es einen verstärkten Informationsbedarf vor allem von Seiten der kleineren Betriebe und Steuerberater gibt, wird dem durch Verstärkung der entsprechenden Anstrengungen abgeholfen.

    Die KSV hat sich als zuverlässiger Teil der sozialen Absicherung für Künstler bewährt. Im Interesse der Künstler und Publizisten und auch im Interesse der wachsenden Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft werden wir die KSV weiter stärken.


    Monika Griefahn MdB
    Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion
    für Kultur und Medien

    Deutscher Bundestag
    Platz der Republik, 11011 Berlin
    Bürogebäude: Paul-Löbe-Haus

    Tel: (030) 227-72425 / 26
    Fax: (030) 227-70125
    Email: monika.griefahn@bundestag.de

    http://www.monika-griefahn.de

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