vonHelmut Höge 01.08.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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“All Labeling is Lethal!”

Am vorvergangenen Wochenende traf ich mich mit Aushilfshausmeister Meyer vom Bezirksamt Friedrichshain im Botanischen Garten. Wir sprachen u.a. über Schilder. Er vertrat die These: Je dicker die Sachbearbeiterinnen sind, desto mehr umgeben sie ihre Arbeitsplätze mit Schildern und Sprüchen, wobei sie sowieso einen Hang zu zwanghaften Käufen von überflüssigem Kleinkram und Kitsch hätten. Während unseres Spaziergangesprächs bemerkte ich irgendwann – ganz im Sinne des Spaziergangsforschers Lucius Burckhardt, dass ich nur noch die Schilder an den Bäumen (und Sträuchern) studierte – die dazugehörigen Pflanzen jedoch nicht einmal mehr eines Blickes würdigte. Ich bin in dieser Hinsicht allerdings auch pawlowmäßig vorbelastet, indem ich einst anhand von Werbeschildern und Reklame lesen lernte. Auf alle Fälle führte uns das zu der Frage, auf welche verschiedenen Weisen man einen Wald eigentlich wahrnehmen kann. Dieses Thema beschäftigte uns die Tage darauf auch noch per Internet. Hier eine vorläufige Zusammenfassung:

Der französische Semiologe Roland Barthes unterschied die Metasprache, die in der Stadt gesprochen wird, von der Objektsprache – auf dem Land. “Die erste Sprache verhält sich zur zweiten wie die Geste zum Akt: Die erste Sprache ist intransitiv und bevorzugter Ort für die Einnistung von Ideologien, während die zweite operativ und mit ihrem Objekt auf transitive Weise verbunden ist.” Zum Beispiel der Baum: Während der Städter über ihn spricht oder ihn sogar besingt, da er ein ihm zur Verfügung stehendes Bild ist, redet der Dörfler von ihm – gegebenenfalls fällt er ihn auch. Und der Baum selbst? Wenn der Mensch mit einer Axt in den Wald kommt, sagen die Bäume: “Sieh mal! Der Stiel ist einer der Unsrigen.” Dies behaupten jedenfalls die Waldarbeiter in der Haute-Savoie.

Wenn man dem Augenschein und den Neodarwinisten glauben schenkt, dann herrscht auch unter den Bäumen ein ständiger Konkurrenzkampf (um Nährstoffe, Licht, Bakterien, Pilze usw.). Die russisch-sowjetischen Forstexperten sahen das jedoch – symbiotisch gestimmt – ganz anders: “Es klingt paradox, aber der Wald braucht den Wald,” so sagte es einer von ihnen und fügte hinzu: “Sonst stünden viel mehr Bäume einzeln, wo sie sich doch angeblich besser entfalten könnten.” Der in den Dreißiger und Vierzigerjahren führende Agrarbiologe der UDSSR Trofim D.Lyssenko empfahl deswegen bei der Wiederaufforstung gleich die Anpflanzung von Bäumen in “Nestern”. Er begründete dies sehr revolutionsromantisch: “Erst schützen sie sich gegenseitig und dann opfern sich einige für die Gemeinschaft”. Der Forstwissenschaftler G.N. Wyssozki ging nicht ganz so weit, aber auch er unterschied zwischen vegetativem Freund und Feind: Damit z.B. die Eiche gut wachse, dürfe man sie nicht zusammen mit Eschen und Birken anpflanzen, sondern sollte sie “von Freunden umgeben” – Büsche: Weißdorn, gelbe Akazie und Geißblatt z.B.. Laut dem Wissenschaftsjournalisten M. Iljin lehrte uns bereits der Gärtner Iwan W. Mitschurin, “dass sich im Wald nur die verschiedenen Baumarten bekämpfen, aber nie die gleichen”. (Wenn das stimmt, dann ist es im tropischen Regenwald genau andersherum.) Der russische Wald wird von der Steppe bedroht. Deswegen riet Lyssenko: aus Eiche (Wald) und Weizen (Feld) Verbündete gegen sie zu machen. Seinen Vorschlag begründete er quasi partisanisch: “Wenn einer zwei andere stört, dann lassen sich diese beiden stets, mindestens für einige Zeit, gegen ihren gemeinsamen Feind verbünden.”

Aus dieser (allzumenschlichen) Wahrnehmungsnot hat der baltische Biologe Jakob von Uexküll eine Tugend gemacht: Es gibt keinen Wald als objektiv festlegbare Umwelt, sondern nur “einen Wald-für-den-Förster, einen Wald-für-den-Jäger, einen Wald-für-den-Botaniker, einen Wald-für-den-Spaziergänger, einen Wald-für-den-Holzleser” und, so dürfen wir hinzufügen: einen für Partisanen, Eulen, Eichhörnchen, Ameisen etc..

Wobei auch schon z.B. zwei Spaziergänger nicht ein und den selben Wald sehen. So machte sich der aus Sibirien stammende sowjetische Dichter Jewgenij Jewtuschenko in seiner Biographie über Freunde und Kollegen aus Westrussland lustig, die von einer großen Scheu erfaßt wurden, sobald sie einen sibirischen Wald – die Taiga – betraten.

“Jede Umwelt ist eine in sich geschlossene Einheit, die sich aus der Selektion einer Reihe von Elementen oder ‘Merkmalsträgern’ aus der Umgebung konstituiert” – damit faßt Giorgio Agamben die Uexküllsche Umweltlehre zusammen, die dieser u.a. am Beispiel der “Weltbilder” von Zecken und Stichlingen entwickelte, wobei er zu dem Schluß kam: “Die Heimat ist ein reines Umweltproblem”. Ein Satz, der mir immer sehr eingeleuchtet hat, wie ebenso der, dass auch Pflanzen ständig mit “Bedeutsamkeit” konfrontiert werden. Daraus folgt eine ganz andere “Zeichenlehre” als die “Codes” der angloamerikanischen Genetiker. 1929 gründete Uexküll in Hamburg ein “Institut für Umweltforschung”, heute ist der “Pionier der theoretischen Biologie” zusammen mit dem “Vitalismus” in Vergessenheit geraten. Wie dieser wandte er sich gegen den “Mechanizismus”, der bei allen Tierhandlungen und Pflanzenäußerungen bloß Ursache-Wirkungs-Schemata gelten läßt. Bei Uexküll ist jedes Lebewesen erst einmal “Subjekt”. Das eröffnet uns einen Zugang zu ihm, der sich forschend vertiefen läßt, wobei man jede “Psychologisierung” vermeiden sollte.

Mehr Anerkennung hat in den letzten Jahren, vor allem in den USA, die frühe Symbioseforschung der russischen Botaniker des 19. Jahrhunderts gefunden, die teilweise explizit “antidarwinistisch” argumentierten: Beginnend mit Andrey S. Famintsyn, der bereits 1907 einen Aufsatz über “Die Rolle der Symbiose bei der Evolution von Organismen” veröffentlichte, wobei er sich vor allem auf Flechten bezog, die aus einer Verbindung zwischen einer Alge und einem Pilz bestehen, sowie auch auf Chloroplasten: in allen Pflanzenzellen integrierte Einzeller, die das Sonnenlicht durch Photosynthese in nutzbare chemische Energie und Nährstoffe umwandeln. Ferner Konstantin S. Mereschkowsky, der die “Organellen” (Orgänchen) in den Zellen als ehemals freilebende Organismen identifizierte, die irgendwann von einem Einzeller “einverleibt” bzw. “verstaatlicht” wurden: Bis heute teilen sie sich unabhängig von ihrer Wirtszelle selbständig. Mereschkowsky publizierte 1920 in Genua seinen Aufsatz “Die Pflanze als symbiotischer Komplex”. Schließlich Boris M. Kozo-Polyansky, der 1924 eine “Theorie der Symbiogenese” veröffentlichte, die sich wesentlich auf Bakteriensymbiosen bezog, u.a. auf ehemals frei lebende Mytochondrien, die in der Lage sind, mithilfe des Sauerstoffs der Luft aus Nährstoffmolekülen chemische Energie zu produzieren. Sie befinden sich heute in jeder unserer Körperzellen. Kozo-Polyansky interessierte sich jedoch speziell für die Orchideen und das Erika-Heidekraut. Seine Biographin Liya N. Khakhina bemerkt dazu – in “Concepts of Symbiogenesis”: “He saw an unusual physiological picture in orchids [Orchideen] in that symbiosis is a necessary condition both for the germination of the seed and for the formation of the roots and tubers and the stages of flowering. Citing M. Rayner’s work of 1915-23, Kozo-Polansky noted that even ordinary heather [Erikaheide] is essentially a symbiotic organism, formed from a flowering plant and an (ascomycotous) mycorrhizal fungus.”

Wenn sich heutige Biologen/Ökologen unter und zwischen den Bäumen umtun, dann konstatieren sie erst einmal: Dem Wald geht es schlecht! In Südamerika, in Sibirien, auf Sumatra – und in Mitteleuropa sowieso. Die Fichten leiden unter Industrieabgasen, Überdüngung der Felder und unter ihren dumpf profitorientierten Monokulturen. Die Ulmen leiden an tödlichen Pilzen, die Kastanien an der Miniermotte. Die Abwehrkräfte dieser Bäume scheinen langsam zu erlahmen. Schon vermelden englische Baumforscher: Auch die Wurzelballen der Eichen werden immer kleiner. Ich sehe mir neuerdings vor allem die großen Bäume auch immer besorgniserregend an. Geben die Bäume, die es einst uns Landtieren überhaupt erst ermöglichten, das Wasser zu verlassen, nun unsretwegen auf? Das käme Nietzsches Gedanken nahe: “Genug, überall da, wo wir Ursache und Wirkung sehen, müssen wir anerkennen, das Wille auf Willen stößt”. Demnach hätten wir das “Willensfeld” der Bäume bereits derart zerstört und zerhackt, dass sie drauf und dran sind, resigniert aufzugeben. Dabei gab es mal Zeiten, wo sie umgekehrt uns beeinflußt haben. Goethe war sich noch “gewiß! Wer sein Lebenslang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müßte ein anderer Mensch werden, als wer täglich unter luftigen Birken sich erginge.” Um eine solche oder ähnliche “Kommunikation” zwischen Pflanze und Mensch ging es vor einiger Zeit einer Dame aus der spirituellen englischen Landgemeinschaft Findhorn in ihrem Vortrag im Berliner Botanischen Garten. Sie hatte zwei Ahornblätter von daheim mitgebracht, wovon sie das eine immer wieder gebeten hatte, nicht zu verwelken – und siehe da: Es war im Gegensatz zum anderen grün geblieben. Ihr kommunikatives Bemühen hatte quasi Früchte getragen. Ähnliches berichtet auch die Moskauer Kafkaübersetzerin Jewgenia Kazewa in Ihrer “Lebensgeschichte”: “Meine Kastanie…Ich wohne im dritten Stock, und die Kastanie ist so hoch und breit, dass sie die beiden Balkonfenstertüren von Wohnzimmer und Küche ausfüllt; wenn auch jetzt nur noch mit einer Hälfte, die andere Hälfte ist dem schrecklichen Orkan zum Opfer gefallen, der im Sommer 1998 in Moskau wütete. Er war kurz, aber sehr zornig. Die Kastanie wurde entzweit, die eine Hälfte, die vor der Küche, ist sofort umgefallen, die andere, vor dem Zimmer, hat sich ohnmächtig ans Balkongeländer gelehnt. Ich habe mit ihr geredet, ihr immer wieder gut zugesprochen und sie flehentlich gebeten, sich aufzurichten, sie gestreichelt und ihre schlaff werdenden Blätter geküßt. Bedeutet sie doch soviel für mich: Wenn ich am Schreibtisch sitze, der vor dem Fensterbrett steht und sich bei Festen zum Eßtisch verwandelt, hebe ich ab und zu die Augen, hefte den Blick auf sie oder starre sie einfach an, bis mir etwas einfällt. Man mag es glauben oder nicht, aber allmählich und ganz langsam begann sie sich vom Geländer zu lösen, richtete sich auf, bis sie wieder ganz gerade stand. Und die Krone rundete sich. als wäre der ‘Schädel’ nie gespalten worden.”

Wenn das Sprechen mit dem Baum ins Mystische lappt, ebenso wie umgekehrt das, “Was die Bäume sagen” (wie ein vielverkauftes Buch einer US-Landkommune in den Siebzigerjahren hieß), dann berührt das Sprechen über den Wald oft das Mythische. Für viele Kulturen gehört der Wald sogar zu ihrem Ursprungsmythos – erhoffte man sich durch den Rückzug in den Wald eine Art Wiederauferstehung. Simon Shama hat in seiner Studie über “Den Traum von der Wildnis” einige dieser Heiligen Haine durchforstet: In Polen den Urwald von Bialowieza (Podlasien), der Rumpfheimat des Wisent, aber auch aller echten Männer, sowie der polnischen Outlaws und Partisanen. Ferner Jagdgebiet der Könige, dann das Revier von Hermann Göring – und Ausgangspunkt der polnischen Forstwirtschaft bzw. -wissenschaft, die wiederum oft Beziehungen zu den Partisanen in ihren Wäldern unterhielt. So gehörte z.B. zu den Partisanen, die sich nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands Ende 1830 und der Auflösung Polens in die Wälder von Podlasien – der puszcza – zurückzogen, auch Emilie Plater, “eine Soldatin, aus deren Familie zu Beginn des Jahrhunderts mehrere Forstbeamte gekommen waren.” 100 Jahre später erklärte die Pilsudski-Regierung den Urwald zum polnischen “Nationalpark”. Im Wald finden die ersten Gefechte zwischen Nationalökonomie und -ökologie statt! Die Deutschen erklärten zehn Jahre später sogar das Abschießen eines Adlers zu einem todeswürdigen Staatsverbrechen. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen flüchteten viele Juden als Partisanen in die Wälder – sie kamen “in eine neue Welt”, schreibt Simon Shama, “…die Veteranen, die sich als ‘Wölfe’ bezeichneten, brachen in der Nacht auf zu Beutezügen in die Walddörfer…Von allen Generationen der ‘Puszcza’-Kämpfer waren sie die verzweifeltste”. Umgekehrt hatte für viele Polen und Juden schon die vage Möglichkeit, sich zu den Partisanen “in den Wald” zu flüchten, etwas Hoffnungsvolles. Nach 1945 versteckten sich auch etliche Deutsche in den Wäldern, wo sie sich zu antikommunistischen Partisanengruppen zusammenfanden. Erst in den Fünfzigerjahren gelang der Roten Armee die Liquiderung der letzten “Waldmenschen”, wie die Illegalen in Litauen hießen, die jungen nannte man “Wolfskinder”.
Etwa zur selben Zeit bezeichnete der Schwarzwald-Philosoph Heidegger die Widerstände gegen die (amerikanische) Nachkriegs-Moderne als “Holzwege”. Der Holzweg ist jener Weg, der unvermutet im Forst abbricht. Als Martin Heidegger und Carl Friedrich von Weizsäcker einmal auf einem Spaziergang durch den Stübenwasener Wald waren, stellten sie überrascht fest, dass sie sich auf einem Holzweg befanden. Noch mehr aber liess sie erstaunen, dass sie an der Stelle, wo der Weg endete, auf Wasser gestossen waren. Heidegger soll da frohlockt haben: “Ja, es ist der Holzweg – er führt zu den Quellen!”

Von den Franzosen stammt dagegen die Erfindung des “Wanderwegs” (im Wald von Fontainbleau), der eine ganze Malschule begründete. Die Mythifizierung des deutschen Waldes begann mit dem römischen Ethnologen Tacitus, der die Germanen in seinem Bericht “Germania” als edle Wilde pries. Als Urheld des Widerstands gegen die korrumpierende (römische) Moderne gilt seitdem Hermann der Cherusker, der im Jahre 9 n. Chr. eine ganze römische Armee unweit des Teutoburger Waldes niedermetzelte. Als es Anfang des 19. Jahrhunderts darum geht, die französische Moderne aus Deutschland zu vertreiben, d.h. den Guerillakampf gegen die napoleonischen Truppen aufzunehmen, veröffentlichte Heinrich von Kleist “Die Hermannschlacht” – als eine Anleitung zum Volksaufstand. Für den Germanisten Wolf Kittler ist sein Drama “Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie”. Für den damaligen Chefstrategen der Befreiungskriege, Freiherr vom Stein, markierte dagegen die Insurrektion des Freikorps von Major Schill den Anfang. Immer wieder riet er ihm, statt sich altmodisch in Festungen zu verschanzen, in die norddeutschen Moore zurück zu ziehen, um von dort aus wie die Wölfe über den Gegner her zu fallen. An der Ems hatten seinerzeit schon Hermanns Partisanen die feindliche Übermacht zermürbt: “Tagelang zappelten die römischen Truppen in den Sümpfen und versuchten sich gegen Überraschungsangriffe der cheruskischen Kämpfer zu wehren”, schreibt Simon Shama, für den “sich die klassische Zivilisation immer im Gegensatz zu den Urwäldern definiert hat”.

Die Nationalsozialisten, die diesen Prozeß umdrehten, haben sich dann auch mehrere Waldabenteuer geleistet: 1. ließen sie im Herbst 1943 ein SS-Fallschirmspringerkommando bei einer Villa im norditalienischen Fontedamo abspringen, um dort das taciteische Urmanuskript zu rauben, nachdem Mussolini diese famose germanische Gründungsurkunde bereits dem Führer als Geschenk versprochen hatte – jedoch nicht mehr selbst dazu gekommen war, sie ihm auch zu übergeben. Das Manuskript – Codex Aesinas – hatten die Italiener jedoch rechtzeitig in einem Vorratskeller der Villa versteckt, so dass die Deutschen unverrichteter Dinge wieder abziehen mußten. 2. zogen die Nazis alle wegen Wilderei inhaftierten Deutschen im KZ Oranienburg zusammen und formierten daraus die erste Partisanenbekämpfungseinheit – unter dem Kommando des Kommunistenschlächters Dr.Dirlewanger. Sie wurde später immer wieder mit antikommunistischen ukrainischen Waldpartisanen aufgefüllt, die nach dem Krieg von den Amerikanern übernommen wurden – um dann in Kennedys “Green Berets” gegen die im vietnamesischen Dschungel kämpfenden Vietkong eingesetzt zu werden. 3. wurde in den letzten Kriegsmonaten noch ein Partisanenheer aus Teilen der Hitlerjugend zusammengestellt: die Werwölfe. Sie sollten sich in den Wäldern verstecken und von dort aus Angriffe auf die Alliierten unternehmen. Die Rote Armee und die Amerikaner nahmen diese mehr in der Nazipropaganda als real existierenden Gruppen sehr ernst: Erstere ließen unbarmherzig alle des Werwolftums Verdächtigen erschießen und letztere änderten sogar ihren Vormarsch, indem sie von Westen kommend auf Berlin zustoßend nach Bayern abschwenkten, wo sie in den Voralpen die hauptsächlichen Werwolf-Sammelgebiete vermuteten.

Die Seenation England, wo man beim Bau eines einzigen Schlachtschiffes mit 74 Kanonen über 2000 Eichen verarbeitete, versuchte mit Eichen-Pflanzaktionen ihrer Landbesitzer unabhängig von Fremdwald zu bleiben, zudem war ihre wahre Freiheit im alten Sheerwood Forest beheimatet, wo man zu Zeiten von König Jakob I. noch 23.370 Eichen gezählt hatte – und wohin sich in der Zeit der Rosenkriege die letzten Königstreuen zurückgezogen hatten: Laut Simon Shama entstand diese Robin-Hood-Legende “in der Oberschicht und endete in der Unterschicht” – nachdem die englischen Romantiker den Wald und seinen Helden – den ehemaligen Holzdieb Robin Hood – “als Anwalt der Armen” entdeckt hatten. In Amerika diente die Wildnis dann als immerwährende Regenerationsmöglichkeit für die Zivilisation, als moralische Anstalt gar für Zivilisationsmüde – und -kritiker (von Henry David Thoreau über Ken Kesey bis zum Una-Bomber Kaczinski).

Überblickt man die verschiedenen Wald-Kulturen, dann flüchteten sich dort stets die (illegalen) Wölfe rein – und heraus kamen (legale) Hunde oder umgekehrt! Und diese Verwandlung wird gerade wieder ideologisch-metaphorisch forciert, obwohl oder weil von einem “richtigen Wald” zumindestens in Europa so gut wie nirgendwo mehr die Rede sein kann – und einige polnische Biologen deswegen wenigstens Waldstreifen zur Erleichterung der Wolfswanderungs-Bewegung von Ost nach West anlegen wollen. Selbst “um den tropischen Regenwald steht es sehr schlimm,” schreibt der Münchner Ökologe Josef H. Reichholf. Dieser Urwald “erhält sich selbst. Er hat sich über Jahrmillionen entwickelt und sich dabei ein Eigenklima geschaffen, das seine weitere Existenz garantieren würde, wenn ihn der Mensch nicht zerstückelt, in unzusammenhängende Teilflächen zerlegt und als Einheit zerstört. Kein Großlebensraum der Erde dürfte so schwierig zu behandeln sein und so empfindlich auf Eingriffe vom Menschen reagieren wie der tropische Regenwald.”

Ähnlich sehen das auch einige lateinamerikanische Guerillas. Der Sandinista Omar Cabezas veröffentlichte seine Erinnerungen unter dem Titel “Der Wald ist etwas mehr als eine große grüne Hölle”. Nämlich auch Rückzugsgebiet der Partisanen, Ort ihrer Klärung, Zweifel und Einsamkeit. Gleichzeitig bietet er ihnen aber auch Nahrung und gibt ihnen die Möglichkeit, die komplizierten Lebensverhältnisse und -stile im Wald zu verstehen. Die immer noch kämpfenden Zapatistas, die man heute Neozapatistas nennt, senden ihre “Erklärungen” stets aus dem “Selva Lacandona” ab, aus dem lakandonischen Urwald – als “Geheimes Revolutionäres Indigenes Komitee”. Ihre 6.Erklärung 2005 – die bisher letzte – begann mit den Worten: “Dies ist unser einfaches Wort, das danach sucht; die Herzen der Menschen zu berühren, die, wie wir, bescheiden und einfach sind, aber auch, wie wir, würdig und rebellisch. Dies ist unser einfaches Wort, um darüber zu berichten, was unser Schritt gewesen ist und wo wir uns nun befinden, um zu erklären, wie wir die Welt und unser Land sehen, um zu sagen, was wir zu tun beabsichtigen und wie wir es zu tun beabsichtigen, und um andere Menschen dazu einzuladen, mit uns gemeinsam in etwas sehr Großem zu gehen, das sich Mexiko nennt, und etwas noch viel Größerem, das sich Welt nennt.”

Die mexikanische Regierung bekämpft nicht nur die Dorfbewohner als Basis der Zapatistas militärisch, sie hat den dort lebenden Menschen auch verboten, z.B. ihr Feuerholz im Wald zu schlagen, gleichzeitig erhalten Konzerne jedoch Abholzgenehmigungen und es werden große Siedlungsflächen gerodet: Nicht nur chiapanekische Indigenas, sondern auch Gemeinschaften aus anderen südlichen und zentralen Bundesstaaten, die z.B. in Guerrero, Veracruz oder Michoacan eine Landzuteilung forderten, wurden in die Selva Lacandona geschickt – wo sie nun ein kleines Stück Land bewirtschaften. Darüberhinaus will die mexikanische Regierung generell den Boden privatisieren und das Prinzip des kollektiven Eigentums abschaffen – was den kleinen indigenen Völkern weltweit droht.

Unser Bild vom tropischen Regenwald als grüne Hölle speist sich primär aus Rudyard Kiplings und Walt Disney’s “Dschungelbuch”. Josef H. Reichholf veröffentlichte 1990 ein neues Buch über den “Dschungel”. Die ÖTV-Gewerkschaftsgruppe bei der BVG sortierte gerade ihr Exemplar aus der Präsenzbibliothek aus, woraufhin ich es im Antiquariat erwarb. Wie schon in bezug auf das “ökologische Denken” und die Land-Stadt-FFH (Flora-Fauna-Habitate) stellt der Autor auch hier wieder unser bisheriges “Bild” auf den Kopf: Der südamerikanische Urwald ist keine “Grüne Hölle”, in der alles wild durcheinander wächst und wuchert – im Überfluß lebt, sondern ganz im Gegenteil: eine extreme Zone des Mangels. Die Bäume, nicht der Boden sammeln hier die Nährstoffe, auf dem die übrigen Pflanzen wachsen, von und auf denen wiederum die meisten Tiere leben. Aus Mangel an Mineralstoffen, um Eiweiß zu bilden, das für die Fortpflanzung notwendig ist, sind die Vermehrungsraten im tropischen Regenwald sehr niedrig und die Nachkommensaufzucht aufwendig. Das gilt auch für alle anderen von den Bäumen abhängigen Pflanzen und Tiere, von denen viele bis hin zu Fröschen – in den Baumkronen angesiedelt sind. Sie mußten den “Epiphyten” nach oben folgen. Bei diesen “Überpflanzen” oder “Aufsitzern” handelt es sich vor allem um Bromelien und Orchideen. Letztere sind hinsichtlich ihres Blütenbaus die “fortschrittlichsten unter den Blütenpflanzen:” Sie haben die Fehler bei der Pollenübertragung “bis zu fast vollständiger Treffsicherheit verringert”. Nicht zuletzt dadurch, dass sie sich z.B. einer ganz bestimmten Wespenart anverwandelten – so dass sie wie eine solche aussehen, wobei jedoch umgekehrt für die betreffende Wespenart das selbe in bezug auf die Orchideen gilt. Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari haben daraus in den Siebzigerjahren ein ganzes involutives Beziehungsmodell gemacht.

Aber alle Dschungel-Flora und -Fauna ist laut Reichholf undenkbar ohne den Pilz. “Basis des Baumlebens” ist speziell der Wurzelpilz, der sich entweder an den Enden der Baumwurzeln ansiedelt oder sogar in ihnen. Diese “innere oder äußere Mykorrhiza” bildet die Grund-Symbiose. Dabei übernehmen die Pilzfäden “in großem Umfang die Aufnahme von Wasser und mineralischen Nährstoffen. Sie leiten diese an die Baumwurzeln weiter, von denen sie im Gegenzug vor allem Zucker und Vitamine bekommen…Die Pilzfäden sind viel feiner als die Haarwurzeln der Bäume und kommen deswegen noch an geringste Nährsalzkonzentrationen heran”. Der Autor spricht hierbei von einer “Kooperation”. Als gemäßigter Darwinist stellt er zur Erklärung gerne Kosten-Nutzen-Rechnungen an, auch sein diesbezügliches Vokabular wird dann betriebs- bzw. volkswirtschaftlich.

Ähnliches wie für die Bäume gilt auch für die Epiphyten auf ihren Ästen: “Oben in den Baumkronen brauchen die Orchideen die Keimhilfe von Pilzen”. Auf dem Urwaldboden sorgen wieder andere Pilze für eine schnelle Rückverwertung der abgefallenen Blätter und abgestorbenen Baumteile, wobei ihnen die Baumwurzeln buchstäblich entgegenkommen: Sie wachsen im Dschungel aus der Erde nach oben – “der eigentlich schon ziemlich ausgelaugten Nährstoffquelle ‘totes Blatt’ entgegen.” Zusammen sorgen sie dann dafür, dass das Blatt schließlich in seine letzten Reste zerfällt “und keinen Humus hinterläßt.”

Während hier auf einen Hektar bis zu 500 Baumarten vorkommen, sind es in den “geradezu monotonen Wäldern” z.B. Europas höchstens 30 – oft nur ein knappes Dutzend. In den tropischen Regenwäldern wachsen die Bäume um so besser, “je weniger Artgenossen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft” wurzeln. Dies ist nicht dem Überfluß, sondern dem Mangel geschuldet – für Reichholf der “Kern der Regenwaldproblematik”. Die dominierenden Tiere sind hier die Blattschneiderameisen und die Termiten – und beide ernähren sich von Pilzen, die sie in ihren Bauten züchten. Also: “Soziale Insekten” unten (tagsüber Ameisen, nachts Termiten) und “soziale Pflanzen” oben (Orchidee-Pilz-Wespe- oder Bromelien-Spinnen-Pilz-Symbiosen). Dazwischen ist die immer feuchtwarme Urwaldluft erfüllt von winzigen Pilzsporen: Schon nach kurzer Zeit ist jeder Gegenstand mit einem Schimmelfilm überzogen. Selbst das Faultier setzt an seinem Fell Pilze und Algen an, von denen sich wiederum die Larven einer kleinen Schmetterlingsart ernähren. Die Faultiere leben meist auf “Ameisenbäumen”, das sind Bäume der Gattung Cecropia, deren hohle Stämme Ameisen beherbergen. Der Baum scheidet “extraflorale Nektarien” (für sie) aus, sie wiederum halten ihm Insekten und andere Feinde vom Leib – noch eine Symbiose. Gleichzeitig schützen die Ameisen auch die gerade wegen ihnen sich so langsam fortbewegenden Faultiere vor deren Feinden. Weitere Exo- und Endoymbiosen finden sich oben in den das Regenwasser auffangenden Trichtern und Blattachseln von Bromelien, die die Flüssigkeit zusammen mit Staubpartikeln und ertrunkenen Kleininsekten durch Bakterien aufarbeiten lassen: “umgekehrte Hydrokulturen.” Unten im Boden nehmen u.a. Käferlarven die Hilfe von Mikroben an, um den wenigen “Mulm” – organische Abfallstoffe – dort zu verdauen. Gerade über die Rolle der Arthropoden (Gliederfüßer) im Ökosystem der tropischen Regenwälder wird derzeit viel geforscht.

Für den tropischen Regenwald insgesamt gilt zum einen: “Der hochgradig geschlossene Nährstoffkreislauf begründet sich auf den Artenreichtum” – zum anderen: “Die Nutzer tropischer Fruchtbäume müssen weit umherschweifen,” das gilt für die meisten Tiere sowie für die Menschen – die Waldindios, die oft nur in kleinen Gruppen leben. In einigen ihrer Kulturen spielen nicht zufällig “Magic Mushrooms” (psilozybinhaltige Rauschpilze) eine wichtige Rolle.

“Und ähnelt ein schöner, giftiger Gedanke nicht einem Fliegenpilz in allem, sogar noch in der Wirkung zwischen Rausch und Brechreiz?” fragt sich die Pilzforscherin Gabi Schaffner. An anderer Stelle ihres Buches “Phänomene der inneren Topografie” schreibt sie: “Ein ungenießbarer Pilz ist wie ein falscher Gedanke am richtigen Ort.” Ferner hat sie “eine Analogie zwischen den Gesetzen und Eigenschaften der Pilzwelt und der Struktur eines ‘untergründigen Denkens'” festgestellt. “Der Pilz ist etwas Unvorhersehbares, etwas Verrücktes.” Und dann ist der Pilz auch nicht der Pilz, sondern nur sein Fruchtkörper: “Das Mycel ist der eigentliche Pilz – unterirdisch, feine Fäden über Kilometer unter dem Boden unsichtbar zu einem wirren Netz gesponnen. Und wenn man bedenkt, wie viele Sporen ein Pilz verstreut, ist das Mycel eine ins Unendliche reichende Exponentialfunktion.” Gabi Schaffner ist vornehmlich in Nord- und Osteuropa unterwegs, wobei sie sich u.a. von den “Betrachtungen eines Pilzjägers” (Wladimir Solouchin) leiten läßt.

Im tropischen Regenwald muß man sich aber gleichzeitig auch gegen die Pilze wehren – “bevor alles verpilzt”. Bei der Körperpflege der Waldindios kommt deswegen “dem Schutz vor Verpilzung eine herausragende Bedeutung zu”, meint Josef Reichholf. Wenn sie nicht umherziehende Jäger und Sammler sind, betreiben die Waldindios einen bescheidenen “Wanderfeldbau”, d.h. Brandrodung von kleinen Flächen, deren Erträge schon nach drei vier Ernten nicht mehr den Aufwand der Feldbestellung lohnen. Reichholf erwähnt Henry Fords riesige Großplantage mit Gummibäumen “Fordlandia” genannt, die wegen der nährstoffarmen Böden wieder aufgegeben werden mußte: Auch die Gummibäume brauchen viel Platz zwischen sich. Etwas anders ist es bei den Tieren: Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten bezeichnet Reichholf “als bewegliche Sammler feinstverteilter Nährstoffe”. Die Treiberameisen schleppen auf ihren Streizügen sogar ihr ganzes Nest einschließlich der Königin mit. Ihnen schließen sich die Ameisenvögel an, die von den durch die Ameisenkolonnen aufgescheuchten Kleintiere und Insekten profitieren.

Zwar ist an Wasser kein Mangel im tropischen Wald, aber die Flüsse sind teilweise reiner als Regenwasser, Kleinlebewesen wie Moskitolarven finden darin nicht genug Nahrung. Und seitdem man den Kaiman durch die Jagd enorm reduziert hat, finden nicht einmal mehr die Jungfische in den Lagunen genug Kleinlebewesen, da diese vom Kot der Reptilien lebten. Es gibt Arten, die sich von tierischer auf pflanzliche Nahrung umstellen können, dazu gehören auch die Leguane, bei denen sich nur noch die Jungen von Insekten ernähren (müssen). In der Zucht gelang es sogar, junge fleischfressende Piranhas zu pflanzenfressenden “umzuerziehen” – sie ernährten sich zunächst übergangsweise vom Kot der pflanzenfressenden Piranhas – und nahmen dabei die für die Verdauung von Pflanzenteilen notwendigen Darmbakterien auf. Viele Fische ernähren sich in Amazonien von vorneherein von Baumfrüchten, die in den überschwemmten Wäldern ins Wasser fallen: Nicht wenige haben dafür inzwischen “ein schräg nach oben gerichtetes Maul”. Dazu hat Michael Goulding in seinem Buch “Die Fische und der Wald” quasi aus der Sicht der Fische Erhellendes beigesteuert. Umgekehrt gibt es z.B. Tausendfüßler, die Überflutungsresistent geworden sind. Mit solchen “Überlebensstrategien” von Arthropoden im Regenwald beschäftigt sich der Kieler Limnologe Joachim Adis. Die hochspezialisierte und -assoziierte Urwald-Flora und Fauna besetzt dennoch immer nur Nischen: “Nicht einmal auf einem einzelnen Baum herrschen gleiche Verhältnisse”. Das und die mangels eiweißbildender Nährstoffe geringe Fortpflanzungsrate hat laut Reichholf zur Folge, dass die Arten sich keine großen Verluste z.B. durch Freßfeinde, leisten dürfen.

Deswegen entwickelten sie wie nirgendwo sonst auf der Welt eine große Vorliebe für Mimikry und Mimese: Gleich mehrere ungiftige Schlangenarten ähnelten sich z.B. einer giftigen an, Raupen, Falter und Käfer entwickelten große Augen oder ganze falsche Köpfe (von Schlangen) am Hinterleib, Heuschrecken nahmen Form und Farbe von Blättern und Zweigen an, wohlschmeckende Schmetterlinge imitierten das Aussehen von abscheulich bitteren, usw.. Daneben wird im tropischen Urwald gerne mit Giften gearbeitet: winzige schreiend-bunte Baumfrösche z.B. sind hochgiftig – die Waldindios nutzen sie zur Pfeilgiftherstellung. Tausendfüßler sondern Blausäure ab, ebenso wie das wichtige Nahrungsmittel Maniok, den man vor dem Verzehr erst einmal umständlich entgiften muß. Überhaupt schützen sich viele Pflanzen mit Gift, u.a. Lianen, die die Waldindios beim Fischfang zum Betäuben ihrer Beute verwenden. Viele Arthropoden verstehen es, Pflanzengifte zu ihrem eigenen Schutz gewissermaßen umzunutzen. Einige Libellenarten haben durchsichtige Flügel mit farbigen Augenmustern drauf. Im Halbdunkel des Dschungels sieht man nur diese Augen: “Überhaupt die Augen” – als Tarnung und Drohung! Die südamerikanischen Grubenottern und Riesenschlangen haben umgekehrt ein drittes, echtes “Auge” ausgebildet, zwischen Augen und Mund – mit denen sie (wie mit einem Nachtsichtgerät) Infrarotstrahlen, also Wärmebilder, sehen können. Und dann gibt es neben der Mimikry und Mimese von Arten, die sich auf Orte und andere Arten beziehen, anscheinend auch noch welche von Orten, die sich auf dort lebende Arten erstreckt: “So traf ich im südlichen Brasilien eine ganze zirkumskripte Waldstelle, bei der mir sofort die lebhafte Blaufärbung aller hier vorhandenen Tiere auffiel. Von zwanzig Schmetterlingen, welche an mir vorüberflogen, waren wenigstens zehn ganz blau und die übrigen zum Teil,…- diese Übereinstimmung der Farben erstreckte sich aber nicht allein auf die Schmetterlinge, sondern auch Käfer, Hemiteren, Dipteren zeigten alle mehr oder weniger blauen Schimmer. Das merkwürdigste bei dieser Erscheinung war ihre enge Begrenzung. Nur wenige Meilen nach Norden von dieser Örtlichkeit hatte die Vorliebe für Blau nicht nur aufgehört, sondern es erschien die rote Farbe in ähnlicher Weise dominierend, wenn auch nicht in so auffälligem Grade.” (Von Hanstein, “Biologie der Tiere”) Unter den blauen Tieren ist der Auffälligste der große “Morpho-Falter”. Er produziert statt eines blauen echten Farbstoffs, anders als viele andere Tiere und Pflanzen, eine so genannte Strukturfarbe, die durch Lichtbrechung auf seinen Flügeln erzeugt wird. Damit sieht man ihn im Flug auf der Flucht immer nur kurz aufblitzen. Wenn er aber einigermaßen ruhig z.B. durch die Straßen von Rio flattert, bleiben die Passanten angesichts dieses “blauen Wunders” andachtsvoll stehen. Einige meinen: Er brauche diese Aufmerksamkeit – nur deswegen wage er sich gelegentlich aus der grünen Höller heraus bis in den Großstadtschungel.

Reichholfs “Dschungelbuch” zur Rettung des tropischen Regenwaldes hatte für sich genommen bisher wenig Erfolg: Noch immer werden tausende von Hektar tropischer Regenwald täglich gerodet oder sonstwie zerstört (50% sind es bereits). Aber auch die Basispolitik – die regionalen Selbstverwaltungsversuche vor Ort – der Zapatistas im Lacandonischen Urwald von Chiapas ist anscheinend erst einmal ins Stocken geraten. In ihrer letzten “Erklärung aus den Bergen/Wäldern des mexikanischen Südostens” heißt es am Schluß: “Nach unserem Ermessen und dem, was wir in unserem Herzen sehen, sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir nicht weiterkommen können, und an dem wir außerdem alles verlieren könnten, was wir haben, wenn wir so bleiben, wie wir sind und nichts mehr tun, um weiter fortzuschreiten. Das heißt, dass der Moment gekommen ist, wieder alles zu riskieren und einen gefährlichen Schritt zu wagen, der es aber wert ist. Denn vielleicht können wir vereint mit anderen sozialen Sektoren, die unter den gleichen Entbehrungen wie wir leiden, das erreichen, was wir brauchen und was wir wert sind. Ein neuer Schritt nach vorn im indigenen Kampf ist nur möglich, wenn sich der Indígena zusammenschließt mit den Arbeitern, Bauern, Studenten, Lehrern, Angestellten … also mit den Arbeitern aus Stadt und Land.” (- Mithin also durch noch umfangreichere Symbiosen.). Kurz danach schlossen die Zapatistas alle legalen Stützpunkte und zogen sich in den Untergrund zurück. Von dort aus wollen sie jedoch (vorerst) nicht wieder zu den Waffen greifen, sondern eher in sich gehen – und ihre Organisation, die EZLN, eventuell für “oppositionelle Organisationen” nicht-indigener Bevölkerungsgruppen öffnen. Die “Le Monde Diplomatique” spricht von einem angestrebten “Schulterschluß der Linken”. Man fragt sich, ob sie damit aus einer “Minderheit”, die sie sind und die laut Deleuze/Guattari allein revolutionär sein kann, eine “Mehrheit” machen wollen? Und ob dies auf das “alte europäische Baumdenken” hinausläuft – dem Deleuze/Guattari ein rhizomatisches bzw. myzelisches Denken gegenüber stellten.

In diesem Zusammenhang sei abschließend nur noch erwähnt, dass der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp kürzlich im Berliner Naturkundemuseum einen Vortrag über Darwins “Stammbäume” hielt, in dem er nachwies, dass es sich dabei eher um “Korallen” handelte, die dem Evolutionstheoretiker seinerzeit bei der Skizzierung seiner Abstammungslinien vor Augen standen. In Reichholfs “Dschungelbuch” gibt es dazu bereits einen “Seitenblick ins Korallenriff”, dessen Artenvielfalt ebenfalls entgegen weit verbreiteter Ansichten Resultat eines extremen Nährstoffmangels ist. Noch radikaler als diese beiden deutschen Wissenschaftler hat die amerikanische Zellbiologin Lynn Margulis das europäische Baumdenken in Frage gestellt: Nach ihr ist nicht der Mensch und auch nicht der Pilz die (Baum-)”Krone der Schöpfung”, sondern die Bakterie.

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kommentare

  • 1. Коктейль “ЕРШ” – бутылка пива+чекан водки, выпиваете полбутылки пива, доливаете чекушку, взбалтыаете , пьете. если успеете допить.
    2. траву мешайте с табаком, не время транжирить продукт. ну и про “химку” не забываем
    3. клинское тоже можно пить, в общем.
    4. сигареты петр 1 содержат больше никотина чем ваш любимый кент
    5. в метро лучше покупать билет на 20 поездок, он дешевле.

  • Творчество рок группы Led Zeppelin.
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  • Каждый из Вас в силах помочь детям!
    Each of you to help with forces to children!
    Jede von Ihnen in den Kraften, den Kindern zu helfen!
    Chacun de vous dans les forces a aider les enfants!
    Cada uno Ud en las fuerzas ayudar a los ninos!

    http://www.alikas74.narod.ru

  • Der Nährstoffkreislauf im Tropischen Regenwald

    Im feuchten und warmen Klima des Tropischen Regenwaldes verwittern die Gesteine sehr tiefgründig (=chemische Verwitterung). Oft erreicht man das feste Gestein erst in 50 bis 100 m Tiefe. Die oberen Bodenschichten bestehen hauptsächlich aus Ton und feinem Sand und enthalten somit kaum Nährstoffe. Die täglichen Regenfälle haben diese im Laufe der Zeit nämlich tief in den Untergrund transportiert. Dazu kommt noch ein ganz entscheidender Nachteil: die Böden im tropischen Regenwald können im Gegensatz zu unseren Böden keine Nährstoffe speichern!
    Wie ist es aber zu erklären, dass auf nährstoffarmen Boden ein derart üppiger Wald entsteht? Die Humusschicht im Urwald ist nur dünn. Feuchtigkeit und Wärme fördern den raschen zerfall abgestorbener Pflanzen. Unzählige Kleinlebewesen und Insekten bewirken, dass Blätter, Äste, Früchte und umgestürzte Bäume schnell zersetzt werden. Die Nährstoffe aus den verwesenden Pflanzen gelangen allerdings nur in die obersten 15 bis 30 cm dicken Bodenschichten. Hier werden sie von den flachen Wurzeln der Pflanzen sofort wieder aufgenommen. So entsteht ein ständiger Nährstoffkreislauf, bei dem der Boden fast keine Rolle spielt.
    der Regenwald lebt also aus sich selbst heraus. Er wächst nicht aus dem Boden (wie in Mitteleuropa), sondern auf dem Boden: ein reicher Wald auf armer Erde!
    Der größte teil der Nährstoffe steckt in den Pflanzen. Nun ist es auch verständlich, warum die Urwaldpflanzen nur flache Wurzeln haben. Diese erreichen selten mehr als 50 cm Tiefe. Besondere Bedeutung für den Nährstoffkreislauf haben bestimmte Wurzelpilze, die sogenannten Mykorrhizen. Sie umschließen die feinen Wurzeln der Bäume als dichtes Geflecht. So wirken sie wie Nährstofffallen. Die Wurzelpilze nehmen alle erreichbaren Nährstoffe auf und leiten sie direkt an die Wurzeln der Pflanzen weiter.

  • Von Mona Filz (Berlin), Litauenforscherin:

    also, die waldmenschen, da gibt es diese huebsche grafik, die ich gleich fuer die spichki gecovert habe, von dem kleinen wohnzimmer, das unter dem waldboden eingerichtet war. da haben sich die partisanen verschanzt. 1948 und vielleicht auch spaeter noch wurden die dann von der roten armee nach sibirien geschickt, wenn man ihrer habhaft werden konnte oder sie nicht vorher erschossen hat.

    das waren sehr seltsame leute, im kgb-museum in vilnius kann man die dokumentation sehen. einerseits haben sie dafuer gekaempft, dass ihr land frei bleiben soll vom zugriff der roten armee, andererseits haben sie sich wohl schon an den deutschen orientiert, einer von ihnen wurde hitleris genannt, das ist schon krass, diese daten werden unkommentiert im kgb-museum verbreitet, so dass man als unvorbereiteter besucher denken muss, die litauer fanden die faschisten bewunderungswuerdig. es gibt auch zeitzeugen, die behaupten, dass die waldmaenner, die litauischen partisanen, schlimmer als die deutschen gewesen seien. einer der hauptpunkte, warum die geschichtsschreibung am baltikum ueberall aneckt und man sich was neues an argumentationen einfallen lassen muss. schlimme fotos gibts da auch zu sehen, echter hass auf allen seiten.

  • Auf eine ganz besondere Weise lernten die Deutschen auf ihrem Ostfeldzug den Wald kennen, der ihnen mehr und mehr zu einer tödlichen Bedrohung wurde, denn die Partisanen in den Wäldern erweiterten ihren Aktionsradius sukzessive zu “befreiten Gebieten”, die teilweise mehrere tausend Quadratkilometer umfaßten. Schließlich “beherrschten” die Deutschen fast nur noch die Eisenbahnlinien und einige wenige Straßen, und auch diese Strecken wurden laufend aus den sie umgebenden Wäldern angegriffen. Noch heute haben die Deutschen “großen Respekt” vor den osteuropäischen Wäldern. Es gibt ganze Seniorenreisegruppen – am Baikalsee beispielsweise, die vor allem wegen dieses “Schauers” dorthin reisen, der sie angesichts oder inmitten sibirischer Wälder überfällt. Das gilt sogar noch für die Enkel.

    Die letzten versprengten Landser gingen jedoch selbst in die Wälder, wo sie sich zu antikommunistischen Partisanen mauserten.In Litauen nannte man sie “Waldmenschen” Der Roten Armee gelang es erst in den Fünfzigerjahren, sie zu liquidieren, ihre Kinder nannte man “Wolfskinder”. Über sie schrieb Ruth Kubelka ein Buch – mit dem Untertitel “Grenzgänger an der Memel”, das 1999 im Berliner Basisdruck-Verlag erschien. Über die “Waldmenschen” gibt es einige Schilderungen von litauischen Schriftstellern, deren Kriegs- und Nachkriegsromane in der DDR übersetzt wurden. Neuerdings geht dort die Beschäftigung mit ihnen schnell in “Werwolf”- und “Wolfsmenschen”-Phantasien über.

  • Ein “Film about a Forest”

    Der geographische Mittelpunkt der Sowjetunion befindet sich westlich des Flusses Jenissei zwischen dem Öl- und Gaszentrum Nischniwartowsk im Südwesten und der Hafenstadt Dudinka im Nordosten. Er liegt am Fluß Tas im Heiligen Hain des kleinen Volkes der Selkupen. Hier beginnt der Film der nenzischen Anthropologin Anastasia Lapsui und des finnischen Försters Markku Lehmuskallio: “Uhri – die Opfergabe” . Er unterscheidet sich wesentlich von den meisten anderen “Sibiriensia” – erst einmal dadurch, daß die beiden Filmemacher es augenscheinlich nicht eilig hatten, schnell wieder in ihr gemütliches Zuhause zurückzukehren. Sie haben sich ordentlich Zeit genommen. Das klingt selbstverständlich, ist es aber (nicht nur in Sibirien) nicht, zudem legt Lapsui auch nach diesem “film about a forest” noch Wert auf die Feststellung, daß die Taiga – der Wald – für Tundra-Nenzen eigentlich beunruhigend und unheimlich ist. Alle sibirischen Völker glauben an eine beseelte Natur, den Nenzen beispielsweise ist der Wald “zu voll”. Und auch sogar die Taiga-Selkupen am Fluß Tas schützen ihren fest bebauten Sommerplatz mit einem Holzzaun vor Waldgeistern, sie wollen wenigstens temporär “raus” aus der sibirischen Taiga. Das Reinfinden dauert – und ist darüber hinaus ein dem Auge verborgener Vorgang. Denkbar schwierig für den Filmer also. Auch wenn er, wie Markku Lehmuskallio, weiß: “Wenn ich einen Moment filme, fühle ich, daß ich etwas Unsichtbares festhalte.” Diese Schußversuche (im Englischen kommt das Filmen – Shooting – aus der Jägersprache) bedeuten, da es sich gezielt um eine Ethnographie von Jägern handelt, daß die Bild- und Tonschützen, die beiden Filmemacher, sich der Erfahrung einer “generationenübergreifenden Kontinuität” vergewissern. Immer wieder schauen sie dem Jäger und Fallensteller ins Gesicht und gucken, wie er in den Wald guckt, reinhorcht. Und so wie die Selkupen sich an ihren heiligen Plätzen für all das bedanken, was der Wald ihnen “gab” – Elche, Auerhühner, Bären, Zobel, Hechte und andere Fische, dazu Beeren sowie Feuerholz – so ist auch dieser Film in gewisser Weise das Abtragen einer Dankesschuld: eine Gegen-“Gabe”, dessen einzelne Teile “Platzwechsel”, “Zivilisation”, “Freizeit”, “Eine Tragödie” usw. heißen. Sie werden von Liedern zusammengehalten. Eins – über das Hosenflicken – singt die Selkupen-Mutter, während sie eine Hose flickt. Es geht so: “Ich lebe mit meinen leisen Liedern/ Mit leisen Liedern flicke ich die zerrissene Hose meines Sohnes/ Mein Sohn, der einem Schwan ähnelt/ Zerreißt immer wieder seine Hose/ So schnell, daß ich keine Worte dafür finde…” Wir verstehen, was sie singt, aber was das Lied wirklich bedeutet, das wissen nur die Selkupen selbst – meint Markku Lehmuskallio. Ja, es muß noch viel getan werden, um alle Geheimnisse der sibirischen Wälder – wenigstens die der Selkupen mittendrin – zu verraten!

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