vonHelmut Höge 02.08.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Jeden Morgen beim Post Einsortieren werde ich mit dieser Alternative konfrontiert: Die einen gehen an ihr Redaktions- bzw. Abteilungsfach und nehmen den ganzen Stapel Briefe, Bücher und Zeitungen mit, die anderen suchen sich nur das raus, was sie brauchen – und überlassen die restliche Post einem Redaktionsassistenten oder Praktikanten: soll der oder die sich doch mit dem Papierberg abquälen.

Neulich vermeldeten plötzlich alle deutschen Intelligenzblätter unisono: “Schimpansen verhalten sich altruistisch!” Was war da geschehen – oder Neues entdeckt worden?

Seit über 100 Jahren beweisen die Naturforscher nun schon, dass bei den Mikroorganismen ebenso wie bei den Pflanzen, Tieren und Pilzen die Kooperation und Assoziation, die Gemeinschafts- und Koloniebildung…eine überaus wichtige Rolle spielen. Zur selben Zeit wie der russische Anarchist Peter Kropotkin seine wunderbare Sibirienforschungen und zugleich Geschichtsbetrachtung über “Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt” veröffentlichte (in dem er bereits vorhersagte, dass man das Prinzip der “Mutual Aid” mit fortschreitender Mikrokopietechnik sogar unter den Bakterien finden werde), formulierten die russischen Botaniker – u.a. Mereschkowsky, Famintsyn und Kozo-Polansky – bereits eine erste “Symbiosetheorie”: Danach bestehen chlorophyllproduzierende Pflanzenzellen aus mehreren Einzellern, die sich zusammengetan haben, Flechten sind nichts anderes als eine Kooperation aus Algen und Pilzen usw.. Inzwischen gehört die daraus hervorgegangene “serielle Endosymbiontentheorie” der US-Zellforscherin Lynn Margulis längst zum Lehrkanon – und fast täglich wird irgendwo eine weitere oder sogar ganz frische Symbiose irgendwo in der “freien Natur” entdeckt. Selbst bei unseren männlichen Samenzellen haben sich wahrscheinlich einst zwei Organismen zusammengetan – um gemeinsam schneller ans Ziel zu kommen.

Bereits in den Siebziger- und Achtzigerjahren war das westdeutsche Wissenschaftsmagazin “Spektrum” voll von solchen “Symbiose”-Entdeckungen. Und in der DDR war diese Theorie aufgrund ihrer Orientierung an der sowjetischen Forschung sowieso immer präsent gewesen. Diese (Be)funde überraschten höchstens die konventionell-darwinistische Molekularbiologie selbst (vor allem im Westen), denn Darwins “bittere Ironie”, wie Marx das nannte, hatte ja gerade darin bestanden, dass er die asozialen Verkehrsformen der englischen Geschäftswelt auf die gesamte Natur und ihre Geschichte projizierte (Jeder gegen jeden). Man könnte es das “Down”-Syndrom nennen – nach Darwins Domizil.

Die davon ausgehende genetische und zellbiologische Forschung bewies dann aber – quasi gegen ihren Willen – immer zwingender das Gegenteil: Ohne Sozialismus läuft schier gar nichts unter den Lebewesen – und das weit über die Artgrenzen hinaus; also keine evolutionäre Entwicklung ohne Solidarität und Kollektivität. Nicht wenige Forscher halten inzwischen auch die Körperorgane für Reste einer Symbiose zwischen einst freien Mikroorganismen – wobei der eine sich vom anderen “vereinnahmen” oder “verstaatlichen” bzw. “versklaven” ließ und dabei seine Autonomie verlor – zugunsten einer größeren Nahrungssicherheit. Ja, die ganze Erde mitsamt ihrer Atmosphäre wird bereits als ein zusammenhängender Organismus begriffen: in der so genannten “Gaia-Hypothese”, die auf die ebenfalls über 100 Jahre alte Biosphärentheorie des russischen Wissenschaftlers Wernadsky zurückgeht. Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari machten daraus zuletzt in ihrer “Schizo-Analyse” ein revolutionäres Werden “organloser Körper”, die sich nomadisierenderweise immer wieder anders zusammenraufen – das geht bis hin zur Mimikry auf Gegenseitigkeit.

Jetzt ist die Theorie (in den unterschiedlichsten Abschwächungen und Überspitzungen) fast schon der neueste Schrei der Biologen, wobei sie weiterhin in ihren “Labs” nach den “Logarithmen des Lebendigen” fahnden. Den altmodischen Erforschern des Lebens war es dagegen schon immer um “Das soziale Leben” (in Heuschrecken- und Heringsschwärmen, Bienen- und Termitenstaaten, in Brut- und Jagdgemeinschaften, Herden und Meuten, Familien und Gruppen Gleichaltriger) gegangen. Der Kieler Meeresbiologe Adolf Remane begann sein 1960 veröffentlichtes Buch über den damaligen Stand dieser Biosoziologie mit dem Eingeständnis, dass “das soziale Zusammenleben den Menschen große Schwierigkeiten bereitet”. Die Tiere haben also anscheinend sogar weniger Probleme damit! Das war auch schon dem “ersten Naturwissenschaftler” Aristoteles (vor 2300 Jahren) aufgefallen. Als Beweis hatte er u.a. die vielen “Reisegruppen” erwähnt, in der man sich wegen jeder Kleinigkeit streitet. In Summa ergab dieser doppelte Zugriff der Biologen, Zell- wie Verhaltensforscher, auf den “Altruismus” ein schönes Gegengewicht zur deduktionistischen Evolutionstheorie und zur neoliberalen Ideologie, in der eher die Asozialität betont wurde – und wird.

So berichtete z.B. gerade die Studentin Jana aus einem Betriebswirtschafts-Seminar an der Viadrina in Frankfurt/Oder: “Neulich sagte der Professor zu uns: ‘Wenn ich andern Gutes tue, tu ich mir selbst nichts Gutes…’ Und das haben alle brav mitgeschrieben!” Regelmäßig werden heute “Ranking”-Listen mit den “besten Universitäten” veröffentlicht. Aber je höher es die Studierenden zieht, desto mehr handelt es sich bei den Hochschulreifen um moralische Kretins. Den Gipfel an Verkommenheit bildet immer noch die Universität Harvard in Massachusetts aus. Harvard ist für die allgemeine Herzensbildung und ungefähr das selbe, was Tschernobyl für die Umwelt darstellt: eine schwere Belastung. Dies hängt ebenfalls mit dem Ranking (der US-Universitäten) zusammen, das die Höhe der Studiengebühren bestimmt. Mittlerweile gibt es wahrscheinlich keine erfolgreichen Massenmörder, Mafiosi, Gangster, Waffenhändler, Rauschgiftschieber und korrupte Politiker mehr – weltweit, die ihre Töchter und Söhne nicht nach Harvard schicken – um sie zu veredeln und verfeinern. Für diese sauberen Sprößlinge gibt es dort dann nur noch ein Verbrechen: das Kooperieren. Die “Competition” wird in Harvard derart groß geschrieben, daß die Studenten untereinander nicht einmal andeuten mögen, was sie denken oder an welcher “Thesis” sie gerade arbeiten – aus Angst, man könnte ihnen ihre blödsinnigen Ideen klauen. Denn sie denken natürlich alle den selben Scheiß: Noch mehr Spaß haben – über die Karriere und/oder ein blendendes Aussehen. Was an deutschen Unis immer noch gefördert wird, die Gruppenarbeit, kann in Harvard sogar disziplinarische Folgen haben, wenn sie auffliegt. Im Endeffekt hat sich diese vollkommen asoziale Elite zu dem gemausert, was man jetzt auch hier der Unterschicht zumuten möchte: Sie bilden einen wüsten Haufen “Ich-AGs”.

Wollten die Feuilletons der Intelligenzblätter da neulich synchron (nicht koordiniert!) gegensteuern – mit ihrem Affen-Altruismus als schwachen Begriff. Fast in jedem Artikel wurde nämlich von der Schimpansenforschung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (EVA) im Leipziger Zoo sofort auf ein, zwei, drei Beispiele brav-bürgerschaftlichen Engagements in unserem Alltag geschlossen – oder auch umgekehrt. Dem linksliberalen Feuilleton ist das langsame Fading-Away “des sozialen Lebens der Menschen” wohl auch unheimlich geworden, dachte ich zuerst. Bis ich einen der Artikel gründlich las: So selbstlos sind sie dann doch nicht! Die Schimpansen – ebenso wie die Menschen: Sie scheinen sogar eine natürliche Abneigung gegenüber dem Altruismus – als starken Begriff – zu haben, und rotten sich insofern auch wohl nicht so leicht gegen die da oben zusammen. Aber bei einfachen kleinen “Erste Hilfe”-Aktionen kooperieren sie dann doch schon mal gerne!

Diese allseits beruhigende “Meldung” aus dem bereits seit Jahrzehnten mit Schimpansen forschenden Leipziger “Thinktank” der Wissenschaftler und Tierpfleger wäre nie so in so viele, schier selbstgleichgeschaltete Feuilletons gelangt, wenn sie nicht zuvor das US-Magazin “Sciene” veröffentlicht hätte. Die Leipziger hatten es damit geschafft: bis in das renommierteste Wissenschaftsorgan der Welt rein zu kommen! Das war die Botschaft, der Tenor vielleicht von ganz Leipzig, dessen naturwissenschaftliche Abteilung neuerdings als “Bio-City” firmiert. Gleichzeitig zwingt die Max-Planck-Gesellschaft alle ihre Mitarbeiter, nur noch auf Amerikanisch zu veröffentlichen.

Diesem angewandten Sozialdarwinismus gegenüber fiel es keinem einzigen Feuilletonisten (als Comrad in Crime) ein, den wiederentdeckten “Leipziger Altruismus” beispielsweise mit dem berühmten Jerusalemer Ornithologen Amoz Zahavi als “Handicap” abzutun. Dessen Überlegungen anhand von Beobachtungen wilder Vögeln (und nicht an zahmen, dazu noch verwaisten Schimpansen) veröffentlichte bereits die von Birgit Breuel geleitete “Expo 2000” in Hannover – im Kontext eines Katalogs über “Hyperorganismen”. Zahavis Text fungierte darin als eine Art radikale Gegenposition zu einem Beitrag von Margulis, die ihr Forschungsmodell “Symbiose” über fast alles Lebendige stülpt – wobei sie folgerichtig auch laufend neue Arten bzw. Individuen entdeckt, die sich zusammengetan haben.

Zahavi, der sich insbesondere mit der “Hilfe beim Nestbau und beim Füttern von Lärmdrosseln” beschäftigte, sowie auch mit dem “angeblichen Altruismus von Schleimpilzen”, hat dabei zwar nichts Neues entdeckt, aber er interpretiert diese fast klassischen Fälle von Kooperation nun einfach in “ein selbstsüchtiges Verhalten” um, das er dann mit Darwinscher BWL-Logik durchdekliniert: “die Individuen wetteifern untereinander darum, in die Gruppeninteressen zu investieren…Ranghöhere halten rangniedere Tiere oft davon ab, der Gruppe zu helfen.” Es ist von “Werbung”, “Qualität des Investors” und “Motivationen” die Rede. Zuletzt führt Zahavi das Helfenwollen quasi mikronietzscheanisch auf ein egoistisches Gen zurück, indem die “individuelle Selektion” eben “Einmischung und Wettstreit um Gelegenheiten zum Helfen” begünstige – der “Selektionsmechanismus” aber ansonsten erhalten bleibe. Na, dann ist ja alles in Ordnung! Aber ob man damit den Neodarwinismus retten kann?

Interessant fand ich jedoch die dabei von ihm erwähnte Beobachtung an Pinguinen, bei denen sich manchmal alleingelassene Jungvögel vor ihren vielen männlichen Helfern, die sie partout wärmen und beschützen wollen, geradezu fluchtartig in Sicherheit bringen müssen, um nicht von ihnen erdrückt zu werden…

Aber das wußten wir auch schon: dass unsere ganzen Helfer – Sozialarbeiter, NGOs und Hilfs- und Beratungsvereine – sich zumeist von niedrigen Motiven leiten lassen. Wobei bisher kein vernünftiger Mensch daran gedacht hat, diese auch gleich noch bei den “niederen Arten” dingfest zu machen – im Gegenteil: Je höher die Entwicklung der Natur, desto weniger Kultur! Auch dazu hat die neuere Zellforschung Erhellendes beigesteuert: Die Bakterien z.B. hatten 3,5 Milliarden Jahre mehr Zeit als wir, aus ihrer Biomasse erst einen Biofilm und schließlich ein stabiles Soziotop zu machen. Manche Biologen meinen sogar, dass wir – die Säugetiere – unsere ganze Existenz bloß ihnen zu verdanken haben: Damit sie – die Bakterien – immer ein ausreichendes Nährmedium zur Verfügung haben. – Und das könne man nun wirklich “Intelligent Design” nennen.

Der publizistische Erfolg der Leipziger Altruismusforscher rief sofort weitere Wissenschaftler auf den Plan, um ebenfalls einen Fuß in die UA-Renomeezeitschriften rein zu kriegen. Bisher ging die “Science”-“Nature”-Forschung absurderweise davon aus, dass der Altruismus nur dem Menschen eigen ist – eine Kulturleistung sozusagen, denn ansonsten herrsche unter den Lebewesen ein wüstes Hauen und Stechen (Competition). Dabei gilt dies im Gegenteil eher für angeloamerikanisierte Gesellschaften, wo sogar die “Gewerkschaft” ein schmutziges Wort ist, das man in Gegenwart von Vorgesetzten nicht in den Mund nehmen darf (siehe dazu Barbara Ehrenreichs Buch “Working Poor”). Deswegen erfand man dort auch das Survival of the Fittest – als einzig wahres Lebensprinzip von freien Bürgern, das Darwin dann laut Marx auch gleich noch in die ganze Natur projizierte. Später brachte Marx dies auf den Gedanken: “”Das Geheimnis des Adels ist die Zoologie.” Er spielte damit auf dessen saubere Stammbäume an, die so sehr den Abstammungslehren der Evolutionsforscher glichen.

Jeder Herrschaftsform ist jedoch daran gelegen, sich als von Gott gesandt bzw. als “naturgegeben” darzustellen. Auch die Bourgeoisie beruft sich immer wieder gerne auf die Natur und naturalisiert damit ihren Machtanspruch. Das reicht von “Es gibt eben solche, die befehlen und sone, denen man befehlen muß” – bis zur modernen bereits von den faschistischen Rasseforschern strapazierten Genetik, die noch oder schon wieder auch für Lehrer attraktiv ist, weil sie sich anders die Verstockheit und Faulheit mancher Schüler nicht erklären können oder wollen. Roland Barthes hat dieses “Bemühen” in seinen “Mythen des Alltags” thematisiert, es geht darin um einige subtile Analysen der Sinnprozesse, mit deren Hilfe die Bourgeoisie ihre historische Klassenkultur in universelle Natur verwandelt. Die Bourgeoisie verewigt sich und ihre Produktionsverhältnisse, indem sie permanent Geschichte in Mythos einmünden läßt. Der Mythos verschleiert nichts. Die Widersprüche bleiben durch das Herstellen naturalisierter Kausalzusammenhänge gerade durch ihre Benennung verdeckt. Aufhebung oder Verdeckung funktionieren über mythologische Zusammenhänge und Naturalisierungen.

“Der Mythos leugnet nicht die Dinge, seine Funktion besteht im Gegenteil darin, von ihnen zu sprechen. Er reinigt sie nur einfach, er macht sie unschuldig, er gründet sie als Natur und Ewigkeit, er gibt ihnen eine Klarheit, die nicht die der Erklärung ist, sondern die der Feststellung”. Ich habe so etwas noch in meinem amerikanisch gereinigten Nazi-Biologie-Lehrbuch in den Fünfzigerjahren schlucken müssen: Neben einem Schema der Mendelschen Erbsengesetze befand sich dort ein Stammbaum der Familie Bach, um uns klar zu machen, dass die Erbsenblütenfarben genauso vererbt werden wie die Musikalität in der Bachsippe. Alles ist in den Genen festgelegt. Warum sollen wir uns dann überhaupt noch groß anstrengen? fragten wir. Auch die Anstrengung wird vererbt, bekamen wir zur Antwort.

Die so großartig gewürdigte Leipziger Affen-Altruismusentdeckung ließ u.a. den Tübinger Entwicklungsbiologen keine Ruhe: Der Hypothese des Anarchisten Fürst Kropotkin folgend, wonach man mit fortschreitender Mikroskopietechnik auch im bakteriellen Bereich ganz viel “gegenseitige Hilfe” (Gewerkschaften) finden werde, entdeckten nun auch sie den Altruismus – diesmal für die US-Zeitschrift “Nature” – neu: und zwar bei den im Erdboden lebenden Myxobakterien. Wie in einem schlechten Hollywoodfilm, d.h. wie im globalisierten Neokapitalismus gewinnen die Egoisten unter ihnen (die sich nicht zusammenschließen, um sich selbstlos fortzupflanzen), immer mehr an Boden – bis, ja bis kurz vorm Ende der ganzen schönen Bakterien-Kultur (die Forscher sprechen von einem “evolutionären Selbstmord”) wieder die Altruisten sich – einem “Phönix” gleich – erheben und schließlich obsiegen. Durch aufopferungsvolles Kinderkriegen (Sporenbilden)!

Die neodarwinistischen Tübinger machen dafür natürlich keine “Kommunikation” oder Kooperation verantwortlich, sondern ganz dumpf WASP-materialistisch ein vom Phönix-“Stamm” produziertes Enzym namens “Acetyltransferase”, das sich selbstredend einer Gen-“Mutation” verdankt. Während die FAZ kurz und gelassen blieb (mit Sporenfarbphoto), projizierte das Internetmagazin “Telepolis” diese Altruismus-Entdeckung unter Bakterien, die leider nichts anderes tut, als den (antidarwinistisch) ausufernden Symbioseforschungen der US-Zellbiologin Lynn Margulis ein neues physikalisch-chemisches Korsett zu verpassen, geradezu euphorisch – in einer Rezension – auf die menschliche Gesellschaft (zurück): “Das soziale System hat also letztendlich vom Kontakt mit den Betrügern (den Egoisten) profitiert und gelernt, sich zu verbessern.” Wir – ein lernfähiges System, jedenfalls wenn Profit lockt!

Nun war aber wieder “Science” dran: Auch Erdmännchen sind zu altruistischem Verhalten fähig, fanden Zoologen der Universität Cambridge per Beobachtung und Experiment heraus – und “Telepolis” griff die “Science”-Meldung darüber auch sofort auf: “Erdmännchen sind gesellige Tiere, die in Kolonien leben (u.a. in der Kalahari-Wüste). Alle Mitglieder beteiligen sich an den sozialen Aufgaben und der Nachwuchsbetreuung, egal, ob verwandt oder nicht .”
Der Molekulardarwinist Theodosius Dobzhansky meinte einmal: “Alle Lebewesen sind einzigartig, aber der Mensch ist einzigartiger”. Dies kann inzwischen als globales Vorurteil gelten.

Noch einmal zurück zu den Leipziger Schimpansen: Die dortigen Versuchstiere helfen sich wie erwähnt gelegentlich ganz uneigennützig, wenn auch nur jeweils kurzfristig. Fast alle deutschen Feuilletons schlugen darüber sogleich Brücken zu Beispielen bürgerlichen Gemeinsinns wie “Omas-über-die-Straße-helfen”, “Blut spenden” etc.. Menschen und Schimpansen sind genetisch zu 98% identisch. Gemeinsam ist ihnen auch der Hang, immer mal wieder über Artgenossen herzufallen und sie zu töten. Außerdem die Fähigkeit, gewisse Dinge als Werkzeuge zu benutzen und wahre Kunstwerke zu schaffen. Im vergangenen Jahr wurden in London neben Bildern von Kokoschka und Warhol erstmalig auch drei abstrakte Gemälde von einem Schimpansen namens Congo versteigert – für 21.500 Euro. Congos Lehrer und Manager, der Verhaltensforscher Desmond Morris, war jedoch davon überzeugt, dass dem Menschen die Zwergschimpansen – Bonobos – näher stehen: Sie sind nicht aggressiv, sondern ausgesprochen sozial, teilen sich alle vorhandenen Lebensmittel und vögeln oft und gerne durcheinander. Als Künstler taugen sie jedoch nichts. Das alles unterscheidet sie erheblich von den Menschen und Schimpansen. Aus der Perspektive der Bonobos wäre es sogar erlaubt, von Menschen und Schimpansen als einem “unintelligent design” bzw. einer nahezu identischen “Conditio” (Schöpfung, Bedingung) zu sprechen: einer condition chimpanzée.

Letzteres läßt an einen Roman von André Malraux aus dem Jahr 1933 denken: “La condition humaine”; in der DDR 1955 unter dem Titel “So lebt der Mensch” erschienen. Er handelt vom Aufstand (eigentlich waren es drei) in Shanghai 1927. Es geht Malraux darin aber um mehr als die “Erhebung des Proletariats”: Seine “Helden bewegt die Frage nach einer sinnvollen Existenz”. In der aus dem Osten übernommenen West-Ausgabe heißt es dagegen idiotischerweise im Klappentext: “In diesen Kämpfen zeichnet sich bereits ab, was zur heutigen Lage in China geführt hat: daß die Kommunisten eines Tages den Spieß umdrehen und über ihre Gegner triumphieren würden.” Darüberhinaus werden mit “großem, nervösen Atem…die menschlichen Positionen umrissen.”

1928 war der Shanghaier Aufstand bereits Gegenstand heftiger Diskussionen in der Moskauer Komintern-Zentrale gewesen. Die Ergebnisse fanden Eingang in das Lehrbuch “Der bewaffnete Aufstand”. Erich Wollenberg, der zur Neuherausgabe 1971 in der BRD (sic!) als ehemaliger Mitautor ein Vorwort beisteuerte, wußte zum Kapitel über den Shanghaier Aufstand nur zu sagen, es sei im Generalstab der Roten Armee verfaßt worden. Interessant daran sei: Trotz der damals bereits begonnenen Repressalien gegen die “Trotzkisten” wird in diesem Kapitel ein Tagesbefehl Trotzkis zitiert (mit Namensnennung), der eine Kritik an Stalin enthält.

Die Stalinsche Kominternpolitik in China hatte dazu geführt, daß die proletarische Basis der dortigen KP in den Städten nach den Shanghaier Aufständen fast vernichtet war und die Partei sich auf dem Land neu sammeln mußte, wo sie sich – Mao folgend – stärker auf die bislang von ihr vernachlässigten Bauern stützte. Dies hatte auch bereits Ho Chi Minh in seinem Beitrag für das Aufstands-Handbuch nahegelegt, der explizit die Bauernfrage im Falle eines Aufstands behandelte – vor allem in noch agrarischen Gesellschaften.

In Malrauxs Roman “La Condition Humaine” geht die Ärztin May, die im Gegensatz zu ihrem Intellektuellen-Freund Kyo den dritten Shanghaier Aufstand überlebte, zuletzt nach Moskau, um sich dort von der Komintern für den nächsten Aufstand schulen zu lassen. Im Nachwort zur DDR-Ausgabe meint die Autorin Brigitte Ständig (deswegen): Dieses Werk bilde den Höhepunkt in Malrauxs “Aktionsschritstellerei” (zuvor hatte er bereits in “Les Conquérants – Die Eroberer – den Kantoner Aufstand thematisiert), danach sei Malraux mehr und mehr zu einer “anarchistischen Revolutionsauffassung” gelangt – und dies bereits in seinem darauffolgenden Roman – über den spanischen Bürgerkrieg: “L’Espoir” – die Hoffnung. Weil aber in seinem Buch über die Shanghaier Aufstände von 1927 die Auseinandersetzung zwischen Kyo und dem Vertreter der Komintern Wologin “den Kulminationspunkt der politischen Problematik” bilde – und Wologin von Malraux mit “physischen Attributen” ausgestattet sei, “die beim Leser Antipathie erwecken”, könne man sagen, dass der Autor auch in “La Condition Humaine” noch zwischen einem “rationalen Verständnis für die historische Situation” und einem “emotionalen Hang zu revolutionärem Romantizismus” schwankte.

Egal, wie die Literaturkritik hier herumkurvte – es geht um einen Aufstand. Und dieser ist sozusagen der Lackmustest eines Volkes, einer Klasse, einer Nation etc.. Denn dabei entscheidet sich: Handelt es sich um bloßen Menschenstaub, um einen “Haufen Sandkörner”, wie Mao tse tung die chinesische Gesellschaft vor der Revolution abfällig nannte, oder sind die Menschen noch zu kollektivem Handeln fähig, also bereit und in der Lage, sich über den stummen Zwang ihrer ökonomischen Verhältnisse zu erheben – d.h. Widerstand gegen ihre Verelendung  zu leisten und sich dafür zu organisieren?

Die heutige Biologie/Genetik tut alles, um diese Frage gar nicht erst hochkommen zu lassen. Täglich werden neue Gene isoliert: Es gibt schon das Neid-, Geiz-, Eifersuchts-, Habsuchts- und Depressions-Gen, ja sogar ein jüdisches Intelligenz-Gen. Dieses haben neulich irgendwelche idiotischen Molekularbiologen aus Utah (sic) quasi dingfest gemacht – wenn auch erst einmal nur durch Uminterpretation eines bereits bekannten jüdischen Gendefekts.

Komplett durchgeknallt sind inzwischen die Gehirnforscher: “Kaum ein Verlag, der in der Sparte Sinnstiftung auf sich hält, hat in den letzten Jahren nicht wenigstens einen Band auf den Markt gebracht, dessen Titel sich aus einer noch nicht Copyright-geschützten Kombination der Wörter Gehirn, Geist, Neurowissenschaft, Freiheit und Philosophie zusammensetzt und in dem Gehirnforscher und Geisteswissenschaftler, wie es so schön heißt, miteinander in den Dialog treten,” schreibt Lars Quadfasel in einer “konkret”-Rezension von gleich neun solcher Machwerke. Ich habe mir nur eins zu Gemüte geführt: “Das Gehirn und seine Freiheit” aus dem Verlag Vandenhoek & Ruprecht:

Die großteils berufsphilosophischen “Beiträge zur neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie” stellen mit diesem Untertitel bereits den Materialismus von den Füßen wieder auf den Kopf, indem sie in ihrem Sammelband “Das Gehirn und seine Freiheit” mit Zitaten aus allerlei Philosophiegeschichte zu beweisen suchen – nicht etwa, dass die ganze Erkenntnisentwicklung an unsere “Praxis” – verstanden 1. als Lebensprozeß der Gesellschaft, 2. revolutionäre Aktion, 3. Industrie im engeren Sinne und 4. naturwissenschaftlich-technisches Experiment – gebunden ist, sondern sich quasi unmittelbar auf die Materialität unserer laut Marc Borner “puddingähnlichen Masse” namens Gehirn reduzieren läßt.

Sich und die eigene (berufliche) Praxis auf den Kopf (ab) zu stellen, das ist den Gehirnforschern freilich süße Pflicht – und dabei kommen sie dann auch prompt dahin, nahezu unser gesamtes Willensrepertoire als dergestalt “determiniert” zur (Welt-)Anschauung zu bringen. Und damit ist es dann – wissenschaftlich nachweisbar – mit der “Freiheit” aus und vorbei!
Bevor ich hier ins Detail gehe, ein kurzer Rückblick auf den alten von ihnen überwundenen (dialektischen und historischen) Materialismus. Im “Anti-Dühring” von Engels heißt es z.B. über die Praxis – im Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit: “Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßig bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch in gewissem Sinn endgültig aus dem Tierreich…Die eigene Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigne freie Tat.”

Wir wir wissen, wurde “im Osten” die Warenproduktion mitnichten “beseitigt”, aber unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse immerhin die “Herrschaft der Produkte über ihre Produzenten” praktisch gebrochen, wenn auch gleichzeitig von unten verbunden wieder mit dem Wunsch nach bunten “Westprodukten”. Mit der Auflösung des Ostblocks jedoch und der seitdem ungebremst forcierten Durchsetzung der dritten industriellen Revolution sind die “assoziierten Produzenten” nahezu weltweit in Dissoziation begriffen.

Wenn zuvor für den Osten und dadurch bedingt auch für den Westen galt, dass die “ökonomischen Verhältnisse” sich derart verheißungsvoll entwickeln, “dass ihre Rolle im Leben der Menschen zurücktritt” (Alfred Schmidt), dann geht es nun wieder genau andersherum: Die Ökonomie wird schier zum Alpha und Omega unserer Existenz – die leidigen Stoffwechselprozesse, und dementsprechend ist auch wieder von Ethnien- statt Klassenkampf die Rede und der Einzelne ist nicht unzufrieden oder unglücklich, sondern hat Erbkrankheiten und sonstige Gendefizite (Nikotinabhängigkeit z.B.).

Gegen diesen und ähnlich reaktionären Schwachsinn muß man jetzt sogar noch Darwin, der einst die Unerbittlichkeit des englischen Kapitalismus und seiner invisible hand zu Naturgesetzen erklärte, gegen die wiedererstarkenden monotheistischen Religionen (die “Gemüter einer herzlosen Welt”) in Schutz nehmen, die auch noch hinter der blindesten Mutation den (allein freien) göttlichen Willen sehen – aber nur dort!

Die Beiträge oszillieren zwischen einigen Ober-Selektionären, der neodarwinistischen Molekularbiologie und dazu noch zwischen Kant, Schopenhauer, Freud, unser Strafrecht und ihrem Vordenker Wolf Singer von der – kein Scheiß! – “Pontifical Academy of Science”, den man für den Sammelband interviewte. Ihre allesamt fachlich ausgebildeten Autoren (5 Männer und 1 Frau) sind zwischen 23 und 63 Jahre alt. Aber keiner hält “mehr an dem traditionellen starken Begriff von Willensfreiheit” fest, wie Gerhard Roth gleich zu Anfang fast stolz bemerkt. Es gibt “zweifellos einen Willen als Erlebniszustand”, das wird eingestanden, aber ob der – mit David Hume gefragt – “frei” ist? Dies kann die Gehirnforschung nun “empirisch abgesichert”, also quasi reinen Herzens, d.h. mit Fug und Recht, verneinen!

Daraus folgt u.a. – auf Seite 17 – “das Schuldparadoxon”. Was sich zunächst wie das “Zenonsche Schorleparadoxon” des Berliner Künstlers Kapielski anhört, erweist sich schnell als ein geballter, auf neueste neurologische und alte psychologische Erkenntnisse basierender Angriff auf unser – aus der Disziplinargesellschaft oder gar dem Neolithikum noch herrührenden – Strafverfolgungssystem: Denn wo keine Willensfreiheit – da ist auch keine Schuldfähigkeit! Es gibt kein “persönliches moralisches Verschulden” – so sagt es Gerhard Roth. Stattdessen hat seine Arbeitsgruppe am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst (sic) sage und schreibe 8 “Hauptfaktoren” ermittelt, die zu “Aggression und Gewalt” führen: Mobbing von oben, Lohnraub, Marginalisierung, Demütigung, den Einsatz von Tränengas, den Euro, immer mehr Kontrollen, lauter glückliche Gesichter im Fernsehn…Nein, natürlich nicht solche! Die wirklichen und wahren Hauptfaktoren, das sind laut Roth: 1. das “Geschlecht”, 2. das “Alter”, 3. “genetische Disposition”, 4. eine frühe “Gehirnschädigung”, 5. “Störungen des Transmitter-, Neuropeptid- und Hormonhaushalts, insbesondere ein niedriger Serotoninspiegel oder ein erhöhter Testoteronspiegel”, 6. “psychische Traumatisierung” (u.a. durch “sexuellen Mißbrauch und fehlende mütterliche Fürsorge”), 7.. “schockartige Erlebnisse”, 8. “kognitive und emotionale Defekte im Erkennen und Verarbeiten gewaltrelevanter sozialer Signale”, 8. “Gewaltausübung in der eigenen Familie”.

Es kommt aber noch schlimmer und komplizierter: Diese Hauptfaktoren treten stets in “Kombination” auf. Darüberhinaus sind unsere “assoziativen Netzwerke der Großhirnrinde” auch noch zu allem Überfluß auf “Gründe ausgelegt, nicht auf Ursachen”…

An dieser Stelle waren die Philosophen in den Gehirnforschern oder umgekehrt mir über: Ich konnte und kann mir noch immer keinen vernünftigen Reim auf diese sausubtile Differenz – zwischen Grund und Ursache – machen. Auch und gerade im Zusammenhang all der “empirischen Evidenzen” aus der Gehirnforschung, die gegen die “Willenfreiheit” sprechen – mindestens als “starken Begriff”. Das soll heißen: Gegen einen schwachen Willen ist wohl auch fürderhin von dieser berufenen Seite nichts einzuwenden! Schön und gut. Aber wird man sich damit auch auf Dauer wirklich zufrieden gaben? Ich meine die Massen und nicht die Gehirnforscher – für diese gilt vielleicht eher: Je härter der Physikalismus, desto weicher die Birne.

Müßte ich abschließend meine Leseeindrücke zusammenfassen, würde ich sagen: Wir brauchen sowieso keine neuronale (neobanale) Soziobiologie, sondern eher eine schizoide Biosoziologie. Denn es ist doch viel mehr Kultur in der Natur – als umgekehrt!

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/08/02/altruismus-egoismus/

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