In Schlitz war ich nur einmal. Das war, als wir Gisela Brückl von der US-Frankfurter Werbeagentur McCann-Erickson zu einem „Reiterfest“ in diese „Perle am Rand des Vogelsbergs“ begleiteten, wo sie einen „Funkspot“ für „American Express“ aufnehmen wollte – mit dem Ehrengast des Festes, den Olympiareiter Fritz Tiedemann. Die alte Gräfin, die dort noch immer im Schloß wohnte, eröffnete die feierliche Angelegenheit: „Willkommen in meinem kleinen Schlitz!“ sagte, ja brüllte sie geradezu über das zu laut eingestellte Mikrophon. Wir mußten darüber so lachen, dass Gisela, die schon alles mit Fritz Tiedemann abgesprochen hatte – und gewissermaßen Tonbandgerät bei Fuß stand, uns böse ankuckte, woraufhin wir nur noch leise gniggerten. Jeder American Express Funkspot beginnt mit dem Satz „Hier spricht…“ und dann folgt das Statement eines Prominenten, Gisela begann jedoch diesmal – aus Nervosität oder Zerstreutheit – mit dem Satz „Hier spritzt Fritz Tiedemann!“ Wieder brachen wir in Lachen aus. Errötend wandte Gisela sich erst Fritz Tiedemann zu, ihn mit einem gemurmelten „Noch mal von vorne“ um Entschuldigung bittend und gleichzeitig uns mit einer barschen Handbewegung erneut zum Schweigen bringend. Aber wieder versprach sie sich – und sagte noch einmal: „Hier spritzt Fritz Tiedemann.“ Prustend und fast fluchtartig verschwanden wir in der Menge und aus ihrem Gesichtskreis. Irgendwie muß sie es dann aber doch noch geschafft haben, das Interview an dem Tag in ihren Kasten zu kriegen, man durfte sie jedoch hinterher lange nicht an Schlitz erinnern. Irgendwann vergaßen wir den Ort ihrer Schande schier. Die Wahlvogelsbergerin Gisela kündigte dann sowieso ihren Job als Texterin bei der Frankfurter Werbeagentur und lebt nun ihr letztes Drittel in Indien, wo schon ihre Tochter bei einem Baumschutz-Programm engagiert ist.
Aber dann veröffentlichte der Sohn des berühmten Schlitzer Limnologen Joachim Illies, der in seinem letzten Lebensdrittel religiös wurde – der Vater, nicht sein Sohn Florian, ein Buch über Schlitz: „Ortsgespräch“. Der junge Ex-Vogelsberger traf sich danach wegen einer Rezension seines Buches mit einem anderen Ex-Vogelsberger (aus Schotten), der nunmehr für „Die Welt“ schreibt, in seinem Berliner Büro. Dort sagte der Autor zum Rezensenten – angeblich:
„’Den Vogelsberg kennt niemand, und schon das Wort Vogelsberg kennt schon niemand‘, ruft Florian Illies. Wir sitzen in seinem Büro in Berlin-Mitte, 467 Kilometer nordöstlich von Schlitz, nebenan sind Espressobars, Schuhläden und Galerien, von deren Existenz man im Vogelsberg bestenfalls gehört hat. An den weißen Wänden hängt moderne Kunst, Illies, 36, ist Bestsellerautor, er hat die ‚Generation Golf‘ erfunden und beschrieben, leitet aber im Brotberuf seine eigene Kunstzeitschrift, ‚Monopol‘. Wir reden über unsere Heimat und stellen schnell fest, wie schwierig es ist, den Mitmenschen klarzumachen, wo diese Gegend überhaupt liegt.“
In den frühen Achtzigerjahren hatten wir – Gisela Brückls Freund und Kindsvater Karl sowie das taz-Sommerloch-Team (Mildner, Scherer, Fräulein Urban und Machnitzke, Armin Trus und ich) – uns bereits dieser „Aufgabe“ verschrien, indem wir rückhaltlos alles „vervogelsbergisierten“. Man ehrte uns deswegen sogleich im Rahmen der Lauterbacher „Strolch-Woche“ mit der „Benno-Martiny-Medaille in Bronze für sauberen Journalismus“ und der Touristenverband „Hoherodskopf“ bot sich an, im Falle einer Buchpublikation finanziell für uns einzuspringen. Die Vervogelsbergisierung geschah meist auf dem Altenfelder Hof bei Volkartshain. Unterstützt wurden wir dabei von Jörg Schröder und Barbara Kalender aus Schlechtenwegen. Zunächst kam dabei ein Rotbuch mit dem Titel „Vogelsberg“ heraus, weitere Bände sollten folgen, es folgte jedoch erst einmal nur die Strafanzeige eines namentlich in dem Buch erwähnten Adligen – und das war so teuer, dass der Rotbuchverlag von weiteren Vervogelsbergisierungen Abstand nahm, obwohl das Material für mindestens einen weiteren Band schon bereit lag – und der Touristenverband wie gesagt Unterstützung angeboten hatte.
Nur ein kleines Vogelsberg-Gedicht schaffte es noch, in den März-Verlags-Reader „Mammut“ aufgenommen zu werden, außerdem ein Kapitel aus dem zuerst im Selbstverlag erschienenen Buch des Oberförsters des Büdinger Fürsten von Isenburg über die Hexenverfolgung in und um Büdingen. Der Autor, Dr. Walter Nieß, hatte daneben noch ein schönes Buch über die Wilderer in den Isenburgischen Vogelsberg-Besitzungen veröffentlicht – natürlich aus der strengen Sicht eines Oberförsters! Da es inzwischen weitaus bessere Bücher über die Wilderei gibt – vor allem aus Österreich, wollen wir (s.O., die wir inzwischen ebenfalls alle Ex-Vogelsberger sind), uns hier auf einen von uns damals bearbeiteten Vogelsberg-Aspekt beschränken, der immer noch aktuell ist – wenn auch vielleicht nicht mehr im Oberhessischen:
DIE HYDROGUERILLA IM VOGELSBERG
„Es gibt kein Territorium mehr, nur noch seine Simulation.“ (Jean Baudrillard)
Am Rande des großen europäischen Eruptionsgebietes – in der bedeutendsten Härtlingsform des nordhessischen Raums – liegt der Vogelsberg. Ein tafelförmiges Vulkanplateau auf dem Schnittpunkt zweier tektonischer Schwachlinien. Was dort eines der vielen rodungsbesiedelten Taldörfer umgeben von bewaldeten Mittelgebirgshängen war, ist also ursprünglich vielleicht einmal ein Magmafluß in einer erstarrten Lavawüste gewesen, zu Urzeiten.
In einem schon in den frühen achtziger Jahren erschienenen Sachbuch mit dem Titel „Vogelsberg“ reiten ein anonymer norddeutscher Ich-Erzähler und ein arabischer Peripathetiker, beide im Vogelsberg lebend, auf zwei Pferden (die dem Filialleiter der Ulmbacher Kreissparkasse gehören) durch die nähere Umgebung.
Irgendwann stimmt dabei der Araber ein Lied an – nach der alten Melodie von „Britannien hab ich und Gallien verloren/ Und Rom und die Schwüre, die sie geschworen/ und verloren Lalange…“ Der Ich-Erzähler bemerkt dazu rückblickend: „Nur sang er stattdessen von Kairo, das er verloren hatte, und von den Frauen in Maaba, Dschidda und Suez. Es war ein schönes Lied, im rhythmischen Takt, den die Kamele so liebten, so daß sie die Köpfe senkten, die Hälse vorstreckten und mit weitausgreifenden Schritten träumerisch dahinschwankten. Nur unsere beiden Kleinpferde mochten es nicht, es machte sie nervös. Und Kamele gab es nicht, und kaum das Land vor uns – als endlose Sand- und Geröllebene“.
Bewachsen waren also die bis zu 773 Metern ansteigenden Erhebungen und die Täler vor zwanzig Jahren noch, wenn sie nicht gerade besiedelt, sonstwie bebaut oder Flußbett für Nidder, Salz, Kinzig Ohm und Bracht waren.
Aber schon damals hatte sich der aus dem Arbeiter-Anglerbund und dem Reichsverband Deutscher Sportfischer hervorgegangene Vogelsberger Angelverein mangels Betätigungsfelder aufgelöst. Aus dem selben Zeitraum stammt ein Urteil des Amtsgerichts Gelnhausen, einer Stadt am Südwestrand des Vogelsbergs. Dort wurde ein Kläger abgewiesen, der das Quaken sich paarender Frösche in einem Kunstteich im Garten seines Nachbarn wegen Lärmbelästigung zur Anzeige gebracht hatte (1). Im norddeutschen Itzehoe dagegen kam ein Landgericht wenig später zu einem entgegengesetzten Urteil, indem es das Artenschutzgesetz ausdrücklich an den natürlichen Standort der jeweiligen Spezies band.
Solche „natürlichen Standorte“ schmolzen freilich nach und nach auf Zeltplangrösse zusammen. Bis zum endgültigen Austrocknen der Flüsse im Vogelsberg gab es dort zwar einen gewissen Fischbestand, der auch regelmäßig wieder neu – d.h. künstlich – aufgestockt wurde, aber nicht mehr bis zur Angelreife gedieh, denn mehrmals im Jahr kippten die Gewässer unter zu großem Fäkalien- und Düngemitteldruck um.
Dieser Prozeß erfaßte bald auch die quellengespeisten Wasserbecken der Fischzüchter in der Gegend.
Als dann auch noch die umliegenden Großstädte (vor allem Frankfurt am Main) anfingen, den täglichen Wasserbedarf für ihre Bewohner und Industrieanlagen aus dem Vogelsberg abzupumpen, warnten die um ihr Element bangenden Angler und Fischzüchter immer heftiger vor einer „Versteppung der Region“. Hinzu kamen die sowieso unzufriedenen Bergbauern, die sich durch die beginnende Erosion und Bodenabsenkung noch zusätzlich in ihrer Existenz bedroht fühlten. Und nicht zu vergessen ihre aufs Altenteil gesetzten Väter, die sich angewöhnt hatten, einen Großteil ihrer reichlichen Mußezeit auf einem Klappstuhl am Dorfweiher zu verbringen, mit einer Angelrute in ihren „von der Arbeit schwielig gewordenen Händen“.
Vielleicht waren sie es, (in der Nachkriegszeit hatten sie noch mit Karbid und Dynamit zu fischen gelernt hatten), die in der Folgezeit dann immer öfter Brunnenanlagen und Pumpstationen der städtischen Wasserversorgungsbetriebe in die Luft sprengten? Die Polizeibehörden in den umliegenden Kreisstädten sahen sich schon bald gezwungen, eine spezielle Fahndungstruppe gegen diese „Öko-Terroristen“ einzurichten (2).
Diese neuen militanten Verteidiger des in ökologischer Hinsicht längst als äußerst instabil eingestuften Status Quo der Landschaft nannten sich selbst jedoch „Hydro-Guerilla“, da Dreh- und Angelpunkt ihrer Aktionen der prekläre Wasserhaushalt des Vogelsbergs war. Eine verschärfte Bewachung der Abpumpanlagen konnte die Attentäter nicht einschüchtern. Als dann bei einem „Brandanschlag“ auch noch ein Baggerführer der Wasserpipeline-Firma getötet wurde – der, aus dem Vogelsberg stammend, selber eigentlich zu den aktiven Gegnern des „Wasserraubs“ gehört hatte -, besaßen die Kontrahenten sogleich einen Märtyrer, dem bald im außerordentlich hoher Symbolwert anhaftete.
Die eine Partei, nennen wir sie der Einfachheit halber „die Vogelsberger“ (um hier wenigstens einmal noch das Kollektive mit dem Regionalen zu verknüpfen), die Vogelsberger also reagierten sofort: Protestierend versammelte sich eine große Menge von ihnen auf dem Marktplatz von Nidda, wo sie lauthals den Stopp des Wasserraubs verlangten und zum Zeichen ihres Protests und der Trauer um den Toten auf einem Scheiterhaufen mitgebrachte schwarz-weiße Gummischwäne aus aufgeschlitzten Autoreifen verbrannten, wie sie dort seit den Sechzigerjahren, d.h. seit dem Beginn des Individualverkehrs mit Privat-PKWs, überall in den Vorgärten aufgestellt worden waren – als Teil der Eigeninitiative in den Kampagnen um den ersten Platz im jährlich wiederkehrenden Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“.
Die Jurys in diesen Wettbewerben setzen sich zwar aus Vertretern der an den jeweiligen Orten dominierenden Interessensverbänden zusammen, waren also gewissen konjunkturell bedingten Veränderungen unterworfen, aber der einmal bei ihrer erstmaligen Zusammensetzung formulierte Anspruch, eine „gepflegte Sachlichkeit“ zu fördern, hat sich seitdem nie wieder neuen Paradigmen im Zusammenspiel zwischen verstädterten Dörfern und verlandschafteten Städten zugewandt, geschweige denn selber welche kreiert.
Und doch scheint sich auch in diesen Gremien mit der Zeit eine gewissen Hydro-Sensibilität breit gemacht zu haben: Überall werden alte – teilweise verschüttete – Brunnen liebevoll restauriert; an die ausgetrockneten Löschteiche werden von der Lauterbacher Gartenzwergfabrik Meissner hergestellte große Figuren mit eindeutiger Angelausrüstung und -gestik aufgestellt, wahlweise aus Ton gebrannt oder aus Plastik gepresst; große farbige Hinweisschilder zeigen an, welche Quellen und Bäche früher wo verliefen; für jede Gemeinde wird ein eigenes Hallenschwimmbad gefordert – und auch genehmigt (als Ausgleich zumeist für die Verminderung der Lebensqualität in all den Orten, in deren unmittelbarer Nähe man ein Nato-Munitionsdepot oder eine andere militärische Einrichtung hingesetzt hat); und schon seit langem haben herumziehende Delphin-Shows die kleinen und mittleren Wanderzirkusse an Beliebtheit übertroffen. Im Sommer sind die Kurse im Synchron-Schwimmen überbelegt. Plötzlich beginnen sich auch alte, längst vergessene christliche Bräuche wieder zu regen – ich rede nicht von der Wassertaufe, sondern von den vielen Katholiken, die wieder darauf bestehen, am Freitag nur Fisch zu essen (es ist wie mit allem und überall: Was sich rar macht, wird kostbar und begehrt!). Wobei der Zusammenhang zwischen der auf dem Fels Petri erbauten Kirche und dem Fischergruß „Petri Heil“ sowieso nie ganz verschüttet war.
Als erst drei, dann sechs der Kreiskrankenhäuser aus Kostengründen von der Landesregierung geschlossen werden sollen, kommt es zu partiellen gemeinsamen Aktionen zwischen dem weniger militanten Flügel der Hydro-Guerilla und Teilen des gegen die Schließung ihrer Krankenhäuser protestierenden Personals.
Aus Gedern wird dazu der folgende Vorfall vermeldet: Dort agitierte der mit einer medizinischtechnischen Assistentin verheiratete Bademeister Karl Moeller vom Beckenrand aus sieben herumschwimmende Frauen für die Erhaltung des Gederner Krankenhauses. Seiner Meinung nach würden nur deswegen keine Frauen sich mehr auf die dortige gynäkologische Abteilung überweisen lassen, weil der ehemalige Stationsleiter und Frauenarzt Doktor Siebert „durchgedreht“ sei – er hätte nachts sämtliche Patientinnen auf den Flur befohlen, wo sie im Nachthemd in Reih und Glied Aufstellung nehmen und das Deutschlandlied singen mußten. Tatsächlich wurde dann ein Doktor Siebert aus Gedern in die mittelhessische Irrenanstalt Hadamar eingewiesen. Die Kreiskrankenhäuser, deren gynäkologische Abteilungen vor allem unter dem Trend zum Einkind, das dann auch noch in einer Hausgeburt zur Welt kommt, zu leiden haben, sind dazu übergegangen, mit einem sogenannten Unterwassergeburts-Angebot sich wieder attraktiv für ihre hochschwangere Klientel zu machen. Im Kreißsaal werden über Lautsprecher Walgesänge abgespielt, auf den Zimmern befinden sich nicht nur TV-Geräte, sondern auch Kalt- und Warmwasser-Aquarien, und in den Badezimmern sind spezielle Räume abgetrennt worden, in denen man einige vom amerikanischen Professor Lilly erfundene Isoliertanks aufgestellt hat. Sie sind halbgefüllt mit lauwarmem Salzwasser und lassen sich von innen schall und lichtdicht schließen. Angeblich soll die darin von Außenreizen gänzlich freie Atmosphäre, während der Körper sanft in einer Salzlauge vor sich hin dümpelt, dazu führen, daß die Angst vor dem zerstreuungs- und beschäftigungslosen „Horror Vacui“ einer „Gaudium Vacui“-Erwartung Platz macht, in der einem darüber hinaus pränatale – ja sogar präterrestrische, mithin also ozeanische – Erfahrungen wieder zugänglich werden. Erfahrungen, über die unter Wasser geborene Kinder von vornherein noch verfügen, was sie zum Beispiel befähigt, sich ohne große Scheu und Umstellung mit den Delphinen in den Wander-Shows zu verständigen, selbst die dort nur selten gezeigten Killerwale sind ihnen nicht fremd (3)
Man muß dazu anmerken, daß diese sogenannte „lnterspecies Communication“ eine lange Tradition im Vogelsberg hat. Seit den frühen sechziger Jahren bereits war dort der CB-Funk weit verbreitet, eine Bewegung von Hobbyfunkern, für die seit jeher Verständigungsschwierigkeiten zwischen verschiedenen Arten nichts weiter bedeuteten als Probleme bei der Feineinstellung von Frequenzen: „Jaguar ruft Windrose! Bitte kommen!“ – Um nur ein Beispiel zu nennen.
Im Laufe der Funk-Zeit hat diese Identifikation mit einer als Code-Wort verwendeten Spezies die seltsamsten Blüten getrieben: Eine CB-Funkerin aus Gelnhausen beispielsweise, die im Äther auf „Flußpferd“ reagiert, sammelte mit den Jahren so ziemlich alles verfügbare Bildund Schriftmaterial über dieses noch von Alfred Brehm als „äußerst dumm und heimtückisch“ beschriebene Säugetier; ein anderer CB-Funker – „Barracuda Birstein“ – nahm nach der Aufstellung einer großen Mehrbereichsantenne in seinem Garten ein seltsam raubfischhaftes Aussehen an; ähnlich erging es seinem Funkkollegen in Herbstein namens „Tümmler“, der immer irgendwie tranig wirkte …
Genug dieser Interspecies Metamorphosen, die darüber hinaus noch eine erdgeschichtliche Dimension beinhalten: Wie man mittlerweile weiß, begann vor 65 Millionen Jahren die geologische Neuzeit der Erde, in deren Tertiär das gesamte Gebiet um das Kinzigtal Teil eines Meeresarmes war, der das Nordmeer mit dem Mittelmeer verband (entstanden war er durch den Einbruch des Oberrheingrabens). Mit der Zeit wurde daraus ein Binnenmeer, das dann vom Spessart aus langsam verlandete. In den Lilly-Isoliertanks der Kreiskrankenhäuser von Schlüchtern und Salmünster gelang es nun einigen Patienten wiederholt, an diese verschütteten binnenozeanischen Erfahrungen anzuknüpfen, die immer noch in Form von Arche-Typen durch den Vogelsberg wabern (4)
Anfang der Achtzigerjahre publizierte ein Social-Fiction-Autor in Bobenhausen II – Mathias Horx – mehrere literarische Rekonstruktionen des sozialen und technologischen Elements (nach einer atomaren Katastrophe im Vogelsberg). Wie hätte er voraussehen können, daß in Wirklichkeit eine Rekonstruktion des nassen Elements dort auf dem Plan stand, genauer gesagt: eine Simulation desselben? Dies geschah vor allem dadurch, dass man es sich mythisch auflud und mit mystischen Qualitäten gleichsam anreicherte – so erhielt man „schweres Wasser“ (das dem in den Dreißiger Jahren in Norwegen produzierten nicht unähnlich war – vergleiche dazu H.M. Enzensbergers „Norwegen“-Essay).
Was die versiegenden Bäche kurzfristig immer wieder neu entstehen ließ und den Anglern jedesmal wieder Anlaß zu neuen Hoffnungen gab: die Niederschläge an saurem Regen, hatten bald die nicht-unterglaste und nicht-künstlich bewässerte Rest-Vegetation in der Region fast völlig zerstört. Seltsam, in dem Moment, wo man fast nur noch das mühsam und zudem äußerst kostbare Brunnenwasser zur Verfügung hatte, ab diesem Zeitpunkt etwa klassifizierten mehrere Psychiater in den kreisstädtischen Krankenhäusern bei etlichen Fällen das von ihnen diagnostizierte Syndrom „Wasserscheu“ als endogene Psychose.
Noch seltsamer, daß erst dann damit begonnen wurde, die Fließwasserenergie an den noch erhaltenen Wassermühlen zu nutzen, als die Bäche und Flüsse fast völlig versiegt waren. Man verwendete statt dessen ebenfalls Brunnenwasser, das umständlich und teuer hochgepumpt auf die Mühlräder geleitet werden mußte, anschließend floß es in die Gewächshäuser und auf die niederschlagsgeschützten kleinen Felder. „Wasserkunde“ wurde zu einem Unterrichtsfach an den Grund- und Hauptschulen, in den gymnasialen Oberstufen kam noch das Fach „Strömungslehre“ hinzu; an der Gesamthochschule Kassel wurde „Wasserkraftforschung“ betrieben.
Die Wünschelrutengänger – Hydromanten – hatten Hochkonjunktur. Aus Schotten wird von einem solchen, der zuvor jahrelang als Formblattvertreter gearbeitet hatte, berichtet: Während er noch als Vertreter im Kreis herumfuhr, hatte er immer wieder auf Parkplätzen eine Pause eingelegt, sich die Karteikarten seiner nächsten Kunden vorgenommen und dabei überlegt, was er bei seinem letzten Besuch mit ihnen geredet, wie hoch ihre letzte Bestellung gewesen war. Dabei passierte es ihm dann, daß seine Kunden, wenn er bei ihnen ankam, jedesmal bemerkten: „Verrückt, daß Sie jetzt gerade kommen, eben haben wir von Ihnen gesprochen!“ Von einem anatolischen Kunden aus Ober-Seemen erfuhr er dazu ein türkisches Sprichwort: „Der gute Mensch kommt aufs Wort“. Die deutsche Verkäuferin im Kaufhaus Kempel in Ulrichstein meinte dagegen: „Wenn man vom Teufel spricht…“ Ein zufällig in diesem Laden anwesender ostfriesischer Sommergast, der sich auch durch die erheblich verminderte Erholungsqualität des Vogelsbergs aufgrund erodierter Höhen und Hänge nicht von seinen Urlaubsgewohnheiten abbringen ließ, beruhigte ihn jedoch: „De düwel is so swat nich, as huum oft malt“. Der Formblattvertreter machte sich schließlich diese Parkplatz-Telepathie zunutze und erledigte seine Aufträge nur noch vom Schreibtisch aus, indem er der Reihe nach an seine Kunden dachte, d.h. über ihre Karteikarten meditierte, woraufhin die Adressaten ihm prompt und schriftlich ihre Bestellungen zuschickten.
Dieser merkwürdige Vorfall hat insofern etwas mit Wasser zu tun, als diese Art der Geschäftsabwicklung per morphischer Resonanz sich streng an den Verlauf der ehemaligen Flüsse in dieser Region hielt und zwar funktionierte sie flußaufwärts besser als abwärts, was seit jeher in etwa der Ausbreitung neuer Ideen und Gedanken entsprach – die Vogelsberger erwarteten demzufolge anscheinend nach wie vor alle Erneuerungen und neuen Errungenschaften vornehmlich aus den umliegenden Niederungen (5). Dorthin schickten sie jedenfalls ihre „Bestellungen“.
Den Formblattvertreter brachten diese Erkenntnisse auf die Kunst des Wünschelrutengehens. Überhaupt wurde mit der Zeit das Gehen immer attraktiver bei den Vogelsbergern. Allerdings verwandelte sich dabei der frühere „Wanderer“ mehr und mehr in einen Flaneur, der nicht mehr in gerader Linie zu einem Ziel nach Dort aufbrach, sondern im Hier und Jetzt hin und her wandelte. Sowohl im Städtischen als auch im nicht mehr davon unterscheidbaren Dörflichen sprach man nur noch vom „Wandler“, der bei seinem Herumschlendern den Vektor gegen Null brachte und die Vielheit der Richtungswechsel maximierte.
Erinnern wir uns: diese Phänomene nahmen ihren Anfang mit der Entstehung und den Aktivitäten der Hydro-Guerilleros, die nächtens in der Gegend herumschlichen und dabei (als Liebespaare mitunter getarnt) Brunneneinrichtungen und Pumpanlagen der städtischen Wasserversorgungsfirmen im Vogelsberg in die Luft sprengten. Eine dieser wahrscheinlich aus Jungbauern zusammengesetzten Gruppen nannte sich in ihren sogenannten Bekennerbriefen „Initiative Lebensfreudiges Kinzigtal“. Sie unterschied sich insofern von den anderen Bombenlegern, als sie ziemlich wahllos nächtens alle Planierraupen mit einem selbsthergestellten Nitroglyzeringemisch explodieren ließ, also auch solche Baumaschinen, die nur zur Straßenausbesserung verwendet wurden.
Kommen wir nun von diesen „Explosés“ über den immer genauer hinschauenden „Wandler“ zum neuen „Implosions“-Paradigma.
Nachdem der ehemalige Oberförster Trauberger aus Wächtersbach (6) einige Jahre lang in seinen Gewächshäusern mit Bonsai-Bäumchen-Kulturen experimentiert hatte, vergeblich, legte er sich einen kleinen künstlichen Bachlauf unter Glas an, in dem er fortan Forellen beobachtete. Dabei machte er die Entdeckung, daß diese Fische nicht mittels einer schnellen Bewegung ihrer Schwanzflossen flußaufwärts springen, sondern weil sie in der Lage sind, die durch das herabstürzende Wasser entstehenden Strudel für sich zu nutzen – sie machen sich darin steif, werden herumgewirbelt und gleich darauf nach oben geschleudert. Diese Beobachtung teilte Trauberger den Mitarbeitern der kirchlichen Heimfortbildungsstätte bei Wittgenborn auf dem „Weiherhof“ mit. In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zog man dann erste noch vorsichtige Schlußfolgerungen daraus, die in der Folgezeit in einer Serie von Experimenten erhärtet wurden. Ihre Erkenntnisse bestätigten eine alte Vermutung, die neben einigen Pflanzenphysiologen auch schon Goethe gehegt hatte: „Es waltet in der Natur ein allgemeiner Spiralismus!“
Diese Spiralbewegung wurde von den Wittgenbornern als „saugendes implosives Gebilde“ bezeichnet, wobei die Kunst ihrer Nutzbarmachung darin besteht, jene Spiralkurve zu finden, in der sich das Wasser, das durch sogenannte Drallrohre gedrückt und darin spiralisiert wird, von seiner Führungswand löst, sich also widerstandlos spezifisch verdichten läßt, zentripetiert und dabei abkühlt. Das in einem solchen System spiralisierte Wasser entwickelt sich zu einem Sogkolben, wobei es sich von Windung zu Windung beschleunigt und verdichtet. Es kann damit eine Maschine angetrieben werden, deren Implosionskräfte (nach Prof. Ehrenhart) 127mal stärker als Explosionskräfte sind. Im Prinzip sieht eine solche Implosions-Maschine so aus, daß mehrere Drallrohre, die auf einem konischen Rotor montiert sind, strahlenförmig von einem Sammeleinlauf abgehen. Durch die Drehung des Rotors erfolgt eine zentrifugale Beschleunigung der Rohre, womit ein sofortiges Einrollen des darin befindlichen Wasser bewirkt wird, das sich dabei abkühlt und verdichtet. Beim Ausstoßen dieses „Wasser-Zopfes“ werden hohe Rückstoßkräfte frei, die in Antriebskraft umgesetzt werden können.
Eine solche Antriebskraft kommt einem Perpetuum Mobile Zweiter Ordnung gleich und ist somit geeignet, das zweite Gesetz der Thermodynamik zu widerlegen. Ein Gesetz, von dem der Kunstkritiker und Historiker Arnheim einmal behauptet hat, daß Europa es bei seiner ersten Formulierung (durch Carnot) deswegen so begierig aufgriff, weil sich damit alles, was scheinbar den Bach runterging, erklären ließ: „Die Sonne wurde kleiner und die Erde kälter, und der allgemeine Zerfall in einen Zustand der Entropie ließ sich bis in die sinkende Armeedisziplin, in die gesellschaftliche Fraktionierung, in die abnehmende Geburtenrate, in die Verödung der Landstriche und in die Zunahme von Geisteskranken und Tuberkulose etc. hinein aufspüren“ (heute würde man statt Tuberkulose vielleicht Aids und BSE anführen!).
Trauberger hat einmal die Implosions-Energie als „weiblich“ bezeichnet, im Gegensatz zum‘ Explosions-Modell, das ihm ein „männliches Phantasma“ zu sein schien, wobei er schon das implosionserzeugende Element „Wasser“ als etwas genuin Weibliches begriff.
Wie dem auch sei, zusammenfassend läßt sich sagen, daß in einer Region, deren soziale und ökologische Entropie schon ziemlich weit fortgeschritten war, daß gerade dort versucht wurde, den Zusammenbruch der ineinandergreifenden Systeme mittels explosiver Mittel und Strategien aufzuhalten, wobei man im weiteren Verlauf dieser sich radikalisierenden Auseinandersetzung schließlich auf eine ganz andere Denk- und Sichtweise stieß: Auf implosive Gebilde, die in ihrer Anwendung dann die gesamte Entropie schließlich widerlegten.
Jetzt, wo man bereits begonnen hat, über die einst umkämpften städtischen Pumpanlagen Wasser (aus Rhein, Main und Lahn) wieder zurück in den verkarsteten und verödeten Vogelsberg zu transportieren, um gewisse Rekultivierungsversuche zu unternehmen – jetzt wage ich eine kleine Vorausschau: Die Land- und Forstwirtschaft und damit zusammenhängend die gesamte Ökologie der Region wurde nicht durch den unterirdischen Angriff in Form von konzentrierter Wasserentnahme und Nitratverseuchung des Grundwassers zerstört, auch nicht durch oberirdische Einflüsse wie Luftverschmutzung und sauren Regen, sondern dadurch, daß das gänzlich immaterielle morphogenetische Feld der voneinander abhängigen (man sagt auch „vernetzten“) Flora und Fauna immer wieder gleichsam zerhackt und zerschnitten worden ist.
Beim derzeitigen Aufbau eines neuen „Feldes“ im Zusammenhang mit den Rekultivierungsarbeiten wird man von vornherein an der „Morphogenese“ partizipieren, und man tut gut daran, dies bewußt zu tun, wenn man verhindern will, daß die frisch wiederaufgeforsteten kleinen Wälder ebenso wie die zögernd wieder fließenden Bäche erneut, von tiefer Mutlosigkeit ergriffen eingehen bzw. versiegen. Um es mit Nietzsche zu sagen: „Wille kann natürlich nur auf Wille wirken und nicht auf Stoffe (auf ,Nerven‘ beispielsweise). Genug, man muß die These wagen, daß überall, wo Wirkungen anerkannt werden, Wille auf Willen wirkt.“
In der überregionalen Zeitschrift „Angel-Woche“, in der sonst nur eines zählt – „Prachtbrassen“, „Traumhechte“ und „Superforellen“, und die farbig fotografiert, gemessen und gewogen, fand ich neulich einen Artikel von einem Fischer aus Obervolta, er begann mit dem Satz: „Ein Angler, der nicht mit den Fischen redet, ist verrückt“. Das scheint mir schon mal ein guter Anfang zu sein, obwohl für Petrijünger eigentlich selbstverständlich.
Anmerkungen
1. Seltsam: Kurz zuvor war der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan nach Caracas gereist. Von dort schrieb er einen Brief an seine Ecole Freudien de Paris, in dem er sie für aufgelöst erklärte. Ferner behauptete er darin, daß die Frösche eine große Eleganz bei der Paarung zur Schau stellen würden, die Menschen dagegen nicht. Und das sei doch wohl das wesentliche Problem, mit dem die Psychoanalyse es zu tun habe. Am nächsten Tag starb Lacan.
2. In diesen Zusammenhang gehört vielleicht das Phänomen, daß damals die rot umrandeten Fahndungsplakate für die letzten noch frei herumlaufenden Stadt-Terroristen (von der RAF), die überall auf den Ämtern und selbst an den Buswartehäuschen, den Treffpunkten der dörflichen Jugend, aushingen, und auf denen verhaftete bzw. erschossene „Gewalttäter“ mit Kugelschreiber oder Filzstift durchgestrichen wurden – daß die Umrandung dieser Fahndungsplakate plötzlich von rot in grün umgeändert wurde, von irgendeinem hellsichtigen Verwaltungsbeamten mit Entscheidungsbefugnis im Öffentlichkeitsreferat des Bundeskriminalamtes (BKA). Anschließend fand man auf vielen dieser grünumrandeten Fahndungsplakate im Vogelsberg den handschriftlichen Zusatz: „Besser am Stammtisch als in Stammheim!“
3. Die Killerwale, die in großen Glasbecken bikini-bekleideten Schwimmerinnen das Oberteil aufknüpfen, haben mit diesem Kunststückchen die in Oberhessen früher beliebten Damen-Schlammcatch-Shows völlig verdrängt.
4. Der französische Schriftsteller Romain Rolland schrieb einmal an seinen Freund Sigmund Freud, nichts beglücke den Menschen so sehr wie ein „ozeanisches Lebensgefühl“ (eine umfassende Metapher für das, was Carol Gilligan als „Verbundenheit“ beschreibt). Freud notierte dazu, ein solches Gefühl sei wohl eine Illusion, er könne jedenfalls nichts Entsprechendes in sich entdecken. Damals war die Zeit anscheinend noch nicht reif dafür. Die Menschheit brauchte anscheinend erst einmal die Erfahrung des „Umkippens von ganzen Gewässern“ (Horst Stern).
5. Ganz anders – entgegengesetzt – vermutete es seinerzeit Novalis, als er meinte: „Abwärts treibt der Sinn!“
6. …Dessen Beziehungen zur Hydro-Guerilla mehrmals Gegenstand von polizeilichen Ermittlungen waren, die aber nie ganz geklärt werden konnten, er war jedenfalls – vorzeitig pensioniert – ein erbitterter Gegner des „Wasserraubs“.
7. Übrigens stehen dabei wieder an vorderster Front – wie seit eh und je – die sogenannten „Kulturfrauen“, das ländliche Pendant zu den städtischen „Trümmerfrauen“.
Noch eine Bemerkung zum Angeln von Forellen –
in Form einer Rezension des Buches „Die Leidenschaft des Jägers“ von Paul Parin:
Der 1916 geborene Schweizer Ethnopyschoanalytiker Paul Parin ist solch ein Jäger und Angler, der bereits als 13jähriger bei seinem ersten tödlichen Schuß auf ein Haselhuhn einen Orgasmus bekam: „Seither gehören für mich Jagd und Sex zusammen“. Dieser Doppelschuß, wenn man so sagen darf, machte ihn zum „Mann: glücklich und gierig“.
Vor dem offiziellen Erwachsenenstatus steht aber noch eine sadistische „englische Erziehung“: Bei einer Jagd mit Hunden beging er als junger Treiber so viele Fehler, dass sein gutsherrschaftlicher Vater ihn von seinem Förster auspeitschen läßt – „auf den blanken Hintern“ inmitten der Treiberschar. Die darf ihn sich gleich anschließend noch einmal im Keller des Landschlosses vornehmen, dabei ziehen sie ihn ganz aus. Sein „Papa stand daneben und genoss das Schauspiel“. Anschließend legte sich einer der Burschen nackt neben ihn, „nahm meinen Pimmel in die Hand, steckte ihn in den Mund und fing an zu saugen und mit der Zunge zu streicheln. ‚Er will mich trösten‘, dachte ich und drehte mich so, dass ich seinen Pimmel auch zu fassen kriegte, und steckte ihn meinerseits in den Mund. Es war wirklich ein Trost.“
Das war aber noch nicht die eigentliche „Initiation“. Die kam erst mit 17 – als er seinen ersten Bock schoß. Ein Onkel hatte ihn in seine Jagdhütte eingeladen, als Paul Parin oben ankam, bedrängte dieser gerade mit heruntergelassener Hose seine Haushälterin am Kachelofen. „Komm in zehn Minuten wieder,“ rief ihm der Onkel zu, „dann sind wir mit Vögeln fertig. Dann sind auch die Mädels da, die ich gemietet hab. Sie sind scharf auf dich, haben sie gesagt“. Abends erzählt der Onkel Jagdgeschichten, danach geht der Bub mit einem der drei Mädchen auf sein Zimmer. Erst läßt sie sich von ihm mehrmals mit der Hand befriedigen, dann holt sie ihm einen runter. Anschließend schläft sie sofort ein, er kann nicht schlafen, stattdessen zieht er sich wieder an, schnappt sich sein Gewehr und geht in den Wald, wo er dann von einem Hochsitz aus einen „starken Bock“ mit Blattschuß erlegt. Beim Frühstück muß er alle Einzelheiten erzählen. Auch das gehörte zum „Ritual“. Seitdem erfaßte ihn „das Jagdfieber immer wieder mit der gleichen Macht wie sexuelles Begehren“.
Das ging auch seinem Jugendfreund so: „Dulli war Jude und zeitlebens dem Jagdfieber verfallen. Von seinem liebsten Jagdkumpan an die deutsche Besatzungsmacht verraten, wurde er Widerstandskämpfer und in der titoistischen Republik Slowenien Minister für Jagd und Fischerei“. Ein „aufgeklärter Mensch jagt nicht“ und auch ein „Jude jagt nicht“ – das sind „gleichermaßen Gesetze abendländischer Ethik. Ich muss mich zu den Ausnahmen zählen“. Aber Paul Parin hat von sich selber und vielen anderen erfahren: „Wenn mein Vater nicht seine Jagd gehabt hätte, wären wir Kinder in der strengen und sterilen Familienatmosphäre erstickt“. Deswegen kann er jetzt eher genuß- als reuevoll z.B. seine Jagd auf eine Gazelle in der Sahara und das Forellenfischen in Alaska – als Sucht – beschreiben. „Sucht heißt, dass der narzisstische Genuß am Morden mit der Jagd weltweit einen Freibrief hat“.
Am Beispiel von Milovan Djilas, leidenschaftlicher Angler, Mitkämpfer und Vertrauter Titos, gibt er jedoch zu bedenken: „Später, als Dichter, wusste Djilas: Keine Ausübung der Macht über das Volk, über die Schwachen bleibt ohne verbrecherische Taten. Wäre es nicht besser gewesen, der eigenen Leidenschaft Raum zu geben und den flinken Forellen nachzustellen…?“ Im Russischen gibt es ein volkstümliches Wort für Jagd und Lust: Ochota.
Parins eigene „Jagdleidenschaft“ erlosch bald nach dem 84. Geburstag seiner Frau Goldy, am 30 Mai 1995: „An diesem Tag habe ich im Fluß Soca in Slowenien die größte Forelle meiner Laufbahn gefangen“. Anschließend erzählte er seiner Frau, daß er am Fluß einen jungen verwilderten Mann, der ihn beklauen wollte, fesselte – dann hätte er ihn ausgepeitscht bis zum „Flash“, woraufhin sie beide zum Orgasmus gekommen wären. Während Paul Parin diese Geschichte schließlich als eine „Phantasie“ darstellt, ist die Psychoanalytikerin Goldy sich da „nicht so sicher…Kann sein, dass du nicht nur die Riesenforelle erwischt hast, sondern auch einen Gayboy aus Kärnten“. Sie einigen sich darauf: „Es könnte so sein oder auch nicht…Gehen wir schlafen“.
Paul Parin wird in diesen Wochen 90 Jahre alt. Es geht ihm gut, er hat nach diesem Jagdbuch schon wieder ein weiteres mit Erzählungen – „Aufklärungen“ genannt – veröffentlicht – es erschien in einer neue Reihe – der „Edition Freitag“, die von Traute Hensch in Freiburg herausgegeben wird. Von ihr erhielt ich darüberhinaus per Post noch einen Text von Paul Parin aus dem Jahr 1948 – es ist seine erste Veröffentlichung als Psychiater – und es geht darin um die von ihm während bzw. nach dem jugoslawischen Partisanenkrieg erforschten „Partisanenkrankheit“. Davon war jedoch an anderer Stelle im blog bereits die Rede. Hier will ich nur noch erwähnen, dass Christa Wolf in einer Art Nachwort zum Jagdbuch von Paul Parin dessen „Lebenskunst und Schreibkunst“ rühmt; diese im richtigen Augenblick kennen gelernt zu haben, war für sie eine „glückliche Fügung“.
Was das Jagen betrifft, so gibt es nun aber noch eine erregendere Tätigkeit als die des Jägers: das ist die des Wilderers, „der gleichzeitig Jäger und Gejagter ist“, wie der Sozialforscher Norbert Schindler in seiner wunderbaren Studie über das Salzburger Land „Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution“ schreibt. Darüberhinaus ist der bäuerliche Wildschütze auch noch in Friedenszeiten das, was der Partisan im Krieg ist. Und der Partisan ist immer auch und zugleich Wilderer, denn alles was er zum Leben braucht, muß er dem Feind abringen, und dazu gehört auch das Wild in den Bergen, das dieser für sich beansprucht. So wie in Friedenszeiten der „rechtmässige Herrscher“, dessen Besitzansprüche an Wald und Wild der bäuerliche Freischütze nicht akzeptieren will. Denn mehr noch als die wechselnden und willkürlichen (adligen) Landbesitzer ist er ein Teil des Territoriums und umgekehrt. Aus dieser genauen Ortskenntnis resultiert dann auch meist seine Überlegenheit über die ihm nachstellenden Jäger und Förster des Landbesitzers – und erst recht seine Überlegenheit gegenüber feindlichen Okkupationsheeren, die ihn auf seinem Territorium bekämpfen, ja sogar gegenüber einer möglichen „Anlehnungsmacht“, die bereit und in der Lage ist, ihre Soldaten an seiner Seite kämpfen zu lassen. Dies hat O.P.Georg sehr schön herausgearbeitet – in seiner Biographie über Andreas Hofer, dessen Bauernguerilla südlich von Salzburg, im Tiroler Land, gegen die napoleonischen Truppen und ihre bayrischen Verbündeten kämpfte.
„Die Heimat ist ein reines Umweltproblem,“ so sagte es Jakob von Uexküll – auf die Wilderer/Partisanen bezogen, könnte man auch sagen: Wer eine genaue Kenntnis seiner Umwelt hat, in der er lebt und sich bewegt, der ist fast unschlagbar. Dies gilt im übrigen auch für viele Singvögel in der Stadt, die hier den Raubvögeln meist aufgrund ihrer besseren Ortskenntnis entkommen können. Und das sollte auch für eine Stadtguerilla gelten, meint der ehemalige WK-Zwo-Partisan und BBC-Programmdirektor Stuart Hood.
Die Nazis ließen 1942 alle inhaftierten Wilderer im KZ Oranienburg konzentrieren und machten daraus die erste Partisanenbekämpfungseinheit der deutschen Wehrmacht, genommen wurden jedoch nur solche, die zuvor mit dem Gewehr und nicht – feige – mit Fallen gewildert hatten. Mit letzterer durften allein die Jäger und Förster der Waldbesitzer „arbeiten“. Das ist ein ähnlicher Idiotismus wie der, dass heute die (wiederangesiedelten) Wölfe ganzjährig geschont sind, während man wildernde Hunde jederzeit abknallen darf…
Wie Gregory Bateson jedoch richtig bemerkte: „Die Karte ist nicht das Gelände“, d.h. die alpinen Wilderer bewegten sich als Partisanenbekämpfer hinter der Ostfront außerhalb ihres Heimatterritoriums und waren deswegen als solche nicht besonders erfolgreich. Sie hielten sich deswegen an die Zivilbevölkerung, vor allem an wehrlose Frauen, Kinder und Alte, die sie in Weißrussland, Polen und in der Slowakei zu tausenden ermordeten – und hernach als erledigte „Terroristen“ abbuchten.Genauso verfahren auch heute noch alle staatlichen Terroristen-Bekämpfungseinheiten.Ja, man kann fast sagen: Das muß auch so sein!