Zu den Aufgaben des Hausmeisters/Aushilfshausmeisters gehört neben dem Hausfunktions- und dem Mitarbeiterservice, der bis dahin geht, dass immer genug Kopfschmerztabletten und Tampons in der Hausapotheke sind, auch das Umsorgen der taz-Pflanzen und -Tiere, wobei sich jedoch für die meisten Pflanzen bereits jemand voll verantwortlich fühlt, was bis zur Urlaubsvertretung fürs Gießen reicht und sogar noch die Rasenpflege auf dem Dachgarten einschließt. Erst recht gilt dies für die durchweg friedlichen drei bis vier Hunde in der taz, um die sich stets ihre Besitzerinnen kümmern. Komischerweise nehmen die Frauen höchstens ihre Hunde mit zur Arbeit, während die Männer manchmal mit ihren Kindern ankommen.
Bleiben die allgemeinen oder illegalen Pflanzen, aber auch Tiere – und dabei geht es eigentlich nur darum, gelegentlich die Rattenfallen im Keller zu kontrollieren. Sie werden von „Rentokil“ aufgestellt. Dahinter verbirgt sich ein multinationaler Konzern, den es wie Coca-Cola, Starbuck’s und McDonald’s auf der ganzen Welt gibt – und mit dem die taz eine Art Nagervernichtungsvertrag abgeschlossen hat. Sie kommen auf Anruf. Bei der Kneipe an der Ecke ist die selbe Firma für die Toiletten- und Küchenhygiene zuständig – und verbreitet dort einen ganz spezifischen Geruch. Der Wirt erklärte mir, kein anderer Berliner Schädlingsvernichter hätte seine Kakerlaken und Silberfischchen vernichten können: „Aber frag mich nicht, wie die Rentokil-Leute das geschafft haben!“
1994 habe ich einmal an einer Demo von Ostberliner Kammerjägern teilgenommen: Sie protestierten dagegen, dass seit der Wende jeder ihren Beruf ausüben darf: vergeblich, u.a. gaben sie den lohndrückenden und gewerkschaftsfeindlichen Großunternehmen wie Rentokil die Schuld an ihrer Misere. Dennoch wandte ich mich später als Aushilfshausmeister an Rentokil, als es galt, ein vom Hof in Nancys Kaffeeküche im ersten Stock eingedrungenes Rattenpärchen tot oder lebendig wieder von dort zu vertreiben.
Als nächstes hieß es: Es ist eine Maus im Haus – und zwar im vierten Stock bei der „Wahrheit“. Nun ist ja die satirische Absicht dieser Redaktion allgemein bekannt und sogar juristisch festgeklopft – deswegen nahm niemand das dortige „Problem“ allzu ernst, zudem sollte es sich dabei nur um eine – und dazu noch sehr kleine – Maus handeln. Aber dann setzte ich mich doch eines späten Abends oben in das verlassene Großraumbüro an den Computer – und siehe da: Es kamen immer mehr Mäuse hervor. Sie sprangen buchstäblich über Regale und Tische und wenn sie dabei zufällig eine Computertastatur berührten, ging das entsprechende Gerät mit einem lauten Ach! oder Klack! an, woraufhin die ganze Mäuseschar sich blitzartig irgendwohin verkroch. Es dauert aber nur ein paar Minuten, dann wagten sich die vorwitzigsten erneut hervor. Sie durchsuchten alles: In der offenen Schublade des Medienredakteurs fielen sie z.B. über eine angebrochene Tafel Schokolade her.
Um mehr über die Nagerbande im Vierten Stock in Erfahrung bringen, setzte ich mich ein paar Tage lang jede Nacht dort an den Computer – wobei ich mir die Zeit damit vertrieb, im Internet mehr über diese grauen „Medienmäuse“, um solche mußte es sich ja handeln, zu erfahren. Es gab aber nur wenige Eintragungen dazu und die waren auch meist noch metaphorisch gemeint, in die Millionen gingen dafür die über weiße „Labormäuse“. Ich begann mit dem Ausdruck einer harmlosen Geschichte:
„Ich vermöchte kaum zu sagen, wie viele Freuden ich den weißen Mäusen verdanke,“ so beginnt ein Kapitel des Buches „Meine Tiere“ von Theodor Lessing. Der 1933 von den Nationalsozialisten in seinem tschechischen Exil ermordete Hannoveraner Philosoph widmete es 1926 seiner Tochter Ruth. Auch die nächste „Eintragung“ – über die Naturwissenschaftler Jacques Monod und Francois Jacob – war noch fast sympathisch: Die zwei französischen Genforscher und späteren Nobelpreisträger experimentierten lange Zeit erfolgreich mit Bakterien als Modellorganismen, aber irgendwann besaßen die E.coli Bakterien für Jacob nicht mehr genug Individualität, um sich ernsthaft weiter mit ihm zu beschäftigen. In seinem Buch „Die Maus, die Fliege und der Mensch“ schrieb er: „Der Bakteriologe Alfred Hershey hatte zwar einmal scherzhaft angemerkt, dass für den Biologen das Glück darin besteht, ein sehr kompliziertes Experiment auszutüfteln und es Tag für Tag zu wiederholen, wobei er jedes Mal nur ein Detail abwandelt. Doch ich wollte eine Veränderung. Seit fünfzehn Jahren ließ ich nun schon ausgesuchte Bakterienpaare im Takt kopulieren. Diese Art von Übung hatte mir viel Befriedigung verschafft. Doch glaubte ich ihre Freuden ausgekostet zu haben. Ich hatte nichts dagegen, eine Art Guru der Sexualität zu werden, aber nicht der Bakteriensexualität. Auch fingen die Bakterien an, mir ein wenig unsichtbar, ein wenig farblos zu erscheinen. Ich wollte etwas Sichtbares, mit Hormonen, Leidenschaften, mit einer Seele. Ich wollte Tiere, denen man ins Auge blicken, die man individuell erkennen, ja benennen konnte. Und die fähig waren, einem auch selbst in die Augen zu blicken.“ Francois Jacob dachte dabei an Mäuse, um die herum er ein ganzes Institut gründen wollte.
So weit kam es dann zwar nicht, aber heute wird mit diesen Labormäusen an tausenden von Instituten – der Universitäten, des Militärs, der Pharma- und der Kosmetikindustrie, sowie in Krankenhäusern und in privaten Gentechniklabors – experimentiert. An der FU werden die Tierexperimente im sogenannten „Mäuseturm“ konzentriert, der auch den Tierschutzorganisationen immer wieder ins Visier gerät, weswegen er besonders gut bewacht wird. Noch schlimmer ist es an der Universität Oxford, wo der „Mäuseturm“ ähnlich gesichert ist wie seinerzeit Stammheim. Zuletzt, am 25.2.2006, demonstrierten dort vor dem Elektrozaun einige tausend englische und ausländische Tierschützer. Sie forderten die Schließung des Tierversuchsinstituts.
Neben diesen staatlichen Mäusestützpunkten gibt es auch noch einen blühenden weltweiten Handel mit so genannten „Knock-out-Mäusen“. Darunter versteht man solche Nager, bei denen ein ganz bestimmtes Gen gezielt ausgeschaltet wurde, um dessen Wirkungen zu prüfen. Man möchte gern zwei Mäusestämme haben, die in sämtlichen Genen gleich sind und sich nur in dem Knock-out-Gen unterscheiden. Bei dem ersten Stamm ist es in dem Fall intakt, bei dem zweiten defekt. Dann müssen Unterschiede im Körperbau oder der Physiologie auf dieses Gen zurückgeführt werden. Daher benötigt man für dieses Experiment von vornherein einen Mäusestamm, bei dem alle Tiere den gleichen genetischen Hintergrund haben. Es werden deshalb Inzuchttiere verwendet. Diese Inzucht wird über hunderte von Generationen durchgeführt (konsequente Bruder-Schwester Verpaarung), was dazu führt, dass sich die Tiere genetisch gar nicht oder nur sehr geringfügig unterscheiden (wie z.B. eineiige Zwillinge).
Für die Erzeugung von transgenen Knock-out-Mäusen bzw. Mutanten werden Stammzellen von Mäusen verwendet, weil man in einer erwachsenen Maus nicht sämtliche Körperzellen verändern kann. Solche Stammzellen werden aus befruchteten Eizellen (Blastozysten) entnommen. Die Stammzellen können durch Zugabe von Wachstumsfaktoren in vitro beliebig vermehrt und am Leben gehalten werden. Zuletzt wird die genetisch veränderte Stammzelle in eine andere Blastocyste eingeführt, die wiederum einer scheinschwangeren Maus implantiert wird, die dann das heranwachsende Tier austrägt.
2005 wurde an der Charité ein Mediziner angestellt, der Experimente mit einem Augenmittel durchführen sollte. Dazu bekam er 200.000 Euro, um 1000 Labormäuse zu 200 Euro das Stück – in den USA natürlich – einzukaufen, die auf die eben beschriebene Weise gentechnisch blind gemacht wurden. Sein Experiment ließ sich gut an, aber Labormäuse werden nur ein paar Monate alt und sind sehr empfindlich: Schon die nächste Generation infizierte sich in den Charitélabors mit Hepatitis – und starb. Damit war das Experiment beendet. Und der Mediziner ist jetzt wieder auf Hartz IV – auch ein Experiment im übrigen.
Menschen und Mäuse – deren Genom mit 30.000 Genen demnächst vollständig sequenziert sein wird, stehen sich „genetisch sehr nahe, auch hinsichtlich Entwicklung oder Physiologie sind sich Maus und Mensch sehr ähnlich“, weswegen die „Kunstwerke“ in Berlin-Mitte einer großen Ausstellung neulich bereits den Titel „Von Mäusen und Menschen“ gaben (so hieß auch schon ein Roman von John Steinbeck). Mich interessierte jedoch erst einmal mehr als dieser Etikettenschwindel das GSF-Institut für Experimentelle Genetik, in der sich laut seiner Webpage „alles um Mäuse dreht, genauer: um genetisch veränderte Mäuse“.
Dieses bayrisch-bundesdeutsche Forschungszentrum im Norden Münchens beschäftigt 1600 Menschen damit, „ins Erbgut der kleinen Nager einzugreifen, um so die Funktion einzelner Gene aufzuklären“ – und daraus „genau bekannte Mausmutanten“ zu entwickeln, „die dann in großem Maßstab gezüchtet werden und schließlich als Modelle für die unterschiedlichsten menschlichen Erbkrankheiten dienen sollen.“ Das Ausschalten eines Mäusegens geschieht u.a. mit Chemikalien wie Ethylnitrosoharnstoff (ENU) – dem „stärksten Mutagen“ – das den männlichen Mäusen injiziert wird, woraufhin sie Spermien mit verändertem Erbgut produzieren, was bei ihren Nachkommen eine Mutation auslöst. Daneben werden in der Mäusehochburg GSF („Mäuse im Dienste des Menschen!“ – so die Eigenwerbung) nicht nur massenhaft ENU-Mäuse (in 189 Mäusestämmen bisher) wissenschaftlich-neugierig-karrieristisch vernutzt, sondern auch solche „aus anderen Projekten, etwa aus Genfallen oder Transgen-Experimenten“.
Ihr Leiter, Hrabé de Angelis, ein wahrer Mäuseengel, spricht von einer regelrechten „Maus-Klinik“ – und seine „Vision“ ist „ein weltweites Netzwerk von Mauskliniken“. Um den Versuchsmäusen zu Leibe zu rücken, stehen dem GSF „Mini-Röntgenapparate, Mini-Knochenmessgeräte, kleine Computertomographen“ usw. zur Verfügung. Durchläuft eine Maus sämtliche „Stationen dort, wird sie auf insgesamt 150 unterschiedliche Parameter gecheckt“. Im GSF können auch Wissenschaftler aus anderen Instituten „ihre mitgebrachten Mäuse checken“ sowie ganze Labors (Module) mieten: Einige Marburger Wissenschaftler nehmen dort z.B. gerade eine „umfassende bioenergetische Analyse ihrer Mäuse“ vor. Das GSF gründete vor einiger Zeit zusammen mit japanischen, amerikanischen und europäischen Partnern das „International Mouse Mutagenesis Consortium“ (IMMC), dessen Ziel es ist, für jedes der 30.000 Mausgene mindestens einen Stamm mit einer Mutation zu entwickeln, wofür die Forscher schätzungsweise 60 Millionen Mäuse brauchen. Dem selben Zweck dient auf europäischer Ebene auch das Projekt EMMA: das European Mouse Mutant Archives“, in dem „Spermien, Ovarien und sehr frühe Embryonalstadien der Tiere“ archiviert werden, wobei jeder Mäusestamm jedoch Eigentum seines „Produzenten“ bleibt. In den GSF-Käfigen werden derzeit 15.000 Tiere gehalten.
Während der nächtlichen Lektüre dieser „Infos“ in dem von (braungrauen) Hausmäusen heimgesuchten Vierten Stock der taz konnte ich mir immer lebhafter vorstellen, wie die Forscher und Tierpfleger der in diesem Verbund forschenden Institute ihre (weißen) Labormäuse gleich tonnenweise „im Dienste des Menschen“ vernutzen.
Ähnliches gilt wohl auch für den zweiten Verbund, das internationale „Mouse Genome Sequenzing Consortium“ (MGSC), das gerade mal wieder im Mausfachmagazin „Nature“ von sich reden machte, nachdem es herausgefunden hatte, das von den 30.000 Genen bei Mensch und Maus nur 300 unterschiedlich sind: „Wir haben 99 Prozent unserer Gene mit der Maus gemeinsam – und wir haben sogar die Gene, die einen Schwanz machen,“ verkündete da Janes Rogers aus dem zum MGSC gehörenden Londoner „Mäusebunker“.
Neben den zigmillionen ENU-Mäusen, die von den Forschern manipuliert, gezüchtet und anschließend zerlegt (analysiert) werden, gibt es aber auch noch die ES-Mäuse: Das sind quasi-künstliche Tiere aus embryonalen Stammzellen (ES-Zellen), die wiederum aus in den Brutschränken der Zellbiologen kultivierten Embryozellen stammen. Sie gehören laut der „Zeit“ zum „derzeit technisch Raffiniertesten“ – deutsche Forscher dürfen sie bis jetzt jedoch nicht einmal importieren. Aus der kleinen Portion Stammzellen „macht“ die US-Biologin Caroline Samuel in ihrem „Artemis“-Labor unter Hinzufügung einer Plazenta „eine Maus“. Ihr Ziel ist mit dem der GSF-Forscher bzw. der ENU-Mäuse identisch: Es steht voll „im Dienste des Menschen“.
Pharmaforscher geben jedoch zu bedenken: „Mice tell lies!“ Mäuse lügen – denn was heißt schon eine 99prozentige Übereinstimmung der Mausgene mit denen der Menschen, wenn eine noch viel geringere bereits den großen Unterschied zwischen Affen und Menschen ausmacht?! Dennoch drängen die deutschen Forscher darauf, endlich auch mit Mäuse-Stammzellen arbeiten zu dürfen.
„Herr Professor Hasenfuß, wie kommt ein Herzspezialist auf die Idee, im Hoden von Mäusen nach Stammzellen zu suchen? fragte z.B. die FAZ einen deutschen „Nature“-Autor. Der Tagesspiegel faßte derweil einen Artikel aus dem „Fachblatt ‚Science'“ zusammen, in dem es darum ging, dass „US-Forscher“ an Mäusen testeten, inwieweit ihr Körper in der Lage ist, ein „Gegenmittel“ gegen Schlangengifte zu produzieren – das wurde dann auch „gefunden“, wie die Zeitung geradezu jubelte. Heidelberger Forscher spritzen unterdes den Mäusen ein Nervenzellen-Extrakt, das eine „Autoimmunreaktion“ auslöste, woraufhin die Tiere Multiple Sklerose-ähnliche Symptome zeigten. Man will damit der MS-Erkrankung bei Menschen auf die Spur kommen – und Gegenmittel entwickeln. Kalifornische Forscher entwickelten an Mäusen wiederum einen Impfstoff, der Fetteinlagerungen im Körper verhindert – also eine Art Schlankmacher, der später auch verfetteten Menschen helfen soll. Ein Forscher aus Illinois veränderte laut F.R. seine Mäuse „mit einem Wachstumshormon genetisch“ derart, dass sie länger lebten. Eine seiner Mäuse schaffte es, statt der üblichen zwei fast fünf Jahre im Labor zu überleben. Ein anderer Forscher – aus Göttingen – hat dagegen das „Neurolingin-Gen“ bei seinen Mäusen so verändert, dass sie nun „autistisch“ sind. Er will damit „eines Tages“ an Autismus erkrankte Menschen „besser verstehen“. Unter Haschischrauchern wurde insbesondere die Forschung eines Professors aus Colorado bekannt, der Mäuse ohne „CB1 – Cannabinoid-Rezeptor“ züchtete, sie wurden dadurch ebenfalls autistisch, d.h. „mögen nun keinerlei Veränderung“ mehr. Der Biologe vermutet, dass auch Drogenfahnder unter einem „blockierten CB1-Rezeptor“ leiden, umgekehrt soll Cannabisgenuß einem angeblich die „Angst vor Veränderungen“ nehmen. In Berlin hat ein Neurobiologe laut FU-Pressedienst seinen Mäusen „ein bestimmtes Gen für die Gedächtnisbildung“ entfernt, und das hatte eine ähnliche Wirkung, zumal man ja weiß, dass starker Cannabisgenuß das Gedächtnis ruiniert. Wenn der Neurobiologe die FU-Mäuse nun ins Wasser wirft, schwimmen sie ziellos im Becken umher, statt wie die „Wildtypen“ direkt ans Ufer, „da ihr Langzeitgedächtnis gestört ist“. Mit den Experimenten will man darauf hinaus, „neurobiologische Defekte zu reparieren…ohne Maus geht dies nicht. Denn der Mensch braucht Mäuse, um sich selbst besser zu verstehen.“
Dazu müssen die armen Tiere nicht nur allerhand genetische, sondern auch epigenetische (d.h. nahebeigenetische) Experimente über sich ergehen lassen. So haben israelische Forscher z.B. die Gene bei Mäusen „methylisiert“, dadurch wird die „Ausprägung der Gene“ beeinflußt, „ohne die DNA selbst zu verändern“. Solche „Prozesse“ sind nach Meinung der Wissenschaftler „für die Entstehung von Krebs verantwortlich“. Eine Forscherin aus Israel meinte – auf einem Kongreß des Zentrums für Literaturforschung in Berlin – „außerdem“, dass solche „epigenetischen Mechanismen für die Veranlagung von Tumor-Zellen in Lebewesen verantwortlich sind“. Sie zeigte dazu Dias von ihren Mäusen. Deren Mutter hatte man besondere Nahrungsergänzungsmittel gefüttert, sie wurden im Gegensatz zu den Nachkommen anderer Mäusemütter bräunlich statt gelblich. Die DNA der Mäuse lieferte keine Unterschiede, deswegen sprach die Forscherin „nur von epigenetischen Abweichungen in Form der Methylierung. Damit hat sich die Diät der Mutter zwar nicht auf die DNA selbst aber auf das Aussehen der Nachkommen direkt ausgewirkt.“
Zurück zu den Hausmäusen im Vierten Stock der taz. Ich wurde langsam müde – und die Mäuse anscheinend auch. Deswegen brach ich die Beobachtung erst einmal ab. Ein paar Tage später beschloß ich, statt die Mäuse weiter zu beobachten, erst einmal zu der Ausstellung „Von Mäusen und Menschen“ zu gehen. Auf dem Weg dahin fand ich jedoch bei Dussmann im Ramsch ein Buch mit dem Titel „Von Menschen und Mäusen“. Der Autor hieß Francesco Santoianni und war ein „Experte für Katastrophenschutz und -bekämpfung“. Von einer Katastrophe konnte zwar im vierten Stock der taz keine Rede sein, aber vielleicht wußte der Autor darüberhinaus noch einiges mehr über Mäuse. Außerdem kaufte ich mir auch noch eine Tüte Nüsse. Diese streute ich dann – wieder zurück in der taz – auf dem „Wahrheits“-Schreibtisch aus – und machte mich dann ein paar Tische weiter an die Lektüre des Buches. Inzwischen war niemand mehr im Haus und auch die Putzkolonne schon durch sowie der Fahrer, der die taz vom nächsten Tag brachte. Weitere intervenierende Variablen waren nicht mehr zu erwarten.
Der Autor Santoianni war ähnlich vorgegangen wie ich: Erst hatte er sich ein Buch über Mäuse in einer neapolitanischen Buchhandlung gekauft – und dann alle möglichen Informationen über diese Nagetiere gesammelt, wobei er mit Mäuse Ratten und Mäuse meinte, von denen es allein in Neapel 10 Millionen geben soll. „Die Familie der Muridae teilt sich in 82 Gattungen auf, darunter die Gattung Mus und die Gattung Rattus. Erstere kommt allein in Italien in über 300 Unterarten vor“. Der Kampf gegen diese Tiere begann mit der Seßhaftigkeit und dem Ackerbau, der das Lagern von Getreide nach sich zog – aber damit auch „Hausmäuse“ und „Hausratten“ anzog. Schon einige tausend Jahre vor Christus wurden die ersten professionellen Vernichtungstruppen für sie aufgestellt. In China war zuletzt – während der Kulturrevolution – das ganze Volk aufgerufen, die schädlichen Nager (neben Spatzen und Schadinsekten) zu vernichten. Laut Santoianni ging diese Kampagne aber nach hinten los, weil die Leute die Tiere massenhaft züchteten, um sie anschließend umzubringen – und eine Prämie dafür zu kassieren. Ein ähnlicher Fall war zuvor aus dem Vogelsberg berichtet worden, wo man noch raffinierter vorging: Da dort die Prämien für Schwänze gezahlt wurden, fingen die Leute die Nager in Fallen, schnitten ihnen die Schwänze ab und ließen sie wieder laufen, damit sie sich weiter vermehrten, d.h. Nachkommen mit neuen Schwänzen zeugten und liebevoll großzogen. Der einzige Ort, wo Mäuse und Ratten geschützt, gefüttert und verehrt werden, ist der Tempel von Desmoke in der indischen Provinz Rajahstan, der Karniji gewidmet ist, der Göttin der Sänger und der Mäuse. Hat das Kafka vielleicht zu seiner Mäusegeschichte „Josephine die Sängerin“ inspiriert?
Alfred Sohn-Rethel veröffentlichte 1985 eine Geschichte aus seiner Londoner Exilzeit: „Sigurds Ratten“. Es ging darin um die streng rationierte Zuteilung von Hühnereiern für sich und seine Frau, von denen laufend welche aus ihrer Vorratskammer verschwanden. Die beiden verdächtigten sich bald gegenseitig, heimlich welche gegessen zu haben, bis Alfred Sohn-Rethel sich eines nachts auf die Lauer legte und dabei zwei Ratten zusah, wie sie die Eier stahlen: die eine Ratte umklammerte ein Ei und wälzte sich dann damit auf den Rücken, woraufhin die andere Ratte sie vorsichtig am Schwanz in ihr gemeinsames Loch im Holzboden zerrte, wo sie das Ei wahrscheinlich aufaßen – ohne das irgendwelche verräterischen Schalenreste in der Speisekammer zurückblieben. Ich habe diese Geschichte von Sohn-Rethel später mehrmals und in verschiedenen Ländern erzählt – überall kannte man sie. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um einen uralten Urban Tale, dem Sohn-Rethel nur durch London und Kriegszeit Lokalkolorit verlieh. Meine eigene Rattengeschichte geht so: Ein Freund und ich schossen mit einem Kleinkalibergewehr in einer Müllgrube dicke fette Wanderratten, einige trafen wir auch. Aber nachts überfielen mich im Traum tausende von Ratten. Am Morgen schwor ich mir, es nie wieder zu tun. Später sah ich zwei Hollywoodfilme, in denen tausende von Ratten über Menschen herfielen. Danach tauchten sie in meinen Träumen noch grausamer auf – allerdings immer seltener. Ganz wurde ich sie allerdings erst los, als ich in Italien auf dem Land arbeitete, wo im Stall ein großer Wassertrog für Pferde stand, in den alle paar Tage eine Ratte reinfiel. Sie schwammen darin um ihr Leben. Glücklicherweise kam ich nie zu spät: vorsichtig fischte ich die ermatteten Tiere mit einem alten Wollpullover raus und wickelte sie darin ein. Nachdem sie sich erholt hatten, huschten sie davon. Es waren kleine schwarze Ratten, die noch schöner und eleganter als unsere hiesigen Mäuse aussahen.
Santoianni zählte in seinem Buch als nächstes einige Schicksale von Labormäusen auf: 1991 wurde die erste von Menschen geschaffene patentiert – „die berühmte ‚Harvardmaus‘, der ein menschliches „Krebsgen“ eingesetzt wurde, „die dazu bestimmt war, an menschlichem Krebs zu sterben“. Danach wurde noch eine weitere patentiert, „die dazu ‚bestimmt‘ war, Milch zu produzieren“. Von der weiß ich nun wiederum, dass die Züchter inzwischen sogar eine Melkmaschine für ihre Mäuse zum Patent angemeldet haben – natürlich eine ganz kleine.
Wie eine Untersuchung in England ergab, haben 98,9% aller Labormäuse die allergrößte Angst vor Menschen, während umgekehrt bei den Amerikanern laut Santoianni 73% eine große Angst davor haben, dass eine aus der Kanalisation hochgekrochene Ratte ihnen in den Arsch oder die Eier beißen könnte, während sie auf der Toilette sitzen. Ob es einen direkten oder wenigstens nahebeien Zusammenhang zwischen den beiden Ängsten gibt, hat noch niemand untersucht. Eine Mäusemetaphorik-Studie von Michel Dansel legt diesen Schluß aber bereits nahe: „Die Geschichte der Mäuse, schreibt er, ist so eng mit der der Menschheit verbunden, daß sie vielleicht sogar all deren Facetten abdecken kann, die dunklen und die hellen Seiten.“ Zudem stelle „die soziale Ordnung der Mäuse einen Abdruck der menschlichen Gesellschaft dar.“
Sie haben jedoch eine weitaus größere Fruchtbarkeit als Menschen, und abgesehen davon besitzen trächtige Weibchen auch noch die Fähigkeit, ihre Föten zurück zu bilden, wenn sie einem Männchen begegnen, „das ihnen noch besser ‚gefällt‘, so daß sie ihre Föten völlig wieder ‚aufsaugen‘, um eine neue Schwangerschaft nach der Paarung mit dem neuen Partner zu beginnen“. H.W.Nissen, ein Pionier auf dem Gebiet der Mäuseforschung, fand darüberhinaus heraus, dass Ratten eine geradezu übermenschliche Neugier haben: Seine Tiere zögerten nicht, „eine schmerzhafte elektrische Barriere zu überwinden, nur um ein unbekanntes Labyrinth erforschen zu können“. Es gibt kein Tier mit einem derartigen Drang zu wissen, fügt Santoianni dem hinzu. Auch kaum eines, das derart altruistisch kooperieren und arbeitsteilig vorgehen kann – wie Mäuse und Ratten. An der Atlantikküste leben z.B. Ratten, bei denen ein Tier das Sammeln von Weichtieren unter Wasser übernimmt, ein anderes beherrscht die Technik, sie zu öffnen – und ein drittes schließlich darf sie verspeisen. Außerdem sind Ratten und Mäuse sehr viel widerstandsfähiger als Menschen: Nachdem die Amerikaner auf dem Archipel von Eniwetok im Pazifik 15 Atombomben getestet hatten, war die Flora und Fauna der Insel völlig vernichtet und der Boden wie verglast – aber die Ratten hatten überlebt. Man weiß bis heute nicht, wie.
Günter Grass veröffentlichte 1986 aber schon mal vorsichtshalber das Buch „Die Rättin“, um die Menschen zu warnen: Die nächste Gesellschaftsformation wird ein Rattenstaat sein – seine letzten Worte läßt Grass von einer Ratte auf einem Müllberg an die Menschheit richten. Die gefrässigen Nager überleben nicht nur hohe Dosen Gift, Gas und Radioaktivität, sie übertragen auch noch über den Pestfloh die für den Menschen tödliche Pest. Man weiß heute, dass überall auf der Erde, „wo große Populationen grabender Nager (die in unterirdischen Tunnelsystemen leben) vorkommen, von der Pest infiziert sind“. Die letzte Pestepidemie, „die ohne Bekämpfung durch Penicillin oder ähnliche Antibiotika verlief, brach 1947 in Burma aus, die Sterblichkeitsrate belief sich dort auf 78%. Seitdem stellt diese Krankheit jedoch keine Geißel der Menschheit mehr dar, auch wenn ihre Herrschaft bei den Nagern ungebrochen ist.“ Seitdem experimentiert man in den USA jedoch mit der Beulenpest als ein Mittel zur Kriegsführung.
Umgekehrt ist es laut Santoianni sicher ein Verdienst der Mäuse, dass man – z.B. in Ägypten – ihren Hauptfeind: die Katze – für heilig erklärte. Daneben fangen heute aber auch immer mehr Menschen – in Italien z.B. – Mäuse und Ratten, um sie an Labore zu verkaufen. Der weltweit größte Produzent und Exporteur von Labormäusen ist allerdings die US-Firma Camm Bred. Aber ob wild gefangen oder von dieser Firma – „das Schicksal der Mäuse ist besiegelt, sobald sie in ein Labor gelangen. Dort kommen sie nur tot wieder heraus, und das fast immer nach Torturen, die wir unserem schlimmsten Feind nicht wünschen würden.“ Nach einer Schätzung der Universität von Rutgers, New Jersey, wurden bereits 1971 allein in den USA rund 45 Millionen Mäuse und Ratten umgebracht.
Neben dem kalten Forscherehrgeiz gibt es jedoch auch noch eine heiße Tierliebe, der massenhaft Mäuse und Ratten zum Opfer fallen – Menschen, deren Hobby es ist, diese Nager zu züchten, zu halten und zu tauschen. Dazu gibt es Mausvereine, die „Internationale Mäuseakademie“, die „National Fancy Rat Society“ und den „International Mouse Club“. Francesco Santoianni besuchte im Londoner Naturkundemuseum deren Konferenz, die „Mice and Men“ hieß. Dort kam es zum Bruch zwischen den Mäuse- und den Rattenfreunden, letztere halten ihre Tiere für „schöner und intelligenter als Mäuse“, sie würden jedoch „von der offiziellen Kultur auf den zweiten Platz verwiesen“.
Ich habe als Junge auch mindestens ein Dutzend weiße Mäuse, schwarz-weiße Mäuse und mongolische Wüstenspringmäuse in Käfigen gehalten – und mehr oder weniger zu Tode gespielt. Zuletzt hatte ich auch noch eine weiße Ratte, die jedoch frei auf unserem Wochenendgrundstück lebte, d.h. auf einer Insel in einem Teich, zusammen mit einem Kaninchen und zwei Meerschweinchen. Im Gegensatz zu diesen schwamm und tauchte die Ratte jedoch gerne – und lebte so also quasi freiwillig auf der Insel. Eines Nachts wurde sie jedoch wahrscheinlich von einer Eule geholt, sie war jedenfalls weg – und das Kaninchen sowie die Meerschweinchen tot. Später in Berlin hatte ich immer nur mittelbar etwas mit Mäusen zu tun – und zwar mit den durch ihre Vermehrungslust zu viel gewordenen bei Kindern, deren Mütter diesen Mäusenachwuchs jedoch nicht einfach im Klo wegspülen wollten. Darin unterstützte ich sie: Erst wurde ich die kleinen Mäuse in Zoologischen Handlungen los; als diese genug hatten, bot ich sie den Kinderbauernhöfen an, und als auch diese dankend abwinkten, brachte ich sie zum Zoo, der ständig Mäuse zum Verfüttern braucht. Manchmal geriet ich dort in eine regelrechte Schlange von Müttern, die alle den Mäusenachwuchs ihrer Kinder entsorgen wollten.
Während ich im vierten Stock der taz Santoiannis Buch durchlese, werden die Mäuse um mich herum immer dreister, sie laufen sogar über meine Aktentasche, die direkt hinter mir steht, machen Männchen auf den Blumentöpfen und stöbern laut raschelnd in den Papierkörben. Als ich das der kurz vor Mitternacht anrückenden Putzkolonne erzähle, meint einer der zwei bloß: „Kein Wunder bei den vielen Lebensmittelabfällen, die hier auf den Schreibtischen liegen. Und dann die vielen herumstehenden Kaffeetassen – alle halbvoll mit Kaffee, Milch und Zucker.“ „Mögen Mäuse denn kalten Kaffee?“ frage ich zurück, um nicht alles googeln zu müssen, bekomme jedoch nur zur Antwort: „Weeß ick doch nich!“
Mir fällt noch eine weitere Mäusegeschichte ein. An der Ecke meiner Straße befand sich ein Bolle-Supermarkt, der am 1. Mai 1987 geplündert wurde – und abbrannte. Auf dem eingezäunten Trümmergrundstück wucherten bald Bäume und Sträucher. Irgendwann um 1994 herum bemerkte ich, dass das Gelände heimlich wieder genutzt wurde – und zwar, um dort Nagetiere freizulassen. Anfangs waren es junge Frauen, die, nach allen Seiten sichernd im Dunkeln mit einer braunen Maus in einer nichttötenden Mausefalle an den Bolle-Zaun traten, wo sie die Maus in die Freiheit entließen: mit einem Seufzer der Erleichterung. Bald folgten jüngere Kinder, die dasselbe taten, jedoch ungenierter und mit zahmen, hellen oder schwarzweißgefleckten – Mäusen, von denen die Kinder hofften, daß sie dort – ohne Katzen – eine echte Überlebenschance hätten. Als mit dem albernen „Piercing“ und „Tatooing“ die Laborratten langsam aus der Mode kamen, sah man gelegentlich auch waschechte Punker am Bolle- Zaun, wo sie sich umständlich von ihren „Rättinnen“ verabschiedeten: „Es war eine dufte Zeit!“ In Kreuzberg vermehren sich seit Jahren die Hausmäuse. Eine Bekannte dort, Dorothee, fängt ihre regelmäßig im Abfalleimer in der Küche – mit Käseresten. Den Eimer deckt sie mit einem Aktenordner ab und trägt ihn dann raus – zu Bolle. Leider wohnt sie so nahe am Trümmergrundstück, dass die Mäuse immer wieder den Weg zurück in ihre Wohnung im Dritten Stock finden. Einmal brachte sie kurz hintereinander vier Mäuse zu Bolle, bei der letzten jammerte sie: „Ich kann doch nicht die ganze Nacht Mäuse runtertragen, was soll ich bloß machen?“ Es gibt übrigens in Berlin eine Schutzpatronin, die vor allem Säufern gegen Mäuse und Ratten hilft: die heilige Gertraut, sie steht an der gleichnamigen Brücke beim Spittelmarkt.
Das Buch von Santoianni habe ich durch, es war nicht sehr ergiebig. Die Mäuse im Vierten Stock sind immer noch munter. Erst jetzt bemerke ich: Wenn ich mich bewege huschen sie in einen der Kabelschächte, die unter jedem Schreibtisch einen Deckel haben, der halb offen ist, weil dort die Leitungen für Computer, Telefon etc. herausführen. In diesen Schächten scheinen sie zu hausen. Und das ist nicht ungefährlich, denn wenn sie die Kabel da drin anknabbern, kann es zu Kurzschlüssen kommen – und damit eventuell zu einem Produktionsausfall. Also muß doch Rentokil herkommen.
Ich zögerte jedoch. Die Mäuse hatten meine Nüsse gegessen, wie ich feststellen konnte. Und das erinnerte mich an ein Erlebnis im Deutschen Herbst – in einer Pension in der Eifel, wo ich der einzige Gast gewesen war. Ich fühlte mich dort nicht wohl und vereinsamte. Aber eines Nachts entdeckte ich eine Maus in meinem Zimmer, anhand ihrer Ködel konnte ich sogar sehen, dass sie über mein Bett gehuscht war. Ich legte ihr aus Dankbarkeit für ihre Anwesenheit ebenfalls Nüsse hin, die sie auch nicht verschmähte. Aber dann erzählte ich Idiot eines morgens der Wirtin davon und die legte sofort Giftköder aus. Bereits in der kommenden Nacht war die Maus verschwunden, ich war traurig. Aber in der darauffolgenden Nacht war sie wieder da – vielleicht war es auch eine andere, auf jeden Fall freute ich mich über sie – und verriet sie nicht noch einmal an die Wirtin.
Hier in der taz lag der Fall jedoch anders: Es wußten alle von den Mäusen, die unterboden verlegten Leitungen waren gefährdet durch sie – und ich fühlte mich eigentlich nicht einsam. Meine Nachtwächterei im Vierten Stock geschah mehr aus Forschungsinteresse. Aber niemand drängte mich, höchstens, dass immer mehr Leute fragten: Was machen die Mäuse im Vierten? Oder: Sind sie wirklich nur im Vierten?
Ein paar Tage später rief ich Rentokil an. Ich bekam nicht mit, was sie gegen die Mäuse unternahmen. Aber als ich mich heute nacht – jetzt – wieder an den Schreibtisch setzte, um diesen Text noch einmal zu überarbeiten, abzuschließen und gleichzeitig die Arbeit von Rentokil zu kontrollieren, waren keine Mäuse mehr da. Alles war still im Vierten Stock – die ganze Nacht. Wie hatte dieser englische Kammerjäger-Konzern das bloß wieder geschafft? Ich schaute mir im Internet die Aktienperformance dieses Marktführers an: Sie hatte Anfang August fast ihren Jahreshöchststand vom Oktober 2005 erreicht, war dann aber im Laufe des Monats wieder stark abgefallen. Das sagte mir alles nicht viel. Ebensowenig, dass der Konzern „ständig neue umweltverträgliche Dienstleistungen und Technologien für noch effizientere Detektion, Bekämpfung und Vorbeugung“ entwickelt, wie er auf seiner Webpage prahlt. Als „Schädling des Monats“ wurde dort für August die Schwarzgraue Wegameise ausgezeichnet. Die hatten wir unten vorm taz-Gebäude auch. Doch dafür würde ich die Killer von Rentokil nicht anrufen – das schwor ich mir.
In letzter Zeit häufen sich die Warnungen von Bio-Wissenschaftlern, die Ergebnisse von Experimenten, vor allem in der Pharmaindustrie, mit Mäusen auf Menschen zu übertragen: „Mice tell lies!“
Die Süddeutsche Zeitung faßte diese Warnungen zusammen:
Allein in Deutschland standen im vergangenen Jahr knapp 1,9 Millionen Mäuse im Dienst der Wissenschaft. Niemand bezweifelt den enormen Fortschritt, den diese Tiere in der biomedizinischen Forschung ermöglichen.
Dass sich die Tiere aber auf vielen Gebieten als wenig hilfreich erwiesen haben, wollen nicht alle Forscher akzeptieren. Dabei seien Mäuse etwa in der Immunologie „lausige Modelle“, wenn es um die Entwicklung neuer Medikamente geht, schreibt Mark Davis von der Stanford University im Fachblatt Immunity.
n den 100 Jahren seit Mäuse der Wissenschaft dienen, eine regelrechte Modellmaus-Industrie zwischen Laboren weltweit entwickelt. Mäuse mit nahezu jeder gewünschten genetischen Ausstattung reisen zwischen Braunschweig und Berkeley, zwischen Massachusetts und München um die Welt. Wenn Forscher Modelltiere austauschen, spart das Zeit und Geld. Möglicherweise führe es aber auch dazu, dass sich Forscher „bei jeder Fragestellung blind auf die Maus verlassen“, wie Mark Davis kritisiert. „Wir scheinen ein Stadium erreicht zu haben, in dem so viel in das Mausmodell investiert wurde, dass es undenkbar erscheint, nach etwas anderem Ausschau zu halten“, schreibt der Immunologe.
Nicht die Maus ist Schuld an den zum Teil vernichtenden Urteilen der Wissenschaftler. Sondern der Mensch und sein Hang zur Bequemlichkeit und Schludrigkeit. Eine „mangelhafte Qualität“ und Fehlinterpretationen bescheinigt der Alzheimer- Forscher Mathias Jucker vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung der Universität Tübingen vielen Maus-Studien. Von „überoptimistischen Schlussfolgerungen aus methodisch fragwürdigen Tierstudien“ spricht ein Team um den niederländischen Neurologen Bart van der Worp.
Jucker ahnt, welche Konsequenz all seine Forderungen haben können: „Gäbe es für Tierstudien ebenso strenge Auflagen wie für klinische Studien am Menschen, hätten wahrscheinlich 90 Prozent aller Maus-Studien kein positives Ergebnis.“