vonHelmut Höge 05.09.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Es gibt eine Vervogelsbergisierung – als ortsbestimmte Reregionalisierung (von frei flottierenden Daten – soll heißen: dit und dat). Daneben gibt es seit der Wende aber umgekehrt auch eine mehr generelle Einberlinisierung – auch verächtlich Buletten-Werdung oder noch verächtlicher Verbulletierung genannt. Diese funktioniert primär auf der Achse Provinz-Hauptstadt, und zwar dergestalt, dass die taz bereits laufend Briefe aus z.B. Emden, Düsseldorf oder Würzburg bekommt, in denen sich lokale Kulturmanager bitter beklagen: „Wir können hier in der Provinz machen was wir wollen – die tollsten Veranstaltungen oder Ausstellungen, das interessiert niemanden, aber wenn in Berlin nur ein kleiner Pups stattfindet, berichten sofort alle Medien ganz groß darüber.“

Das ist der verblödende Hauptstadteinfluß! Wenn man jedoch – fast gezwungenermaßen – dort wohnt, gar lebt, dann profitiert man davon. Dennoch wollten wir uns nicht kampflos darein schicken – und etablierten deswegen vor acht oder neun Jahren auf den Kulturseiten der taz eine Kolumne namens „Berliner Ökonomie“. Unter diesem Kampfbegriff – gegen die von oben durchgesetzte und auch auf allen Kapitalmedienseiten sofort propagierte „Berliner Republik“ – sollte kumulativ ein Gegengewicht sich bilden. Dazu schien es ratsam, primär „Ausländer“ zu Wort kommen zu lassen, oder solche, die aus sonstwelchen Gründen eine in erkenntnistheoretischer und -praktischer Hinsicht privilegierte „Marginal Man Position“ einnehmen. Man könnte hierbei auch von einem „Klein-Werden Schaffen“ sprechen. Im Journalismus wird so etwas abfällig Arschfalten-Recherche genannt. Das schützt jedoch nicht davor, darunter gelungene und weniger Texte veröffentlichen zu müssen: Unter der „Berliner Ökonomie“, deren Sinn das Berliner Ensemble übrigens sofort verstand, denn sie stellten dem damaligen taz-Feuilletonchef Harry Nutt freimütig ihr Logo für diese Kolumne zur Verfügung, wobei dann das Wort Ensemble bloß mit Ökonomie augestauscht wurde – auch das verstand man am Schiffbauerdamm natürlich sofort. Und damit waren wir bereits mitten drin in der Einberlinisierung. Es gibt daneben auch noch eine Ausberlinisierung – dazu gehören u.a. die „Agronauten“ im Umland, das sich bis sonstwohin erstrecken kann.

Die erste Kolumne schrieb der Kreuzberger Historiker und VHS-Dozent Mathias Mildner: „Der Berliner Unwille“ – so hieß dann später auch eine Webpage der Initiativen, die den Palast der Republik erhalten wollten.

Mit dem „Wirtschaftsbürger“ beschworen einst Heinz und Ludwig Erhardt den spätheimgekehrten Arbeiter und den neuen Unternehmer. Er kam indes nie so recht zur Parade, nun soll er sich gar an die Spitze der Deregulierung setzen. In Berlin ist das besonders hoffnungslos: In der deutschen Hauptstadt ging es den ökonomisch Selbsttätigen bereits 1448 an die Gurgel, was man bis heute den „Berliner Unwillen“ nennt: Der brandenburgische Markgraf nutzt ein Vermittlungsgesuch des zerstrittenen Bürgertums, um Besitz und städtische Selbständigkeit an sich zu bringen. Die Bürger einigen sich und rufen – vergeblich – die Hanse zu Hilfe. „Unwillig“ müssen sie dann mit ansehen, wie Friedrich II. 1450 auf ihre Kosten sein Residenzschloß in der Stadt errichtet (bis heute ein Top-Diskussionsgegenstand). Die Berliner Niederlage ist von nationaler Bedeutung: Noch vor der Niederschlagung der „witzig“ gewordenen Bauern (1525) werden die Städte dem Adel gefügig gemacht! Davon hat sich das deutsche, speziell das Berliner Bürgertum nie wieder erholt: Noch bis 1917 gilt das Dreiklassenwahlrecht. Erst 1918 setzt die revolutionäre Arbeiterbewegung die bürgerlich- parlamentarische Demokratie durch.

Das politische Desaster von 1448 ging unmittelbar einher mit einem wirtschaftlichen: Frankfurt (Oder) wurde wichtiger als Berlin, das sich erst wieder berappelte, als der Feudalherr dies für notwendig erachtete. So ließ er z.B. 1662 den Spree-Oder-Kanal bauen, der Berlin aus seiner abseitigen Lage befreite und womit sein Warenaufkommen wieder an das von Hamburg heranreichte (heute erhofft man sich erneut ähnliches – vom Kanalbau). Alle neuen Innungen waren stets an den Repräsentationsbedürfnissen des Landesherrn orientiert. Sogar die Berliner Börse wurde vom Hohenzollern und nicht vom Bürgertum eingerichtet. Und selbst die Teilnahme der finanzstarken Bürger – der Juden – an dieser Veranstaltung mußte er noch gegen „seine“ Berliner durchsetzen. 400 Jahre nach dem „Unwillen“ scheitert das Bürgertum in seiner „Erhebung“ erneut: Die Revolution von 1848 bringt den Berlinern nicht viel mehr als die Aufhebung des Rauchverbots in der Öffentlichkeit.

Erst die zwei Kabinettskriege in den 60ern bringen Bewegung. Doch obwohl die Zünfte sich auflösten und in den Gewerkschaften wiederkehrten (die nun erneut ein „Strukturproblem“ haben), erreicht die „kleindeutsche Lösung“ nicht einmal das, „was die Bourgeoisie anderswo längst besitzt, und läßt die Hauptschikane, das bürokratische Konzessionswesen, unberührt“. (F. Engels) Dem Bürgertum hierzulande steckt 1448 noch in den Knochen. Es will nicht herrschen: „Wir sollen und wollen auch in Zukunft … willig und gehorsam Untergebene sein und bleiben, ohne Ausrede, ohne Arg und ohne alle Gefährde“. (So gelobte man damals; bis heute ist die Berliner Bürgerpresse von besonders autoritärer Kritiklosigkeit; und auf die ängstliche „Befreiung“ 1989 folgte sogleich die Heimholung der letzten Hohenzollerngebeine.) Das Anforderungsprofil des Wirtschaftsbürgers – Sehen, Erkennen, Handeln – ist derart mit Stumpf und Stil ausgerottet, daß das Maß von Welt verlorengegangen ist. Daraus folgt Über- wie Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten: Für sich nichts, für Kaiser und später Führer alles – sich zutrauen. Man hat eine moderne Gesellschaft – aber mit feudalen Interessen. Kriege im Kapitalismus sind laut Engels so rational wie Betriebsführung. Sich deshalb in einen Krieg gegen alle, aber auch jeden, zu stürzen, und das zweimal kurz hintereinander, zeugt von völliger Bindungslosigkeit zur realen Welt (die mit Wahnsystemen überbrückt wird) und von Lernunfähigkeit.

Die Italiener z.B. brauchen nach Stalingrad nur ein halbes Jahr, um zu merken, der Krieg ist verloren – und schicken Mussolini zum Teufel! Im Endeffekt war die Berliner Bourgeoisie nach den zwei Irrsinns-Unternehmungen – WKI und WKII – abgeräumt. Die Reste setzten sich aus den beiden Stadthälften klammheimlich nach Westdeutschland ab. Was dann statt dessen hochkommt, sind subventionierte Bauluden. Man schaue sich dazu nur den goldkettchenbehangenen Geschäftsbetrieb in der Industrie- und Handelskammer an und vergleiche ihn mit dem dezenten Publikum der Hamburger Einrichtung. Nicht einmal die Wende wackelte am Erscheinungsbild der Protz-Poliere. Dazu paßt, daß amerikanische Privatknast- und Spielcasino-Aktien in Berlin Börsenhits sind. Die politische Opposition dazu erschöpft sich in einer „FDP des öffentlichen Dienstes“ – Grüne genannt -, die spitzfindig an den Aufschwung-Ost- Abschreibungsobjekten Fassadenkritik betreibt. Der Masterplan ersetzt den Monarchen! Die „Oppositionellen“ wohnen inzwischen übrigens alle in den ehemaligen jüdischen Villen und Bauhaus-Palästen am Stadtrand.

Kein Wunder also, daß das vom Bundespräsidenten und anderen Querdenkern geforderte „Umdenken“ nicht viel mehr bisher hervorgebracht hat als innenbeleuchtete Litfaßsäulen, privat betriebene öffentliche Toiletten und einen wüsten Konzessionshandel um Parkraumbewirtschaftung. Anderswo (in den USA und der Türkei z.B.) stiftet eine Dienstleistung Existenz und Sinn, hier ging es 550 Jahre lang genau umgekehrt darum, daß nur eine individuell-unwillige Verweigerung von Dienstleistung Identität schuf. Was der Dramatiker Heiner Müller vielleicht etwas vorschnell als große proletarische Errungenschaft feierte.

Und so ging es dann weiter mit der „Berliner Ökonomie“, die immer wieder droht, einzugehen – mangels Zuträger von Geschichten. Denn das gehört auch noch zu diesem Konzept, dass man solche Autoren wie Mathias Mildner geradezu an den Schreibtisch zerren – und sich bereiterklären muß, dass sie einem den Text diktieren. Ähnlich war und ist es bei vielen „Ausländern“, die oft sowieso nicht auf Deutsch schreiben, dafür einem jedoch sehr gut auf Deutsch diktieren können. Mit der ukrainischen Prostituierten Lilli Brand entstand aus den Kolumnen auf diese Weise ein ganzes Buch: „Transitgeschichten“, das kürzlich auch auf Serbisch erschienen ist.
Eine andere Auswahl aus den „Berliner Ökonomien“ veröffentlichte dann der SWR-Radiosender aus Baden-Baden als „Literarisches Wort“, der Redakteur Dr.Schäble war an weiteren „Sendungen“ interessiert, ging dann aber in Pension.

1. Subventionen – gestern, heute, morgen

Obwohl die Definition der Berliner Ökonomie nicht als gewinnorientiert gilt, sondern als kalkulierter Verlust hingenommen wird, beklagt man neuerdings ihr „Fading Away“ – durch Abbau von Kulturförderung und die Privatisierung sozialer Einrichtungen. So als ob nun deren Umwandlung in „Profit-Center“ erfolge. Dabei setzt sich die Berliner Ökonomie hier bloß aufs Neue durch. Erinnern wir uns: Mit dem Bau der Mauer und der dadurch einsetzenden Flucht der Betriebe nach Westdeutschland wandte sich die Frontstadt mit „Jetzt erst recht“-Parolen an „die Bonner“ und forderte Kompensation. Diese erfolgte in Form von kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen, Ämtern, Behörden, Versorgungseinrichtungen etc. Man gehe nur morgens einmal zum Fehrbelliner Platz, wenn 10.000 Sekretärinnen aus der U-Bahn an ihre Arbeitsplätze in die dorthin platzierte Bundesversicherungsanstalt eilen. Ein Anblick, der das Herz jedes ÖTV-Funktionärs höher schlagen lässt. Auch die Gewerkschaften aber subventionierten Westberlin wie verrückt, indem sie erstens den Bildungsurlaub für alle durchsetzten und zweitens ihre Bildungszentren an Berliner Seen errichteten.

Drüben tat die SED Ähnliches, indem sie Ostberlin in jeder Versorgungshinsicht privilegierte. Nach dem Mauerfall wurden diese ganzen Einrichtungen mit ihrem in die hunderttausende gehenden Personal zusammengelegt – von der BVG über die BSR bis zur Akademie der Künste und den Fachhochschulen. Wobei überhängige Abteilungen – sofern sie aus dem Osten waren – weggegauckt wurden. Dann ging es an die „Verschlankung“, parallel dazu wurden neue Einrichtungen nach Berlin verlagert: Ministerien, Lobby- und Industrieverbände, Gewerkschaftsverwaltungen, Greenpeace, Botschaften, Banken und Medien.

Wenn vor ein paar Jahren noch hunderte von jungen Akademikerinnen die Woche über als Medienfitti mit dem ICE zur Arbeit nach Hamburg fuhren, dann ist es heute genau umgekehrt: Immer mehr Mitarbeiter aus Hamburger Medien werden in die Hauptstadt verdonnert, um die neue „Berliner Republik“ mit heißer Luft zu füllen. „Die Schlange in die Reichstagskuppel darf niemals abreißen!“ lautet die Anweisung. Dafür sorgen allein schon die ganzen Abgeordneten, die busweise Interessierte aus ihrem Wahlkreis nach Berlin karren, viermal pro Legislaturperiode. Auch die Ministerien selbst laden sich Besucher zuhauf aus dem In- und Ausland ein. Wie mir ein Sachbearbeiter aus dem „noch relativ kleinen“ Auswärtigen Amt erzählte, gibt man dort allein für Blumenschmuck jährlich über 100.000 Euro aus. Noch mehr fallen diese Haushaltsposten bei den nur mit Repräsentativaufgaben befassten Botschaften ins Gewicht. All dies bringt den Berliner Blumenhandel in Schwung, daneben auch das Gaststätten-, Hotel und Kulturgewerbe.

Die gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen haben das erkannt: Erst setzten sie das Wort „Kultur“ im genehmigungspflichtigen Fortbildungskanon für Arbeitnehmer durch, nun bieten sie dazu Berlin-Kultur an, wobei Ver.di seinen Bildungsurlaubsreigen mit dem Karneval der Kulturen beginnen lässt, während Gewerkschaften mit starker Ruhrgebietsbindung mit dem Endspiel um den DFB-Pokal im Olympiastadion anfangen. Dagegen verknüpft die Unternehmerseite ihre Berlin-Workshops gerne mit Wannseeregatten, Tennis-, Golf- und Hohenzollernevents. Zur Grünen Woche haben die Berliner Bordelle Hochkonjunktur, während bei der Love Parade die meisten Mädchen frei haben.

Die Subventionierung Berlins hat jedenfalls eher zu- als abgenommen seit der Wende. Man kann sogar die Wiedervereinigungsidee „Sonder-Afa“ dazuzählen, denn im Endeffekt hat die durch solche Abschreibungen ausgelöste Bau- und Renovierwut nicht nur Ateliers und Kunstgalerien vermehrt, sondern die Mieten sogar runtersubventioniert. Kultur in jedem Neubau. Inzwischen preist schon die Polizei ihre verzigfachten Überwachungsaufgaben als Schauplätze an – und macht sie für den Metropolentourismus fit. Die Berliner Wissenschaftler haben es ihnen nachgetan und sorgen mit einem „Metropolendiskurs“ für Furore. Der Hamburger Merve-Philosoph Heinz Bude kreierte gar eine ganze „Generation Berlin“, woraufhin ein Heiner-Müller-Schüler alle Berliner zu „Partisanen“ erklärte. Auch dies war eine vertrauensbildende Subventionierungsaufforderung, denn längst gibt es einen eigenen 1.-Mai-Tourismus nach Kreuzberg und einen „Karl und Rosa“-Tourismus nach Lichtenberg sowie einen 8.-Mai-Parcours von einem der sowjetischen Ehrenmale zum anderen. Längst haben sich die City-Guides diversifiziert und auf jüdische, lesbische, ökologische, ornithologische, religiöse und sexuelle Stadtführungen spezialisiert. Auch hierbei handelt es sich oft um subventionierte „Errungenschaften“ – bis dahin, dass ihre Betreibung auf ABM-, IDA- und/oder LKZ-Basis erfolgt. Allein die Gartenbauämter konnten ihre Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen seit der Wende von 40 auf 6.000 steigern unter dem Motto: „Unsere Hauptstadt soll schöner werden!“

2. Lüko Becker

Der autonome Kreuzberger Baseballspieler hatte einst seine juristische Examensarbeit über einige Rechtsprobleme in Brechts „Dreigroschenoper“ geschrieben. Nach bestandener Vorbereitungszeit beim Kammergericht kritisierte er in einer Art ABM und im Auftrag der SPD die Verfassungskonformität des PDS-Parteiprogramms. Die Strafe folgte auf dem Fuße: 1996 verkündete er in der Endart-Galerie Oranienstraße, daß er dort inmitten der schockierenden Kunst eine Anwaltskanzlei eröffnen wolle, wobei er sich auf Sport- und Kunstfälle spezialisieren werde. Wir verstanden: Gewalt und Pornographie! – Und waren’s zufrieden. Dann verzögerte sich jedoch seine Zulassung bei der Anwaltskammer. Man hielt ihm vor, eine Verurteilung im Fragebogen nicht angegeben zu haben.

Er hatte 1992 in seinem Heimatort Westerstede mit einem Freund, der wie er Mitglied des Baseballvereins „Ammerland Judges“ war, nachts auf der Straße Baseball gespielt. Aus einer Kneipe kommende Zeugen hörten dann, daß „es während des Spiels klirrte. (…) Ein Baseball sowie ein Schläger befanden sich im Plus-Markt“, so stand es im Urteil des Amtsgerichts, das Lüko Becker zu 15 Tagessätzen à 25 Mark verurteilte. „Ich wollte nichts verschleiern“, versicherte er daraufhin der Anwaltskammer. Die Verurteilung hätte er bereits während seiner Ausbildung der Kammergerichtspräsidentin „gemeldet“, und die habe – weil kein „Dienstvergehen“ vorlag – von einem Vorermittlungsverfahren abgesehen. Nun schrieb sie ihm jedoch, sie könne seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft „nicht befürworten“. Die Anwaltskammer bezeichnete obendrein sein „bewußtes Verschweigen“ als „schweren Charakterfehler“. Lüko nahm sich einen Anwalt. Dieser kassierte erst einmal einen Vorschuß von 300 Mark und bot dann dem Anwaltsgerichtshof schriftlich einen „Deal“ an: Wegen des „Bagatellcharakters“ habe sein Mandant die „Vorstrafe nicht mehr realisiert“, er würde den Zulassungsantrag aber zurückziehen – so lange, wie die Anwaltskammer ihn für ungeeignet zur Ausübung des Berufes halte – und danach einen neuen, richtig ausgefüllten stellen. Ansonsten sei die Vorstrafe überhaupt nicht geeignet, „an seiner Würdigkeit zu zweifeln“.

Anfang 1997 wurde dieser „Vergleichsvorschlag“ akzeptiert. Dann erfuhr die Kammergerichtspräsidentin jedoch, daß Lüko Becker steckbrieflich gesucht werde und ein Haftbefehl gegen ihn vorlag. Im Juli klärte er sie darüber auf: Wegen der Geldstrafe hätte er Ratenzahlung vereinbart gehabt, die diesbezüglichen Antworten der Staatsanwaltschaft Oldenburg inklusive der Vollstreckungsversuche seien jedoch nie bei ihm angekommen. Im übrigen wäre die Geldstrafe inzwischen bezahlt und der Haftbefehl aufgehoben. Die Anwaltskammer befürworte daraufhin erneut seinen Antrag, woraufhin es am 14. Oktober endlich zum Eid kam: Er mußte „schwören, die verfasssungsmäßige Ordnung zu wahren und die Pflichten eines Rechtsanwalts gewissenhaft zu erfüllen“. Anschließend durfte er seine Kanzlei in der Oranienstraße 28 eröffnen.

Die beiden ersten Aufträge hatten dann auch tatsächlich mit Gewalt und Pornographie zu tun: Ein schmächtiger junger Thai sollte 3.000 Mark zahlen, weil er einen großen Verwaltungsangestellten im Tiergarten zusammengeschlagen hatte. Und einem israelischen Kulturschaffenden hatte man auf einem bayrischen Flughafen mehrere Kunstvideos abgenommen und als pervers vernichtet. Beide Fälle löste Lüko mit Bravour – zur Freude seiner Mandanten, die noch nicht einmal etwas dafür zahlen mußten. Auch für ein Gutachten, um das ich ihn dann bat – bei einer juristische Auseinandersetzung, in der es um „Prostituierten-Sein oder -Nichtsein“ ging -, konnte die taz ihm nur anbieten, dafür bei Gelegenheit mal was Positives über seine Kanzlei zu schreiben. Das ist hiermit geschehen.

3. Immer mehr Doppelungen

Die Doppelstadt Berlin ist wohl wie keine andere in der Welt für jeden Verdoppelungsirrsinn geeignet. Nicht nur auf der Landkarte sieht man alles doppelt – im Osten den Müggelsee, im Westen den Wannsee -, es gibt dort auch je einen Teufelsberg mit einer Öko-Station drauf. Außerdem sind auch alle Institutionen doppelt: die Oper, die Nationalgalerie, der Zoo, die Uni, Zeitungen, Flughäfen, Museen, Boheme-Berge mit U-Bahnen, die oben fahren, usw. Und weil Gesellschaften mit identischen Entwicklungsstufen immer dieselben Lebensentwürfe freigeben, und zwar in begrenzter Anzahl, gibt es auch jeden Ostberliner noch einmal als Lookalike in Westberlin.

Im Märkischen Viertel gründete kurz vor der Wende die Ex-Sekretärin Rosemarie Fieting, die schon als Fünfjährige Liz Taylor zum Verwechseln ähnlich sah, die erste deutsche Doppelgänger-Agentur, mit einer Lizenz der Bundesanstalt für Arbeit. Heute hat sie Hitler gleich dreimal im Angebot, einmal den Papst und zweimal Honecker: „Einer heißt sogar Horst-Erich.“ Die Marilyn Monroes gibt es bei ihr gleich im Dutzend; eine brachte sich sogar einmal auf dieselbe Art wie ihr Vorbild um. Auch die anderen Doppelgänger von toten Prominenten haben es schwer: So ließ sich ihr Freddy Mercury wie der echte die Zähne für viel Geld richten und ihr Humphrey Bogart hat schon mehrere Schönheitsoperationen über sich ergehen lassen müssen, um dem früh Verstorbenen ähnlich zu bleiben. An Rosemarie Fietings Lookalike-Kartei fällt auf, dass die meisten ihrer rund 2.000 Lookalikes aus der Region kommen, aus der die Originale stammen.

Mit der morphogenetischen Feldtheorie des englischen Botanikers Rupert Sheldrake kann man sagen: Die Prominenz hat ein mediales Zentrum, dessen Ausstrahlung nach außen hin abnimmt. So kommen etwa alle Mitglieder der Royal Family, das heißt deren Lookalikes, aus England; die Honeckers aus der DDR, George Bush aus Amerika, Otto aus Ostfriesland und alle Michael Schumachers aus Westdeutschland. „Das Phänomen der Doppelgänger ist – sie wissen nicht, wer war das Original und wer bin ich“, meint Rosemarie Fieting. „Sie da immer wieder auf den Teppich zurückzuholen ist schwer. Jetzt lasse ich das auch: Die sind ja so am besten!“

Inzwischen gibt es in Berlin noch eine weitere Lookalike-Parade: allmonatlich im Hotel Estrel. In Amerika, wo aus allen rassischen und physiognomischen Individualitäten ein einheitlicher Typ geformt wird – und zwar ebenfalls über die Medien und ihre Prominenten (sowie über Fastfood), hat man schon vor über 20 Jahren die ersten Erfahrungen mit Lookalikes und deren Contests gemacht. Von dort kommt nun auch die erste Kunde, dass das Phänomen längst auf alle Gegenstände und Gadgets übergesprungen ist: Nichts ist mehr heilig und einmalig! Es gibt Tischlampen-als-Toaster-Lookalikes, Imbissbuden, die wie ein Hamburger aussehen, Tische, die der hockenden Hausfrau zum Verwechseln ähneln, Kugelschreiber, die als Doppelgänger von Revolvern daherkommen und umgekehrt, Hausbars in Form von Fernsehern oder Kaminfeuern, Kühlschränke als Lookalikes von Bücherregalen und Chefzimmer als Raumschiff-Kommandozentralen . . .

In Berlin hat die kanadisch-litauische Künstlerin Laura Kikauka daraus eine riesige Sammlung gemacht. Auch auf der Expo 2000 ist Derartiges zu besichtigen. Im Themenpark „Basic Needs“ zum Beispiel jede Menge Ei-Lookalikes. Wenn diese oder ähnliche Doppelgänger-Dinge tierische beziehungsweise humanoide Formen verpasst bekommen, kann man auch von Lookalike-Mutanten sprechen: In Schwarzeneggers Filmen sind das dann Menschen, die wie Roboter aussehen und Roboter, die wie Menschen wirken. Dieser Lookalikismus kommt gerne pädagogisch daher und breitet sich dementsprechend gerne in Kinderzimmern aus. Die derzeitig beliebtesten Lookalike-Mutanten sind die vier Teletubbies und die 151 Pokémon-Figuren, die alle irre gewordenen Genforscherhirnen entsprungen zu sein scheinen. Dabei sind sie jedoch auch nichts anderes als Lookalike-Gadgets, wobei die Ars Combinatoria darin bestand, aus kindgemäßem Bekannten scheinbar neue Formen zu kreieren. Insgesamt weisen all die lebenden und toten Doppelgänger daher auf ein Nachlassen der Spannung, auf ein Ende der Schöpfungskraft hin: Mit der Eliminierung des letzten Fremden und der Korrumpierung auch noch der allerletzten (wilden) Kultur kann nun nur noch bereits Bekanntes zusammengebastelt werden. Es gibt keinen neuen Würfelwurf mehr! Unsere Ausdrucksmittel sind erschöpft. Schon trifft man die ersten Berliner Originale unter den letzten Amazonas-Indianern und umgekehrt. Jetzt ist es (dort) das Bekannte-Allzubekannte, was dann doch verblüfft.

4. Bürgerlicher und proletarischer Amok

Kürzlich bekam mein Freund, der Bauhilfsarbeiter Ludwig, beim Betonbohren einen elektrischen Schlag und fiel vom Gerüst – zwei Stockwerke tief in den Garten. Als er wieder zu sich kam, fragte ihn der Chef von oben herab als Erstes, ob die Bohrmaschine heil geblieben sei. Ludwig schwor Rache. Erst recht, nachdem er erfahren hatte, dass die gemütlichen Einsatzbesprechungen morgens bei einer Tasse Kaffee nicht als Arbeitszeit vergütet würden; und nachdem ihm dort auch noch der Chef plötzlich verkündet hatte, er solle für vier Wochen unbezahlten Urlaub nehmen. Er ging in die nächste Kneipe und kam erst einmal ins Grübeln über diese ganzen Ungerechtigkeiten. Dann schnappte er sich eine Zeitung. Auf der letzten Seite las er, dass ein amerikanischer Arbeiter in Tuscon, nachdem man ihn entlassen hatte, nach Hause gegangen war, sein Gewehr geholt und vier seiner Arbeitskollegen sowie einen Abteilungsleiter erschossen hatte.

Ludwig überlegte, woher er ein Gewehr kriegen könnte – auf die Schnelle. Ihm fiel jedoch kein Waffenbesitzer in seinem Freundeskreis ein. Er las weiter und stieß auf einen Artikel über „Trittbrettfahrer“: Zwei Männer in Ingolstadt hatte man zu sechs Monaten Gefängnis verknackt, weil sie einen Brief mit vermeintlichem Anthraxpulver an den Juniorchef einer Möbelfirma, bei der sie angestellt waren, geschickt hatten. Das zynische Begleitschreiben hatte ihnen die Lohnbuchhalterin getippt, die mit einer Geldbuße davonkam. Auch sie hatte inzwischen ihren Job verloren.

Ludwig überlegte kurz, ob er seinem Chef einen dicken Brief mit Scheiße schicken sollte – und malte sich aus, wie der ihn öffnen und sein Büro stinken würde. Die Chefsekretärin müsste das Kotzen kriegen! Ludwig hatte schon seit Monaten keine Zeitung mehr gelesen, außer mal eine Bild oder B. Z. von einem Arbeitskollegen, in den Pausen oder beim Scheißen. Jetzt musste er sich eingestehen, dass er da vielleicht was verpasst hatte: Die Intelligenzblätter schienen voll mit Racheaktionen erboster Menschen zu sein. Der reinste Katalog für individuellen Widerstand. Auf die Idee, zur Bauarbeitergewerkschaft zu gehen, kam er gar nicht.

Stattdessen blätterte er die Zeitung weiter durch. Auf der Medienseite fand er einen langen Artikel über Massenentlassungen bei kalifornischen Zeitungen: Bei einer besonders renommierten wurde den langjährigen Mitarbeitern sogar fristlos gekündigt – und der Haussicherheitsdienst begleitete sie sofort nach draußen. Das hätte viele Journalisten dort besonders erbost, schrieb die hiesige Zeitung. Ludwig erinnerte sich daraufhin an einen Freund und Journalisten aus alten Kampftagen: an mich. Sofort nahm er sein Handy raus, guckte nach, ob meine taz-Nummer programmiert war, und rief mich an. Die Geschichte aus Kalifornien kannte ich bereits. Dafür wusste ich jedoch eine noch haarsträubendere Nachricht aus Hamburg: Dort stellt der Besitzer eines Geschäfts regelmäßig Bettler ein, die dafür von seinen Mitarbeitern bezahlt werden – da die Bettler ihnen ja die Arbeit abnähmen. Der Besitzer wurde dafür aber wegen seiner sozialen Idee in der Lokalzeitung gelobt. „Warum zahlen die Idioten denn den Bettlern was? Schön blöd!“, meinte Ludwig. „Was würdest du denn machen?“, fragte ich zurück.

„Darüber wollte ich ja gerade mit dir reden“, erwiderte er und erzählte mir seine ganze Leidensgeschichte mit seinem Chef bis zur momentanen Zeitungslektüre. Als er fertig war, sagte ich: „Du bist nicht der Einzige, sogar die Titelgeschichte eines Wirtschaftsmagazins befasst sich bereits mit der bedrohlich gewachsenen Willkürmacht der Chefs beziehungsweise Manager – und damit, was der kleine Angestellte dagegen tun kann. Der in Amerika immer beliebter werdende Amoklauf von Arbeitslosen an ihrem letzten Arbeitsplatz wird bereits als normales mobbing end angesehen. Ich habe eine ganze Mappe von Zeitungsausschnitten darüber. Den Rekord hält übrigens ein Buchhalter aus St. Louis, der mit zwei Maschinenpistolen gleichzeitig seine ganze frühere Firma auslöschte. 56 Mitarbeiter. Komischerweise ließ er den Chef am Leben.“ „Das verstehe ich nicht!“ Ludwig ächzte fast. – „Das ist der amerikanische Sonderweg bei den Arbeitskämpfen“, vermutete ich ihm gegenüber. „Der hilft uns aber jetzt nicht weiter“, entgegnete er leicht gereizt, „hier geht es nämlich gerade um den Chef. Was hältst du davon, mal was über seine saubere Firma zu schreiben? Er hat beispielsweise schon zwei Mal eine türkische Kolonne schwarzbeschäftigt – und sie anschließend nicht bezahlt, also ein Mal schon, aber mit einem ungedeckten Scheck. Und die Türken haben ihn zwar eine Zeit lang verfolgt, aber sich nicht getraut, zur Polizei zu gehen, wegen der Schwarzarbeit. – Der hat deren Angst knallhart ausgenutzt.“

Klar könnte man über ihn mal eine „Berliner Ökonomie“ schreiben. „Aber“, gab ich zu bedenken, „wenn wir da wirklich was Übles finden, dann wird die Firma dichtgemacht. Und deine Kollegen verlieren ihre Arbeitsplätze. Im Endeffekt kommt dabei dasselbe raus wie bei dem Buchhalter in St. Louis: Nur der Chef überlebt . . .“ – „Mit seinem BMW metallic!“, stöhnte Mazda-Fahrer Ludwig – und kam dann noch einmal auf Amerika zu sprechen: „Hast du in deiner Mappe auch Amokläufe von Schülern gesammelt, die ihre Mitschüler und Lehrer abgeknallt haben?“ – „Ja, wieso?“, fragte ich ihn. – „Du weißt doch, dass ich einen Sohn habe. Und der hat einen Klassenlehrer, der ihnen laufend sagt: ,Wir müssen alle noch viel amerikanischer werden.‘ Neulich hat mein Sohn, als er nach Hause kam, schon gemeint: ,Den bringe ich noch mal um.‘ Bisher hatte ich dem keine Bedeutung beigemessen . . .“

Mir fiel dazu ein, dass man in Amerika für diese sich häufenden Fälle bereits eine neue Therapie erfunden hat, die sich anger management nennt. Worauf Ludwig mir entgegnete: „Was denkst du, weswegen ich die ganze Zeit hier mit dir ein teures Handygespräch führe? Ich bin schon mittendrin – in der Ärgergeschäftsführung.“

5. Für eine kritische Prothetik

Dreimal nahmen wir Anlauf zu einem „Berliner Ökonomie“- Journalistenstammtisch. Einmal beendete die Vollendung der Wende dieses regelmäßige Ost- West-Treffen, dann nahm Sontheimer die Sache bei sich zu Hause und mit thailändischem Essen in Angriff, und schließlich kam ein mittwöchlicher „Volxkorrespondenten-Tisch“ im „Torpedokäfer“ zustande, der sich jedoch alsbald zu einem Sklaven-Autorentreff wandelte. Also nicht dem Austausch von Fakten, sondern eher der Feinabstimmung in der Deutung diente.

Neulich kam ich dort durch einfache Tag-Nacht-Verschiebung einen Abend zu spät, blieb aber an der Theke stehen. Neben mir saß der Wirt des Winsenz aus der Winsstraße, früher bei der Anderen leitender Redakteur. Nun hört er schwer und hat sich deswegen gerade ein 2.000-Mark- Hörgerät gekauft. Neben ihm saß Abrißspezialist Jürgen Ahlwiß – mit einem neuen Gebiß. Später gesellte sich noch Lisa dazu. Sie hatte sich auf der Kellertreppe das Bein gebrochen und ging an Krücken. Da mochte ich mich auch nicht länger zurückhalten und holte ein Etui aus der Tasche – mit meiner ersten Lesebrille, 1,8 Dioptrin und entspiegelt, für 68 Mark bei Optiker Wunder, zu dem mich der Arzt (die AOK spricht neuerdings von „Lotsen“), also wohin mich in diesem Fall mein burmesischer Augenlotse Dr. Maung Maung Mra in der Potsdamer Straße quasi überwiesen hatte. Augenarzt Dr. Mra hat nicht nur tolle technische Geräte, eine nette, mit ihm verheiratete holländische Sprechstundenhilfe, sondern auch ganz viele verschiedene ausländische Patienten, wobei die asiatischen leicht überwiegen, weil Schlitzäugige häufiger eine Brille brauchen als Rundäugige, ganz zu schweigen von Würfeläugigen. Dr. Mra weiß auch eine Menge über Burma und nimmt sich Zeit, mir davon zu erzählen. Ich wollte aber von der Brille eigentlich nur so viel sagen, daß ich sie an der „Torpedokäfer“-Theke aus der Tasche zog, was augenblicklich bewirkte, daß ich mich in die kleine Runde um mich herum einbezogen fühlte.

Wie wir noch dabei waren, uns reihum mit den Geschichten hinter unserer jeweiligen Prothetik zu versorgen, kam Frank mit seiner thailändischen Freundin Ooy an, die – das wußten wir schon – einen Silikonbusen hat; einen schönen, so viel kann man sagen. Nun kam aber das Schönste: Ihr Freund Frank, Steuerberater mit der Wende geworden, hat seit neuestem einen Herzschrittmacher. Kein Witz! Selbst meine Lesebrille ist alles andere als ein Vergnügen. Manchmal finde ich die Durchsicht neblig, dann vergesse ich sie, dann drückt sie auf der Nase, hinterm Ohr, beschlägt und macht mich älter – schon allein, weil ich diese albernen popfarbenen Brillen, die ältere RTL- Moderatorinnen ebenso favorisieren wie jüngste taz-Redakteure, natürlich nicht wollte, und für „Eye Wear“ von Klein-Calvin zu protestantisch bin, andererseits aber mit einer verspiegelten Sonnenbrille wie ein in Ehren ergrauter haitianischer Stasi- Scherge aussehe.

Es wurde trotzdem noch ein ganz vergnügter Abend in unserer Prothesenrunde. Wir beschlossen, uns fortan regelmäßig zu treffen. Frank wollte noch einen Freund mit einem Suspensorium aus Nirosta mitbringen, Lisa kannte jemanden mit einem künstlichen Darmausgang, und ich versprach, meinem Nachbarn Bescheid zu sagen, der, soviel ich wußte, ein Becken aus Porzellan besaß. Irgendwann gesellte sich so ein Penner zu uns, der auch unbedingt dazugehören wollte. Er habe das ganze Maul voller Jacketkronen, prahlte er und bleckte sein Gebiß: zwei Reihen perlweißer Zähne. Aber wir waren nicht einmal nach einigen Bier-Runden bereit, unseren Prothetik- Begriff derart auszuweiten, daß er praktisch jede Verschönerung guthieß. Auch der Hinweis, daß dem doch eine Leidensgeschichte vorausgegangen sei, konnte uns nicht umstimmen. Erst recht nicht der verschämte Hinweis auf Ooys Silikonbusen. Er hatte ihr von Anfang an keine Freude gemacht und war im übrigen Prothetik im ursprünglichsten Sinne: Werkzeug. So wie meine Brille. Um schreiben zu können, muß man lesen (können). Was wir jedoch noch suchen, das ist jemand mit einer Eisernen Lunge. Für den gäbe es sogar Freibier, wurde einstimmig beschlossen. Der Penner fand das bescheuert. Völlig verspielt hatte er jedoch, als er Lisa anbot, ihr seine Faxnummer auf den Beingips zu schreiben – und sie nichts dagegen hatte.

6. Das Schustersterben

Die Schuhmacher gehörten immer zu den Radikalsten; aus diesem Beruf gingen die meisten Philosophen, Agitatoren und Terroristen hervor. Daher auch die obrigkeitliche Warnung: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ Doch die industrielle Revolution drängte den Schuster langsam an den Rand der Arbeiterbewegung, und all die exproletarischen Men-in-Sportswear-Banden, im Verein mit dem Turnschuhminister, ließen ihn fast verstummen. Zwar gibt es noch immer 146 Schuster in Berlin. Aber in der einst berüchtigten Innung, die bereits 1284 gegründet worden war, sind nur noch 58 Mitglieder. Noch weniger, nämlich 40 Mitglieder, hat heute die Innung für Orthopädie und Schuhtechnik, die sich 1950 abspaltete. Damals sorgten die vor Stalingrad abgefrorenen Zehen für einen Orthopädieboom, den die Krankenkassen finanzierten. Auch heute gibt es wieder vermehrt Fußkranke. Der Grund dafür liege jedoch bei den miesen Modeschuhen und ihren Plateausohlen, wie mir der computergestützte Orthopäde Herr Friedrich erklärte, dessen Kreuzberger Geschäft in der Skalitzerstraße untergebracht ist. Schräg gegenüber betreiben zwei Frauen ein Schuhgeschäft: „Meier und Schöpf“. Ein Paar Maßschuhe kostet bei ihnen ab 1.600 Mark. Die Großmutter der Meisterin kam aus Weißrussland und weiß, dass sich in Berlin zunehmend weißrussische Flickschuster niederlassen. Das weiß auch die Innung, die dazu erklärt, dass es für diese Emigranten „der einfachste Weg ist, sich selbstständig zu machen. Von den jungen Leuten will das ja heute keiner mehr machen.“ Der Schusterberuf ist nicht mehr attraktiv. Einst übten ihn auf dem Land oft körperlich schwache oder verkrüppelte Männer aus. Bei dieser geräuscharmen, sitzenden Tätigkeit konnten sie diskutieren und sich weiterbilden. Manche Schuster beschäftigten sogar Vorleser, und oft waren sie noch nebenbei Dorfschreiber. Ende des 18. Jahrhunderts scheinen sie „eine regelrechte innere Berufung zur Revolution gehabt zu haben“, wie der Historiker Richard Cobb meint, und nicht wenige wurden berühmt: John Adams, Thomas Dunning, John Brant . . .

Karl Marx lobte wiederholt Wilhelm Weitling und Stalin den gelernten Schuster Ceauscescu. Die DDR setzte einigen von ihnen ein Denkmal, als sie ihre Produktionsgenossenschaften nach berühmten Schustern benannte: Hans Sachs und Jakob Böhme zum Beispiel. Erstere ging in der Wende pleite, Letztere ist dafür heute eine große GmbH mit zentraler Reparaturstätte – und 85 Mitarbeitern. In Odessa sind die Schuster alle Griechen und in Moskau Tartaren. In Berlin werden jetzt die Schustereien in der Zeitung Russkij Berlin vor allem Weißrussen angeboten. Davor hatten die in Rente gehenden deutschen Schuster ihre Läden meist Türken übergeben. Letztere brauchten keine Meisterprüfung abzulegen, wenn sie sich auf die Reparatur der Außenschuhe beschränkten. Von dieser Regelung profitierten dann auch die „Mister Minit“-Läden und ihre Subunternehmer, die neben der „Absatzbar“ noch einen Schlüsseldienst betreiben – und vor allem mit Superexpresskleber arbeiten, wie Frau Schöpf abschätzig meint.

Im Übrigen befürchtet sie, dass wegen der vielen irreparablen „Schuhe aus einem Guss“ in nächster Zeit noch viel mehr Schuster eingehen werden. Die Kunden von „Meier und Schöpf“ kommen inzwischen aus ganz Berlin. Inklusive Leistenbauen brauchen die beiden Frauen für ein Paar Schuhe 80 bis 100 Stunden; die Materialkosten machen etwa 15 Prozent bei der Herstellung aus. Die Lederpreise sollen demnächst steigen: wegen des Rinderwahnsinns, lautet die Begründung. Andererseits kommt das meiste Leder aus Asien, und deswegen argumentiert man auch gerne mit den großen Überschwemmungen dort. Es gibt drei Lederhändler in Berlin, dazu noch drei Großhändler für Schusterbedarf. Erwähnt seien noch die ganzen Verkäuferinnen in den Schuhläden, die sich an manchen Tagen schon die Füße in den Bauch stehen. Mitte der Neunziger gab es bereits eine erste große Fusionswelle, die zur Entlassung vieler älterer blonder Schuhverkäuferinnen führte, von denen eine Gruppe nun nebenbei anschaffen geht. Mit den steigenden Schuh- und Taschenpreisen wird es zu weiteren Ladenschließungen kommen, meinte gerade Innungsmeister Jacubowsky in der BZ: „Die Situation hat sich verschärft.“ Demnächst versammelt sich dessen ungeachtet die gesamte Branche im „ARD-Hauptstadtstudio“, wo die Preisträger eines Wettbewerbs der Schusterinnung geehrt und ihre Werke vorgeführt werden. So hoch wie zur 700-Jahrfeier 1984 wird es nicht hergehen. Der Schuster ist schon lange nicht mehr die „Schlüsselfigur“ des intellektuellen und politischen Lebens auf dem Land – viel weniger in der Stadt, wie Eric Hobsbawm schreibt, der den Beruf in seiner schönen Aufsatzsammlung „Ungewöhnliche Menschen“ ehrte.

7. Die Telefonsklaven

Einerseits bieten die Callcenter, von denen es in Berlin über hundert gibt, den Studenten Massen neuer Jobs an, andererseits sind die Arbeitsbedingungen dort unter aller Sau. Zudem werden durch diese Einrichtungen nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen, „vielmehr ersetzen sie qualifizierte Arbeitsverhältnisse durch Routinejobs, die nur eines Minimums an Qualifikation bedürfen“, klagt selbst das Unternehmer-Callcenter FAZ: „Die Callcenterisierung ist die Industrialisierung des Dienstleistungssektors.“ Gerade luden die jungen Berliner Anarchisten der altehrwürdigen Freien Arbeiterinnen und Arbeiter Union (FAU) die Aktivisten von „www.callcenteroffensive.de“ zur Diskussion in den Friedrichshainer Fischladen. Mehrere Leute, die in Callcentern arbeiten, referierten. Fast jedes Bundesland hat inzwischen eine Stabstelle für die Ansiedlung neuer Callcenter, wobei im Osten Deutschlands der Aspekt der Niedriglöhne betont wird. Vor allem in der Provinz – zum Beispiel in Wittenberge – gründen westdeutsche Firmen gerne solche Billig-Callcenter, in denen die ehemaligen Langzeitarbeitslosen nicht mehr als 13 Mark brutto kriegen.

In Berlin sind hauptsächlich Studenten derart „prekär beschäftigt“: Um die Ansprüche auf Abfindung, Urlaubsgeld etc. unter das gewerkschaftliche Minimum zu drücken, gibt es hier sogar Callcenter, deren Beschäftigte täglich neue Arbeitsverträge unterschreiben müssen. Anderswo müssen die Mitarbeiter, um Scheinselbstständigkeitsanzeigen zuvorzukommen, Verträge bei verschiedenen Firmen unterschreiben, die in Wirklichkeit zusammengehören. Sich gegen solche Zumutungen der neuen Ökonomie zu wehren, ist schwierig. Nicht wenige agents, so heißen die Telefonsklaven, arbeiten in drei Callcentern gleichzeitig, zudem sind die Mitarbeiter alle in verschiedenen Schichten tätig, und die Fluktuation ist groß. Die Friedrichshainer Hotline GmbH entließ vor einigen Tagen gleich 15 Mitarbeiter, die sich für die Gründung eines Betriebsrats eingesetzt hatten. Die demnächst loslegende neue Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di hat bereits eine Arbeitsgruppe „Callcenter“ eingesetzt. Bisher hat Ver.di allerdings noch nicht einmal in den großen Callcentern Fuß fassen können. In vielen Betrieben, wie bei Mannesmann-Mobilfunk, bekämpfen sich daher noch HBV und IG Metall.

Die studentischen Mitarbeiter scheinen wenig geeignet zu sein, in den Callcentern Verbesserungen durchzusetzen, da sie sich bereits als angehende Akademiker sehen. Die nicht studentischen agents sind andererseits oft zu ängstlich und zu schlecht informiert, um sich zur Wehr zu setzen. Die durchgehende Individualismusideologie der Callcenter-Beschäftigten jedoch beginnt zu zerbröseln – wenn auch langsam. So gibt es in einigen Arbeitsverträgen der Callcenter bereits „Mobbing-Paragrafen“, allerdings: „Das gilt nie für die Geschäftsführung“, erklärte ein Callcenter-agent. Und ein anderer meinte: „Man muss Formen des Arbeitskampfes finden, an denen sich auch Mitarbeiter beteiligen können, die nicht rausfliegen dürfen.“ Derzeit befindet man sich auch gedanklich und propagandistisch noch in der Defensive. So wurde beispielsweise ein Flugblatt für den Callcenter-Kampf verteilt, das so klein war, dass man es nur als junger Mensch oder mit der Lupe lesen konnte. In der Auseinandersetzung spielen auch die verschiedenen Sozialhilfevereine und ABM-Projekte mit. Sie drücken immer mehr Langzeitarbeitslose in die Callcenter, um ihre Vermittlungsquote zu erfüllen. Das hat zur Folge, dass die Arbeitsverhältnisse noch mehr brutalisiert werden.

So wurde in einem Callcenter ein Mitarbeiter nur deswegen entlassen, weil er sich zu sehr für einige gekündigte Türkinnen eingesetzt hatte. Überhaupt herrscht ein Kommen und Gehen: „Ich habe einige Monate pausiert, anschließend habe ich niemanden mehr gekannt. Die einzige Kommunikation fand in der Kaffeeküche statt, wo man rumsaß. Jetzt sind die meisten Mitarbeiter dort jedoch Kollaborateure!“ Auch diese Ideologie der Callcenter – „Wir sind alle mitverantwortlich für das Wohl des Unternehmens“ – muss erst noch zerstört werden. Aber es gibt Grund zum Optimismus: Die dummdreisten Callcenter-Chefs zumindest setzen alles in Bewegung, um diesen Bewusstseinsbildungsprozess bei ihren Untergebenen zu beschleunigen, z.B. indem sie der Wahl eines Betriebsrates zustimmen – und dann diejenigen, die das forderten, entlassen.

8. Die afrikanische Scene

Der schwarze Kontinent gilt als Dritte Welt par excellence, wo nicht nur – laut Hegel – jedes gute Wort, sondern auch jede harte D-Mark spurlos verschwindet. Auf der 1. Messe über Geldbeschaffungsmaßnahmen bot dazu der Berliner Verlag Das Arabische Buch ein Dutzend „Diskussionspapiere“ an: „Die Verschuldungskrise in Afrika – Ansatzpunkte für eine Lösung“, „Der informelle Finanzsektor von Marktfrauen in Dakka“, „Die Last der Arbeit und der Traum vom Reichtum – Frauengruppen in Kenia zwischen gegenseitiger Hilfe und betriebswirtschaftlichem Kalkül“. Hinzu kam noch eine Untersuchung über verschiedene Formen von Dritte-Welt-Ökonomien in Berlin selbst. Zwei FU-Politikstudentinnen hielten all diese Titel für Forschungs-„Fakes“. Dabei befand sich gleich daneben ein Stand von drei Ghanaerinnen, die Fleischtaschen, Chicken Soup und Kaffee anboten. Es waren Schwestern. Die eine – reich verheiratet – verkaufte auf eigene Rechnung, die andere – arm verheiratet – half ihrer Schwester, die mit den Lebensmitteln ihren Flug nach Hause finanzieren wollte. Gleichzeitig erhoffte sie sich noch eine größere Summe aus der Teilnahme am „On Bidong“.

Bei diesem von ihnen „Merry-Go-Around“ genannten Selbstfinanzierungssystem geht es darum, dass reihum jeder 250 Mark monatlich in einen Topf wirft, der dann an einen besonders Bedürftigen verteilt wird. Die Ausschüttung kann auch per Losverfahren entschieden werden. Der Messe-Mitveranstalter Guillaume Paoli hatte ein solches „Banksystem“ bereits in Paris kennengelernt und wollte unbedingt eine Diskussion darüber auf der Messe veranstalten, fand jedoch in der hiesigen afrikanischen Szene keine Teilnehmer. Nun wollte es der Zufall, dass eine der Schwestern dies quasi nebenbei erledigen konnte. Sie bekam 400 Mark für ihren Vortrag. Off the records berichtete sie noch über weitere afrikanische Dritte-Welt-Ökonomien in Berlin.

Diese haben ihre Basis in den diversen afrikanischen Disco-Clubs, Restaurants, Afro-Shops und Cafés – wie das Jambo in Kreuzberg beispielsweise. Dort kann man auch das Nachrichtenblatt für die afrikanische Gemeinde in Deutschland The African Courier (TAC) lesen. Eine Ausgabe hat den Aufmacher „Telephoning Becomes Cheaper As Deutsche Telekom Loses Monopoly“. Seitdem gibt es immer mehr Läden, in denen man billig ins Ausland telefonieren kann – nach Ghana kostet die Minute etwa 96 Pfennig. Anders als die meisten anderen Ausländergruppen halten viele Afrikaner einen engen Kontakt sowohl zu ihren Angehörigen und Freunden daheim als auch zur afrikanischen Szene in Berlin und Westdeutschland. Nur ein individueller sozialer Aufstieg, wie etwa die Einheirat in die kulturelle oder wirtschaftlich obere Mittelschicht, wirkt hier entsolidarisierend. Die meisten können nicht nur keinerlei finanzielle Hilfe von zu Hause erwarten, sie müssen umgekehrt mindestens einen Teil ihrer Familie dort unterstützen.

Ihre Ökonomie, die sie sich dafür aufbauen, ist äußerst prekär. Das Spektrum reicht von kleinen Import-Export-Geschäften und Container-Transporten von hier nahezu wertlosem Zeug bis zum Sex-Business. Aber selbst in den Bordellen werden die Afrikanerinnen arg diskriminiert – von den Puffmüttern und blonden Kolleginnen bis zu den Freiern halten sich alle für etwas Besseres: ein weiterer Grund, zusammenzuhalten. So wird das von Polizeirazzien oft heimgesuchte Lulu in Neukölln von Kenianerinnen dominiert und das Tutti im Prenzlauer Berg, das sich bester Polizeikontakte rühmen kann, von Ghanaerinnen, während in der Sauna-Bar hinterm Adenauerplatz am liebsten US-Afrikanerinnen arbeiten.

Von einer erfuhr ich dort: Alle Farbfilme der Welt (Konica, Fuji, Kodak, Agfa und seit 1992 auch Orwo) sind auf 12 Uhr mittags New Yorker Sommerzeit geeicht – und dort auf die Gesichter von Weißen: „Wenn die Sonne lacht, Blende acht!“ Das hat zur Folge, dass die Gesichter der Afrikaner auf automatischen Farbfotos meist versacken, manchmal sind nur dunkle Flecken zu sehen. Da andererseits viele Weiße die Gesichter von Schwarzen sowieso nicht unterscheiden können, hat sich für diese in Europa die Möglichkeit ergeben, Pässe einfach untereinander auszuleihen. Im Schnitt besitzt jede achtköpfige Familie wenigstens drei anständige Pässe. In vielen afrikanischen Staaten müssen neben dem Beglaubigungsstempel inzwischen auch Dokumente, die die Echtheit des Beglaubigungsstempels zertifizieren, beigebracht werden. Das hat jedoch nicht verhindern können, dass viele Leute vom Passverleih leben können: Wenn zum Beispiel eine Afrikanerin ohne ordnungsgemäße Papiere als letzte Geldbeschaffungsmaßnahme in einem Bordell arbeiten muss, kann sie sich für 20 Mark am Tag – plus einmaliges Depositum von 200 Mark – den Pass einer hier legal mit Arbeitserlaubnis lebenden Afrikanerin leihen. Übrigens nehmen ihr die Bordelle noch einmal rund 50 Prozent ihrer Einnahmen ab. Die Folge dieser Passgeschäfte ist ein großes Durcheinander. Auch bei den Afrikanerinnen selbst, die etwa als Rosalinde einreisen, als Mary-Eve anschaffen gehen und als Yolande ausreisen, wobei sie keinen Hin- und Rückflug buchen können, weil sie danach mit einem Pass auf den Namen ihrer Schwester Hillary, die eigentlich gar nicht ihre richtige Schwester ist, wieder einreisen wollen. Später holen sie dann noch ihre Tochter Judith nach, die auch nicht ihre richtige Tochter ist. Ja, die Afrikanerinnen sind wohl die wahren Meister in dem Netz – das das Leben selbst ist.

9. Rotarmisten und Rotkehlchen

Meine am Kreuzberger Engeldamm wohnende Quasi-Nachbarin Tsypylma Darieva veröffentlichte kürzlich einer interessanten Forschungsarbeit. Die 1967 geborene Burjatin studierte zunächst in Leningrad Orientalistik, bei einem Turkologen. Dann in der Akademie der Wissenschaften in Ulan-Ude Geschichte und Ethnographie des Schamanismus. Nebenbei hielt sie dort noch – vor Kammerjägern – Vorträge über Buddhismus. Schließlich setzte sie ihre ethnologischen Studien in Moskau fort. Mit einem Stipendium studierte sie sodann drei Jahre bei den Ethnologen an der FU. Und schrieb schließlich eine Doktorarbeit bei den Europäischen Ethnologen an der HU. Es geht darin um den Aufbau der Infrastruktur unter den sowjetisch-russischen Emigranten – in Berlin und London. In Berlin leben vor allem Rußlanddeutsche und jüdische Russen sowie über Scheinehen hierhergekommene Postsowjetniks. In London sind viele Russen Firmenvertreter (vor allem von russischen Banken), Jelzin schickte allein 20.000 Banker zur Ausbildung nach London. Nicht wenige Russen sind dort dann ins Telefon-Selling-Business eingestiegen, das jedoch seit der Wirtschaftskrise in Rußland am Boden liegt.

Insgesamt gibt es nur etwa 150.000 Russen in ganz Großbritanien, so viele leben allein in Berlin. Obwohl England als Auswanderungsziel für sie eigentlich viel attraktiver als Deutschland ist. Vor 100 Jahren war es noch umgekehrt: Die adlige Frauenrechtlerin Lilly Braun berichtet in ihren „Memoiren“, daß es in Berlin viele linke russische Studentinnen gab, während in London vor allem arme russische Juden lebten. Jetzt sind in Berlin – zumindestens von den jüdischen Russen – viele im Sushi-Bar- sowie im Spielhallen- Geschäft tätig. Außerdem gibt es in Berlin etliche ABM-gestützte Frauen-Selbsthilfeprojekte – wie OWEN, S.U.S.I. und den Club Dialog etwa. Und inzwischen sogar ein eigenes „Branchenbuch des russischsprachigen Berlin“ (für 5 Euro). Nachdem man sie in ihrer Heimat ausgemustert hat, ist auch eine Anzahl der hier früher stationierten Rotarmisten wieder zurückgekehrt.

Welche Rolle spielen beim Aufbau ihrer ökonomischen und kulturellen Infrastruktur die orthodoxe Kirche und andere religiöse Gemeinschaften, die eigenen Mediengründungen, die Vereine und Treffpunkte etc.? Solchen und ähnlichen Fragen ging Tsypylma Darieva in qualitativen Interviews nach. Und über kurz oder lang wird wohl niemand, der an diesem Integrations-„Thema“ Interesse hat, mehr an ihrer Studie vorbeikommen. Übrigens gibt es auch bereits eine Doktorarbeit über die Exil-Russen in Amsterdam und London – von Helen Kaprina Geier. Und es mehren sich die Detailanalysen – aus dem Umfeld der Berliner jüdischen Gemeinde und des Kulturvereins etwa, die beide auch noch eigene deutsch-russische Zeitschriften herausgeben. Außerdem fangen immer mehr russische Emigranten an, ihre Erfahrungen und Ideen selbst – auf Deutsch – zu veröffentlichen. Erwähnt seien Vladimir Vertlibs Roman „Zwischenstationen“ (im Deuticke Verlag) und Timur Litanischwilis „Beichte eines verrückten Emigranten“ (in der Edition Amadis). Letzterer ist der Bruder von Marina, der Besitzerin des russischen Clubs „Nostalgia“.

Es gibt aber bei diesen ganzen Emigranten-„Netzwerken“ – neben ihrer Ausbreitung und Festigung – natürlich auch noch ein Affizieren und Affiziert-Werden. Zum Beispiel bei der russischen Discothek „Schalasch“ (Scheune) in der Chausseestraße 102. Auf dem selben Hof befindet sich das Brasilianische Zentrum, ein Techno-Design-Center sowie das Altberliner Ballhaus (mit Tischtelefonen): Wie beeinflussen sich diese vier „Scenen“ gegenseitig? Das allein wäre eine Forschungsarbeit wert. Vielleicht nach Art der Moabiter Gymnasiastin Steffi Ramin.

Mit ihrer „Dialektuntersuchung bei Londoner und Berliner Rotkehlchen“ gewann sie bereits einen Sonderpreis im Regionalwettbewerb von „Jugend forscht“. Anhand von Ausdrucken der Klangspektrogramme stellte sie fest: „Es lassen sich Unterschiede (Dialekte) nachweisen“. Beide Gesänge haben 7 Phrasen, der Berliner Rotkehlchen-Gesang wiederholt aber öfter gleiche Phrasen mit variierter Elementenzahl als der Londoner. Auch sind die Pausen bei den Londonern durchschnittlich größer, so daß der gesamte Gesang dort „gedehnter erscheint“. Beim Frequenz-Vergleich gab es im unteren Bereich eine Differenz von ca. 0,6 KHz. Unter „Phrase“ versteht die Forscherin eine rythmische Folge von typgleichen Elementen oder Silben, wobei das Element die kleinste von Intervallen begrenzte Einheit von Lautäußerungen ist. In einem „1. Seitenvergleich“ wies Steffi Ramin zudem nach, wie ein französisches Rotkehlchen derart vom Gesang einer Heckenbraunelle bzw. einer Klappergrasmücke affiziert wurde, d.h. derart viele „Phrasen“ von ihnen übernahm, „daß es schwer war, das Grundgerüst eines Rotkehlchengesangs überhaupt noch zu erkennen“. Ähnliches ergab ihr „2. Seitenvergleich“: die Klangspektrogramme von drei Buchfinken, wovon der eine „normal aufgezogen“, der zweite „isoliert aufgezogen“ und der dritte „mit Wiesenpiepergesang aufgezogen“ wurde.

Die Londoner Rotkehlchen-Gesangs-Scene mit der Berliner zu vergleichen, ist also eine Sache, eine andere ist es: Ihre Beeinflussung durch die sie – hier wie dort – umgebenden fremden Gesänge zu untersuchen. Und ähnliches gilt wohl auch für die „Russen“ – schon früher brachten dort z.B. die karelischen Bauern von jedem Marktbesuch ein neues Lied mit nach Hause. Andersherum bemerkte einmal der berühmte russische Genetiker Nikolai Wladimirowitsch Timofejew-Ressowski (genannt Ur), der von 1925 bis 1945 in Berlin-Buch arbeitete: „Der Vogelgesang verdient eine Wissenschaft für sich“.

10. Fichte im Wasser

Es muss natürlich „Fische im Wasser“ heißen, aber auf Fichte traf das auch einmal zu, insofern er sich 1810 in Berlin mit seinen „Reden an das Deutsche Volk“ zu einer Art Partisanenprediger im anhebenden Volkswiderstand gegen Napoleon aufschwang.

Den Anfang machte praktisch das Freikorps von Schill. Überall, wo es die französische Obrigkeit bedrängte, wurde es begeistert empfangen, aber zugleich ließ es selbst keine Auflehnung der Bürger gegen die Obrigkeit zu. Auch beim Guerillakampf ging Schill noch derart halbherzig vor: Statt im Raum beweglich zu bleiben und Attacken zu reiten oder sich wenigstens in die ostfriesischen Sümpfe zu verdrücken, wie der Freiherr vom Stein ihm mehrmals riet, suchte Schill die Schlacht und verschanzte sich am Ende in der Festung Stralsund, wo seine Aufständischen-Truppe zusammengeschlagen wurde und er den Tod fand. Ähnlich erging es dann dem Freikorps Lützow – seiner „verwegenen Jagd“ unter den neuen Farben schwarz-rot-gold. Immerhin kam dadurch der „Volksmiliz“-Gedanke von Scharnhorst in Schwung, auch von unten.

In Berlin stellten die Professoren eine eigene Landsturm-Abteilung auf, die sich in den Waffen übte: „Der ideologisch tapfere Fichte erschien bis an die Zähne bewaffnet, zwei Pistolen im breiten Gürtel, einen Pallasch hinter sich herschleppend, in der Vorhalle seiner Wohnung lehnten Ritterlanze und Schild für sich und seinen Sohn“, so zitiert Franz Mehring einen Beobachter, der dazu bereits anmerkte: „Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es oft nur ein kleiner Schritt.“

In der DDR wurden mit Beginn der Ost-West-Auseinandersetzung um das Was und Wessen des deutsches Erbes – nachdem die BRD sich „verräterisch“ der Nato angeschlossen hatte – Fichte sowie die preußischen Reformer und ihre Partisanenführer bzw. -sänger im antinapoleonischen Befreiungskampf noch einmal üppig rezipiert – und als vorbildlich dargestellt.

In der Wende war es dann der Nürnberger Marxist Robert Kurz, der nachwies, dass die vermeintlich sozialistische DDR Punkt für Punkt eine Realisierung des Fichteschen „geschlossenen Handelsstaats“ gewesen war. Diese Utopie hatte der Philosoph um 1800 als Konsequenz aus seiner vorherigen Rezeption der Französischen Revolution gezogen. Wobei ihm jedoch, wie schon damals ein Kritiker anmerkte, der wachsende Wohlstand aller wichtiger erschienen war als die Freiheit des Einzelnen. Mit der Wende erwies sich, dass im Zuge einer „Annäherung der Systeme“ auch die BRD tief im Innern nahezu ein geschlossener Handelsstaat geworden war, der erst einige Jahre nach der Wiedervereinigung aufbrach – insofern er sich nicht länger der „Globalisierung“ verweigerte – und nach und nach seine Staatsmonopole aufgab.

Nach dem Sieg der antinapoleonischen Kräfte, der in eine Restauration der alten Verhältnisse einmündete, wurde Fichte erster Rektor der Humboldt-Universität. Noch heute ist das dortige Audimax ganz in Fichte gehalten. Bei der Wiedereröffnung der Uni 1945 gab es im Hauptgebäude bereits einen Hausmeister namens Fichte. „Das ist gut, das ist gut“, hatte die Leiterin der Kaderabteilung bei seiner Einstellung gesagt, obwohl Fichtes Akte mehr als lückenhaft gewesen war.

Mit der 11. Feuerbach-These von Marx im Foyer, einer Hegel-Büste vorm neuen Hörsaalgebäude und einem Antifa-Denkmal im Hinterhof wurde das jedoch mehr als wettgemacht. Ich komm da jetzt gerade drauf, weil ich neulich in der Dozenten-Kantine hörte, wie ein Uni-Mitarbeiter einen amerikanischen Gast aufklärte: „Nein, der letzte Rektor hieß nicht Fichte, sondern Fink. Einen Fichte hatten wir hier leider seit fast 200 Jahren nicht mehr. Seitdem geht es auch ständig bergab – mit dem Niveau.“ „Was meinen Sie mit ,Niveau‘?“ „Das Verhältnis von Theorie und Praxis!“ „Aber es gibt doch auch noch so etwas wie ein Forschungsniveau!“, meinte der Harvard-Ami. „Schauen Sie mal vorsichtig zur Seite – zum Fenster“, flüsterte sein Gastgeber, „sehen Sie dort die zwei Männer?! Das sind Professoren der Universität Bremen. Die kommen oft hierher. Sie wollen unbedingt an die Humboldt-Universität berufen werden, weil sie meinen, nur wenn sie in Berlin lehren, interessiert sich wieder jemand für ihre Arbeit.“ Der Ami ließ nicht locker: „Es gab aber hier doch wirklich mal Substanz – Mommsen beispielsweise…“

„Ja, der sprach hier zuletzt im Audimax über das Athen der griechischen Philosophen. Die Hörer waren fasziniert, wie er sich da auskannte. Seine Veranstaltungen waren ein Stadtereignis. Mommsen wusste genau, an welcher Ecke sich wer mit wem getroffen und worüber sie geredet hatten. Aber am Ende der Vorlesung musste der Universitätsdiener ihn nach draußen und zu seinem Haus geleiten: Mommsen kannte sich zwar im alten Athen wie in seiner Westentasche aus, aber er wusste nicht mehr, wo er in Berlin wohnte. Seitdem spricht man hier von ,Spreeathenern‘. Damit sind solche Leute gemeint, die zwar in Berlin leben, aber keine Ahnung davon haben, was wirklich in der Stadt und Drumherum passiert.“

11. Versteckte Arbeitslosigkeit

Bekanntlich verdanken wir die Wortschöpfung „versteckte Arbeitslosigkeit“ der Treuhand-Präsidentin Birgit Breuel. Vorher war in dere Sowjetunion bis 1930 von „verdeckter Arbeitslosigkeit“ (auf dem Land) die Rede. Breuels neuer Begriff war auf die Arbeitsplatzsituation in der DDR gemünzt, wo bis zur Übernahme der Betriebe durch die Treuhand ein ständiger Arbeitermangel herrschte. Dieser aus proletarischer Sicht ideale Zustand wurde von der THA-Chefin in einen Überfluss an Arbeitskräften umgedeutet: In der DDR herrsche ebenfalls eine große Arbeitslosigkeit – nur sei sie listigerweise von den Kommunisten „versteckt“ worden.

Hintergrund einer solchen Umdeutung waren rückblickende „authentische Äußerungen“ wie etwa die eines ehemaligen Narva-Betriebsrates: „Nachdem wir in der Wende alle Leistungsschwachen entlassen hatten, schrieben wir rote Zahlen. Das waren Planerfüllungszahlen, also im Sozialismus immer was Positives!“ Auch in der Saarmunder LPG, wo ich mit meiner Freundin am 1. Dezember 89 zu arbeiten anfing, gab es jede Menge „Leistungsschwache“ (Querulanten, Alkoholiker etc.), die der LPG-Vorsitzende einst einstellen musste – es gab eine Arbeitspflicht und ein Recht auf Arbeit. Zur Produktionssteigerung operierte man mit „sozialistischen Wettbewerben“ und einem „Verbesserungsvorschlagswesen“, mit dem die Produktionsrationalität durch die Arbeiter selbst gesteigert werden sollte.

Von unten konterte man dagegen im Osten mit „Neuerungen“, die missliebige Kollegen wegrationalisierten – oder wie der letzte Minister für Handel, Flegel, erklärte: indem man ganze Arbeitsvorgänge einfach wegließ. Das war trotz Qualitätskontrollen möglich, weil es zu vielen Monopolbetrieben – „Stern-Radio“ zum Beispiel – keine Konkurrenz gab. Deswegen kann man auch sagen, dass die DDR nicht an zu viel konsumistischer Unfreiheit, sondern an zu viel Freiheit – im Produktionsbereich nämlich – zugrunde ging. Die dabei dort „versteckte Arbeitslosigkeit“ – die also bloß eine seit 1945 mühsam erkämpfte Faulheit war, d. h. eine mangelnde Angst vor Arbeitsplatzverlust und der damit einhergehenden Verelendung – kam also mit den von der Treuhand so genannten „Großflugtagen“, d. h. „Massenentlassungen“ zur Rentabilitätssteigerung der Betriebe, nur ans Licht!

Birgit Breuel war mithin eine (marktwirtschaftliche) Aufklärerin ersten Ranges. Verdunkelt wird ihr Wirken nur dadurch, dass heute andere die durch die Treuhandpolitik hervorgerufene Arbeitslosigkeit erneut wieder verstecken – in den Statistiken der Nürnberger Anstalt für Arbeit. Vorbild ist hierbei die englische Regierung von Margaret Thatcher, die fünf Mal die Definition von Arbeitslosigkeit änderte, bis das offizielle Ergebnis einigermaßen für eine soziale Wirtschaftspolitik „sprach“. Auch in Deutschland werden seitdem ständig die Zahlen geschönt, so dass selbst in Orten und Dörfern, wo tatsächlich niemand mehr Arbeit hat, von einer Arbeitslosigkeit von „höchstens 20 Prozent“ gesprochen wird.

Nicht nur im Osten. So erzählte mir ein Redakteur der Nordsee-Zeitung, dass in Friesland die jungen Leute bis an den Bodensee fahren, um Arbeit zu finden. Sie würden sich jedoch zu Hause nie polizeilich abmelden, sodass dort „die Arbeitslosigkeit in Wirklichkeit sehr viel höher“ sei als aus der Statistik ersichtlich. Ähnlich verhält es sich mit arbeitslosen Ehefrauen von Arbeitsplatzbesitzern, mit Sozialhilfeempfängern und mit den zu immer mehr Arbeitsdiensten gezwungenen Arbeitslosen. Sie alle fallen damit aus der Statistik der Arbeitsämter über Arbeitsuchende heraus. Es entsteht ein Kommen und Gehen, ein Auf und Ab, das jedoch beständig durch politische Manipulationen im Sinne von Umdeutungen oder Neuinterpretationen nach unten optimistisch „verbessert“ wird. Am Sinnvollsten geschieht dies natürlich durch permanentes Herabsetzen des Mindestlohns, also durch ein wachsendes Heer von „working poor“.

Nichts anderes wollen uns die Wahlprogramme der großen Parteien in Bezug auf die „Schaffung neuer Arbeitsplätze“ sagen: Wir verstecken die Arbeitslosigkeit – flächendeckend! Schon 1976 konnte der Widerstandsforscher Michel Foucault den Satz von Clausewitz einfach umdrehen: „Die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln!“ In den Medien – Hörzu! – wurde die „versteckte Arbeitslosigkeit“, das Schweinewort der Neunzigerjahre, derweil von anderen Begriffen überlagert – nach DM- und Euro-Umtausch vor allem von der „gefühlten Inflation“ und neuerdings auch wieder von einem „Gefühlsantisemitismus“ (in Bezug auf Walser und Möllemann).

12. Meine Pizza-Connection

Wie bereits mehrfach berichtet, hat die Pizzeria Da Flore am Kottbusser Damm 88 eine der besten italienischen Küchen in Berlin. Salvatore Flore stammt von Sardinien. In Algero, wo er herkommt, wird noch immer katalanisch gesprochen, so dass er vermutet, dass sein Name spanischen Ursprungs ist. Er ging 1959 als 17-Jähriger nach Deutschland. Zunächst bekam er einen Job als Bauhilfsarbeiter in Esslingen, dann war er Arbeiter in einer Metallfabrik in Bad Canstatt und schließlich bei Mercedes in Untertürkheim. „Ich musste Kurbelwellen bohren.“ 1961 entdeckte er im Arbeitsamt ein Plakat: „Deine Zukunft in Berlin“. Zusammen mit vier Kumpeln stattete er zu Ostern der Frontstadt einen Besuch ab. In der Zehlendorfer Perlonfabrik „Spinne“ freute man sich über ihren Besuch – die deutschen Arbeiter verließen scharenweise die Stadt: „Haben Sie auch keine Angst vor den Russen?“, fragte der Personalchef Salvatore Flore, der als Einziger in der Gruppe Deutsch sprach. Er glaubte zwar auch an den Einmarsch der Russen, hatte jedoch keine Angst davor: „Der Propaganda traute ich nicht, zu Hause war ich Mitglied der KP.“ Wieder zurück bei Mercedes, bot man ihnen 20 Pfennig mehr pro Stunde, wenn sie nicht nach Berlin gingen. Einem wurden sogar 60 Pfennig geboten – der blieb dann auch bei Mercedes.

Die anderen vier gingen nach Berlin. Bei der zum Hoechst-Konzern gehörenden Spinne in Zehlendorf kamen sie in einer neuen Abteilung unter, wo Trevira – für Auslegeware und anderes – hergestellt wurde. Erst einmal stellte man ihnen aber einen Dolmetscher zur Verfügung, der ihnen Berlin zeigte. Salvatore Flore blieb 15 Jahre dem Betrieb treu. Ein Freund von ihm besaß am Kudamm das italienische Restaurant „Villa Borghese“, später ein zweites in der Bismarckstraße. Dort arbeitete er nach Feierabend noch mit. „Ich war mit einer Deutschen verheiratet. Wir hatten zwei Kinder. Es gab damals nur ein paar italienische Restaurants in der Stadt.

Die Banken gaben keine Kredite an Gastarbeiter. Da sind dann italienische Firmen eingesprungen. Und schließlich haben sich auch die Banken geändert. Denn der Markt ist schier explodiert. In den Restaurantküchen wurden bald die ersten Araber und Albaner schwarzbeschäftigt, die haben da gelernt – und sich dann mit eigenen Pizzerien selbstständig gemacht. Ich habe aber meine Küchenhilfen immer zum Einkaufen weggeschickt, wenn ich Soßen gemacht habe oder den Pizzateig. Das ist ein Geheimnis, das ich nicht jedem verrate.“ 1977 verlagerte Hoechst seine Trevira-Produktion nach Chile, dort bekamen die Arbeiter während der Pinochet-Diktatur 30 Pfennig pro Stunde. Salvatore Flores Abteilung wurde aufgelöst, er bekam eine Abfindung.

Zwar wollte ihn dann die Spinne runtergestuft in einer anderen Abteilung weiterbeschäftigen, aber er kaufte sich 1978 die Pizzeria am Kottbusser Damm. „Wenn ich Probleme hatte, half mir mein Freund, sogar mit Leuten aus seinem Restaurant in der Bismarckstraße. Renoviert habe ich größtenteils selbst. Das Geschäft lief gut. Ich kaufte mir in meinem Dorf Orosei ein Grundstück – und wollte bauen. Das habe ich dann aber sein lassen. Als die Kinder groß genug waren, haben sie im Geschäft mitgeholfen.“ Der Sohn machte eine Lehre, die Tochter studierte Medizin. „Ich war sehr stolz auf sie, aber dann hat sie das Studium abgebrochen.“

Salvatore Flore besaß damals eine Vespa 130 GS. Mit der fuhr er oft nach Ostberlin ins Tanzlokal „Melody“, wofür er vorher am Bahnhof Zoo Ostmark eintauschte, die er im Scheinwerfer der Vespa versteckte – „manchmal bis zu 6.000 Mark“. Die Italiener durften 48 Stunden in Ostberlin bleiben. Mit einem geliehenen chilenischen Pass besuchte er das Studentenwohnheim in Biesdorf, wo er eine Freundin hatte. Als diese schwanger war, bekam er eine Vorladung vom Jugendamt Spandau: „Trotz Kalten Kriegs arbeiteten die Jugendämter in Ost und West zusammen, ich musste Alimente zahlen.“ 1980 zog er nach Kreuzberg in die Ritterstraße. Langsam lief sein Geschäft immer schlechter, der Kottbusser Damm veränderte sich und geriet mehr und mehr in türkische Hand. Salvatore Flore hat inzwischen das Vertrauen verloren, dass es mal wieder besser werden könnte.

„Aber insgesamt hatte ich eine schöne Zeit, mein Geschäft war die einzige Pizzeria dort. Meine Frau hat das Lokal gemacht und ich die Küche. Heute spiele ich im Lotto. Meine Frau und ich sind geschieden. Als reguläre Bedienung arbeitet jetzt Margerita bei mir, eine Tschechin. Wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich billiger einkaufen, statt telefonisch oder elektronisch alles zu bestellen. Das Internet gefällt mir überhaupt nicht. Was für eine Ware bekomme ich da? Das ist alles Scheiße – zu unpersönlich.“

13. Tantenliebe

Izmir kommt aus Izmir und Ankara aus Ankara. Deswegen heißen sie auch so. Izmir hat früher als Lagerarbeiterin bei DeTeWe gearbeitet, und Ankara war verheiratet und hat ein Kind. Jetzt arbeiten die beiden Frauen in Bordellen: Izmir in Neukölln und Ankara in Kreuzberg. Es gibt nicht viele türkische Prostituierte in Berlin, obwohl die türkischen Männer lieber zu ihnen als zu allen anderen, aus Russland oder Thailand beispielsweise, gehen, weil sie denken: Die verachten mich nicht, sie sind schließlich auch Türken – und sie verstehen mich besser, wenn es drauf ankommt. Neulich passierte es nun, dass einige junge türkische Männer in das Neuköllner Bordell kamen, in dem Izmir arbeitet. Die drei hatten nur Augen für sie. Schließlich sagte der Jüngste zu ihr: „Izmir, ich möchte mit dir aufs Zimmer gehen!“ Da erkannte sie ihn: Es war Mehmet, der Sohn ihrer früheren Nachbarin in der Muskauer Straße.

Als er noch klein war, hatte Izmir oft auf ihn aufgepasst, und im Gegenzug hatte er sie „Tante“ genannt. Später bei Grillfesten hatte sie mit ihm Ball gespielt. Jetzt musste Mehmet etwa 19 Jahre alt sein, und Izmir war gerade 33 geworden. Sie schüttelte den Kopf: Das geht nicht! „Ich bin deine Tante. Such dir eine andere“, sagte sie und wies in die Runde. Es kommt nicht oft vor, dass eine Frau im Bordell Nein zu einem Kunden sagt. Mehmet blieb hartnäckig, und da die beiden Türkisch sprachen, wollte die Puffmutter, eine junge polnische Lesbe, schließlich wissen, worum es eigentlich ging. Izmir erklärte ihr den Fall auf Deutsch. Die anderen Mädchen, die um sie herum saßen, lachten, besonders die Afrikanerinnen. Mehmet war jung und sah gut aus: „Stell dich nicht so an“, sagten die Mädchen zu Izmir. Und die Polin knuffte sie sogar: „Los!“ Izmir ging erst einmal nach hinten in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Mehmet folgte ihr. Er stand in der Küchentür und bat sie noch einmal, mit ihm aufs Zimmer zu gehen. Izmir blieb hart. Mehmet erzählte ihr, dass sie schon mit all seinen Freunden aufs Zimmer gegangen wäre. Sie hätten ihm von ihr erzählt und von ihr geschwärmt. Außerdem hätte er immer von ihr geträumt, als er klein war – von ihr und von seiner Mutter, wie sie sich beide an ihn drücken. Das wären seine ersten feuchten Träume gewesen, sagte Mehmet und grinste sie an. Izmir musste an Mehmets Eltern denken. Was, wenn die beiden davon erführen. Sie hätte ihren Sohn zur Unmoral verführt, würden sie ganz sicher denken. Am Ende würde ihr der Vater gar auflauern, um sie wütend zur Rede zu stellen. Das wäre furchtbar.
Sie erschrak und blieb bei ihrem Nein. Mehmet verließ mit seinen zwei Freunden das Bordell. In den Tagen und Wochen darauf bedrängte er sie jedoch weiter. Immer öfter kam er vorbei, setzte sich in die Ecke aufs Sofa und sagte: „Bitte, Izmir!“ Sie wurde zum Gespött der Mädchen, außerdem fürchtete sie, dass Mehmet irgendwann „etwas wirklich Verrücktes“ anstellen könnte.

Bei ihrer Freundin Ankara in der Kreuzberger Nachtbar war zuvor etwas ganz Ähnliches passiert. Dort erschien vor einiger Zeit ebenfalls ein junger Mann namens Alpay, der partout mit seiner „Tante“ aufs Zimmer wollte. Ankara und er waren tatsächlich über fünf Ecken miteinander verwandt. Sie hatte ihn wiederholt auf irgendwelchen Feiern getroffen, und mit der jüngsten Schwester seines Vaters war sie sogar näher befreundet. Ankara überlegte nun kurz und sagte dann – betont geschäftsmäßig: „100 Mark, 30 Minuten.“ Er nickte, und sie gingen aufs Zimmer. Hier ergab es sich, nachdem sie sich beide ausgezogen hatten, dass er nur ihre Brüste kneten wollte, während sie ihm einen runterholte. „Du kannst ruhig stärker zugreifen, ich bin nicht so empfindlich“, sagte sie. Das Präservativ hätte sie sich sparen können. Anschließend lächelte Alpay glücklich, zog sich an und verabschiedete sich mehrmals dankend von Ankara an der Tür. Schon am nächsten Tag kam er wieder. Er wollte dasselbe noch einmal – und bekam es auch. Am darauf folgenden Tag tauchte er erneut auf. Ankara fragte ihn auf dem Zimmer, ob er nicht zu viel Geld für sie ausgebe. Alpay gestand ihr, dass er nur wenig verdiene, aber seine Ausgaben einschränken werde. Außerdem habe er Freunde. Diese Woche könne er jedoch nicht mehr kommen, erst in der nächsten Woche sei er wieder flüssig.

In Ankara stiegen immer mehr dunkle Vorahnungen hoch: Was, wenn er sich das Geld für die Besuche bei ihr in seiner Familie klauen würde und man dahinter käme? Was für eine Schande! Die Prostitution ist wirklich ein Übel, dachte sie beschämt, sie zieht eine Sünde nach der anderen nach sich: „Was soll ich bloß tun?“ Beide „Tanten“ denken inzwischen darüber nach, nicht nur das Bordell, sondern gleich die ganze Stadt zu wechseln, um nicht sehenden Auges ins Unglück zu laufen. Izmir will nach Mannheim und Ankara seltsamerweise nach Leipzig. In gelassenen Momenten geben sie allerdings zu, dass ihnen das hartnäckige Interesse der Jungen manchmal auch direkt gut tut.

14. Besitzer symbolischen Kapitals

Immer wieder wird man in der Geschichte finden, daß Deklassierte, aus dem Erwerbsleben Verdrängte, sich organisieren und radikalisieren. Dabei knüpfen sie an ihre beruflichen Fertigkeiten an. So gibt es z.B. einen starken Hang zu Sprengstoffen bei den Berg- und Chemiearbeitern, zu Jagdgewehren bei Bauern und Waldarbeitern, zu Molotow-Cocktails bei Kraftfahrern und ganz allgemein bei Facharbeitern und Ingenieuren eine sehr technische Sicht auf soziale Kämpfe – besonders ausgeprägt bei den eher soldatischen als partisanischen Rechtsradikalen. Das geht bis hin zu völlig vertüftelten Briefbomben und Überfällen. Für das kriminelle Milieu gilt Ähnliches. So sprechen Geldschrankknacker und Einbrecher geradezu von ihrer „Kunst“. Das Künstler-Werden ist denn auch der Ausweg aus Attentat und Asozialität bzw. aus Verfolgung durch die Justiz. Und sogar die Armut läßt sich als Künstler stolzer ertragen, denn man ist ja voll von symbolischem (kulturellen) Kapital. In Berlin – Ost wie West – war dieser Ausweg immer besonders beliebt.

Wie der Künstler Kapielski sagt, zog die Stadt vor allem solche Leute an, die im Rechnen eine fünf, aber im Malen eine eins hatten. Ihre Scenen wurden quasi zu Therapiezentren für Radikale und Verbrecher. Bei dem Erpresser „Dagobert“ (Arno Funke) war die Kunst bereits in seinen Geldübergabegeräten angelegt, im Knast dann reifte er vollends zum Autor, Drehbuchschreiber und Karikaturisten. Daneben lassen sich auch viele Macken, Manien und Mängel durch Verkunstung gleichsam retten. So wurde hier z.B. der Pyromane Karawahn zu einem hochgeehrten „Feuerkünstler“. Umgekehrt widmete man den paranoischen Wandparolen des „Sendermanns“ vor einigen Jahren eine ganze Kunstausstellung. Und viele einflußreiche Kunstkuratoren können ihre Herkunft als „Slumlords“ noch immer nicht verleugnen.

Die Künstler sind symbolische Kapitalisten, deswegen geht der Drang zur Kunst in aller Regel mit einer von Distinktion geleiteten Entsolidarisierung einher. Man könnte hierbei auch von einer symbolischen Individualisierung sprechen, denn der Kunsterfolg ist ganz wesentlich ein Bedienen von Trends und Moden: „Die Produktivität der Künstler resultiert aus ihrer Fähigkeit sich anzupassen – aus ihrer moralischen Verkommenheit,“ so sagte es einmal ein nach New York ausgewanderter Künstler, der dann von Joachim Fest in der FAZ plagiiert wurde. Gleichzeitig wurde diese symbolische Form von Kapital und Individualität auch gesellschaftlich immer eindringlicher – bis hin zu Kunstkursen in Knästen, Neonazi-Jugendclubs und Kinderheimen. Immer wieder werden ganze Schübe von Zukurzgekommenen für die Kunst gewonnen. Gleichzeitig zieht es die Künstler in die Randgruppen. Gerade sorgten die Obdachlosenphotos von Boris Mikhailow für Furore. Dennoch sind sie für jede soziale Absicherung dankbar.

Der Partisanen-Theoretiker Rolf Schroers gründete dazu vor 20 Jahren als FDP-Politiker die Künstlersozialversicherung im strukturschwachen reaktionären Marinestandort Wilhelmshaven – die KSK. So heißen jetzt sinnigerweise auch die Partisanen-Bekämpfer der Bundeswehr: Krisen-Spezial-Kräfte. Die Künstlersozialkasse sollte aus partisanischen Randexistenzen legal gewerblich tätige Mitbürger machen. Und das tat sie so erfolgreich, daß spätestens mit der Wiedervereinigung das halbe Volk Mitglied in der KSK wurde. Korbflecher nennen sich in Flechtkünstler und Dachausbauer in Holzskulpturisten um, selbst Prostituierte sind dort als Tänzerinnen oder Sängerinnen subventioniert versichert. Das geht natürlich ins Geld! Folglich möchte man die KSK wenn schon nicht Abschaffen, dann wenigstens gesundschrumpfen – also alle unsicheren Kantonisten rausschmeißen, d.h. die gesamte kulturelle Landschaft nach Künstlern durchkämmen – und diese danach wieder zur Zwangsarbeit beim Sozialamt ansiedeln. Ein in Weißrussland 1941-44 erprobtes Verfahren.

Als Ausweg wird den Betroffenen heute ein „Start-Up“ empfohlen – also ein hightech-gestütztes Luftunternehmen, möglichst in Form einer Aktiengesellschaft. In den letzten Jahren haben diese Firmen die Jungkünstler wie mit dem Staubsauger von der Straße geholt. Auf der anderen Seite haben sich aber auch die traditionellen Geschäftszweige mehr und mehr der Kunst verschrien. Nicht zufällig heißt die Biographie des New Yorker Immobilienspekulanten Donald Trump: „The Art of the Deal“. Und die Architektur ist im Verein mit dem Urbanismus geradezu zu einer Leitkultur geworden, zudem haben die Werber und PR-Strategen, die sich „Kreative“ nennen, immer noch Hochkonjunktur. In summa schwemmt der Zwang, sich selbständig zu machen, immer wieder aufs neue wahre Künstlermassen in die KSK und in die Verbände der Kulturschaffenden. Flankierend wird das Kunst-Sponsoring gefördert und das diesbezügliche Stiftungswesen angekurbelt. Der vollständig resozialisierte Künstler ist Teil des „nationalen Humankapitals“ – und wird als solcher gerne herumgereicht. Keine Talkshow ohne Künstler: Sie haben die „Prominenz“ derart für sich gepachtet, daß sogar schon Politiker, bis hin zu Managern, Bankiers und Generälen, ja bis zu den Aktien, primär nach ihrer „Performance“ beurteilt werden.

Dem kommt die „Kunst“ der Schönheitschirurgen entgegen, aber auch die Gentechnologie, mit der laut Vilem Flusser zum ersten Mal die Herstellung „wahrer – das heißt selbstreproduktiver – Kunstwerke“ möglich ist. Bald gibt es überhaupt keine Berufsgruppe mehr, die nicht in der KSK pflichtversichert sein wird. Die Kunst ist sozusagen zu einer List des Kleinen Mannes geworden, mit der er sich vor den Deregulierungs-Anstrengungen des Staates und der Wirtschaft rettet. Der utopisch-emanzipatorische Gehalt von Kunstwerken ist damit auf den Künstler selbst übergegangen. Adorno hätte daran seine helle Freude gehabt.

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