vonHelmut Höge 07.05.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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“Die Familie, in der ich zur Welt gekommen bin, unterscheidet sich in keiner Weise von Millionen anderer werktätiger Familien unseres sozialistischen Heimatlandes. Meine Eltern sind schlichte russische Menschen, denen die Große Sozialistische Oktoberrevolution ebenso wie unserem ganzen Volk einen breiten und geraden Lebensweg erschlossen hat”.

So beginnt die schlichte aber ergreifende Autobiographie von Juri Gagarin: “Der Weg in den Kosmos”. Der Gedanke eines geradewegs in das Universum führenden “Lebensweges” scheint überhaupt russisch zu sein. So unterscheidet sich der sowjetische “Kosmos”-Begriff vom amerikanischen “outer space” schon dadurch, dass ersterer mit der irdischen Lebenswelt “harmonisch” verbunden ist, während der US-Weltraum so etwas wie eine “new frontier” darstellt. Dies behauptet jedenfalls die in den USA lebende russische Kulturwissenschaftlerin Swetlana Boym in einem Essay zum beeindruckenden Bildband “Kosmos” von Adam Bartos, das noch einmal das sowjetische Weltraum-Programm nostalgisch und en détail feiert.

Aber auch dem amerikanischen Programm fehlt seit dem Zerfall der Sowjetunion der Schwung – und das Geld. Lustlos werden privatwirtschaftliche Kooperationen vereinbart und reiche Touristen mit preisgünstigen Angebote in den Weltraum gelockt – “just for fun”. 1998 war diese immer offensichtlicher werdende systemübergreifende Krise bereits in dem Dokumentarfilm des polnischen Regisseurs Maciej Drygas: “Der Zustand der Schwerelosigkeit” von drei ehemaligen sowjetischen Kosmonauten diskutiert worden. K1 meinte damals: “Die Zeit von Gagarin – das war großartig. Die ganze Nation war begeistert. Es ist uns gelungen. Wir sind die ersten!” K2 ergänzte: “Jetzt wollen die Leute dagegen, dass etwas Nützliches bei der Weltraumforschung herauskommt”. K3 präzisierte daraufhin: “Wir haben unser Hauptproblem nicht gelöst. Wir können in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen”.

Inzwischen sind auf Deutsch auch die vierbändigen Erinnerungen “Raketen und Menschen” des stellvertretenden Leiters des sowjetischen Raumfahrt-Programms B.E.Tschertok erschienen. Ein fünfter Band wird vom Autor vorbereitet. Diese nun fast abgeschlossene Geschichte beginnt mit dem Einsammeln der ersten versprengten deutschen Raketeningenieure 1945 durch die Rote Armee, nachdem die Amerikaner sich bereits die Führungsgruppe der “Peenemünder” – um Wernher von Braun – geschnappt hatten. Den Sowjets half dabei der Peenemünder Chefingenieur für Funksteuerung Helmut Gröttrup, dem sie zunächst alle Vollmachten dafür einräumten. Seine Frau Irmgard führte später ein Tagebuch, das sie einige Jahre nach der Repatriierung ihrer Familie in Westdeutschland veröffentlichte – unter dem schönen Titel “Die Besessenen im Schatten der roten Rakete”. Zwar gibt es daran von vielen Seiten inzwischen Kritik – an einigen ihrer “Übertreibungen”, aber dieses Buch verdient es trotzdem oder gerade deswegen, noch einmal wieder neu aufgelegt zu werden, einschließlich der im Anhang abgedruckten “Tarif- und Arbeitsverträge”, die ihr Mann für die etwa 150 deutschen Mitarbeiter entwarf, und die man dann 1946 zusammen mit ihren Familien von Bleicherode nach Moskau verfrachtete.

Dort beginnt das Tagebuch von Irmgard Gröttrup. Sie war nicht nur eine exzentrische Frau, die bald fließend Russisch sprach, sondern auch die Managerin ihres Mannes, überdies Mutter zweier Kinder. Tschertok schreibt, dass sie es überhaupt war, die zuerst mit ihnen, den Russen, verhandelte: “Sie gab uns zu verstehen, daß die Frage, wohin sie gehen, nicht ihr Mann,  sondern sie entscheidet”. Auch als ihre Familie 1953 wieder in Westdeutschland eintrifft – und sofort vom CIA verhört wird, wobei man ihrem Mann einen lukrativen Job in den USA anbietet, ist sie es, die entscheidet: “Wir bleiben hier!” Daraufhin mußten sie die Villa, die man ihnen in Köln zur Verfügung gestellt hatte, räumen.

Auch in Bleicherode 1945 stellten die Russen den Gröttrups sofort eine Villa zur Verfügung sowie jede Menge andere Vergünstigungen.

“Rückblickend kann ich sagen, daß wir uns in Gröttrup nicht getäuscht hatten,” schreibt Tschertok, der daneben auch die Initiativkraft von Frau Gröttrup bewunderte: So schaffte sie z.B. als erstes zwei Kühe an, um die Ernährungslage der Leitungskader des  “Instituts Rabe” sowie der Kinder zu verbessern und zwang überdies immer wieder den für die Versorgung zuständigen Offizier, “defizitäre Produkte” heran zu schaffen. Erst als sie auch noch zwei Pferde kaufte und jeweils ein diensthabender Offizier sie auf ihren Ausritten begleiten sollte, weigerten sich ihre russischen Bewacher – und tauschten die Pferde in zwei Dienstwagen um, von denen sich Irmgard Gröttrup einen sofort “aneignete”. Später nahm sie ihn auch nach Moskau mit, ebenso wie die zwei Kühe. Und nachdem man die in Moskau zentrierten deutschen Raketenbauer in ein Objekt außerhalb der Stadt verlagert hatte, besuchte sie mit ihrem BMW Theatervorstellungen oder traf sich mit ihrem sowjetischen Freund, der als hoher Funktionär in einem Ministerium arbeitete.

Diese selbstbewußte pragmatische Einstellung auf die sowjetischen Lebensbedingungen – als hochprivilegierte “Zwangsarbeiter” mit eigenem Dienstpersonal, die man zuletzt auf die Insel “Gorodomlia” im Seliger-See verfrachtete – verhalf auch ihrem Mann Helmut Gröttrup als Leiter des deutschen Kollektivs zu den “richtigen Ideen” bei der sowjetischen Umsetzung der “Peenemünder Produktionskultur”, deren geistige Arbeiter nicht auf fast kalifornischen Luxus verzichtet hatten, die für die körperlich Arbeitenden  jedoch auf mörderischste Versklavung basierte.

Die Anstrengungen von Helmut Gröttrup liefen in der UDSSR darauf hinaus, alle Systeme zu reduzieren – die Rakete zu vereinfachen, mithin “die Peenemünder Linie zu verlassen”, während die sowjetische Seite sich bemühte, alle daran beteiligten Kollektive zu einer “systemartigen” Kooperation zusammen zu fassen. Dabei kam es für die Deutschen, die man mittelfristig sowieso ersetzen wollte, immer wieder zu demotivierenden Entscheidungen. Umgekehrt ließen diese sich aber auch nicht alles gefallen. So notierte Irmgard Gröttrup am 20.6.1952 über ihre Haushaltshilfe: “Ruwa ist frech geworden, ich habe sie entlassen”. Zuvor hatte sie geschrieben: “Ich bin, wie alle, müde, nur noch Anhängsel der Männer zu sein: dieser politischen Objekte”. Ihr Tag sieht so aus: “Zum Strand laufen, Tennis spielen oder den Platz renovieren, lesen, bei Freundinnen sitzen und palavern”.

Dabei kennt sie sich durchaus auch mit der Materie aus, mit der die Männer sich beschäftigen: Bereits 1939 war sie zum ersten Mal nach Peenemünde gekommen, wo sie dann, ähnlich wie die in Ostdeutschland lebende Schriftstellerin Ruth Kraft, als “Rechenmädchen” gearbeitet und später auch ihr erstes Kind bekommen hatte: Ständig unter dem “Rauschen des Prüfstands”. Irmgard Gröttrups Ohr war bald so geschult, “daß ich die einzelnen Brennstufen erkannte”.

Auch auf Gorodomlia errichten die Deutschen bald einen Prüfstand, der ständig rauscht. Ihr Mann arbeitet unermüdlich und versucht nebenbei, um besser mit der russischen Leitung verhandeln zu können, einen “deutschen Verwaltungsrat” zu gründen. Noch nachts werden in den Holzhäusern Reichweiten-Verbesserungsvorschläge diskutiert: “Jochens neue Idee mußte besprochen werden, wir Frauen waren abgemeldet. Ruth griff mechanisch zum Strickzeug. Die beiden Männer – einer so arbeitswütig wie der andere – berauschten sich an ihren Ideen”. Sie hält es oft nicht aus – und als ihr Freund Alexander Petrowitsch mit unbekanntem Ziel aus dem Moskauer Ministerium versetzt wird, läßt sie sich einen Termin beim Minister geben, um die Erlaubnis zu bekommen, ihm nachfahren zu können. Der Minister warnt sie: “Sie sind eine verwöhnte, zarte junge Frau. Sie kommen aus einer bürgerlichen Gesellschaft. Wollen Sie ihre Gesundheit aufs Spiel setzen?” Weil sie uneinsichtig bleibt,  liest er ihr aus einem Gedicht von Puschkin vor: “Die Liebe kann warten. Die Liebe ist ewig…” Ein Jahr später notiert Irmgard Gröttrup: “In diesen Frühlingsnächten wird in mir die russische Seele geboren: das Hinnehmen können”.

Auf Gorodomlia fängt sie irgendwann an, einen Raben zu zähmen. Diesen nimmt sie dann auch mit nach Deutschland, wo sie zunächst im Ostberliner Hotel Adlon unterkommen. Wegen des Rabens, der alles vollschiß, mußten sie jedoch das Hotel bald wieder verlassen – und zogen nach Westberlin um. Das behauptet jedenfalls Tschertok in seinen Memoiren. Er war 1992 auf die Spur von Gröttrups Tochter Ursula gestoßen und hatte sie nach Moskau eingeladen. Laut ihrer Tochter erklärte Irmgard Gröttrup dann den CIA-Leuten, nachdem sie das Ehepaar von Westberlin nach Köln gebracht hatten: “daß sie sich ausreichend mit der Raketentechnik in Rußland befaßt haben und jetzt aus Deutschland nicht wieder wegfahren wollen”. Helmut Gröttrup wurde dann von Siemens eingestellt – und dort schließlich Leiter einer Abteilung von zuletzt 400 Mitarbeitern, die sich mit elektronischen Rechenmaschinen beschäftigte. U.a. kreierte er dabei das Wort “Informatik“. Seine Computerbegeisterung ging so weit, dass er in einem Vortrag vor Hamburger Geschäftsleuten meinte: Die unternehmerische Freiheit sei ein bloßer Irrtum, der auf Informationsmangel beruhe. Um diesen zu beheben, ließ Helmut Gröttrup 1969 zusammen mit seinem Mitarbeiter Jürgen Dethloff einen “Identifikanden mit integrierter Schaltung” patentieren, aus der dann erst die Chipkarte und schließlich die Mikroprozessorkarte wurde, mit der wir alle heute an den Bankautomaten zu unserem Geld kommen. Auch an der Entwicklung dieser Technik war Gröttrup maßgeblich beteiligt – jedoch erst nachdem er die Firma Siemens verlassen hatte. Der Grund dafür war, dass er dort einen jungen Ingenieur zu seinem Stellvertreter ernannt hatte, der wenig später als “sowjetischer Spion” verhaftet wurde. Vor Gericht verbürgte sich Gröttrup für ihn, aber man glaubte ihm nicht, hielt ihn eher selbst für einen sowjetischen Agenten, der schon einmal deutsche Patente an die Sowjets verraten hatte.

Helmut Gröttrup starb 1981 an Krebs, seitdem erinnert sein inzwischen reich gewordener Mitpatentinhaber Jürgen Dethloff immer mal wieder an ihn – im Internet. In der Siemens-Mitarbeiter-Datei existiert er seit seiner “Kündigung” nicht mehr. Irmgard Gröttrup starb 1989. Drei Jahre später notiert sich Tschertok: “Die Tochter war, ohne zu widersprechen, einverstanden, daß ihre Mutter sich sehr viel ausgedacht hatte”. Weil sie ihr Rußland-Tagebuch erst fünf Jahre nach dem Tod ihres Mannes veröffentlichte, hatte sie dazu auch “alle Freiheit der Phantasie”. Es ist erstaunlich, dass sogar Irmgard Gröttrups Tochter diese Meinung vertreten haben soll, denn ihre Mutter veröffentlichte ihr Tagebuch erstmalig 1958 (nicht wie Tschertok schreibt: 1985) – und zwar gleich nach dem “Sputnik-Schock”. Ihr Stuttgarter Verlag bemühte sich damals, wenigstens im Klappentext nahe zu legen, dass die Arbeit der Deutschen in Rußland noch schlimmer als in Peenemünde gewesen sei: “…Wir erfahren von dem technischen und wissenschaftlichen Fortgang der Arbeit der Forscher, dieser ‘Besessenen’, die ohne Rücksicht auf menschliche und politische Probleme einem Ziel dienten: der Rakete”. Von Helmut Gröttrup erschienen etwa zur selben Zeit nur einige “allgemeinverständliche Einführungen” in die Raketentechnik und -physik. Außerdem stammt von ihm wahrscheinlich auch der “kleine technische Exkurs” im Anhang des Tagebuchs seiner Frau, wo außerdem seine sämtlichen Verträge mit den Sowjets abgedruckt wurden. Noch im selben Jahr 1958 interviewte der Spiegel die beiden, wobei Irmgard Gröttrup sich kurz über die anfänglichen Pläne von Helmut Gröttrup in Rußland äußerte: “Mein Mann wollte gleich munter zum Mond!”

Neuerdings, da die Gröttrups sogar aus vielen Archiven verschwunden sind, gibt es ganze Gruppen von neuen Raketenforschern – bei den Historikern und den Kulturwissenschaftlern, wobei einige sich auch mit der “Sowjetisierung der deutschen Fernlenkwaffentechnik” befassen. So werden jetzt z.B. die Memoiren von Tschertok gerade ins Amerikanische übersetzt. Leider mehren sich damit auch jene Stimmen, die Irmgard Gröttrups Buch über “Die Besessenen” als nicht ganz glaubwürdige Quelle abtun.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/05/07/munter-zum-mond/

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kommentare

  • Volk ohne Weltraum – Die NASA und die deutschen Dumpfmedien:

    Nichts liebt die Bild-Zeitung so sehr als fortschrittlichen Ideengeber wie die von der SS einst aufgebaute NASA, deren erster Chef Wernher von Braun hieß. Danach wurde ein anderer deutscher Adliger NASA-Chef. Kurz vor der Wende hielt er auf einer NASA-Werbeveranstaltung der TU im Mathematikgebäude eine Rede. Dabei wurde klar: Weil sie überhaupt nicht wissen, was sie da oben im All jemals Produktives leisten könnten (ein Problem, an dem auch die Sowjets scheiterten), deswegen ist die NASA offen für jeden Scheiß: New Age, Ufos, Orgonstrahlen, Fluxus, Feminismus, Dekonstruktivismus, Pop usw. – alles wird wie mit einem Staubsauger in das NASA-Forschungs-Design integriert – immer in der Hoffnung, damit irgendjemand in der Öffentlichkeit und im US-Kongreß zu beeindrucken, was sich wiederum positiv beim nächsten NASA-Budget niederschlagen könnte.

    Dabei ist das einzig Positive für die NASA der SDI-Wahnsinn und der Handy-Schwachsinn – weil man dafür immer mehr Satelliten braucht, die dann von der NASA ins All geschossen werden. Das geht jedoch regelmäßig schief, so daß sogar die NASA-Aufnahmen von der Erde für die Geographen weltweit inzwischen zu teuer geworden sind – seitdem die Russen ihre Stellitenaufnahmen nicht mehr geheim halten, sondern im Gegenteil zu Dumpingpreisen auf den Markt werfen.

    Der letzte von der Bild-Zeitung aufgegriffene NASA-Idiotismus ist ein Riesen-Airbag, mit dem die Erde vor dem Ansturm von “Killer-Kometen” geschützt werden soll. Den Luftsack mit einem Durchmesser von 10 Kilometern ausgedacht hat sich natürlich ein “US-Wissenschaftler”, eine Spezies, die – durchforscht man nur die deutschen Medien der letzten zehn Jahre – schlimmer als alle “Killer-Kometen” ist, weil sie ununterbrochen die blödsinnigste Forschung betreibt: Mal entdeckt ein US-Wissenschaftler das “Neid-Gen”, ein andern mal, dass Frauen nach dem Ficken fröhlicher sind – was der betreffende “US-Wissenschaftler” jedoch nicht auf den Akt selbst, sondern auf ein im männlichen Samen enthaltenes quasi natürliches Anti-Depressivum zurückführt.

    Der US-Gehirnschwurbel geht jedoch noch viel weiter: Aus Sternenstaub sollen neue ungeheure neue Energiequellen erschlossen werden, daneben will man ganze Riesensolarkraftwerke im All installieren, Rückfalltäter und unverbesserliche Kriminelle wie die islamischen Terroristen auf den Mond schießen – d.h. auf den der Erde abgewandten Teil natürlich, weil der andere Teil bereits seit langem für Millionärsvillen reserviert ist: man weiß sogar schon, wie die Swimmingpools dort oben konstruiert sein müssen. Jede Irrenidee aus einer US-Universität landet unweigerlich irgendwann bei der NASA – weswegen es unter diesem Stichwort auch bereits über sechs Millionen (!) Einträge im Internet gibt.

    Demnächst kommen noch mal so viele dazu, denn in Bremen – wo man seit der Umwandlung des Industriestandorts in ein Dienstleistungscenter schon völlig kirre vom vielen Cup of Chino ist – entsteht derzeit ein gigantischer “Space-Park”, wo man die von Arbeitsideenlosigkeit bedrohte deutsche Jugend zu hunderten an das verrückte NASA-Denken heranführen will. Dann wird die Bild-Zeitung uns wohlmöglich täglich mit Riesen-Airbags im All, mit den Super-Chancen im Orbit und den Karrieremöglichkeiten im Weltraum kommen. Und nicht zu vergessen die “US-Genetiker”, deren Forschung uns ebenfalls absolut alle Probleme elegant vom Hals zu schaffen verspricht, weswegen die NASA denn auch enge Verbindungen zu einigen ihrer besten “Think-Tanks” unterhält.

  • Zum Film “Im Zujstand der Schwerelosigkeit” von Maciej Drygas, den Kornel Miglus im polnischen Kulturinstitut zeigte:

    Die besten Analysen Rußlands kommen nach wie vor von polnischen Intellektuellen. Besonders ihren Filmen haftet dabei manchmal so etwas wie Rache an. Diese ist am besten süß – das heißt wehmütig. Ein gutes Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm von Maciej Drygas “Im Zustand der Schwerelosigkeit” (1995) über die langsam in Agonie übergehende sowjetische Raumfahrt. Dazu werden eine Reihe von Kosmonauten und Wissenschaftlern interviewt. Ihre freimütigen Reden kontrastiert der Regisseur mit Bildern der Raumstation Mir, die weiter still durch das All gleitet. Das russische Raumfahrtzentrum stellte Drygas sein Filmarchiv zur Verfügung.

    Ausgangspunkt des Films ist ein Raumfahrtereignis Anfang der neunziger Jahre: Der Kosmonaut Serge Krikalew, der die Erde alleine im All umkreiste, kann nicht wie geplant zurückkehren, weil die sich auflösende Sowjetunion dafür kein Geld mehr hat. Langsam gehen seine Lebensmittel oben zur Neige. “Ich fühle eine gewisse emotionale Anspannung”, wird dazu aus seinem Funkprotokoll zitiert. Der erste von Drygas interviewte Kosmonaut (K1) thematisiert bereits die Unsterblichkeit.

    Der zweite Kosmonaut (K2) erklärt: “Es ist wie bei einem Bergsteiger. Wenn er es schafft, fühlt er sich anschließend menschlicher, wenn er scheitert, ist er um eine Erfahrung reicher. Das Wichtigste dabei ist aber, sich selbst überwunden und dabei etwas empfunden zu haben, was nur einigen wenigen Auserwählten zuteil wird.” Dazu werden aus dem Filmarchiv die ersten Flug- und Raketenexperimente gezeigt, die noch häufig verunglückten. Der kluge Kosmonaut (K3) formuliert ein erstes Fazit: “Die Schwerelosigkeit fühlte ich gar nicht – es war wie in einem Traum zu fliegen!” K4 war angesichts der Unendlichkeit des Weltraums “geschockt”. Und K5 fühlte sich im dahinsegelnden Raumschiff auf “mystische Weise” ständig beobachtet, bei Außenarbeiten verspürte er eine Art Sog, sich abzunabeln.

    Bilder von einem Ausstieg lassen seine Ergriffenheit ahnen. Der Bodenstation berichtet ein Kosmonaut: “Wir haben gerade gegessen und müssen viel furzen, es stinkt bei allen gleich. Über Sachalin habe ich ein bißchen Flüssigkeit getrunken. Unser Kommandant hat dort gedient.”
    Im Schlaf kommen die Gefühle wieder

    Auch Tausende von Polen “dienten” dort – in der Verbannung. K2 kommt auf das schreckliche “Heimweh” zu sprechen, das einen dort oben befällt: “Ziolkowski (der Begründer der russischen Raumfahrt, 1857-1935) sagte einmal: Die Menschen werden die Erde verlassen. Das ist falsch. Es geht nicht – wegen des Heimwehs. Was kann man dagegen tun? Arbeiten ist die einzige Lösung! Und in der freien Zeit? Da habe ich das Klo gespült. Das ist sehr nützlich. Fünf Minuten – und die schlechten Gedanken sind weg.” K2: “Am besten, man vergißt dort oben alle menschlichen Gefühle – und hält sich hundertprozentig an sein Flugprogramm, aber die Gefühle kommen wieder: im Schlaf. Kein Mensch hat solche Träume wie die Kosmonauten im Weltraum.”

    Die Traumdeutung ist ein wichtiger Teil der Psychoanalyse. Diese hatte in der Sowjetunion nach der Ausschaltung der Trotzkisten offiziell fast nur noch in der Person von Otto Juljewitsch Schmidt überlebt (Ehemann der pädagogischen Psychoanalytikerin Wera Schmidt, deren “Experimente” 1968 im Westen wiederausgegraben wurden). Der Lehranalytiker Otto Schmidt war erst Herausgeber der “Psychoanalytischen Bibliothek” und dann bis 1941 der “Großen Sowjet-Enzyklopädie”, vor allem war er jedoch Leiter der mächtigen “Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg” und für die Polarforscher und -flieger verantwortlich, die populären Vorläufer der Kosmonauten. Zuvor, 1934, hatte man ihn selbst als Polarfahrer aus dem Eis gerettet. Diese “gescheiterte” Expedition machte Schmidt so berühmt wie danach nur noch der erste bemannte Raumflug den Kosmonauten Juri Gagarin.

    Emmanuel Lévinas sprach 1991 im Zusammenhang mit Gagarin einmal über Heldentum und Heimweh – als die zwei Seiten ein und derselben Wiederentdeckung: von “Welt und Kindheit”. Der zweite Kosmonaut (K2) in Drygas’ Film erzählt: “Um die Erinnerungen, die einem vorm Einschlafen kommen, zurückzudrängen, hörst du dir die letzten Gespräche mit deiner Familie auf Tonband an. Alle vierzehn Tage können wir mit unseren Angehörigen reden. Und wenn du dann deren vertraute Stimmen noch einmal hörst und noch einmal, dann verschwinden die Erinnerungen. Man weiß, daß man gegen sie ankämpfen muß. Glücklichsein ist sicher ein starkes Gefühl – das ist aber auf langen Raumfahrten verboten: Man muß es unterdrücken.”

    Archivmaterial: Ein Huhn flattert hilflos in der Schwerelosigkeit einer Kabine herum. K1 erzählt: “Die Landung ist ein kompliziertes psychologisches Problem. Während des Fluges gibt es oben keine Zigaretten, keinen Alkohol und keine Sexualität. Wir denken oft an unsere Frauen – das ist normal. Aber im Moment der Landung denke ich: Wenn alles glattgeht, werde ich erst einmal eine rauchen und einen Wodka trinken. Lieber Gott, laß es gutgehen… Und wie schön dann unten alles aussah. Die Tulpen blühten. Gleich nach der Landung schmeckte die erste Zigarette einfach wunderbar, auch der Weinbrand, sie gaben uns ein winziges Glas voll. Ein Produkt aus Erde und Sonne. Dann am dritten Tag der Besuch unserer Frauen: Noch jetzt kommen mir fast die Tränen, wenn ich davon erzähle. Das sind alles normale menschliche Gefühle. Aber wir waren auch angehalten, über den Tod zu sprechen, über die Angst vor dem Tod.”

    Dazu Bilder von Übungen zur Flugvorbereitung. K4: “Sie teilten uns in drei Gruppen, jede bekam eine andere Betäubung, die, die ich bekam, unterdrückte die Schmerzempfindung – bei vollem Bewußtsein. Noch heute erinnere ich mich an alles, was sie mir antaten – ich wurde mehrmals ohnmächtig. Es war faszinierend, fast wie ein Gefühl von Unverletzbarkeit. Während dieses zweieinhalbstündigen Experiments gelangte ich vier- oder fünfmal auf die andere Seite des Lebens. Keiner der Ärzte kennt den Bewußtseinszustand nach Eintritt des Todes. Jeder von uns bemühte sich, so gut er konnte, aus dem Kollaps wieder hervorzukommen. Einige schafften es nicht, sie blieben seelische Wracks. Die Ärzte halfen uns in keiner Weise. Sie stellten auch nie eine Diagnose, sondern sagten höchstens: ,Du bist für die Tests nicht geeignet!’ Offiziell existierten wir nicht einmal als Testpersonen. Das war sehr bequem für sie. Wir hatten alle eines gemeinsam: eine Leidenschaft für die Fliegerei und den Himmel. Die Tests waren ein Raumflugersatz. Es war wie ein Kampf: Ich schaff’ das, ich werde es versuchen!”

    Dazu filmte Drygas ein menschliches Wrack im Rollstuhl. “Viele Male habe ich gedacht: Ich gebe auf. Nein, ich habe dann doch weitergemacht.” K3 fügt hinzu: “Schon als ich beschloß, Kosmonaut zu werden, versuchte ich mich mit gefährlichen Situationen vertraut zu machen. Irgendwann schien es mir, daß ich dem Tod ins Auge sehen konnte. Aber dem war nicht so. Es kam noch viel schrecklicher. Die Angst steigerte sich bis zum Verrücktwerden. Ich dachte, daß mir nur noch fünf Minuten zu leben blieben – bevor das Raumschiff auf der Erde zerschellte, so wie das von Komarow.”
    Die Affen kucken entsetzlich traurig

    Dazu wird Archivmaterial von dessen verunglückter Landung und vergeblicher Reanimation gezeigt. Eine Verantwortliche für die Flugkontrolle schildert die letzten Minuten. Dann Bilder von der Beerdigung.

    K4 setzt seinen Bericht über die Vorbereitungen auf den Flug fort: “Trotz dieser schrecklichen Tests und meines schlechten psychischen Zustands denke ich, es war eine interessante Zeit – ein Abenteuer. Schon bei den Übungen im Simulator zum Beispiel fühlte man sich weit, weit von allen irdischen Problemen entfernt. Das regte die Phantasie an.” Alte Archivaufnahmen von Experimenten mit Hunden und Affen, letztere kucken entsetzlich traurig. In den zwanziger Jahren hatte sich Otto Schmidt übrigens für eine künstliche Kreuzung von Mensch und Affe eingesetzt. Dann neuere Aufnahmen von dem mit Trümmern und Müll übersäten Weltraumforschungsgelände Baikonur und von einigen Fehlstarts.

    K2: “Die Zeit von Gagarin – das war großartig. Die ganze Nation war begeistert: Es ist gelungen! Wir sind die ersten, wir haben gewonnen!” K5 ergänzt: “Jetzt wollen die Leute was davon haben. Die Leute wollen, daß etwas Nützliches bei der Weltraumforschung herauskommt.” K3: “Wir haben unser Hauptproblem nicht gelöst. Wir können in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen.”

    Es folgt ein letzter Funkdialog zwischen Serge Krikalew und einer Diensthabenden in der Bodenstation, die ihn wegen der sich verzögernden Rückkehr beruhigt: “Hauptsache, du bist gesund.” “Ja.” “Du mußt auf dich aufpassen und darfst die Übungen nicht vernachlässigen.” “Das ist nicht das Problem!” “Aber was können wir denn für dich tun?” “Ich bin jetzt exakt acht Monate hier oben – und nicht mehr motiviert, weiterzuarbeiten.” “Das passiert hier unten jetzt auch: Niemand fühlt sich mehr in der Lage, was zu arbeiten. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist. Und das Schlimmste ist: Wir haben die Talsohle noch nicht einmal erreicht.” “Wann wird das sein?” “Ich weiß nicht, ich weiß nur, daß alles noch viel schlimmer werden wird…” Eine sehr junge Testperson springt mit dem Fallschirm ab: das letzte Bild.

    Was für ein Film! Vergeßt alle Science-fiction, Nasa-Dialoge und Propagandastreifen von der Dasa, wie sie in Peenemünde und demnächst in eurem “Space Park” (Bremen) gezeigt werden. Auch die Wanderausstellung über Weltraumforschung – zuletzt im Berliner Haus der Russischen Kultur – ist dagegen nur Opernkitsch.

  • Peenemünde heute – dazu sei etwas ausgeholt:

    Die Piraterie ist eine Form der ursprünglichen Akkumulation. Meist kennt man nur die gescheiterten Seeräuber, also die, die gefangengenommen oder getötet wurden. Unbekannt sind dagegen all die erfolgreichen Freibeuter geblieben, die mit ihrer Beute entkommen konnten – und normale Geschäftsleute wurden, denen also die ursprüngliche Akkumulation gelang. Der gescheiterte Westberliner Kaufhauserpresser Dagobert, Arno Funke, spricht in seiner Autobiographie von der gefährlichen “Schnittstelle” – zwischen Polizei und Geldübergabe, der alle Aufmerksamkeit zu gelten habe. Die Schnittstelle bei der See-piraterie ist eine doppelte: einmal – beim Entern – zwischen dem eigenen und dem fremden Schiff und dann beim Umrubeln der Kaperware an Land bzw. beim anschließenden Transfer der Gewinne in legale Geschäfte. Dergestalt sind die Freibeuter zwiefach gezwungen, sich an die Haupthandelsströme zu heften. Und demzufolge waren ihre Wirkungszentren nacheinander das Mittelmeer, die Karibik, die Nord- und Ostsee – und heute die Wasserstraßen zwischen den Philippinen und Indonesien, wo man sie auch Seezigeuner nennt. Piraten müssen stets auf Kollisionskurs gehen! Hinter ihnen standen aber nicht selten ganze “Companies” – d. h. seriöse große Kapitalgeber. Dies war besonders in Mittelamerika der Fall, wo es ein Pirat dann auch schaffte, ohne zu scheitern, berühmt zu werden: Henry Morgan, er wurde später Gouverneur von Jamaica. Die Liste der erfolgreichen Investoren in Kapergeschäfte ist lang. Sogar Voltaire beteiligte sich als Kapitalgeber an einer auf Sklavenraub und -handel spezialisierten “Company”.

    Andersherum kaperte der kommunistische Hamburger Seemann Hermann Knüfken zusammen mit dem holländischen Arbeiter Jan Appel und dem Schriftsteller Franz Jung 1920 ein deutsches Schiff, um nach Rußland zu gelangen – zum 2. Kongreß der Komintern. Der Vorsitzende Lenin begrüßte Knüfken als unseren “Genossen Pirat”. Wieder zurück in Deutschland nahm dieser alle Schuld auf sich und bekam fünf Jahre Knast. Wieder und wieder wurde auf Demonstrationen in Hamburg die Freilassung des Volkshelden gefordert. 1945 entstand mit dem Zusammenbruch Deutschlands erneut eine der Piraterie günstige – unübersichtliche – Situation, besonders in der Ostzone. Hier waren es dann eine Frau Gnahb und ihr Sohn Otto, die mit einem Fischkutter den “Stückgutverkehr” zwischen den schwarzen Märkten entlang der Ostsee besorgten. Wobei sie vor allem zwischen Swinemünde, Peenemünde und Rügen operierten – von den Russen geduldet. Es gibt sogar ein Shanty von und über diese “Königin der Ostsee-Piraten”. Es findet sich in Thomas Pynchons V2-Roman “Die Enden der Parabel”, auf Seite 777.

    Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, 1991, blühte erneut der Schmuggel. Vier Jahre erforschte die polnische Ethnologin Malgorzata Irek den “Schmugglerzug Warschau – Berlin – Warschau”. Ihre hervorragende Arbeit erschien gerade im Berliner Verlag “Das arabische Buch” (sic!). Bei dieser Form von Freibeuterei über Land geht es explizit um ursprüngliche Akkumulation, die Gewinne werden “gewaschen” und oder in legale Geschäfte investiert. Auch den Menschen- bzw. Mädchenhandel gibt es nun wieder an dieser Schnittstelle (der Systeme), deren Wasserscheiden, Oder und Neiße, gerade zügig zur sichersten Grenze der Welt ausgebaut werden. 1993 wurden von Peenemünde aus 40 Kriegsschiffe der NVA nach Indonesien verkauft. Nach Protesten von Pazifisten mußte die Regierung Suharto sich verpflichten, sie in ihren Gewässern nur gegen Kriminelle, “Piraten und Schmuggler”, einzusetzen. Nach 1945 hatten dort – gegen Japan und Holland – die Indonesier selbst ihren Unabhängigkeitskampf erst einmal als Piraten und Schmuggler mit englischen Schiffen geführt.

    Zurück in den Osten: Dort, am Fischerhafen Ralswiek, waren 1959 parallel zur “Bitterfelder Konferenz” die “Rügenfestspiele” gegründet worden. Ein “Bayreuth der Ostseeküste” sollte daraus werden. Hanns Anselm Perten inszenierte nach einer Ballade von Kurt Barthel den Seeräuber Störtebeker als “Seher der Großen Oktoberrevolution”. Damit war bereits die Richtigkeit des Bitterfeldes Weges nachdrücklich beweiskräftig gemacht. In ähnlich präproletarische Richtung bewegten sich auch Willi Bredels Roman “Die Vitalienbrüder” und der Mosaik-Comic “Auf Störtebekers Spuren”. 1981 fand die letzte DDR-Störtebeker-Inszenierung auf Rügen statt. Inzwischen war ein DDR-Kaskadeur namens Peter Hicks republikflüchtig geworden. Man hatte ihn jedoch an der Grenze geschnappt und verhaftet, woraufhin die BRD ihn freikaufte. Im Westen fand Hicks dann – als Bösewicht und Stuntman – einen Job bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg. Er arbeitete sich bis zum Intendanten hoch. Mit der Verpflichtung von Pierre Brice als Winnetou gelang ihm ein dauerhafter Publikumserfolg. Nach der Wende ging Hicks zurück in den Osten, wo er, unterstützt von einigen Kapitalgebern, die Störtebeker-Festspiele auf Rügen wiederbelebte. Hans-Dietrich Genscher verlieh ihm dafür den “Managerpreis 93”. “Wir waren streckenweise der größte Investor auf der Insel”, so Hicks 1995. Damals hatte er bereits 24 Dauer- sowie 150 Saisonarbeitsplätze geschaffen. Als sein Hauptsponsor fungiert der japanische Autokonzern Nissan. Von den alten Störtebeker-Mimen übernahm Hicks nur – Burkhard Kurth. Der hatte zuletzt den

    “Chefideologen” Magister Wigbold gespielt: “Das war der Kurt Hager von Störtebeker, Goedeke war der Haudegen Mielke und Störtebeker die Lichtgestalt – Honecker”. Die damalige Inszenierung hatte laut Kurth aber “auch ihre Qualitäten”: So war z. B. in den Massenszenen mit über 1.000 Darstellern “mehr Dynamik drin”, und es gab mehr Koggen als jetzt, “die sich sogar untereinander beschossen”. Auch doppelt so viele Pferde, die Perten “jedoch immer nur von links nach rechts galoppieren ließ”. Statt Musik vom Band hatte man ein ganzes Symphonieorchester zu den “18 Arbeiterfestspielen” verpflichtet, für das Abschlußfeuerwerk sorgte die NVA vom nahen Standort Prora. Perten hatte damals auch noch 80 Tänzerinnen angeheuert, sie werden von Kurth heute besonders vermißt. Für die Störtebeker-Rolle verpflichtete Hicks jetzt den blondlockigen West-Mimen Norbert Braun. “Großartige Haltung, nur sprechen kann er schlecht”, nörgelte ein Piratenshow-Kritiker in der Berliner Zeitung. Beim Publikum kommt Norbert Braun besser an. Als nordischer Typ von nebenan hat er sogar schon eine gewisse Vorbild- Funktion für die Rüganer Postkartenserie “Männliche Modelle auf Molen” gewonnen, und ein von ihm ausgehender Naturfaser-“Seeräuber-Look” hat streckenweise bereits – auf dem nahen Skipper-Event “Sail Saßnitz” bspw. – die plastikbunten Freizeit-Fitneß-Verkleidungen der Männer auf Urlaub verdrängt. Wir entfernen uns mit der fortschreitenden Vermarktung des Events nur scheinbar von der Piraterie. Im Programmheft der Störtebeker-Festspiele schreibt die Pressesprecherin: “Norbert Braun hat im Tennis-Club Bergen eine passende Unterkunft gefunden. Schon im letzten Jahr hat er dort manches Match gewonnen. Für die Fahrt zu den Vorstellungen steigt er in seinen 144 PS starken Nissan Sunny GTI und sattelt dan auf 1 PS um – auf seinen geliebten Friesenhengst Eysbrand.” Auf knappstem Raum haben wir hier alle tollen Dinge zusammen, um die es heute geht: eine Edelherberge, Tennisspiele, Sportwagen und Reitpferd, man könnte noch hinzufügen: Handy, Computer, Internet.

    Meine polnische Freundin Sonja arbeitet in einem Elektronik-Import-Export-Geschäft in der Kantstraße. Sie hat dort einen Tagesumsatz von 100.000 DM, es gibt allein in ihrer Gegend etwa 30 solcher Läden – für polnische Schmuggler. Andersherum: Wenn man nach Rügen fährt und sich dem Fischerdorf Ralswiek nähert, kommt man an immer mehr Loser-Kneipen vorbei, die “Störti”, “Zum Störtebeker” oder “De Likedeelers” (Gleichteiler) heißen, und ein in Stralsund gebrautes Bier namens “Störtebeker” wird als “Bier der Gerechten” beworben. Im Klartext heißt das: Der mit der Zerstörung der Sowjetunion nach Osten ausgeweitete Freihandel hat alle möglichen Konsumgüter in greifbare Nähe gerückt, sie sind jedoch nicht mehr für jeden zu haben. Man muß sich etwas einfallen lassen! 1993 reimten der Lausitzer Baggerführer Gundermann und seine Band Seilschaft in einem Lied bereits den “Piratenschatz” auf “Arbeitsplatz”. Seit Beendigung der Privatisierungstätigkeit der Treuhand geht es aber nicht mehr um Arbeitsplätze, sondern um Immobilien. Beim Aufschwung Ost wurde vor allem mit Abschreibungsmöglichkeiten, “Sonder-Afa” genannt, operiert. Auch in Gundermanns Braunkohlerevier, das man in eine Lausitzer Seenplatte verwandeln will, geht es nur noch um kostbare Uferimmobilien. Und in dieser Spannung zwischen den zumeist aus dem Westen stammenden neuen Grundstücksbesitzern und den arbeitslos gewordenen jungen Ostlern ( “Freedom is if there is nothing left to lose”, wie es in einem alten Neonazi-Lied heißt), baut sich nun ein neues Piraten-Phänomen auf. Bereits 1996 traf ich an der Mecklenburgischen Seenplatte die ersten Binnensee-Freibeuter. Die beiden Yacht-Besitzer orientierten sich äußerlich an “Miami Vice”, innerlich liebäugelten sie jedoch mit dem Verbrechen. Der eine hatte bereits zu DDR-Zeiten wegen “Arbeitsverweigerung” im Knast gesessen, und der andere bekam noch heute ein Gänsehaut, wenn jemand in seiner Gegenwart von “ehrlicher Arbeit” sprach. Beide lebten vom “Tschintschen” in Ufernähe. Und ihre Gewinnspannen waren dabei an guten Tagen höher als die monatlichen ABM-Einkünfte der Saisonarbeitskräfte des Malchower Biergartens, wo ihre Yacht “Bounty” an jenem Abend angelegt hatte. Die postproletarischen Massen im Osten sind jedoch in der Mehrzahl nicht derart geschäftstüchtig d. h. erfolgreich. Sie müssen sich buchstäblich auf eigene Faust durchschlagen – dazu bilden sie Banden. Wobei die sozialistische Arbeitskluft mit westlicher Sportswear vertauscht wird: anfänglich meist Billigkopien der Markenware von Adidas, Puma, Nike, Fila, Reebock und Converse. Diese “Men in Sportswear” bzw. Sailwear sind die “Likedeeler” von heute! Der Prenzlauer-Berg-Dichter Bert Papenfuß hat dazu bereits einige neue “Shantys” gesampelt, außerdem schreibt er an einem aktualisierten Ostsee-Piraten-Zyklus. In seiner Zeitschrift “Sklavenaufstand”, die jetzt übrigens “Gegner” heißt, wurde darüber hinaus gerade eine Geschichte der Freibeuterei des englischen Anarchisten Hakim Bey abgedruckt. Kurzum: Was jetzt noch wie eine weithergeholte schweinische Klassenperspektive wirkt, wird uns in einigen Jahren schon so geläufig sein wie ein rechtsrheinisches Kavaliersdelikt: das Entern!

    Dies kann auch wieder über Kaperbriefe laufen. So hat z.B. der Sohn einer Freundin von mir, Pawel, weil seine Mutter ihm den Ausbau ihrer Scheune erlaubte, sich bei der Bundeswehr erst in den Kosovo und jetzt nach Mazedonien verpflichtet – er verdient dort 7000 DM im Monat. Und täglich darf er einmal kostenlos nach Hause telefonieren. Er erzählt, daß die meisten seiner Kameraden aus Ostdeutschland kommen und arbeitslos waren – und daß sie wegen ihrer Schulden nach Mazedonien gegangen sind: die einen müssen ihr Auto abbezahlen, andere haben bis zu 20.000 DM Telefonschulden – wegen ihres Handys oder weil sie dauernd 0190-Nummern anwählten.

    Bereits in der Spiegel-Titelgeschichte über die neue Piraterie – vor allem in Südostasien, die kurz vor dem Attentat auf das World Trade Center erschien, war von Terroristen die Rede. Andersherum spricht man gerne von Luftpiraten. Der erste Einsatz der US-Marine, unter Präsident Jefferson, richtete sich bereits gegen Berber-Piraten – im Mittelmeer. Anschließend wurde übrigens die dabei erfolgreich gewesene Flotte von der US-Regierung zerstört. Jefferson argumentierte, es sei billiger, im Notfall schnell eine neue zu bauen. Bush setzt nun bei seiner “Terroristenjagd” das ganze Waffen-Arsenal ein.

    Im Gegensatz zum damaligen und zum jetzigen US-Präsidenten, so merkt der Römerforscher Cam Carotta dazu an, habe sich Caesar die Möglichkeit der Gnade nie versperrt: “Selbst die Piraten, die ihn einmal entführt hatten, und denen er ein höheres Lösegeld zahlte, als sie verlangt hatten, und denen gegenüber er scherzte, daß er sie sowieso bald kreuzigen würde, erwies er dann die Gnade, nachdem er etliche überraschen und fangen konnte, indem er sie nicht lebendig kreuzigte, sondern vorher erwürgen ließ, damit sie nicht so lange leiden mußten. Nach Alesia verschonte er auch noch die Averner, die den Aufstand angezettelt hatten, und die Häduer – ausdrücklich, um dadurch die Stämme wieder zu gewinnen. Wer verkündet, daß er keine Gnade kennt, treibt den Feind zum Äußersten. Die Parole von Präsident Bush ‘Entweder mit uns oder mit den Terroristen’ ist eine leichte Abwandlung der Parole des Pompeius am Anfang des römischen Bürgerkriegs – er werden jeden zu den Feinden zählen, der nicht dem Staat zu Hilfe kommt. Caesar gab stattdessen die Gegenparole aus, daß er die in der Mitte und zu keinem Stehenden zu seinen Freunden zählen würde. Pompeius war es, der den Sklavenaufstand des Spartakus niederschlug und den Krieg gegen die Piraten führte. Von dort kam seine unversöhnliche Haltung: der Krieg des Adels gegen rebellierende Sklaven und des edlen Weltherrschers gegen hinterlistige Piraten läßt sich leicht als Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Zivilisation und Barbarei, darstellen, der keinen Raum für Neutrale zuläßt”. Sind aber die heutigen Terroristen überhaupt mit den alten Sklaven und Piraten vergleichbar? Cam Carotta meint: “Es sind keine Luftpiraten, sie stellen keine Forderungen, weder Geld noch Befreiung von irgendjemandem, sie gehen selbst in den Tod, es gibt nach der Tat keine Täter mehr, wonach man suchen könnte. Es sind auch keine Sklaven, die nach persönlicher Freiheit streben, ihre Freiheit besteht gerade darin, daß sie ihr Leben opfern, es sind Muslime, dem Wort nach (Gott) ‘Unterworfene’, die sich gerade nicht aus dieser ‘Unterwerfung’ befreien wollen. Sie sind also nicht mit den Gegnern des Pompeius zu vergleichen – eher mit den Galliern, die gegen Caesar um ihre Freiheit kämpften”.

    Der Piratenforscher Bert Papenfuß gibt darüberhinaus zu bedenken: Schon Störtebekers Männer, erst recht die heutigen Sea-Gypsies Indonesiens sind keine Piraten, insofern es diese im strengen Sinne nur bis zur staatlichen Durchdringung der einstmals freien Gewässer gab. Seitdem könne man eigentlich nur noch von Kriminellen sprechen. Daß diese immer häufiger zu Lande, zu Wasser und zur Luft piratisch tätig werden, ändere daran nichts. Auch nicht, wenn diese Form der Bandenbildung sozial relevant zu werden droht.

    P.S.: Auf dem Peenemünder Raketentestgelände befindet sich heute eine kritische Ausstellung über diese “Wiege der deutschen Raumfahrt”, die von einem westdeutschen Wehrdienstverweigerer kuratiert wird,nachdem zwei ostdeutsche NVA-Offiziere sie aufgebaut hatten. Die Ausstellung wird von Waffennarren aus aller Welt besucht und gilt als eine der Highlights in der deutschen Museumslandschaft. Auf dem Gelände steht auch eine nachgebaute V2 – neben einigen MIG-Jagdflugzeugen. Während die Frauen eher gelangweilt auf den Bänken der Anlage rumsitzen, streicheln ihre Männer voller Entzücken die scharfe Spitze an vorne an den Flugzeugen. Ein seltsames Bild.

  • “Menschen und Raketen”

    In Berlin-Adlershof wurden vor 10 Jahren die nach dem Krieg zunächst in Amerika und in der Sowjetunion tätig gewordenen “Peenemünder” (Raketeningenieure) wiedervereinigt: “Wernher von Brauns Enkel”, wie die BZ 1998 präzisierte. Sie stammen aus dem DDR-Institut für Kosmosforschung und der Technischen Universität Westberlin. Ihre Adlershofer Reunion wurde sinnigerweise von Albert Speer Junior architektonisch mitgestaltet.

    Die alten ” Peenemünder haben inzwischen größtenteils ihre Memoiren verfaßt. Ihre erste Garde hatten 1945 die Amerikaner eingesammelt, dennoch war die zweite Reihe, die sich die Sowjets schnappten, erfolgreicher. In Westdeutschland blieb der SS- Offizier und Nasa-Chefkonstrukteur Wernher von Braun nichtsdestotrotz stets Vorbild. So entstanden z.B. ab Mitte der Fünfziger Jahre überall “Hermann Oberth- Gesellschaften”, in denen die von von Braun inspirierte Nachkriegsjugend holzbastelnd an den Raketenbau herangeführt wurde. Ihre 2-Meter-Geschosse mußten sie auf französischem Versuchsgelände ausprobieren.

    In Bremen wollte man kürzlich die Jungarbeitslosen sogar noch spielerischer – mit einem “Space-Park” – an diese Aufstiegsmöglichkeit per “plausibel an den Standort gebundener Erlebniswelten” heranführen – aber das Investitionsprojekt ging schon nach kurzer Zeit pleite. Das Dasa-Konzept dafür war ursprünglich für die “Wiege der Weltraumfahrt – Peenemünde” konzipiert worden. Jüdische Gemeinden konnten jedoch diese “Verherrlichung der Mordwaffe” dort verhindern.

    Die biographische Fundierung der neuen – nun 1954 ansetzenden – Bremer Raketen-Didaktik erschien gerade bei dtv-premium als Bildungs-“Roman einer Jugend”: In einer von Perspektivlosigkeit heimgesuchten armen amerikanischen Bergarbeitergegend. Dort wurden die raketenforschenden Jungs systematisch von ihren Erziehern unterstützt – nachdem die Russen 1957 als erste den Weltraum erobert hatten, was augenblicklich einen “Sputnik-Schock” auslöste.

    Einer von denen, die es tatsächlich schafften – bis in die “Schaltzentrale Wernher von Brauns” – hieß Homer H. Hickam. Er wurde Astronauten-Trainer bei der NASA. Seine Erfolgsgeschichte heißt auf Deutsch: “Rocket Boys”. Um dieses Triebwerk noch zu forcieren, wurde jüngst sogar eine Südstaaten-Universität nach Wernher von Braun benannt.

    Den smarten Peenemünder Ariern in Alabama standen in der UDSSR vornehmlich jüdische Wissenschaftler gegenüber. Boris E.Tschertok, einer der Stellvertreter des Leiters der sowjetischen Raketenbau-Progamme, war in seiner Jugend ein begeisterter Radioamateur.Seine vier Bände umfassenden Memoiren erschienen auf Deutsch im “Elbe-Dnjepr-Verlag”. In weiten Teilen thematisiert Tschertok darin die russischen Raketen-Anfänge, die tatsächlich erst mit dem Requirieren deutscher Technik nebst Technikern – in Berlin und im Harz – richtig in Schwung kamen.

    1938 hatte man u.a. auch den damals in Rußland fast einzigen Raketen-Konstrukteur Koroljow inhaftiert, er wurde Ende 1945 wieder freigelassen – und sofort zum Verantwortlichen für den Raketenbau ernannt, auch für das inzwischen von Tschertok und seinen Mitarbeitern aufgebaute “Institut Rabe” in Bleicherode, in dem die deutschen Raketenbauer zunächst angestellt wurden. Der Prominenteste unter ihnen war von Brauns Stellvertreter für Funksteuerung Helmut Gröttrup – mit Familie. Insgesamt beschäftigten die Russen schließlich 6000 Deutsche. Nachdem diese ihnen geholfen hatten, 12 V2-Raketen zu montieren, wurden etwa 150 deutsche Spezialisten samt ihren Familien in einer Nacht- und Nebelaktion nach Rußland deportiert:

    “Sie waren verständnisvoller, unterwürfiger und gehorsamer, als wir erwartet hatten”, schreibt Tschertok. Nur eine Sekretärin kam freiwillig mit, sie entpuppte sich jedoch später als eine Faschistin und wurde mit ihrem zunächst als Kriegsgefangenen verschleppten Mann wieder nach Deutschland abgeschoben. Ein Großteil der Spezialisten kam auf die Insel Gorodomlia im Seliger-See.

    Werner Albring und Kurt Magnus, der eine später in Ost-, der andere in Westdeutschland tätig, haben darüber zuletzt Erinnerungen verfaßt, zudem erschien 1992 im Dietz- Verlag eine wissenschaftliche Würdigung aller deutschen “Spezialisten in der Sowjetunion”. Am 18.10.1947 wurde die erste sowjetische Rakete (der Serie “T”) gestartet. Und die Deutschen wurden langsam überflüssig, aus Geheimhaltungsgründen ließ man sie noch eine Weile auf Gorodomlia “abkühlen”.

    Sie waren laut Tschertok vor allem für die Entwicklung einer dem Waffen-System angemessenen neuen “Produktionskultur” wichtig gewesen. – Was merkwürdig klingt, wenn man weiß, daß die deutsche V-Waffe die erste war, bei der mehr Menschen an der Herstellung als durch ihren Einsatz starben. Die davon Betroffenen waren vor allem Zwangsarbeiter – in Peenemünde und im Harz – gewesen. Die deutschen Spezialisten in Rußland kann man dagegen kaum als “Raketensklaven” bezeichnen, wie Kurt Magnus sie nennt.

    Wiederholt stritt das deutsche Kollektiv mit den russischen Spezialisten im neuen geheimen Raketeninstitut bei Moskau über Steuerungs- und Stabilitätsprobleme, Gröttrup forderte immer wieder die Teilnahme an Experimenten. Zwischen 1950 und 1953 schaffte man die Deutschen – in mehreren Wellen – heim.

    Tschertok schreibt, die technische Erfahrung der Deutschen habe ihnen “viele Jahre schöpferischer Arbeit erspart”. Darüberhinaus hatte “die Tatsache, daß wir uns nach dem schweren Krieg die deutschen Errungenschaften angeeignet haben und diese dann in einer sehr kurzen Zeit überboten haben, eine sehr große Bedeutung für die allgemeine technische Kultur im Lande”.

    Als die Raketen- und Atomwaffen Ende 1953 vereinigt wurden und ein “Atomstädtchen” nach dem anderen – abgeschirmt, aber umso üppiger ausgestattet – entstand, kam noch die Erkenntnis hinzu: “Das Land war einfach nicht in der Lage, allen drei auf diesen Gebieten arbeitenden Industrien – der Kern-, Raketen- und Funkortungsindustrie – solch komfortable Bedingungen zu schaffen”. Die sowjetischen Spezialisten konnten auch davon profitierten: Sie wurden mit der Zeit wichtiger für die Macht als die Beamten und sogar das Militär, wie ihr Biograph Daniil Granin meint.

    Trotz wiederkehrender antisemitischer Direktiven von oben (gegen die “Kosmopoliten”) wurden laut Tschertok “die Juden in der Verteidigungs- und in der Atomindustrie von Stalin und Berija nicht nur gelitten, sondern talentierte Juden sogar beschützt. Sie wurden fast genauso bewacht wie Mitglieder der Regierung”.

    Erst seit dem Zerfall der Sowjetunion, den zurückgehenden Staatsausgaben und antisemitischen Aktivitäten von unten, gibt es wieder einen nennenswerten jüdischen Braindrain aus Rußland – als Teil der “Fünften (Emigrations-)Welle”. Allein 1996 emigrierten 15% aller Ingenieure. Bis 1989 waren noch 32,4% aller weltweit mit Wissenschaft Beschäftigten in der UDSSR tätig. Aus der Russischen Akademie der Wissenschaften gingen seitdem 20% der Mathematiker und 19% der Physiker ins Ausland – nicht selten in die amerikanische bzw. Israelische Rüstungsindustrie. Von den nach Deutschland emigrierten Spezialisten sind die meisten unbeschäftigt bzw. für ihre Arbeit überqualifiziert. Der 1912 in Lodz geborene B.E.Tschertok lebt heute als Pensionär in Moskau.

    Homer H. Hickam “Rocket Boys”, München 1999, 28 DM

    Boris E. Tschertok “Raketen und Menschen”, Klitzschen 1998

  • Ruth Kraft tauchte dann noch einmal in der Verfilmung des Thomas-Pynchon-Romans “Die Enden der Parabel” auf. Dazu schrieben Peter Berz und Markus Krajewski – unter dem Titel: “Der Adlershofer Windkanal und andere Ortsbesichtigung”:

    Von diesen Stätten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!

    Als in der taz vom 26. September 1995 Helmut Höge der Vereinigung von Raketenwissenschaft Ost und West nachspürte, da ragte auf dem inzwischen vergilbten Zeitungsausschnitt dem Leser das Photo eines riesigen, schwarzverdreckten Monsters aus Beton entgegen: der Große Windkanal der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Adlershof, erbaut im Jahre 1934 des zweiten nachchristlichen Jahrtausends. Seitdem ist die Welt schöner geworden mit jedem Tag. Die von Granatsplittern und MG-Salven pockennarbigen Gründerzeitfassaden sind bald alle zugespachtelt und seit einem Jahr erglänzt auch der Große Kanal ohne Bombenlöcher und ganz original in Silberfarbe getaucht. Die Sonnenstrahlung sollte keine ungewollten Winde, thermisches Rauschen im Kanal, erzeugen und darum reflektiert werden statt im Schwarz historischer Verwitterung absorbiert. So steht jetzt das Bauwerk aus vier im Rechteck zusammengemauerten, elliptischen Betonröhren von 5 mal 7 Metern Durchmesser nahe dem alten Flugfeld Johannisthal als Wahrzeichen einer neuen Wunderwelt WISTA, des Wissenschafts- und Wirtschaftsstandorts Berlin-Adlershof, als eifre er jenem Wahrzeichen der Stadt Göttingen in den 30er Jahren nach, dem Großen Windkanal, von Flugzeugpiloten als Orientierung geschätzt und von alliierten Bombern sicher nicht verachtet.

    Durchs Innere des, so der Jargon, “geschlossenen Kanals mit kontinuierlichen Umlauf” von Adlershof werden heute keine Windströme mehr geführt, sondern Besucher. Sie betreten den Kanal durch ein zum Eingang umgebautes Bombenloch und stehen in der Röhre, einer hallenden Halle ohne ebenen Boden: Strömungen und Wirbelbildungen der Luft finden im dreidimensionalen Raum statt (was ihre Erforschung zu einer äußerst rechenintensiven Wissenschaft macht). Prinzip des Kanals ist, ein umgedrehtes, stillgestelltes Flugzeug zu sein. Geschwindigkeit im Stillstand. Die Besucher zwängen sich also in den Ecken, an denen der Wind im rechten Winkel umgelenkt wird, durch in Serie nebeneinander stehende Steuerruder hindurch, sie sehen den zerfetzten Stahl und zerspaltene Sperrholzlammellen einiger Ruder. Sie sehen nicht mehr die riesigen Propeller und Gebläsemotoren, die den Windstrom erzeugten. Doch insgesamt ist der Kanal intakt und sauber gefegt: ein durch allen Weltkriegsschutt integer gebliebener und gemachter Körper aus sieben Zentimeter dickem Beton. Nachdem die Rote Armee den Kanal 1945 entkernt hatte, alle Ventilatoren und Meßanlagen abgebaut und -transportiert, schlug eben darum die Stunde der “Unentwegten”. Während die Aerodynmamiker aus Adlershof, die im Westen gelandet waren, ihre Forschungen wiederbelebten, dachten die im Osten gebliebenen materialistischer: Wiederinbetriebnahme des Großen Windkanals. Ein “Wissenschaftlich-technisches Büro für Kraftmotorenbau” gutachtet seit 1953 bei Ministerrat und Akademie der Wissenschaften der DDR für Windkanal-Untersuchungen, vor allem an Kraftfahrzeugen, sprich: den durch die Sachsenkurve fliegenden Trabanten des realen Sozialismus. Mit Siemens, Westberlin, wird über ein neues Gebläse verhandelt und da Röhrentechnik nicht Selbstzweck ist, täte sich, so die Forscher, auch für Untersuchungen über das Strömungsverhalten von russischem Erdgas in den Trassen der GASPROM ein weites Feld auf. Doch der Sturm der Ideen verpufft. Im September 1960 wird das Herzstück der Anlage, die “Meßhalle”, zu beiden Seiten zugemauert und “die Beton-Luftführung des Kanals für Lagerzwecke freigegeben.”

    Derzeit lagern dort vor allem Mythen und die alten Strömungstechniker aus Adlershof fanden sich in einer “Gesellschaft zur Bewahrung von Stätten deutscher Luftfahrtgeschichte e.V.” zusammen, mit dem hohen Ziel, den “Heimat- und Fluggedanken zu befördern”. Sie erwirkte die Sanierung des Windkanals und seine Eintragung als “Technisches Denkmal”. Doch die Ambitionen gehen weiter. Der Windkanal (und das noch unerschlossene Windei aus Beton, der sogenannte “Trudelturm”) soll Mittelpunkt von Adlershofer Zukunft werden, die sich zeitgeistverweht in Parks ausbreitet. Der Große Windkanal als Zentrum eines “aerodynamischen Parks” im dynamischen Wissenschaftsstandort Adlershof: Welche Zukunft welcher Vergangenheit spukt durch die Gegenwart hochglanzbroschierter Visionen?

    Der erste Windkanal in Deutschland steht als kleiner, lärmender Klinkerbau am Stadtrand von Göttingen, 1905 entworfen, erbaut und geleitet vom Vater der deutschen Aerodynamik, Ludwig Prandtl. Hier entsteht die Anordnung von geschlossenem Umlauf, Umlenkung, Modell, Modellwaage und Meßraum, der auch noch der Große Windkanal von Adlershof folgt. In Göttingen werden Modelle von Luftschiffen, Tragflächen und Propellern gemessen; ein spektakuläres Seitenprodukt ist das berühmte “Tropfenauto” der Firma Rumpler. 1912 bekommt die Göttinger Versuchsanstalt Konkurrenz aus Berlin. Die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt, Adlershof (DVL), ist Teil der mächtigen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und betreibt Staatsforschung: neben Grundlagenfragen vor allem technische Prüfung und Genehmigung von Flugzeugteilen. Der erste Windkanal der DVL von 1913 hat einen Meßquerschnitt von 80 Zentimetern und operiert mit Windgeschwindigkeiten von 50 Metern pro Sekunde.

    Um nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Verbot aller motorisierten Fliegerei wegzutauchen, nimmt die deutsche Luftfahrt den nahliegenden Ausweg: Fliegen ohne Motor, Segelflug also, auf allen Hügeln, Tälern und Winden, in Dutzenden von Gleitflugwettbewerben zwischen zahllosen, aus dem Boden schießenden Segelflugvereinen. “The Glider Crazy”: das sind die Golden Twenties der deutschen Aerodynamik. Denn wo nur Luft ist und kein Motor, da wird aus Fliegen reine Aerodynamik. Das erste Flugzeug der Welt mit freitragenden, nicht verstrebten, einfachen, nicht doppelten Tragflächen startet 1922 auf der Wasserkuppe in der Rhön. Es ist direkt aus Aerodynamik konstruiert. Doch auch der schönste Segelflug ist experimentell nur begrenzt auswertbar und darum sucht die Aerodynamik nach neuen epistemischen Quellen, Göttingen strebt nach größeren Kanälen, Adlershof nach noch größeren. Weltwirtschaftskrise und Versailles schrumpfen die Ressourcen und darum dümpelt, im Gegensatz zu Theorie und Segelflug, das aerodynamische Experiment in der deutschen Luftfahrt um 1930 so vor sich hin.1

    Das ändert sich ab Januar 1933 schlagartig. “Die Bewegung” hat die Macht ergriffen. Mit institutionsgeschichtlicher Schallgeschwindigkeit mobilisiert sie sämtliche traditionellen Einrichtungen der Luftfahrtforschung. 2,5 Millionen Reichsmark für einen neuen Kanal in Göttingen – soviel wie der Anstalt während der gesamten zehn Jahre zuvor zur Verfügung stand. Der DVL Adlershof werden schon im Oktober 1933 5,4 Millionen, im Dezember 1934 15 Millionen, bis Kriegsbeginn insgesamt über 28 Millionen bewilligt, bei einer Erhöhung der Mitarbeiterzahl von 450 auf 2000. “Die Dynamik der Luftrüstung überrollte selbst die Planungsfachleute des Reichluftfahrministeriums.” (wie Helmuth Trischler es in seiner unschätzbaren Studie Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900 bis 1970 schreibt). 1934 wird als erster Akt der Große Windkanal eingeweiht, für Winde mit 65 Metern pro Sekunde und Modelle von viereinhalb Metern Spannweite. Die Presse assistiert mit einem “Stakkato ästhetizistischer Superlative: ‘Schönheit der Technik, stählerne Romantik – Metropolis'”.

    Doch eins können alle gigantischen Förderungssummen nicht verdecken: Der institutionelle, geographische und physikalisch-technische Ort eines Windkanals mit 8 Metern Durchmesser und 65 m/s (oder 0,2 Mach), betrieben von einer traditionellen Großforschungsinstitution am Rande der Reichshauptstadt, ist seit spätestens 1935 ein Auslaufmodell. Nationalsozialistische Wissensmobilisierung folgt drei Gesetzen, in denen die DVL Adlershof samt Großem Windkanal strukturell verschwindet: Erstens Dezentralisierung. Die alten Zentren sind nicht mehr expansionsfähig, sie sind in den Weichbildern von Städten angesiedelt und darum aus eben der Luft, die sie erforschen, angreifbar. Zweitens: Anlehnung der Forschung an existierende oder zu entwickelnde regionale Luftfahrt-Industrien, das heißt: regionale Industriepolitik. Drittens: Neugründung von Institutionen, die nicht auf staatliche Lenkung, sondern die Autonomie einer Scientific Community bauen.

    Im März 1935 wird Reichsluftfahrtminister Hermann Göring, Hausherr jenes endlos selbstähnlichen Bürotraums Ecke Leipziger/Wilhelmstraße, alias Haus der Ministerien, Treuhand, Finanzministerium, die Existenz einer deutschen Luftwaffe verkünden. Boden und folgenreichster Output der neuen Luftmacht ist ein seit 1935 explosionsartig expandierendes Forschungs-Imperium für Luftfahrt, das alle anderen Forschungsinstitutionen des Reichs überholen wird oder schlucken. Seine institutionelle Krönung ist wissenspolitisch spektakulär. Am 6. April 1936 hält der talentierte Organisator und Leiter der Forschungsabteilung im Reichsluftfahrtministerium, der Philosophensohn Adolf Baeumker, Vortrag bei seinem Chef, um ihm einen unkonventionellen Vorschlag zu unterbreiten: die Gründung einer “Akademie für Luftfahrtforschung” in der Tradition der ehrwürdigsten Akademien Europas. Um Göring zu überzeugen, spricht Baeumker weniger über Luftfahrt als über Geschichte. Er referiert die weichenstellende Rolle der Fürsten bei Gründung der alten Akademien und zeigt “photokopierte Urkunden und Erlasse über die Ausstattung der Akademien durch die Landesherrn”. Göring ist begeistert. Er möchte sofort in die Fußstapfen des Großen Kurfürsten treten, “Domänen und sonstigen Besitz” zur Verfügung stellen und bereits im Juli ist der Welt erste Akademie für ausschließlich eine technische Wissenschaft gegründet. Sie soll weit über Baeumkers Vorstellungen hinaus nicht nur das Haupt aller existierenden Luftfahrtforschungseinrichtungen sein, sondern ein autonomes Gebilde: eine echte Akademie. Die 300-Jahr-Feiern der Preußisch-brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hätten Grund, einmal auch diese ephemerste aller preußischen Akademien zu bedenken, deren Gründung eine Referenz auf den Kurfürsten als Wette des 20. Jahrhunderts ist: Wie mobilisiert man Wissen?

    An den Infrastrukturen dieses Wissens wird schon weit vor Görings Inthronisation zum Akademiepräsidenten gearbeitet. Ein völlig neues Zentrum für Luftfahrforschung soll entstehen, neben dem sich Göttingen und Adlershof sehr bescheiden ausnehmen. Günstige Verkehrsverbindungen, Mittellage, eine nahe Technische Hochschule und Bedarf an industrieller Entwicklung der Region führen, nach dem Grundsatz der Dezentralisierung, auf ein vollständig im Wald verborgenes Gelände bei Völkenrode, nordwestlich von Braunschweig. Dort entsteht das größte Großforschungsprojekt, das das dritte Reich je verwirklichte. Zielvorgabe für die Deutsche Forschungsanstalt für Luftfahrt e.V (DFL): Strömungsforschung, Aerodynamik, Gasdynamik, vor allem also Grundlagenforschung. Die technischen Zielsetzungen im einzelnen sind ganz der nach Völkenrode zu verpflanzenden Scientific Community überlassen. Und die greift in andere Bereiche als der 0,2-Mach-Wind von Adlershof: Überschall und Überschallkanäle, Strahlantrieb und Prüfstände für 100 Tonnen Horizontalschub, verborgen in der Lüneburger Heide, Entwicklung von Pfeilflügel-Flugzeugen. Der Wissenschaftlerbedarf für die hochfliegenden Projekte ist enorm. Forscher müssen verteilt und umverteilt werden. Der österreichische Raketenwissenschaftler Eugen Sänger, der sich an der TH Charlottenburg habilitieren möchte, wird kurzerhand nach Völkenrode verschickt (1963 endlich bekommt er an der TU seinen Lehrstuhl, den ersten Lehrstuhl für Raumfahrttechnik), 198 andere Wissenschaftler nicht aus Indien angeworben, sondern abgezogen aus Adlershof.

    Die DFL von Völkenrode steht in direkter Konkurrenz zu einer Luftfahrtforschungs-Einrichtung, die nicht in Görings Forschungsimperium fällt: der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Die gesamte Raketenforschung fällt, nach Führerbefehl, in die ausschließliche Zuständigkeit des Heeres, nicht der Luftwaffe. Die Prinzipien Dezentralisierung und Autonomie einer Scientific Community tragen den Wissenschafts-Campus auf Usedom bevor in Völkenrode die erste Kiefer gefällt ist. Aerodynamische Daten für die Raketenforschung aber liegen von Anfang an in Überschallbereichen, jenseits von Mach 1. Der Windkanal von Peenemünde unterscheidet sich darum prinzipiell von Adlershofer Betonröhren: keine umlaufende Rennbahn für Winde, sondern Ansaugen von Außenluft in eine große Vakuumkugel; Modelle nicht im natürlichen Maßstab, sondern im Zentimeterbereich; keine Meßhalle, sondern die allerheiligste Meßkammer. Der “offene Freistrahlkanal für unterbrochenen Betrieb” arbeitet mit kurzen Meßzeiten, Geschwindigkeiten von 3 bis 4 Mach, das sind Winde mit 1000 Meter pro Sekunde, und einem Meßquerschnitt von 40 mal 40 Zentimeter. An ferngesteuerten Miniaturmodellen hinter Panzerglas werden Druck, Ablenkung, Stabilisierung in Winden jenseits der Schallmauer gemessen; vor allem aber werden die Luftveränderungen selbst, die Schockwellen, als sogenannte “Schlieren” sichtbar gemacht, vermessen, photographiert und schließlich gefilmt. Als die Protagonistin im Roman der Peenemünder Windkanalrechnerin Ruth Kraft “Insel ohne Leuchtfeuer” eines schönen Tages im Sommer 1943 für 10 Tage, die ihr das Leben retten, in den Großen Windkanal nach Adlershof geordert wird, um, während die britischen Bomber ihren Angriff auf Peenemünde fliegen, in Berlin einige Messungen zu begleiten, ist die erste Frage, die man ihr stellt: “‘Wie messen sie denn auf der Insel? Im Über- oder Unterschallbereich?‘ Eva hob die Schultern.” Der Adlershofer Ingenieur ist beeindruckt von der Fähigkeit des Inselpersonals zur Geheimhaltung. Aus Gründen also dürfte über Adlershof in den 40er Jahren wenig brisantes, aerodynamisches Wissen gelaufen sein.

    Während in Peenemünde und Nordhausen die ersten Raketen produziert werden, hört Görings Luftfahrtforschungs-Imperium nicht auf zu expandieren, in immer größere Dimensionen. Nach dem Aufbau der DFL in Völkenrode, der die Ministerialbürokratie in einen “Planungsrausch” versetzte, ist seit 1940 eine neue, noch größere Anlage geplant, dezentral im Mittelpunkt deutscher Luftfahrtindustrie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegen: in Bayern. Die Luftfahrtforschungsanstalt München, LFM, bei Ottobrunn verschlingt bis Kriegsende fast alle Forschungsgelder des Reichsluftfahrtministeriums. Das auf der grünen Wiese unbegrenzt erweiterbare Gelände von Ottobrunn hat auch eine Außenstelle im Gebirge: im Ötztal. Dort, mit den großen Reserven an Wasserkraft sollen die Megakanäle der Zukunft entstehen, Antriebsleistung: 75.000 Kilowatt (Adlershof: 2000 KW). Bis 1945 ist das meiste nur Rohbau. “Wie ein unwirklicher Schatten lagen die Fragmente der gigantischen Anlage auf der rundherum noch unberührten Welt des Ötztals.”

    Wo also die Ruinen einer 1000-jährigen Zukunft für kommende Dänikens nur im Entwurf, aus der Luft und am Rand sichtbar werden, wo sich unter der Permutation von Großbuchstaben – DVL DFL LFM – Nachkriegsstrukturen abzeichnen: bayerischer Reichtum als Ergebnis “regionaler Strukturpolitik” zwischen dezentralisierter Forschung, Aufschwung regionaler Zulieferindustrie und Zwangsarbeit (deren Massierung in großen Städten die Gefahr von Unruhen heraufbeschworen hätte) im System der Göringschen Luftrüstung – da werden die Ruinen des Zentrums bewohnbar für Mythen. Denn bevor der Große Windkanal von Adlershof je zur Drehscheibe eines aerodynamischen Parks geworden sein wird, avanciert er zum gesuchten Drehort. Peenemündes Windkanäle produzierten schon, als sie noch Usedomer Ferienluft einsaugten und Überschallwinde bliesen, Film. Die Ereignisse in der Meßkammer hinter dem Panzerglas wurden von einer großen Askania-Filmkamera aufgenommen. Abbildung und Beschreibung des Apparats veröffentlichte vor zwei Jahren der Sohn des deutschen Stummfilmschauspielers Paul Wegener. Peter P. Wegener arbeitete seit 1943 in der Peenemünder Windkanalgruppe und machte nach dem Krieg in Amerika Karriere als Spezialist für hypersonische Gasdynamik (jenseits von 10 Mach) und ihre Kanaele. 1998 schrieb Wegener ein Memoirenbuch “The Peenemünde Wind Tunnels”. Von den Windkanal-Takes aus Peenemünde sind einige erhalten. Sie liegen im Deutschen Museum, waren vor einigen Jahren in einem Feature des SWF zu sehen (Das braune Wunder, von Frank Haase und Friedrich Kittler) und werden binnen kurzem in einen Film des Babelsberger Regisseurs und Filmdozenten Robert Bramkamp eingewoben sein. Dessen vor zwei Jahren begonnenes Projekt Prüfstand VII erlebte vor einigen Tagen in der Filmhochschule Babelsberg am Griebnitzsee eine Voraufführung vor erlauchtem Publikum.

    Bei 35 Grad im Schatten hatte sich eine Touristengruppe eingefunden, die nach dem Motto see Europe in three days zu ausgewählten Orten einer historischen Geographie reiste, die Thomas Pynchon kurz die “Zone” nennt. Die Reiseteilnehmer kamen aus Dänemark, Belgien, Deutschland, Tschechien und den USA, um einem Grenztourismus der besondern Art nachzugehen. Ihr Blick galt weniger den Ufern gegenüber der Filmhochschule, die ehemals Westberlin hießen, oder den einst realexistenten, heute kaum mehr vorhandenen Mauerresten. Das Gruppeninteresse folgte entlang historisch-technologischer Schallmauern Denkmälern und Helden: Wernher von Braun, Ruth Kraft, Fritz Lang, Hermann Oberth, Tyrone Slothrop. Die Reisenden, die sich vor zwei Jahren in Antwerpen auf einem Pynchons Enden der Parabel gewidmeten Kongreß zusammengefunden hatten, besuchten Schauplätze eines Romans und einer technischen Entwicklung: “der Rakete”. Vom Flughafen Frankfurt ging es zu den unterirdischen Montagehallen in Nordhausen/Harz über das Babelsberger Filmgelände, wo Fritz Lang 1929 die Frau im Mond produzierte, quer durch die Zone immer weiter zurück zum Ursprung nach Peenemünde auf Usedom. Doch bevor die Tour am darauffolgenden Tag in einer gemeinsamen Kutterfahrt zur Greifswalder Oie endete, stand als zweite Etappe die nachmittägliche Voraufführung von Robert Bramkamps in Arbeit befindlichem Film bevor.

    Gezeigt wurden neben ausgewählten Spielfilmszenen die ersten drei “Kapitel” in Rohfassung. Eine hochverdichtete Mischung von Bildern, bestehend aus pynchoneigener Fiktion, Fakten und pynchoninspirierter eigener Erzählung schießen zum Genre Faction zusammen. Bianca, eine Tochter der Rakete – die Frau im Mond ? – ist auf der Suche nach ihrer Herkunft aus den Schwaden flüssigen Sauerstoffs im Ofen, dem Strahlantrieb der Rakete. In einer historischen Verschiebung oder Metonymie, aus der nur ein guter Plot werden kann, tanzt die Protagonistin zu Beginn des Films in der riesenhaft scheinenden Röhre des Großen Windkanals Adlershof den Schleiertanz. “Die Schlierenschatten tanzten” (Pynchon). Doch auf 40 x 40 Zentimeter, “so groß wie die Seite eine Boulevardzeitung”, tanzt sich, menschlich gesehen, schlecht. Die Wahrheit hier, an den Grenzen des Kinos, ist die Meßkurve. Biancas Suche nach ihrem Ursprung im unmenschlichen Reich der Physik muß darum mit der institutionellen und technischen Verschiebung von 4 auf 0,2 Mach, von der Insel in die Hauptstadt, im Ungetüm von Adlershof beginnen. Als die Autoren vor einigen Tagen den Großen Windkanal rekognoszierten, strömte mit ihnen eine junge Frau, so alt etwa wie Ruth Kraft 1944, durch die heilgen Hallen der “Luftführung”. Sie war nicht zum Spaß hier. Mit teuerer, japanischer Kamera im Anschlag recherchierte sie im Auftrag von Disney Productions die locations für einen Science Fiction mit dem Titel Librium. Irgendwelche Details? “Nein. Weißt Du …”

    Im Bramkamps Film gerät die Protagonistin Bianca auf ihren Nachforschungen in ein weitverzweigtes Gewirr aus Fährten, Hinweisen, Stimmen, denen sie nachgehen muß, um die Kakophonie am Ende in ihre eigene Sphärenharmonie auflösen zu können. Zwischen die Spielfilm-Szenen, die einzelnen Episoden aus Pynchons Roman folgen und die kinematographische Struktur des Romans selbst offenbaren, ist immer wieder Dokumentarmaterial eingeschaltet. Erstmalig wurden aus den Tiefen der Weltkriegs-Archive Filmsequenzen gezogen, die zwei vom militärischen Chef Peenemündes, Walter Dornberger, ausführlich beschriebene Fehlstarts des Aggregat 4 auf dem berühmten Prüfstand VII zeigen. Wie seine Protagonistin hatte auch der Regisseur die Feuerprobe auf seine Recherchen zu bestehen. Das prinzipielle Mißtrauen des Autors Pynchon gegen eine filmische Adaption des Romans war zu überwinden. Es schlug erst in Zutrauen um, als Bramkamp nach monatelangen, vergeblichen Nachforschungen über eine von Pynchon brieflich genannte Person aus der Berliner Kunstszene, die angeblich alte Photos und technische Originalzeichnungen der Rakete von 1944 besitzen solle, resigniert nach New York schrieb, die Person sei nicht ausfindig zu machen. Pynchon antwortete postwendend, es sei ihm leider ein Schreibfehler unterlaufen, der Name des Gesuchten beginne mit groß “V” statt mit “K”. Gleichzeitig erhielt der Regisseur, der damit die Ernsthaftigkeit seiner Recherchen unter Beweis gestellt zu haben schien, Pynchons ”no objections” gegen die Verfilmung einzelner Romanepisoden.

    Ein Höhepunkt von Bramkamps Film und Pynchons Buch spielt in der bekannten “Truman-Villa” am Ufer des Griebnitzsees, einige hundert Meter entfernt von der Filmhochschule an der Babelsberger Karl-Marx-Straße. Harry S. Trumans residierte in der Villa während der Potsdamer Konferenz und das Gebäude wird Kulisse einer großen Konferenz-Party, zu der die alliierte Generalität lädt. Ein alter BMW fährt vor, der letzte General der Roten Armee, Schauspieler Helmut Höge in blendend weißer Uniform entsteigt, der Schoßhund der Diva kläfft auf der Treppe, Micky Rooneys Beine und im Garten ein Verrückter, der nach Haschisch gräbt … Die euro-amerikanische Zonen-Reisegruppe zum Ursprung der Parabel läßt die Gelegenheit natürlich nicht aus, von Faction zu Realgeographie zu wechseln und pilgert nach der Filmaufführung von Prüfstand VII am Griebnitzseeufer entlang. Doch die Facts schlagen zurück. Am Tag nach den Dreharbeiten an der Szene brannte aus mysteriösen Gründen die Villa beinahe vollständig aus.

    Im Anblick des ruinierten Hauses, von der Hitze erschöpft und geplagt von der Sorge, die Abfahrt zum Raketenursprung zu verpassen, drängt der Reiseleiter zum Aufbruch. Das nächste Ziel, Greifswald, von wo am nächsten Tag die Kutterfahrt zur Insel Usedom und den Resten der Heeresversuchsanstalt Peenemünde Ost starten soll, will noch vor Einbruch der Dunkelheit erreicht sein. Auf der Insel, so war jüngst zu lesen, will sich ein berühmter Enkel der Aerodynamik, der italienische Designer Luigi Colani, gebürtiger Berliner mit Klarnamen Lutz, jetzt ein Denkmal setzen. Seine Produkte, deren dynamische Formen allesamt aus Colanis Erfahrung als Aerodynamik-Ingenieur stammen, sollen einst im Nachbarort von Peenemünde/Karlshagen, im geplanten Futurama Zinnowitz eine dauerhafte Heimstatt finden. “Wo ist der Krieg? Man muß schnell die Augen schließen, so stark ist die Sonnenstrahlung über dem hellen Sand, und dann hat man jedes Gefühl für die Richtung verloren. Aber das dauert nur Sekunden. Ans linke Ohr dröhnt es in regelmäßigen Abständen wie fernes Aufbrüllen. Etwa zweitausend Meter Luftlinie. Eva kennt diesen Ton. Der Windkanal ist in Tätigkeit. Die Tagschicht arbeitet.” (Ruth Kraft, Insel ohne Leuchtfeuer).

    1 Näheres in: Peter Berz, Mach 1. In: Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien (hg. Christoph Hoffmann und Peter Berz), Göttingen 2001, S. 381 – 453.

  • Zur o.e. Peenemünderin Ruth Kraft:

    Im hochnobel renovierten “Bürgerhaus” von Königs Wusterhausen las die DDR-Bestseller-Autorin Ruth Kraft. Sie hat nach dem Krieg das erste Buch über Peenemünde veröffentlicht: “Insel ohne Leuchtfeuer” (Verlag der Nation 1959) und ist die einzige Frau, die über diesen Männerwahn schrieb – und dann noch einen Roman (die meisten Bücher von “Peenemündern” sind nur unfreiwillig Fiction).

    Das zeigte sich auch auf einer vom K.W.-Kulturbund veranstalteten Lesung: Ein alter Peenemünder, der anschließend von den Sowjets in ein Leningrader Forschungsinstitut verbracht wurde, mit Extra-Lebensmittelkarten und gutem Gehalt, stritt ab, daß Wernher von Braun und sein technischer Leiter Arthur Rudolph noch kurz vor der Bombardierung Peenemündes, am 2. Juni 1943, 1.400 KZ-Häftlinge von der SS angefordert hatten: “Das hat alles nur die SS zu verantworten, der Dr. Hans Kammler vom SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt”, wiederholte er wie ein verstockter Revisionist, der alle Geschichten über kommunistische Schandtaten für reaktionäre Greuelpropaganda hält.

    Ruth Krafts Roman lag von Anfang an nicht auf der Linie des RealSoz und bekam deswegen nicht einmal im Kulturbund-Periodikum Sonntag eine positive Besprechung – überhaupt keine. Dennoch wurde das Buch über 500.000 mal in der DDR verkauft, in der ersten Zeit überwiegend von Frauen. “Rudolf Leonhardt hatte uns gesagt, es geht darum, die Vergangenheit zu bewältigen, indem man darüber schreibt. Die Männer schrieben über ihre Kriegserlebnisse. Ich habe dann über unser mathematisches Büro in der Heeresversuchsanstalt geschrieben. Die Tschechen waren ganz erstaunt, als ich dort später im Verlag aufkreuzte und sie sahen, daß ich eine Frau war: Sie dachten, das wäre ein Pseudonym und ich hieße Rudolf Kraft.”

    Das “Kraftchen” gehörte zum Freundeskreis um von Braun und Rees: “Wenn wir uns z.B. im Hotel Schwabe in Zinnowitz trafen, und von Braun war dabei, wurden Krebse aufgetischt, und das im dritten Kriegsjahr!” Über die “Peenemünder”, die sich seit der Wende alljährlich im “Informationszentrum ,Wiege der Raumfahrt'” auf Usedom treffen, sagte sie: “Ihre Erinnerungen an die wissenschaftlichen Leistungen dominieren.” Ihren Roman, dem die Antifas “Verniedlichung des Faschismus” vorwarfen, bezeichnete sie lange Zeit als “Betriebsroman”. “Es sollte eigentlich ein Film draus werden.”

    Ihr Mann war zu der Zeit Cheflektor in der Defa-Dramaturgie. Wegen der Antifa-Kritik (“Ich war keine Spezialistin, ferner eine Frau, kam aus der DDR, und dann hatte ich noch das jüdische Problem mit der Raketengeschichte verflochten, all das paßte vielen nicht.”) distanzierte sich später der Drehbuchschreiber des 1967 fertiggestellten Defa- Films “Die gefrorenen Blitze”, Harry Türck, von ihrem Buch (“Von-Braun-Verherrlichung”), gleichwohl benutzte er es “hemmungslos” als Vorlage – ohne Ruth Kraft auch nur zu erwähnen! Dieser gefrorene Quatsch lief hinterher noch einmal im ORB: hernach kein Wort von Türck und seinem Interviewer über diese Geschichte: Es war (halt) ein “fetziger Stoff”! Das ehemalige “Rechenmäuschen”, Jahrgang 1920, ist heute jedoch milde gestimmt, ihr damaliger Bekannter, ein V-1-Testpilot, ist jetzt Raketenexperte im Verteidigungsministerium, von ihrem Honorar hat sie sich ein Haus in Zeuthen und eine kleine Fischerhütte in Ahrenshoop geleistet.

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