Als New Yorks Bürgermeister Giuliani nach dem World-Tradecenter-Einsturz meinte, das Wichtigste, was die Amerikaner nach dieser Tragödie tun könnten, wäre, jetzt noch mehr und nun erst recht zu konsumieren, also quasi permanent shoppen zu gehen, da faßte man sich hier – in Europa, wie man so schön altmodisch sagt – an den Kopf: Diese Amis haben doch wirklich nur Scheiße im Kopf!
Aber 1. sind wir längst selber Amis mit eben dem selben Kopfinhalt und 2. schrieb bereits 1961 Jean Amery in seiner Nachkriegsstudie „Geburt der Gegenwart“ – über Deutschland, Frankreich, England und Amerika:
„Die euramerikanische Zivilisation, wie sie sich uns zu Ende des schicksalsschweren Jahrzehnts 1950-1960 darstellt, hat nur einen einzigen Bezugspunkt: den Konsum. Der Rest ist Illusion.“
Zwischen der „Stunde Null“ 1945 und dem sogenannten „Ground Zero“ (2001) gab es zwar mal eine militante Konsumkritik – während der Studentenbewegung. Der alles verblödende Konsumismus wurde mit Herbert Marcuse als „repressive Entsublimierung“ begriffen und es machten sich hippieske Askesen breit, die bis hin zu Kaufhaus-Brandstiftungen gingen, aber das alles war nur ein Zwischenspiel. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der chinesischen KP-Parole „Bereichert euch!“ ging es mit dem Konsumismus weltweit erst richtig los, sogar die 3/5 der Weltbevölkerung, die zu den Verlierern der sogenannten Globalisierung gehören (werden), will man mit „Tittitainment“ konsumistisch ruhig stellen. So fing dieser Hyperkonsumismus an:
„Mister, Gorbatschow, Tear Down the Malls!“ rief Ronald Reagan 1987 an der Berliner Mauer. „Warum sollen wir ausgerechnet unsere wenigen Einkaufszentren niederreißen?“ fragten sich die Ostler erstaunt. Aber darum ging es ihm gerade: Durch unsinniges atomares Hochrüsten eine Dauerkrise auf dem Konsumsektor hervorzurufen, gegen die „das Volk“ schließlich auf die Barrikaden gehen würde.
Nicht zufällig hat der US-Stadtforscher Mike Davis die seitdem überall auf der Welt gebauten Entertainment-Malls als „architektonisches Äquivalent zur Neutronenbombe“ bezeichnet. Aber „das Volk“ gibt nicht auf: Als neulich die neue Riesenmall am Alexanderplatz – Alexa – eröffnet wurde, stürmten die Konsumenten den Mediamarkt – es gab Verletzte, verprügelte Verkäufer und kaputte Scheiben. Vielleicht wird schon bald bei der Eröffnung einer weiteren Mall der ganze „Konsumtempel“ auseinandergenommen – wenn Hooliganismus und Konsumismus eine dauerhafte Verbindung eingehen. Und das ist schon deswegen zwingend, weil man uns infolge der anhaltenden Privatisierungen alle zu Schnäppchenjägern degradiert. Das macht inzwischen nicht einmal mehr vor Strom, Gas, Telefon, Miete und Bahnfahrkarten Halt! Sogar gediegene Urlaubsorte werden plötzlich zu einem Schnäppchen.
In seinem „Kultbuch – Glanz und Elend der Kommerzkultur“ schreibt Robert Misik, „selbst Städte werden zu Marken – zu einem Brand-Statement“ und bieten sich als „Konsumzentren“ an. Es geht dabei um „Beachtung“: Denn Ansehen, Reputation, Prominenz, Ruhm können zur „Einkommensquelle“ werden, wie Georg Franck in seiner Studie zur „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ herausarbeitete.
Neulich interviewte ich den Berliner Graffitikünstler Steven K.: Er hat anfänglich immer nur seinen Schriftzug (tag) gesprüht: „Damit mein Name überall bekannt wird – in der ganzen Stadt. Zwischen 2001 und 2004 schaffte ich, was ich mir vorgenommen hatte. Ich war zwar nicht der beste, aber einer der bekanntesten.“ Inzwischen hat er sich mit seiner Kunst selbständig gemacht – legalisiert, und gibt Malkurse in einem Jugendclub. Die kanadischen Autoren Joseph Heath und Andrew Potter sind der Meinung, dass generell die Gegenkulturen „in den letzten 40 Jahren einer der wichtigsten Triebkräfte des Konsumkapitalismus gewesen“ sind. Was den Philosophen Peter Sloterdijk auf den Gedanken brachte: „Alle Wege der 68er führen in den Supermarkt.“ Und den Autor Sze Tsung Leong zu dem Schluß kommen ließ: „Nicht nur, dass Shopping mit allem verschmilzt, alles verschmilzt auch mit Shopping.“
Schon gibt es erschütternde Selbstexperimente in Buchform auf dem Markt. Misik erwähnt die New Yorker Journalistin Judith Levine, die im Anschluß an Barbara Ehrenreich, die sich für ein Buch über „Working Poor“ als eine solche u.a. bei „Wal Mart“ verdingte, beschloß, ein Jahr lang nur noch das Nötigste einzukaufen. In „Not Buying It“ heißt es nun: „Außerhalb der Konsumwelt zu existieren bedeutete, in einer parallelen Realität zu leben, die mit der meiner Freunde und Kolleginnen nichts gemeinsam hatte.“ Misik merkt dazu an: „Diese Erkenntnis ist für Langzeitarbeitslose gewiss nicht völlig neu.“ Deswegen sind sie auch noch verwegener auf der Schnäppchenjagd.
Und wer gar kein Geld hat, der zieht andere ab – d.h. beklaut oder überfällt sie. Das tat auch der e.e. Graffitikünstler eine Weile – auf dem Kurfürstendamm (sic). Es gibt schon ganze Urlaubsstädte, die sich nur deswegen international vermarkten, damit die Touristen bei ihnen im Erfolgsfall von einheimischen Arbeitslosen ausgenommen werden wie eine Weihnachtsgans. „Darum ist es nicht verwunderlich“, schreibt Misik, „wenn Werte wie Kreativität, Autonomie, Selbstverwirklichung – die früher Vokabeln des Rebellischen waren – zu gefragten Tugenden im Wirtschaftsleben werden“. Und Werner Schulze sein soziologisches Standardwerk „Die Erlebnisgesellschaft“ nennt.
Zu den nachgefragten Erlebnissen gehören auch Raubüberfälle, Gangbang, Knasterfahrung etc.. Die erfolgreichen Gangsta-Rappa, die in Berlin gerne mit Graffitikünstlern zusammen arbeiten, wissen davon ein Lied – und nur dieses eine in zig Variationen – zu singen. Die Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Ökonomisierung des Authentischen“.
In Berlin gab es mal einen richtigen Bierkrieg:
Bis 1848 hatte der Branntwein nach und nach das damals noch obergärige Bier verdrängt. In der langsam erstarkenden Arbeiterbewegung begann man gegen die „Schnapshöllen“ zu agitieren. Auf Druck der Basis wurde dafür von den Gewerkschaften das Bier zur gesunden Volksnahrung aufgewertet – in der untergärigen (tschechischen) Brauart jedoch: „aechtes Bier“ genannt. In Berlin entstanden die ersten Bierschwemmen. Das Gartenlokal Tivoli auf dem Kreuzberg wurde zu einem Ort für Massenveranstaltungen.
1813, nach der Schlacht bei Großbeeren eröffnet, war daraus zunächst, um das neue Schinkelsche Kriegsdenkmal herum, ein Vergnügungspark für die gebildeten Stände entstanden: Neben einem Bierausschank gab es dort zweisitzige Wägelchen, mit denen man den Abhang hinuntersausen konnte. Dem preußischen Philosophen Hegel, der am Kreuzberg ein Haus besaß und sich oft im Tivoli schwäbisch vergnügte, soll auf der „Kreisfahrbahn“ angeblich sogar sein bis heute leuchtendes spiralistisch-fortschrittliches Geschichtsbild eingefallen sein. 1868 fand dort die erste Massendemonstration statt: gegen den Mietwucher. 1875 sprach August Bebel dort. 1877 feierten nach einem Wahlsieg der SPD 22.000 Menschen auf dem Kreuzberg und sangen die Marseillaise.
Diese Politisierung des Berges machte den Ort auch für die Rechten attraktiv: 1892 verabschiedeten die Deutsch-Konservativen dort ihr agrarisch-antisemitisches „Tivoli-Programm“. Inzwischen hatte die Schultheiss-Brauerei die Bierproduktion auf dem Kreuzberg übernommen: Neben Prämien und übertariflicher Entlohnung bot das Unternehmen seinen Arbeitern einen kostenlosen „Haustrunk“. Als die Abstinenzbewegung wieder Tritt zu fassen begann und nun auch gegen die gesunde Volksnahrung vorging, gründete Schultheiss mit anderen Bierhändlern zusammen einen „Schutzbund“, dieser wurde von der SPD-Führung heimlich unterstützt. Viele in der Arbeiterbewegung wegen ihrer Aktivitäten arbeitslos gewordene „Aufwiegler“ waren unterdes Wirte geworden. Sie zogen die früheren Arbeitskollegen in ihre Kneipen, die deswegen von Karl Kautsky auch als „Bollwerke des Proletariats“ gepriesen wurden.
In den Berliner Gewerkschaftshäusern machte man dennoch die bittere Erfahrung: Immer wenn die Funktionäre die darin eingerichteten Schankbetriebe selber bewirtschafteten, ging das Geschäft den Bach runter. Als Aufsteiger wollten sie die Trunksucht ihrer Gäste stets auf allzu „vernünftiges Maß“ bringen. Wenn sie ihre Gewerkschaftskneipen dagegen an Arbeitslose verpachteten, brummte der Laden. Allerdings wurde es oft laut, und manchesmal startete man auch direkt von dort aus nachts Aktionen gegen den Klassenfeind, was einige Gewerkschaftskneipen schwer in Verruf brachte. Im Wedding war insbesondere der „Schwedenkeller“ berüchtigt: Dort trafen sich die „Männer der Faust“ – um Erich Mielke. In der „Bärenquelle“, am Ende der Oranienburger Straße, agitierte das kommunistische Ehepaar Coppi Bauarbeiter, darauf weist seit 1975 ein Schild hin (ihr Sohn könnte dort heute wieder Bauarbeiter aufwiegeln – vornehmlich irische).
Doch ich habe vorgegriffen. Mit dem Ersten Weltkrieg löste sich die „Alkoholfrage“ wie von selbst: Erst 1925 wurden die Produktionsbeschränkungen aufgehoben und das Bier wieder mit vier Prozent Alkohol ausgeschenkt. 1935 wurde die Schultheiss-Brauerei auf dem Kreuzberg zum „NS-Musterbetrieb“ erklärt, im Krieg hielt dort der „Reichstrunkenbold“ Robert Ley, als Leiter der Arbeitsfront, eine Durchhalterede – und sicherte weitere Fremdarbeiterkontingente zu. 1949 produzierte der Betrieb erstmalig wieder in „Friedensqualität“. Der Direktor ließ die Restauration zu seiner Dienstvilla umbauen.
Nachdem Schultheiss zügig den Westberliner Biermarkt „bereinigt“ hatte, erwarb der Dortmunder Konzern Brau und Brunnen, zu dem Schultheiss seit 1972 gehört, mit der Wiedervereinigung auch noch eine Ostberliner Brauerei, woraufhin die Produktion auf dem Kreuzberg eingestellt wurde. Man wollte dort erst eine „Erlebnisgastronomie“ einrichten, aber nun entstehen aus der Brauerei Luxusappartements. Die letzten Arbeiter machten sich unterdes mit einigen ihrer Erfindungen und den Abfindungen sowie Senatsunterstützung in einem „Arbeitsförderbetrieb“ selbständig. Keiner eröffnete eine Kneipe. Im Gegensatz zu vielen arbeitslos gewordenen Ostberlinern, die dafür Existenzgründerdarlehen und Bankkredite in Anspruch nahmen. Nicht selten verbumfiedelten sie damit bloß ihre gemütlich-heruntergekommenen Eckkneipen. In dem neuen, teuren Spießer-„Ambiente“ fühlten sich jedoch die Karrieristen nicht wohl, erst recht nicht die Arbeitslosen – und die Arbeiter wurden seit der Wende immer weniger. Dementsprechend findet derzeit in Berlin und Brandenburg ein bereits allseits besorgniserregendes Kneipensterben statt. Die Banken sind schon derart verunsichert, daß gerade das früher verpönte proletarische Verhandlungsgeschick bei ihnen immer öfter zum Erfolg führt: Wenn der Wirt nur ordentlich genug droht („Ich schmeiße alles hin!“), wird der Vertrag zu seinen Gunsten neu aufgenommen.
Auf der anderen Seite der Theke werden jedoch meist keine militanten Aktionen mehr geplant, sondern nur noch kleinere Verbrechen und Schwarzarbeiten durchdiskutiert. Schon kommt eine aufwendige wissenschaftliche Untersuchung zu dem Ergebnis, daß Arbeitslose, die Kneipen besuchen, meist mehr Initiative entfalten als solche, die zu Hause hängen und sich bis zum Erbrechen Sat.1 oder Pornos reinziehen. Eigentlich logisch.