vonHelmut Höge 07.10.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Als New Yorks Bürgermeister Giuliani nach dem World-Tradecenter-Einsturz meinte, das Wichtigste, was die Amerikaner nach dieser Tragödie tun könnten, wäre, jetzt noch mehr und nun erst recht zu konsumieren, also quasi permanent shoppen zu gehen, da faßte man sich hier – in Europa, wie man so schön altmodisch sagt – an den Kopf: Diese Amis haben doch wirklich nur Scheiße im Kopf!

Aber 1. sind wir längst selber Amis mit eben dem selben Kopfinhalt und 2. schrieb bereits 1961 Jean Amery in seiner Nachkriegsstudie “Geburt der Gegenwart” – über Deutschland, Frankreich, England und Amerika:

“Die euramerikanische Zivilisation, wie sie sich uns zu Ende des schicksalsschweren Jahrzehnts 1950-1960 darstellt, hat nur einen einzigen Bezugspunkt: den Konsum. Der Rest ist Illusion.”

Zwischen der “Stunde Null” 1945 und dem sogenannten “Ground Zero” (2001) gab es zwar mal eine militante Konsumkritik – während der Studentenbewegung. Der alles verblödende Konsumismus wurde mit Herbert Marcuse als “repressive Entsublimierung” begriffen und es machten sich hippieske Askesen breit, die bis hin zu Kaufhaus-Brandstiftungen gingen, aber das alles war nur ein Zwischenspiel. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der chinesischen KP-Parole “Bereichert euch!” ging es mit dem Konsumismus weltweit erst richtig los, sogar die 3/5 der Weltbevölkerung, die zu den Verlierern der sogenannten Globalisierung gehören (werden), will man mit “Tittitainment” konsumistisch ruhig stellen. So fing dieser Hyperkonsumismus an:
“Mister, Gorbatschow, Tear Down the Malls!” rief Ronald Reagan 1987 an der Berliner Mauer. “Warum sollen wir ausgerechnet unsere wenigen Einkaufszentren niederreißen?” fragten sich die Ostler erstaunt. Aber darum ging es ihm gerade: Durch unsinniges  atomares Hochrüsten eine Dauerkrise auf dem  Konsumsektor hervorzurufen, gegen die “das Volk” schließlich auf die Barrikaden gehen würde.

Nicht zufällig hat der US-Stadtforscher Mike Davis die seitdem überall auf der Welt gebauten Entertainment-Malls als “architektonisches Äquivalent zur Neutronenbombe” bezeichnet. Aber “das Volk” gibt nicht auf: Als neulich die neue Riesenmall am Alexanderplatz – Alexa – eröffnet wurde, stürmten die Konsumenten den Mediamarkt – es gab Verletzte, verprügelte Verkäufer und kaputte Scheiben. Vielleicht wird schon bald bei der Eröffnung einer weiteren Mall der ganze “Konsumtempel”  auseinandergenommen – wenn Hooliganismus und Konsumismus eine dauerhafte Verbindung eingehen. Und das ist schon deswegen zwingend, weil man uns infolge der anhaltenden Privatisierungen alle zu Schnäppchenjägern degradiert. Das macht inzwischen nicht einmal mehr vor Strom, Gas, Telefon, Miete und Bahnfahrkarten Halt! Sogar gediegene Urlaubsorte werden plötzlich zu einem Schnäppchen.

In seinem “Kultbuch – Glanz und Elend der Kommerzkultur” schreibt Robert Misik, “selbst Städte werden zu Marken – zu einem Brand-Statement” und bieten sich als  “Konsumzentren” an. Es geht dabei um “Beachtung”: Denn Ansehen, Reputation, Prominenz, Ruhm können zur “Einkommensquelle” werden, wie  Georg Franck in seiner Studie zur “Ökonomie der Aufmerksamkeit” herausarbeitete.

Neulich interviewte ich den Berliner Graffitikünstler Steven K.: Er hat anfänglich immer nur seinen Schriftzug (tag) gesprüht: “Damit mein Name überall bekannt wird – in der ganzen Stadt. Zwischen 2001 und 2004 schaffte ich, was ich mir vorgenommen hatte. Ich war zwar nicht der beste, aber einer der bekanntesten.”  Inzwischen hat er sich mit seiner Kunst selbständig gemacht – legalisiert, und gibt  Malkurse in einem Jugendclub.  Die kanadischen Autoren Joseph Heath und Andrew Potter sind der Meinung, dass generell die Gegenkulturen “in den letzten 40 Jahren einer der wichtigsten Triebkräfte des Konsumkapitalismus gewesen” sind. Was den Philosophen Peter Sloterdijk auf den Gedanken brachte: “Alle Wege der 68er führen in den Supermarkt.” Und den Autor Sze Tsung Leong zu dem Schluß kommen ließ: “Nicht nur, dass Shopping mit allem verschmilzt, alles verschmilzt auch mit Shopping.”

Schon gibt es erschütternde Selbstexperimente in Buchform auf dem Markt. Misik erwähnt die New Yorker Journalistin Judith Levine, die im Anschluß an Barbara Ehrenreich, die sich für ein Buch über “Working Poor” als eine solche u.a. bei “Wal Mart” verdingte, beschloß, ein Jahr lang nur noch das Nötigste einzukaufen. In “Not Buying It” heißt es nun: “Außerhalb der Konsumwelt zu existieren bedeutete, in einer parallelen Realität zu leben, die mit der meiner Freunde und Kolleginnen nichts gemeinsam hatte.” Misik merkt dazu an: “Diese Erkenntnis ist für Langzeitarbeitslose gewiss nicht völlig neu.” Deswegen sind sie auch noch verwegener auf der Schnäppchenjagd.

Und wer gar kein Geld hat, der zieht andere ab – d.h. beklaut oder überfällt sie. Das tat auch der e.e. Graffitikünstler eine Weile – auf dem Kurfürstendamm (sic). Es gibt schon ganze Urlaubsstädte, die sich nur deswegen international vermarkten, damit die Touristen bei ihnen im Erfolgsfall von einheimischen Arbeitslosen ausgenommen werden wie eine Weihnachtsgans. “Darum ist es nicht verwunderlich”, schreibt Misik, “wenn Werte wie Kreativität, Autonomie, Selbstverwirklichung – die früher Vokabeln des Rebellischen waren – zu gefragten Tugenden im Wirtschaftsleben werden”. Und Werner Schulze sein soziologisches Standardwerk “Die Erlebnisgesellschaft” nennt.

Zu den nachgefragten Erlebnissen gehören auch Raubüberfälle, Gangbang, Knasterfahrung etc.. Die erfolgreichen Gangsta-Rappa, die in Berlin gerne mit Graffitikünstlern zusammen arbeiten, wissen davon ein Lied – und nur dieses eine in zig Variationen – zu singen. Die Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello sprechen in diesem Zusammenhang von einer “Ökonomisierung des Authentischen”.

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kommentare

  • In Berlin gab es mal einen richtigen Bierkrieg:

    Bis 1848 hatte der Branntwein nach und nach das damals noch obergärige Bier verdrängt. In der langsam erstarkenden Arbeiterbewegung begann man gegen die “Schnapshöllen” zu agitieren. Auf Druck der Basis wurde dafür von den Gewerkschaften das Bier zur gesunden Volksnahrung aufgewertet – in der untergärigen (tschechischen) Brauart jedoch: “aechtes Bier” genannt. In Berlin entstanden die ersten Bierschwemmen. Das Gartenlokal Tivoli auf dem Kreuzberg wurde zu einem Ort für Massenveranstaltungen.

    1813, nach der Schlacht bei Großbeeren eröffnet, war daraus zunächst, um das neue Schinkelsche Kriegsdenkmal herum, ein Vergnügungspark für die gebildeten Stände entstanden: Neben einem Bierausschank gab es dort zweisitzige Wägelchen, mit denen man den Abhang hinuntersausen konnte. Dem preußischen Philosophen Hegel, der am Kreuzberg ein Haus besaß und sich oft im Tivoli schwäbisch vergnügte, soll auf der “Kreisfahrbahn” angeblich sogar sein bis heute leuchtendes spiralistisch-fortschrittliches Geschichtsbild eingefallen sein. 1868 fand dort die erste Massendemonstration statt: gegen den Mietwucher. 1875 sprach August Bebel dort. 1877 feierten nach einem Wahlsieg der SPD 22.000 Menschen auf dem Kreuzberg und sangen die Marseillaise.

    Diese Politisierung des Berges machte den Ort auch für die Rechten attraktiv: 1892 verabschiedeten die Deutsch-Konservativen dort ihr agrarisch-antisemitisches “Tivoli-Programm”. Inzwischen hatte die Schultheiss-Brauerei die Bierproduktion auf dem Kreuzberg übernommen: Neben Prämien und übertariflicher Entlohnung bot das Unternehmen seinen Arbeitern einen kostenlosen “Haustrunk”. Als die Abstinenzbewegung wieder Tritt zu fassen begann und nun auch gegen die gesunde Volksnahrung vorging, gründete Schultheiss mit anderen Bierhändlern zusammen einen “Schutzbund”, dieser wurde von der SPD-Führung heimlich unterstützt. Viele in der Arbeiterbewegung wegen ihrer Aktivitäten arbeitslos gewordene “Aufwiegler” waren unterdes Wirte geworden. Sie zogen die früheren Arbeitskollegen in ihre Kneipen, die deswegen von Karl Kautsky auch als “Bollwerke des Proletariats” gepriesen wurden.

    In den Berliner Gewerkschaftshäusern machte man dennoch die bittere Erfahrung: Immer wenn die Funktionäre die darin eingerichteten Schankbetriebe selber bewirtschafteten, ging das Geschäft den Bach runter. Als Aufsteiger wollten sie die Trunksucht ihrer Gäste stets auf allzu “vernünftiges Maß” bringen. Wenn sie ihre Gewerkschaftskneipen dagegen an Arbeitslose verpachteten, brummte der Laden. Allerdings wurde es oft laut, und manchesmal startete man auch direkt von dort aus nachts Aktionen gegen den Klassenfeind, was einige Gewerkschaftskneipen schwer in Verruf brachte. Im Wedding war insbesondere der “Schwedenkeller” berüchtigt: Dort trafen sich die “Männer der Faust” – um Erich Mielke. In der “Bärenquelle”, am Ende der Oranienburger Straße, agitierte das kommunistische Ehepaar Coppi Bauarbeiter, darauf weist seit 1975 ein Schild hin (ihr Sohn könnte dort heute wieder Bauarbeiter aufwiegeln – vornehmlich irische).

    Doch ich habe vorgegriffen. Mit dem Ersten Weltkrieg löste sich die “Alkoholfrage” wie von selbst: Erst 1925 wurden die Produktionsbeschränkungen aufgehoben und das Bier wieder mit vier Prozent Alkohol ausgeschenkt. 1935 wurde die Schultheiss-Brauerei auf dem Kreuzberg zum “NS-Musterbetrieb” erklärt, im Krieg hielt dort der “Reichstrunkenbold” Robert Ley, als Leiter der Arbeitsfront, eine Durchhalterede – und sicherte weitere Fremdarbeiterkontingente zu. 1949 produzierte der Betrieb erstmalig wieder in “Friedensqualität”. Der Direktor ließ die Restauration zu seiner Dienstvilla umbauen.

    Nachdem Schultheiss zügig den Westberliner Biermarkt “bereinigt” hatte, erwarb der Dortmunder Konzern Brau und Brunnen, zu dem Schultheiss seit 1972 gehört, mit der Wiedervereinigung auch noch eine Ostberliner Brauerei, woraufhin die Produktion auf dem Kreuzberg eingestellt wurde. Man wollte dort erst eine “Erlebnisgastronomie” einrichten, aber nun entstehen aus der Brauerei Luxusappartements. Die letzten Arbeiter machten sich unterdes mit einigen ihrer Erfindungen und den Abfindungen sowie Senatsunterstützung in einem “Arbeitsförderbetrieb” selbständig. Keiner eröffnete eine Kneipe. Im Gegensatz zu vielen arbeitslos gewordenen Ostberlinern, die dafür Existenzgründerdarlehen und Bankkredite in Anspruch nahmen. Nicht selten verbumfiedelten sie damit bloß ihre gemütlich-heruntergekommenen Eckkneipen. In dem neuen, teuren Spießer-“Ambiente” fühlten sich jedoch die Karrieristen nicht wohl, erst recht nicht die Arbeitslosen – und die Arbeiter wurden seit der Wende immer weniger. Dementsprechend findet derzeit in Berlin und Brandenburg ein bereits allseits besorgniserregendes Kneipensterben statt. Die Banken sind schon derart verunsichert, daß gerade das früher verpönte proletarische Verhandlungsgeschick bei ihnen immer öfter zum Erfolg führt: Wenn der Wirt nur ordentlich genug droht (“Ich schmeiße alles hin!”), wird der Vertrag zu seinen Gunsten neu aufgenommen.

    Auf der anderen Seite der Theke werden jedoch meist keine militanten Aktionen mehr geplant, sondern nur noch kleinere Verbrechen und Schwarzarbeiten durchdiskutiert. Schon kommt eine aufwendige wissenschaftliche Untersuchung zu dem Ergebnis, daß Arbeitslose, die Kneipen besuchen, meist mehr Initiative entfalten als solche, die zu Hause hängen und sich bis zum Erbrechen Sat.1 oder Pornos reinziehen. Eigentlich logisch.

  • Klaus-Peter Lüder (Rügen):

    Auf Hiddensee fand auch mal zu DDR-Zeiten fast ein Bierkrieg statt, weil das Versorgungsschiff “Hoffnung”, mit dem das Bier von Stralsung auf die Insel geschafft wurde, einige Tage ausblieb. Es gibt darüber einen Bericht in einem Buch über Hiddensee zu DDR-Zeiten.

  • Was denjenigen blüht, die sich nicht tittitainen lassen, kann man im Irak und in Afghanistan sehen. Deshalb werde ich mir jetzt ein Paar Pornos anschauen, damit mich der Bundestrojaner nicht für einen fundamentalistischen Antipornographisten hält.

  • Klaus-Peter Rügen (Nordhausen):

    Vielleicht war der Reagansche Gedanke “Tear down the Malls” gar nicht so falsch oder jedenfalls glaubten die Kommunisten im Osten selbst, dass eine zureichende Versorgung ihrer Bevölkerungen mit Konsumgütern sie ruhig halten würde. Mag aber auch sein, dass sie sich da nur etwas vormachten.

    So fand z.B. 1975 in der DDR ein internationaler marxistischer Kongreß statt mit Jungkommunisten aus Ost und West. Ein italienischer Genosse wagte es dort, nach den Ursachen des Prager Aufstands 1968 zu fragen. Ihm antwortete ein ML-Wissenschaftler: “Es gab da in Prag ein Bierversorgungsproblem” – und das sei vom Westen, CIA etc., ausgenutzt worden, um einen Volksaufstand zu provozieren, den man dann niederschlagen mußte.

    Auf die darauffolgende Frage, wie man denn solches in Zukunft vermeiden wolle, antwortete der ML-Wissenschaftler, indem man es nie wieder zu Bierengpässen in Prag kommen lasse – “und dafür werden wir sorgen, Genosse!”

    Diese absurde Begründung für den “Prager Frühling” ist vielleicht nicht einmal ganz falsch, denn immerhin gründete sich nach der “samtenen Revolution” in der Tschechoslowakei 1990 sofort eine “Bierpartei”, wenig später entstand eine solche auch im Norden der DDR.

    Ein paar Jahre später gab es in der Berliner Kulturbrauerei eine Ausstellung über die Versorgung der DDR-Bürger mit Konsumgütern, sie hieß “Wunderwirtschaftsland DDR”. U.a. wurde dort ein kleiner Vorgang akribisch aufgearbeitet, der starke Ähnlichkeit mit dem o.e. Prager Bierengpass hatte. Es ging dabei um Würfelzucker, der plötzlich im Süden der DDR nicht mehr zu kriegen war. Der Vorgang ging von den Organen des Handels und der Sicherheit hoch bis zum ZK, wo er mehrmals ausführlich diskutiert wurde – bis es dort zu einem Beschluß kam: die Versorgung der Bevölkerung in Thüringen und Sachsen-Anhalt mit Würfelzucker. Dieser Beschluß wurde dann auch sogleich umgesetzt. Und schon kurze Zeit später konnten die Organe nach oben melden: Die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichenden Mengen Würfelzucker ist wieder gewährleistet. Da haben sich also hunderte von Kader mit dem Würfelzuckerproblem im Süden der DDR befaßt – und dann das Problem zur allseitigen Zufriedenheit auch gelöst. Die Frage aber bleibt: Wenn ihnen das nicht gelungen wäre, hätte es dann in den betroffenen Kreisen einen Würfelzucker-Aufstand gegeben?
    Insofern könnte eine Störung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern das sozialistische System schon gefährden – darauf wollte ich hinaus.

    Nicht zufällig sind die Völker im sowjetischen Einflußsystem, auch 17 Jahre nach Auflösung der Sowjetunion, noch immer extrem konsumgeil, jedenfalls in ihrer Mehrheit. Bei den russischen Neureichen hat das geradezu obszöne Dimensionen angenommen.

  • Zur Okkulartyrannis gehört auch dies noch:

    Während man hierzulande vom “Aufschwung Ost” faselt, sprach man nach dem amerikanischen Bürgerkrieg von Wiederaufbau und vom “New South”. Einer – Grady – behauptete schon bald: “In den Wäldern zwischen Virginia und Texas tummeln sich die Kapitalisten aus Neuengland auf der Jagd nach Investitionsobjekten; man kann kaum einen Schuß abgeben, ohne einen von ihnen zu treffen”. In Wirklichkeit versank der Süden jedoch in Armut und Entvölkerung.

    In Berlin tummeln sich heute zumeist Film- und Fernsehteams aus aller Welt. Neulich trat ich aus dem Haus – da standen sich auf einmal “Bullen” und “Autonome” gegenüber, die Straße war mit Polizeifahrzeugen abgeriegelt. Seltsam nur, dass die Polizisten ganz entspannt wirkten, obwohl die jungen Antifas mit Baseballschlägern bewaffnet waren: Das hatte es in Kreuzberg noch nicht gegeben, auch nicht, dass die Kontrahenten neun Tage lang “kämpften” – und zwar immer nebenan vor dem Fischrestaurant von Demirel: Hier sollte sich eine Gruppe von Neonazis verschanzt haben. Tatsächlich war dieses Gartenlokal einst eine SA-Kneipe, mit einem “wilden KZ” im Keller, wo sich eine Kegelbahn befand. Von hier aus stürmten die rechten Rollkommandos einst mehrmals das jüdische Kaufhaus gegenüber: Heute befindet sich dort eine Feuerwehrwache. Die Gefechte vor dem türkischen Restaurant waren inszeniert – für eine RTL-Produktion.

    Der Regisseur hatte das Lokal in “Spreeklause” umbenannt, der Wirt bekam für die Dauer der Dreharbeiten ein Ausfallhonorar. Nicht nur leben immer mehr Ich-AGs davon, dass sie diesen Filmproduktionen in puncto Schminke, Catering, Kabel und Kostümen zuarbeiten, auch an den vielen Locations, die für diese Filme benötigt werden, bleibt immer mehr hängen: Der Tierpark in Friedrichsfelde verlangt zum Beispiel 200 Euro die Stunde fürs Drehen, das “Café Moskau” in der Karl-Marx-Allee nimmt 1.000 Euro pro Tag. Auch die Allianz-Versicherung als Besitzerin des einstigen Stasi-Versorgungstraktes in der Normannenstraße will für jede authentische filmische DDR-Vergangenheitsbewältigung 1.000 Euro täglich. Die Low-Budget-Filmer müssen sich deswegen etwas einfallen lassen.

    Der Regisseur Andreas Goldstein von Next-Film wich für eine kleine Stasi-Szene in seinem Film “Detektive” in den Trauungssaal des Standesamtes von Mitte aus, weil der nur 50 Euro die Stunde kostete. Bei bestimmten Locations wollen aber darüber hinaus auch noch die normalen Nutzer pekuniär ruhig gestellt werden: Im Märkischen Viertel war das eine die Dreharbeiten störende Jugendgang, der der Regisseur nur mit einer Einladung ins nächste McDonald’s beikommen konnte; am Bahnhof Zoo wurden neulich die Fixer von einem Fernsehteam laufend mit Bier und Tabak versorgt, damit sie sich so gaben, wie sie dort immer am U-Bahnausgang rumlungern; und auch die Gäste des Lokals “Stiege”, wo man früher gerne “Liebling Kreuzberg”-Szenen drehte, wurden kürzlich von einem Filmteam gebeten, sich “ganz normal, wie immer” zu verhalten, also zu reden, zu essen und zu trinken. Dafür spendierte die Regisseurin ihnen Rotwein und Grappa. In Dimitris Kreuzberger Kneipe “Markthalle”, die vor allem durch “Herr Lehmann” bekannt wurde und seitdem ein Schnitzel gleichen Namens auf der Speisekarte führt, scheinen viele Gäste nur darauf zu warten, dass sie dort mal wieder gefilmt werden – und dabei auch noch zu einer kostenlosen Mahlzeit kommen. Aber die Filmkarawanen sind weitergezogen.

    Neuerdings bemühen sich immer mehr Location-Agenturen um sie. Sie vermitteln ihnen u.a. teure Lofts und Penthouses – über den Dächern von Berlin. Schon gibt es Hausbesitzer in Mitte, am Kudamm und am Liebnitzsee, die ausdrücklich in ihre Wohnungskauf- bzw. Mietverträge festhalten: “Filmen ist im Haus nicht erlaubt!” Entweder aus Sicherheitsgründen oder weil der Bauherr nicht will, dass seine teuren “Kreationen” (in der Torstraße gibt es z.B. eine Wohnung für 4 Mio Euro) laufend im Fernsehen zu sehen sind – und dadurch zum “Massengeschmack” herunterkommen. Umgekehrt vermietet z.B. die taz ihr alles in allem eher schlichtes “Rudi-Dutschke-Haus” gerne für Dreharbeiten – übers Wochenende. Unter Location-Agenten gilt das altneue Bürohaus jedoch als “etwas zu teuer”. Eine Agentur bietet Partyveranstaltern – nicht Locations, sondern TV-Teams an, die ihre Partygäste an der von ihnen gewählten Location filmen – mit leerer Kamera, nur damit alle das Gefühl haben: “Hier is was los! Hier gehts tierisch ab!

  • Klaus Lüder (Remscheid):

    Anmerkung zur “Pornographie” oben: Dass immer mehr Männer keinen mehr hoch kriegen, ist auch ein Shoppingproblem, denn ihre nachlassende Erregung hat was mit einer konsumistischen – sich okkular aufgeilenden – Haltung zu Frauen zu tun. Und dafür gibt es auch ein Konsum-Gegenmittel: Viagra. Ich habe an manchen Tagen schon über 20 Spam-Mails, mit denen für Viagra geworben wird. Und Freunde, die das “Medikament” ausprobiert haben, berichten, dass es abhängig macht – in dem Sinne, dass es einfacher für sie ist,bloß dieses sauteure Mittel einzuwerfen und dann wie gehabt drauflos zu vögeln, als sich von ihrer (falschen) Einstellung zur Sexualität, zu Frauen und zu ihren Geschlechtsmerkmalen zu trennen, d.h. eine andere zu suchen. Das geben sie selbst zu, dass es so ist, sie bleiben aber der Einfachheit halber trotzdem bei der Pille.

  • In Deutschland wird das “Tittitainment” vor allem über TV-Pornoprogramme, Sex-Shops und Sex-Messen durchgesetzt.

    “Pornographie ist die letzte große Illusion der Teilhabe der unnützen Menschen am System,”schreibt Georg Seeßlen.

    Am 3. und 4. November findet in Berlin ein großer “Wilhelm-Reich-Kongress” statt: “Sexualität und Lebensenergie. Wege der Hingabe – Wege der Lust”. Es ging Reich bekanntlich um eine Steigerung der Orgasmusfähigkeit zur Revolutionierung der Lebensenergie.

    Geworben wird für den Kongress auf der Webpage des Kitkat-Clubs. Dieser hat kürzlich den Sage-Club in der Köpenicker Straße übernommen. Nun finden seine “Sex-Partys” dort statt. Nach wie vor elektronisch befeuert von DJ Clark Kent – Sohn eines Hamburger Privatbankiers, der während seines Harvard-Studiums eine US-Pornodarstellerin kennenlernte, der zuliebe er seine Bankkarriere aufgab. Sie tritt nun im Kitkat-Club als “DramaNui” auf.

    Die Sexualexpertin Mariam Lau versuchte unlängst im Merkur eine Bilanz der sexuellen Befreiung – seit den christlich-adenauerischen 50er-Jahren: “Wie vom Autopiloten gesteuert, führt jede … Kulturkritik früher oder später nach Amerika”, schrieb sie. Dort in New York eröffnete schon in den 70ern ein Sex-Club mit dem Namen Plato’s Retreat.

    Laut Mariam Lau lässt sich nun – nach der New Yorker Urbanismus-Kritik von Richard Sennett “Die Tyrannei der Intimität” – die neueste Pariser Sexualkritik von Jean-Claude Guillebaud “Die Tyrannei der Lust” im Bild des “glory hole” zusammenfassen. Das sind jene schwarzen Löcher in den “Schwulentreffs” – in Höhe der Geschlechtsteile, “durch die anonyme Penetration stattfinden kann”.

    Im alten Kitkat-Club in Tempelhof kam es ebenfalls gelegentlich zu “anonymen Penetrationen”, das heißt irgendein Pärchen befummelte sich auf oder neben der Tanzfläche und zog sich dann still in eine Ecke zurück, um zu vögeln, wobei beide füreinander gleichsam im Anonymen blieben.

    Im neuen Kitkat-Club nun hat man es erst mal mit vielen bodygebuildeten und gebräunten Leuten zu tun, die früher die Großdisko Speicher füllten und meist aus dem Umland kommen. Sie tanzen wie verrückt, wobei ihnen die Musik ziemlich egal ist, und wirken alle wie geklont beziehungsweise uniformiert: Die Frauen tragen schwarze Reizwäsche und die Männer ihre nackten Oberkörper zur Schau, dazu noch schwarze Hundehalsbänder.

    Das sieht so aus, als wären die jungen Frauen alle gerne Dominas und die Männer Sklaven. Ist aber nicht so: Wenn sich ein exhibitionistisch inspiriertes Heteropärchen auf die obere Matrazenebene zurückzieht, dann folgen ihnen sofort ein Dutzend Männer, die dann anfangen, dem Pärchen an die noch freien “glory holes” zu gehen. Währenddessen formiert sich hinter ihnen eine dritte Reihe Männer, die den vor ihnen stehenden die Eier massieren, einen runterholen oder den Arsch küssen. Das Ganze wird aus einiger Entfernung von wieder anderen Männern beobachtet, die sich dabei einen wichsen.

    Es klumpt sich da also langsam und schweigend so etwas wie ein Massenfick zusammen, was den Charakter eines Unfalls hat, zu dem die Leute auch alle sofort hinrennen. Aber bevor hier die sogenannte Orgie noch richtig in Gang kommt, hat die Frau mittenmang schon die Schnauze voll von dem ganzen Gefummel und Gerammel, steht auf, rückt sich ihren im Schritt offenen Tanga zurecht und geht auf die Toilette.

    Nur dort können die Pärchen übrigens in Ruhe vögeln. Auf den Kitkat-Toiletten herrscht ein reges Kommen und Gehen, im Gang dorthin halten sich einige Behinderte im Rollstuhl auf und machen Fotos von Mädchen, die dafür ihre Brüste entblößen, neben dem Zigarettenautomaten sitzt ein dicker nackter Mann und holt sich müde einen runter. Einige an ihm vorbeigehende Männer und Frauen haben ganz normale Straßenklamotten an.

    “Wir haben Verständnis für Toleranz”, heißt es in der Telefonansage eines Karlshorster Swingerclubs. Auch meine Begleiterin und ich. Aber wir sind weit davon entfernt, dass uns diese ganze “Action” irgendwie erregt – im Gegenteil. Es gibt jedoch etwas noch Abturnenderes – das ist die clubeigene Videoserie mit halbinszeniertem Pornogeschehen: “Live aus dem Kitkat-Club”. Damit drang diese Clubidee anscheinend bis nach Hamburg, denn irgendwann bekam ich mal einen Anruf von der Zeit: “Schreiben Sie was über den Kit-Kat-Club, der ist jetzt nämlich schwer angesagt in Berlin.” Das ist hiermit geschehen.

  • Zum Begriff “Tittitainment”:

    Um die infolge der Globalisierung sukzessive verarmenden 3/5 der Weltbevölkerung trotzdem bei der Stange zu halten, schlug der US-Außenpolitik-Experte Zbigniew Brzezinski 1993 das “Tittitainment” vor. Dieses Wort macht seitdem theoretisch und praktisch die globale Runde. Aber auch davor wurden die Massen schon mit diesem Quatsch bei Laune gehalten – in den englischen und deutschen Boulevardblättern beispielsweise.

    Im Springer-Verlag sprach man vom täglichen Titten-Lexikon, das garniert wird mit Horoskopen und Horrorgeschichten. Es geht zurück auf den holländischen Linken Jan Cremer, der fröhlich-unbekümmert allerlei Titten-Photos rund um den Globus sammelte und veröffentlichte – z.B. im März-Verlag. In der Studentenbewegung dann gab es geradezu die Formel “Spaß haben und BH-frei sein”, auch die ersten Pornos wurden mit Linken, Gudrun Ensslin z.B., gedreht. Den Titten wurde hierbei als solchen männliche Anerkennung gezollt – egal wie groß oder klein, prall oder schlaff, birnen- oder apfelförmig sie waren. Und die feministische Reaktion darauf war ambivalent: einerseits wurde diese pseudoanarchistische “Okkulartyrannis” (U.Sonnemann) als sexistisch angegriffen und andererseits griffen viele linke Frauen damit schnelles Geld ab, indem sie in Peep-Shows und Bordellen jobten. Inzwischen gibt es eine “Porno-Industrie” mit den entsprechenden Markt-Querelen sowie TV-Softvarianten. Und ohne Titten lassen sich nicht einmal mehr Waschmittel anständig bewerben.

    Dazu gibt es vor allem im anglo-amerikanischen Raum Dutzende von Titten-Magazinen, also Zeitschriften, die nichts als Riesenbrüste und dürftige Gespräche drumherum bringen. Mit diesem “Special Interest” vollendete sich die Umdrehung der sexuellen Befreiung, die immer auch eine der Befreiung von Schönheitsnormen war. Die Titten sind jetzt hierarchisiert: die größten sind auch die größten. Daß sie künstlich von Schönheitschirurgen aufgebläht werden, versteht sich von selbst. Wie ebenso, daß der Pornostar ein anerkannter Karriereberuf geworden ist. Die Pornovideos mit den größten Brüsten werden so gehandelt wie die aller Rekordhalter und Bestseller – und die dazugehörigen Frauen als Very Important Person behandelt. Während man jedoch ihren nachholenden Kopien aus Osteuropa noch ansieht, daß sie eigentlich Besseres im Sinn hatten als einmal derart ihre Haut zu Markte zu tragen, muß ihre angloamerikanische Tittenkonkurrenz vor allem erbarmungslos demonstrieren, daß die Auftritte vor der Kamera den Höhepunkt ihrer Selbstverwirklichung darstellen.

    Das klingt dann so: “Jeder Mensch muß sein eigenes Glück und seine Berufung finden, ich lutsche am liebsten Schwänze!” Und selbstvertändlich bedanken sie sich anschließend dafür, daß sie jetzt in diesem oder jenem Top-Pornomagazin erscheinen dürfen: “Schon vor zehn Jahren habe ich mir gesagt – wenn du das schaffst, dann hast du es wirklich geschafft”. Das war im übrigen schon die Sprache von “Playboy” und “Penthouse”, wo es auch nur um Schwanzlutschen ging – hinter der Kamera. Insofern sind die jetzigen Big-Tit- und Super-Tit-Magazine sauberer. Deswegen findet sich auch hier wie dort die stereotype Bemerkung der Models: “Meine Eltern werden stolz auf mich sein – wenn sie die Photos sehen!”

    Das vormals rassig ausstaffierte “Klasseweib” ist jetzt jedoch zu einem wahren Monster mutiert: mit riesigen Lippen und luftballongroßen Brüsten an einem ausgemergelten Körper, der auf dünnen Beinchen daherstakst. Diese Frauen, die maximal zehn Jahre mit ihren Pfunden wuchern können, dürfen sich nur von Porno-Shooting zu -Event bewegen, d.h. im Rahmen – von Film oder Bühne. Im normalen Leben wirken sie wie aufgepumpte Reklamepuppen – mitleidserregend. Aber dies ist die Avantgarde des Tittitainment, deren Kommen schon Marshal McLuhan im ersten – kalifornischen – Oben-Ohne-Restaurant 1964 voraussagte. Ihre Maße bewegen sich in immer schwindelerregendere Größen, und dementsprechend purzeln auch ihre Rekorde: über 100 Schönheitsoperationen und über 500 Männer hintereinander – lassen sie inzwischen lachend über sich ergehen!

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