vonHelmut Höge 19.10.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

Mehr über diesen Blog

Vor einiger Zeit interviewten wir Orhan Esen, ein Istanbuler Stadtforscher:

Herr Esen, sie sind Grenzwähler?

In der Türkei gibt es eine Wahlpflicht. Eventuell auch deshalb, ist die Wahlbeteiligung in der Regel sehr hoch. Eine Briefwahl gibt es nicht. Deshalb müssen alle Wahlberechtigten mit türkischem Pass zur Wahl im Land sein. Für diejenigen mit Wohnsitz ausserhalb der Türkei gibt es die Möglichkeit, an einer der Wahlbüros an den Grenzen seine Stimme abzugeben. Dies geht ab vor Wochen vor dem Wahltag. In meinem Fall musste ich zu Hause sein, um meine Stimme abgeben zu können. Reisende mit festem Wohnsitz in der Türkei können ihre Stimme leider nicht an der Grenze abgeben und so mußte ich einen teuren Rückflug buchen.

Vor den Wahlen war von einer starken Polarisierung der Politik die Rede. Das Wahlergebnis scheint etwas anderes zu zeigen.

Die politische Spaltung der letzten Jahre ist eher eine virtuelle Realität. Wer den rhetorischen oder diskursiven Fortschritt dieser Spaltung von aussen beobachtet, könnte meinen dass quasi eine bürgerkriegsähnliche Situation herrschen würde. Dass der politische Diskurs sich auch im Zusammenhang mit der Einmischung des Militärs im April diesen Jahres so gerne des Wortes “Putsch” bediente, gehört mit zu dieser Inszenierung. Dabei hatten die beiden großen “Bürgerkriegsparteien” (CHP und AKP) selbst am meisten Interesse an der Eskalation, um die Wähler in die eigenen Reihen zu katapultieren.  In der Türkei haben wir es traditionell mit 4 + 2 politischen Strömungen zu tun, die sich in immer wieder neuen Parteien zusammenschließen, um sich zur Wahl zu stellen. Wir haben 1.  die Rechtsnationalen, die hierzulande etwa durch ihre militanten Grauen Wölfe sich einen Namen verschafft haben; dann 2. die Islamisten oder nunmehr auch ihre Mutanten, die Postislamisten, die durch die AKP vertreten sind; 3. die Mitte-Rechts-Strömung, in der Regel stets regierungsfähig, zur Zeit jedoch ein grosses Vakuum darstellend, und damit die aktuelle Krise hauptverantwortend; 4. die staatsgründenden Kemalisten, die seit den 60ern sich gerne als Mitte-Links bezeichnen und damit die Position der sozialdemokratischen Linken beanspruchen oder je nachdem usurpieren, die heute am besten als Linksnationale zu bezeichnen sind; 5. eine kleinere aber ‘normale’ Linke, die noch immer an so selbstverständlichen Werten wie Internationalismus oder Multikulturalismus hängt; sowie 6. die davon schon in den 70ern abgespaltene kurdische Bewegung in prekärer Gratwanderung zwischen der Linken und einem eigenem Nationalismus. Für jede dieser Strömungen gibt es in der Regel mehr als 2 Parteien.

Die 10-Prozent-Hürde, die nach dem Putsch in den 80er Jahren mit der Begründung, stabile Verhältnisse in der Politik zu schaffen, eingeführt wurde, hat lediglich den Parteien der ersten vier etablierten Strömungen Vorteile verschafft. Diese 4 Strömungen waren in der Regel immer mindestens durch eine Partei im Parlament vertreten, und haben sich lediglich gegenseitig als Regierungsparteien abgewechselt. Die letzten zwei Minderheitslinien dagegen fanden in diesem System nie eine parlamentarische Repräsentationsmöglichkeit.

Seit der Wahl 2002 waren nur die rechte CHP(Republikanische Volkspartei) und die islamisch-konservative AKP(Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) im Parlament vertreten?

Die jüngste Krise wurde dadurch ausgelöst, dass bei den letzten Wahlen zusätzlich zwei Strömungen durch die 10-Prozent-Hürde aus dem Parlament herausgehalten wurden: sowohl die Rechtsnationalen als auch die Vertreter von Mitte-Rechts schafften es nicht. So kam vor allem eine Legitimationskrise des Systems zustande – 45 % der Wähler waren im Parlament nun gar nicht mehr vertreten. Die Berufspolitiker beider Parteien zeigten kein Interesse daran, das System in Frage zu stellen: Stattdessen beanspruchten sie eine innerparlamentarische Vertretung der fehlenden Strömungen. So kam ein neues Kräfteverhältnis zustande: Die Links-Nationalen fanden sich in der Position, auch die Rechts-Nationalen zu repräsentieren, und die Postislamisten beanspruchten das historische Erbe der schon übereifrig für tot erklärten Mitte-Rechts-Linie. So kam es, auch begünstigt durch die Umstände der Weltpolitik, zu einer Eskalation der Polarisierung.

In den 80er und 90er Jahren hatten doch die Islamisten das Feld der Sozialpolitik der Linken in der Türkei abgedeckt…

Stimmt, die kemalistische Linke rutschte seit den 80ern immer weiter von einer linken Position, die sie ja in den 70ern noch beanspruchen konnte, in den Bereich der Identitätspolitik, einer Verteidigung des westlichen, ‘kontemporären’ Lebensstils. Somit wurde das von den ‘Mainstream-Linken’ evakuierte Feld der Sozialpolitik erfolgreich von der aufsteigenden islamistischen Politik aufgefüllt. In den 80ern und 90ern fungierte der Islamismus, der vor allem die Lokalpolitik kontrollierte, quasi als eine Ersatz-Linke.

Und heute?

Seit 2000  ist es mit den regierenden Postislamisten grundsätzlich anders bestellt: Während ihre Regionalvertreter noch sozial argumentieren, hat sich die im Sommer 2001 gegründete AKP auf nationaler Ebene zu einer neoliberalen und globalisierungfreundlichen Partei gewandelt. So präsentierte Tayyip Erdogan Politiker wie Aznar, Berlusconi, Busch aber auch den Scheich Mohammed von Dubai als seine “Busenfreunde”. Die politischen Gegenbewegungen bezichtigen die AKP des Islamismus, dies war ein Versuch der CHP, ihnen Wählerstimmen abzuringen. Tatsächlich hat sich die AKP mit ihrer Entbindung aus der alt-islamistischen FP (Tugendpartei) als eine pragmatische Zentrumspartei erwiesen, die keinen Sinn für religiöses Eiferertum hat. Der angeeignete neoliberale Diskurs spricht ihre Wähler, die man als die neue Mittelklasse mit Migrationshintergrund bezeichnen kann, eher an. Zumal diese Politik die sozialen Aufstiegsträume dieser Schicht besser bedient. So ist die AKP eine postislamistische Partei geworden. Eine etwa vor einem halben Jahr entstandene islamisch-sozialistische Initiative wurde durch Erdogan erfolgreich stillgelegt, indem die AKP ihre Führung kooptierte. Die AKP vertritt eine konservative, islamisch geprägte Politik, während sie sich außenpolitisch Bush und den USA gegenüber aufgeschlossen verhält. Islamismus bedeutet nunmehr Islamismus nach dem Modell Dubai.

Die ‘republikanische’ Gegenbewegung (im türkischen Kontext und Sinn republikanisch, nicht im amerikanischen) setzt sich aktuell aus unterschiedlichen Elementen zusammen: der altkemalistischen oder links-nationalen Staatspartei CHP, der alt-faschistischen oder rechts-nationalen MHP, die sich bemüht die Assoziation mit den Grauen Wölfen, ihren para-militärischen Jungs aus den 70er Jahren zu distanzieren, um wieder hoffähig zu werden. Doch ist der militanteste Flügel dieser neuen ‘republikanischen’ Front weder diese klassische Rechte noch die nationalistische Linke: quantitativ verschwindend klein verkündete sie jedoch lauthals die republikanische Mission der ehemaligen stalinistischen und maoistischen Linken, die etwa in der Tradition des ‘Sozialismus in einem Land’ stehen. Verbunden sind sie alle über ihre kleinsten, gemeinsamen Nenner: Anti-EU, Anti-Global und nicht zuletzt: Anti-Kurdisch.

Diese neue Anti-Globalisierungs-Bewegung hat 2004 angefangen, als die USA in den Irak einmarschierte. Drahtzieher ihrer massenhaften öffentlichen Kundgebungen sind keine geringeren als die sich gerne als kuva-yi milliye (nationalen Kräfte) bezeichnenden, zum ‘erneuten Nationalen Krieg’ aufrufenden Kreise. Nicht selten im grauen Umfeld der Militärs, vergleichbar mit den Freikorps der Weimarer Republik. Dadurch entsteht eine weltgeschichtliche Skurrilität, wobei die beiden betroffenen Akteure sich immer wieder Mühe geben, diese seltsame Konstruktion zu ‘erklären’: Nämlich dass sich in dieser Front keine geringeren zusammengefunden haben als diejenigen, die in der Tradition derer stehen, die noch den Militärputsch 1980 anführten und ihre  Opfer. In anderen Worten, man könnte hierbei von einer gemeinsamen Front ehemaliger Folterer und Gefolterter  reden.  Sie haben sich in dem Konsens “Türkei raus aus der EU” zusammengefunden. Gerüchte über eventuelle Interventionen im Nord-Irak bzw eines Militärputches wurden wohl aus denselben Desinformationsquellen gespeist, um das Klima eines erneuten nationalen Befreiungskrieges auszubreiten, quasi gleichsetzbar mit der Androhung  eines Bürgerkriegs. Die USA-konforme Linie Nordiraks, sowie die undistanzierte Haltung der PKK gegenüber dieser Politik, hat es vielen, nicht nur den Linken leichter gemacht, eine Anti-PKK-Politik als eine anti-imperialistische Politik zu akzeptieren. Die urbane Mittelklasse, insbesondere die Frauen, werden mit der Drohung einer vermeintlichen Zwangsverschleierung durch die AKP in die republikanischen Reihen zurechtgewiesen. So konstruiert nun der türkische Republikanismus sein aktuelles Feindbild: Es handelt sich um eine durch die EU aktiv betriebene imperialistische Globalisierungskampagne die sich der inneren Feinde Islamischer Fundamentalismus (AKP) und kurdischer Separatismus (DTP) bedient.

Gab es in den vergangenen Wochen die reale Gefahr eines Militär-Putsches?

Das Militär ist eine gut ausgebildete “Kaste”. An ihre Spitzen zu gelangen heisst, ein guter Realpolitiker zu sein. Jeder Armeeführer in verantwortlicher Position weiss ganz genau, was es heute bedeutet, zu putschen. Das Millieu der Berufspolitik dagegen weist in der Regel keine hohe Bildung auf: Nicht selten ist sie durch ‘Immobilienmakler’ dominiert, zumal der jüngste Urbanisierungsprozess auch der wichtigste ‘driver’ der Politik ist. In einer rechtsdominierten Politik kann man sich das gut vorstellen. Weitere lokale Machtinhaber wie etwa Großbauern bilden den Rest. Nicht selten sind also zivilpolitische Eiferer und netzkundige Desinformanten daran interessiert, ihre Szenarien dem  wishful-thinking bzw. des Horrors in den virtuellen Raum zu bringen. Das türkischsprachige Netz ist zurzeit wahrscheinlich cyberspaceweit der grösste Fundus für Verschwörungstheorien aller Couleur. Islamisten etwa bezichtigen die Laizisten, das Land an die Israelis zu verkaufen, während die Laizisten den Fundis dies bezüglich der Saudis unterstellen. Beide sind geeint in der Paranoia ‘Ausverkauf des Landes’. Dabei handelt es sich oft nur um ein paar Ferienhäuser am Mittelmeer, die sich britische Rentner zulegen.  Nachdem das Militär im April gegen die Aufstellung Güls als Präsident durch ein ebenfalls kurz im netz auf-, und wieder abtauchendes Pamphlet Stellung bezogen hatte, entwickelte sich rasend schnell eine Protestbewegung im öffentlichen Raum: Erstaunlicherweise aber wurde “Weder Moschee noch Kaserne!” zu einer ihrer Hauptparolen. Allein in Izmir gingen 1,5 Millionen Menschen auf die Straße. Mehr als 2/3 der Demonstranten waren Frauen, die gegen das Kopftuch protestierten. Eine bedeckte First Lady war unannehmbar und galt zugleich als eine Bedrohung der eigenen Freiheit als Frau.  Ein Teil der Demo-Organisatoren im Hintergrund hoffte  sicherlich, dass die Leute als bedrohte Minderheit auf die Strasse gehen würden und den  Wunsch nach einem Militärputsch äussern würden: die Militärs als Beschützer bürgerlicher  Freiheiten. Dieser Plan ging nicht auf, da sich die Demonstranten als große Mehrheit auf der Straße wiederfanden. In dieser Entwicklung könnte man also ambivalent ebenfalls die “Geburt einer Demokratie” sehen, die durch die Selbstinszenierung einer gerade dadurch mündig gewordenen modernen Mittelschicht, eine starke tragende Komponente erhält. Nach dieser Lesart wäre der 13. Mai 2007 eine Etappe der bürgerlichen Revolution, wie etwa die 1848er.

In den Neuwahlen versuchte nun die CHP die republikanische Bewegung ‘auf den Strassen’ hinter sich zu bringen, die durch die Polarisation entstanden war. Die Angst vor dem Islam wird gleichgesetzt mit der Angst vor den Global Playern.  Wir reden von einer Kristallisation wie in einem Bürgerkrieg, weil die Zwischentöne fehlen. Das hätten etwa die rechten Zentrumsparteien zur Verfügung gestellt, aber diese gibt es faktisch nicht mehr. Die Mitte-Rechts-Linie bestand einst aus der DYP Demirels (Bäuerliche Wähler) und der ANAP, der Partei der Städter, von Özal. Ihre Nachfolger in den 90ern, Tansu Çiller und Mesut Yilmaz waren derart korrupt, dass die beiden Mitte-Rechts-Parteien bei den vorletzten Wahlen unter 10% rutschten. Erdogan hat somit bei den letzten zwei Wahlen dieses Wählerklientel beerbt. Das Entarten einer angestrebten Fusion dieser beiden Parteien unter den ‘Regenerationsführern’ Mumcu und Agar geriet kurz vor diesen letzten Wahlen zu einem Farce, dann zu einem Skandal – und hat diese Erbschaft erstmal vorläufig besiegelt.

Was ist mit der türkischen Linken?

Nicht die ganze Linke ist nationalistisch und fühlt sich durch die CHP oder die radikalen Nationallinken vertreten. Es gibt auch noch eine internationalistische Linke und die Kurden. Die DTP, wie der legale Flügel der PKK heute heisst, bzw ihre verbotenen Vorgänger, bekamen bei den Wahlen nie mehr als 6 oder 7%, obwohl sie auch von vielen türkischen Linken gewählt wurden. Ein Grund hierfür ist der zweideutige Separatismus der DTP, der für die größtenteils integrierten und verstädterten Kurden im Land kein Thema mehr ist. Die nicht-nationalistische Linke mischt sich teilweise in die EU-Politik ein und begreift sich bereits als Teil einer europäischen Linken. Sie hat aber selbstverständlich keine Berührungsängste mit den Kurden.

War die Strategie der unabhängigen Kandidaten nur auf die Linke und die Kurden beschränkt?

Anfang 2007 erschien in der Sonntagsbeilage der “Radikal” eine Kolumne des Politologen Ahmed Insel, in der er die Frage aufwarf, warum die Linke keine unabhängigen Kandidaten aufstellt – ohne die Parteien, die nicht über die 10-Prozenthürde kommen würden. So entstanden mehrere lokale autonome Wahlkreisinitiativen, so etwa für Baskin Oran in Istanbul 2 und Ufuk Uras in Istanbul 3.  Auch Mitte-Rechts-Politiker haben erkannt, dass sie Chancen haben, in Anatolien Direktmandate zu bekommen. Beispielsweise Mesut Yilmaz. Er bekam wegen seiner Skandale bei der letzten Wahl nur 3% aber ist in seiner Heimatregion Rize noch immer ein “local hero”. Er ist für die EU, spricht Deutsch, behauptet, er könne im Gegensatz zu Erdogan mit Merkel reden, sei etwa ein Ansprechpartner der CDU/CSU und versteht sich als europäischen Rechten.

Jetzt geht er parteilos ins Parlament.  Welchen Vorteil hatten die freien Kandidaten gegenüber den Vertretern etwa der CHP?

Bei der Kandidatenaufstellung der Parteien haben die Parteimitglieder nichts zu sagen. Das wird von der Parteizentrale bestimmt. Deniz Baykal, der Vorsitzende der CHP zum Beispiel, ist nicht besonders charismatisch. Seine Kandidaten wurden nicht als Vertreter ihrer Wahlkreise verstanden, sondern als seine Vertreter. Das wurde zum Nachteil in den Wahlkreisen. Erdogan hingegen machte eine gute Figur. Das half ihm in den Wahlkreisen.

Warum spielten in dieser Wahl die unabhängigen Kandidaten eine so große Rolle?

Sie sind erstmalig eine große Chance. In Istanbul kandidierten zwei sehr prominente Intellektuelle. Einmal der Chef der ÖDP (Partei der Freiheit und Solidarität) Ufuk Uras sowie der Politologe Baskin Oran, ein Freund des im vergangenen Januar ermordeten armenischen Schriftstellers Hrant Dink. Baskin Oran plädiert für ein Patchwork der Minderheiten: “Der Türke wird den Kurden, der Kurde den Armenier, der Armenier den Roma, der Roma den Tscherkessen, der Tscherkesse den Aleviten, der Alevit den Arbeitslosen, der Arbeitslose den Homosexuellen verteidigen. Das ist das Ziel.” Die Position von Uras ist etwas anders. Sie hat eher sozialpolitische Ziele.

Welche Wähler zog die AKP, beziehungsweise die Republikanische Bewegung an?

Die AKP vertritt vor allem 3 Wählergruppierungen: 1.In den Großstädten die neue aufsteigende Mittelschicht mit Migrationshintergrund. Sie sind vom Land in die Stadt eingewandert und aus Landbesetzern wurden Besitzer. Den sozialen Aufstieg durch den Bildungsweg ersetzten sie durch die Strategie des konservativen self made man, ähnlich dem amerikanischen Vorbild. Sie fühlen sich durch die alte, westlich orientierte, sich mondän gebende gebildete Mittelschicht verhöhnt. 2.Bäuerliche und kleinstädtische Gruppen, hauptsächlich im Osten und im Norden, die sich eher den muslimischen Gemeinden zuordnen. 3.Die Anatolischen Tiger. Unternehmer der Osttürkei, Vertreter eines “protestantischen Islam”. Ihre Wirtschaftskraft basiert auf den Ersparnissen, die die in die Städte abgewanderte und ausgewanderte Bevölkerung zurückgeführt hat. Sie sind asketisch und akkumulationsbewußt. Man könnte glatt von einem schwäbischen Islam sprechen.

Das klassische Grosskapital, etwa aus Istanbul und Izmir (organisiert im Verband der türkischen Unternehmer – TÜSIAD), sieht sich in der AKP immer noch nicht ganz vertreten. Es sieht nach wie vor nach einer Zwangsehe aus. Auch, wenn nun die Wähler der klassischen Mitte-Rechts im Vakuum eigener Parteien Erdogan zu einem noch grösseren Wahlerfolg als beim letzten Mal verholfen haben. Der Dialog im Rahmen dieser Zwangsehe wird eine Hauptkomponente der türkischen Politik der kommenden Periode werden.

Was ist für Sie das entscheidende Ergebnis der Wahlen?

Die Repräsentationskrise im Parlament ist nun überwunden. 2002 waren 46% der Stimmen nicht im Parlament vertreten. Keiner der im Parlament vertretenen Parteien hätte aber die 10-Prozent-Hürde kritisiert. Jetzt sind durch klügere Wahlstrategien der politischen Kräfte 87 % der Stimmen vertreten! Von den unabhängig Gewählten ist zu erwarten, dass sie sich für eine Senkung der Hürde einsetzen. Unter der neuen Konstellation könnte es für die AKP opportun werden, an der Diskussion über die Demokratiedefizite  teilzunehmen.

Aber die AKP hat doch nun noch mehr Wähler hinter sich?

Die AKP hat ihre Stimmen durch wachsende Zuneigung vom Zentrum um zwar 13 % erhöht, doch dadurch, daß nun 3 Parteien zuzüglich über 20 unabhängige Kandidaten ins Parlament einziehen, hat sie tatsächlich 20 Mandate verloren. Die AKP wäre damit zwar weiterhin alleine regierungsfähig – sogar mit grösserer Legitimation, jedoch nicht mehr imstande, im Alleingang die Wahl eines Staatspräsidenten oder etwa Verfassungsänderungen durchzusetzen. Damit hat sich die Politik demokratisiert. Bei diesen  systemgefährdenden, zur Frontenbildung neigenden Punkten ist die AKP nun auf mehr Konsens mit den Laizisten angewiesen: Trotz wachsender Stimmen ist der Selbstherrlichkeit ein Ende gesetzt.  Die republikanische Konfrontationslinie erwies sich beim Wähler als unpopulär. Die sogenannte ‘Stille Mehrheit’ – die Zentrums-Wähler, haben sich von der Propaganda ‘AKP ist fundamentalistisch’ nicht einschüchtern lassen, und die Absurdität solcher Thesen erkannt. Der neue Zentrums-Wähler ist auch nicht eingeschüchtert von der ‘Drohung’ der Globalisierung. Diese wird als ein Prozess verstanden, von dem die Türkei profitieren kann. Der Glaube an den Neoliberalismus kam gestärkt aus den Wahlen hervor. Der AKP-Wähler, im Profil Neustädter mit Migrationshintergrund, hat Selbstvertrauen. Er sieht sich auf der potentiellen Gewinnerseite des Globalisierungsprozesses und nimmt diese Herausforderung an. Und dabei ist wichtig: trotz aller Fehler europäischer Politiker, bleibt man europäisch.

Woran ist die CHP gescheitert?

Baykal hat nun zum vierten Mal eine Wahl fatal verloren. Er konnte trotz Wahlbündnis mit der Post-Ecevit-DSP keine Stimmen gewinnen. Die Strategie der republikanischen Frontenbildung hat sich nicht ausgezahlt. Durch die eingetretene 3 (eigentlich 6+1) Parteien-Situtation hat er aber nun 66 Mandate verloren. Gemeinsam mit der MHP bilden sie nun keine Regierung, sondern lediglich die Opposition. Eine Fortführung ihrer Polarisierungspolitik wird von der CHP jedenfalls mehr nicht angestrebt werden. Diese ist gescheitert und würde nur noch mehr Wähler zu den Rechten treiben.  Das Parlament ist bunter geworden: Die Anzahl der im Parlament vertretenen Frauen hat sich von 24 auf 46 erhöht. Die Arbeit der Frauen-NGOS hat sich etwas ausgezahlt. Die überraschende Unterrepräsentation von Frauen, die sonst im Berufs-, sowie Akademikerleben der Türkei so gut vertreten sind, wird damit etwas abgemildert.  Und die Kurdische Politik ist im Parlament: diese hat zwar ebenfalls insgesamt drastisch Stimmen verloren. Alle Unabhängigen haben türkeiweit nur 5.19 % bekommen. Mehrheitlich gingen diese an die der pro-kurdischen DTP nahestehenden Kandidaten. Jetzt bescheren die ca 3% Stimmen ihnen über 20 Mandate und die Möglichkeit, eine Parlamentsfraktion zu gründen.  Auch die unabhängige Linke ist im Parlament: Ufuk Uras, Chef der ÖDP, wurde auf der asiatischen Seite von Istanbul als Unabhängiger gewählt. Auf ihn alleine werden sich linke Erwartungen konzentrieren. Baskin Oran hat es nicht geschafft. Der Vorwurf, durch Wirtschaftsliberale unterstützt zu werden, hat viele linke Wähler abgeschreckt.  Und es gibt noch weiteres Konfliktpotential: Muhsin Yazicioglu, Chef der ultra-rechten BBP (Grosse Einheitspartei), die radikal-reale Fortsetzung der Grauen-Wölfe-Tradition, in dessen Umfeld etwa der Täterkreis des Attentats auf Hrant Dink zu suchen  ist, wurde ebenfalls als Unabhängiger aus der ostanatolischen Provinz Sivas gewählt. Gemeinsam mit den kurdischen Abgeordneten könnten sie ein explosives Gemisch bilden.

Orhan Esen, gebürtiger Istanbuler, studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Istanbul. Selbstständig tätig in Istanbul als Übersetzer, Reiseleiter und Veranstalter von Bildungsreisen und Studienexkursionen, Berater und Organisator von Kulturprojekten, Stadtforscher und Autor. Mitherausgeber und Co-Autor des Buches Istanbul: Self Service City, Berlin 2005. Orhan Esen ist Mitglied im BIN – berlin-istanbul-network (http://www.berlin-istanbul.net)


Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/10/19/bueroleben-und-sterben/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • In Berlin läßt der Lehrstuhlinhaber für europäische Ethnologie Rolf Lindner gerade drei Straßen erforschen. Die Ergebnisse werden in drei Ausstellungen Ende des Jahres vorgestellt.

    Daneben bemühte sich u.a. auch die kostenlose Stadtzeitung “scheinschlag” immer mal wieder um Stadtteilrecherchen. Sie wurde jedoch vor einiger Zeit eingestellt.

    2003 schrieb die taz: “Je besser die kostenlose “berliner stadtzeitung” scheinschlag wird, desto seltener erscheint sie: nur noch “zehnmal jährlich”. Was haben wir uns anfangs über dieses blöde Architektur- und Stadtplanungsinfo geärgert, das auch noch von den diesbezüglichen Ämtern in Mitte mitfinanziert wurde. Aber je weniger ABM und Staatsknete, desto lesbarer wurde der scheinschlag.” – Dafür wird sie aber nun eingestellt!

    Ihre Macher beruhigen uns jedoch: “Im August 2007 wird es so aussehen, als habe die Redaktion der mittlerweile 17jährigen Stadtzeitung ihr Erscheinen eingestellt. Doch der Schein trügt…Die Wahrheit ist: Die Redaktion ist in den Untergrund gegangen. Seid wachsam! Achtet auf jegliches, was sich in eurer Stadt verändert! Zur rechten Zeit, am rechten Ort werden wir uns wieder sehen.”

    Der scheinschlag-plan kam 1990 am “Runden Mitte-Tisch” der besetzten Häuser auf: “Die DDR war soeben verschwunden, die Mainzer Straße geräumt und selbst für die Kaninchen auf dem Potsdamer Platz waren die ruhigen Zeiten vorbei.” Die Zeitung wurde kostenlos an öffentlichen Orten ausgelegt, den Druck wollte man über Anzeigen hinkriegen, die Herstellung über “Selbstausbeutung”. Letzteres wird nun als “Bürgerjournalismus” bezeichnet, bei dem der scheinschlag angeblich eine “Vorreiterrolle” spielte. Ich würde eher sagen: Viele junge Ost- und Westdeutsche schrieben darin über das Leben, ohne ein Honorar dafür zu bekommen – und wurden später geübte Journalisten, die nun vom Schreiben leben.

    Zu erinnern sei dabei an die Kolumnisten Hans Duschke und Bov Bjerg sowie an den Chronisten Falko Henning, die dann die Lesebühne “Heim & Welt” mitbegründeten; an Gereon Asmuth, der heute Ressortleiter bei der taz ist, sowie an Tina Veihelmann, die jetzt als Redakteurin beim “Freitag” ihr Auskommen hat.

    Auch der Bezirk – Mitte, in dem der scheinschlag quasi “Zuhause” war, veränderte sich: Aus einem postsozialistisch-euphorisierten Umsonst-und-Draußen-Kiez wurde ausgehend vom Ekelzentrum “Tacheles” ein lebensgeiles Geldkunstzentrum, d.h. eine einzige No-Go-Area, die Dumpfmeister aus aller Welt wie Schmeißfliegen anzieht. Selbst die an der Oranienburgerstraße aufgereihten Wespentaillen-Nutten sind Weltmeister im Bescheißen – “Kobern” genannt. Wenn sie zum Beispiel sagen: “Ehrliche 22 Minuten kosten 60 Euro”, dann heißt das nur, dass sie einem im Stehen am Baum im Monbijoupark einen runterholen.Und was soll man davon halten, dass der inzwischen eingeknastete Mitte-Großinvestor Roland Ernst from Heidelberg den scheinschlag als “die beste Metropolenzeitung der Welt” anpries? Oder dass der ebenfalls inzwischen verknackte CDU-Chef Rüdiger Landowsky gerade in Mitte “die neue interessante Szene” ausmachte, während seiner Meinung nach in Kreuzberg nur “Junkies, Gewalt und Ausländer zurückblieben”.

    Als freiwillig vertürkter “Kreuzberger” würde ich dagegen behaupten: Wer sich heute in Mitte herumtreibt, trägt seinen Wanst ständig in Schußhöhe! Man muß allerdings zugeben, dass das Revolverblatt scheinschlag stets versucht hat, diesem ganzen Scheiß dort etwas Lebenswertes entgegen zu halten, wobei es jedoch leider ebenfalls dazu neigte, seichten Sophienstraßen-Urbanismus an die Stelle klassenkämpferischer Soziologie zu setzen.

    Auf einem scheinschlag-Kongreß im Kulturhaus Mitte – “Nachdenken über urbane Lebensräume” – bekamen die Redakteure dies noch einmal von ihren eigenen Referenten bescheinigt. Klaus Laermann von der FU meinte da z.B.: “Mir drängt sich der Verdacht auf, dass diese Konjunktur des Themas Stadt in öffentlichen Debatten seit 13 Jahren das ersetzt, was vorher Gesellschaft hieß”. Und Guillaume Paoli von den Glücklichen Arbeitslosen behauptete: “Diese ganze Berlinliteratur hat doch mit Berlin gar nichts zu tun – das ist bloß wichtigtuerische Szene-Verständigungsprosa.”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert