vonHelmut Höge 05.11.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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“Pornographie ist die letzte große Illusion der Teilhabe der unnützen Menschen am System.” (Georg Seeßlen)

Am 3. und 4. November fand in Berlin ein großer “Wilhelm-Reich-Kongreß” statt: “Sexualität und Lebensenergie. Wege der Hingabe – Wege der Lust”. Es ging Reich bekanntlich um eine Steigerung der Orgasmusfähigkeit zur Revolutionierung der Lebensenergie.

Geworben wird für den Kongress auf der Webpage des “Kitkat”-Clubs. Dieser hat kürzlich den “Sage-Club” in der Köpenicker Straße übernommen. Und nun finden seine “Sex-Parties” dort statt. Nach wie vor elektronisch befeuert vom DJ Clark Kent – Sohn eines berühmten Hamburger Privatbankiers, der während seines Studiums in Harvard eine US-Pornodarstellerin kennenlernte, der zuliebe er seine Bankkarriere aufgab. Sie tritt nun im Kitkat-Club als “DramaNui” auf.

Die Sexualexpertin Mariam Lau versuchte unlängst im Merkur eine Bilanz der sexuellen Befreiung – seit den christlich-adenauerischen 50er Jahren: “Wie vom Autopiloten gesteuert, führt jede … Kulturkritik früher oder später nach Amerika”, schrieb sie. Dort in New York eröffnete bereits in den 70er Jahren ein Sex-Club mit dem Namen “Plato’s Retreat”.

Laut Mariam Lau lässt sich nun – nach der New Yorker Urbanismus-Kritik von Richard Sennett “Die Tyrannei der Intimität” – die neueste Pariser Sexualkritik von Jean-Claude Guillebaud “Die Tyrannei der Lust” im Bild des “glory hole” zusammenfassen. Das sind jene schwarzen Löcher in den “Schwulentreffs” – in Höhe der Geschlechtsteile, “durch die anonyme Penetration stattfinden kann”.

Im alten Kitkat-Club in Tempelhof kam es ebenfalls gelegentlich zu “anonymen Penetrationen”, das heißt irgendein Pärchen befummelte sich auf oder neben der Tanzfläche und zog sich dann still in eine Ecke zurück, um zu vögeln, wobei beide füreinander gleichsam im Anonymen blieben.

Im neuen Kitkat-Club nun hat man es erst mal mit vielen bodygebuildeten und -gebräunten Leuten zu tun, die früher die Großdisco “Speicher” füllten und meist aus dem Umland kommen. Sie tanzen wie verrückt, wobei ihnen die Musik ziemlich egal ist und wirken alle wie geklont beziehungsweise uniformiert: die Frauen tragen schwarze Reizwäsche und die Männer ihre nackten Oberkörper zur Schau, dazu noch schwarze Hundehalsbänder.

Das sieht so aus, als wären die jungen Frauen alle gerne Dominas und die Männer Sklaven. Ist aber nicht so: Wenn sich ein exhibitionistisch inspiriertes Heteropärchen auf die obere Matrazen-Ebene zurückzieht, dann folgen ihnen sofort ein Dutzend Männer, die dann anfangen, dem Pärchen an die noch freien “glory holes” zu gehen. Währenddessen formiert sich hinter ihnen eine dritte Reihe Männer, die den vor ihnen stehenden die Eier massieren, einen runterholen oder den Arsch küssen. Das Ganze wird aus einiger Entfernung von wieder anderen Männern beobachtet, die sich dabei einen wichsen.

Es klumpt sich da also langsam und schweigend so etwas wie ein Massenfick zusammen, was den Charakter eines Unfalls hat, zu dem die Leute auch alle sofort hinrennen. Aber bevor hier die sogenannte Orgie noch richtig in Gang kommt, hat die Frau mittenmang schon die Schnauze voll von dem ganzen Gefummel und Gerammel, steht auf, rückt sich ihren im Schritt offenen Tanga zurecht und geht auf die Toilette.

Nur dort können die Pärchen übrigens in Ruhe vögeln. Auf den Kitkat-Toiletten herrscht ein reges Kommen und Gehen, im Gang dorthin halten sich einige Behinderte im Rollstuhl auf und machen Photos von Mädchen, die dafür ihre Brüste entblößen, neben dem Zigarettenautomaten sitzt ein dicker nackter Mann und holt sich müde einen runter. Einige an ihm vorbeigehende Männer und Frauen haben ganz normale Straßenklamotten an. “Wir haben Verständnis für Toleranz”, wie es in der Telefonansage eines Karlshorster Swingerclubs so schön heißt.

Auch meine Begleiterin und ich, aber wir sind weit davon entfernt, dass uns diese ganze “Action” irgendwie erregt – im Gegenteil. Es gibt jedoch etwas noch Abturnenderes – das ist die clubeigene Videoserie mit halbinszeniertem Pornogeschehen: “Live aus dem Kitkat-Club”. Damit drang diese Clubidee anscheinend bis nach Hamburg, denn irgendwann bekam ich mal einen Anruf von der Zeit: “Schreiben Sie was über den Kit-Kat-Club, der ist jetzt nämlich schwer angesagt in Berlin”. Das ist hiermit geschehen.

Vom Wilhelm-Reich-Kongreß berichtete für die taz dann Jan Feddersen, dessen Text ich hier anfüge, außerdem später noch einen von Peter Berz aus dem, Katalog einer Wilhelm-Reich-Ausstellung in Wien. Zuvor fand im Postmuseum eine Norwegen-Ausstellung des norwegischen Staates statt, auf dieser wurde u.a. ein Reichscher Orgon-Akkumulator gezeigt. Reich, der vor den Nazis zunächst nach Norwegen geflohen war, hatte sich dort, so darf man vielleicht sagen, vom Kommunismus ab und der Naturwissenschaft zugewendet.

Seine Orgontheorie hat seinerzeit in Norwegen einen enormen Streit ausgelöst,
Reich verließ daraufhin zusammen mit der Lebens- und Kampfgefährtin von
Willy Brandt - Gertrud Meyer (eine ehemalige Karstadtverkäuferin aus Lübeck und Partisanin) das
Exilland und ging nach New York.Brandt schrieb übrigens als IM für
seinen Führungsoffizier Wilhelm Reich Berichte aus dem spanischen
Bürgerkrieg über die Sexualität der kämpfenden spanischen Jugend, dafür
finanzierte seine Lebensgefährtin, die Sekretärin von Reich war, die
Reise...(ein Bericht stand in der taz, mit einem vorwort von christian semler.
Hier ein Bericht über die damalige Orgon-Reich-Debatte in Norwegen:

Heute ist die Zeitschrift "Klassenkampen" die wichtigste
Intellektuellenzeitung Norwegens, in der Zwischenkriegszeit war es "Mot
Dag", die vor allem Studenten bewegte.

Einer ihrer ersten Redakteure, Sigurd Hoel, kam aus dem
"Kulturradikalismus", einer literarischen Bewegung, die darunter in der
"Zwischenkriegszeit" vor allem den "Kampf gegen den Faschismus"
verstand, wobei Hoel, dessen Werke auch nach 1945 diesem Kampf galten,
erst marxistisch argumentierte und dann vorwiegend psychoanalytisch. Er
stand in engem Kontakt mit Wilhelm Reich, dessen Buch "Massenpsychologie
des Faschismus" 1933 in Norwegen und 1934 in Dänemark erschien. Eine
zeitlang war Hoel dann auch Redakteur der Reichschen "Zeitschrift für
Politische Psychologie und Sexualökonomie". Nachdem Reich jedoch sein
Buch "Die Bione" veröffentlicht hatte, das einen Proteststurm in
Norwegen auslöste, wurden ihm strenge Auflagen für seinen weiteren
Aufenthalt im Land  auferlegt, was schließlich 1939 zu seiner Ausreise
in die USA führte. Die Mot-Dag-Gruppe hatte sich stark für Reichs
Forschungen eingesetzt. 1954 wurde der "Fall Reich" von Arne Stai als
eine der wichtigsten "Kulturdebatten" im Norwegen der
Zwischenkriegsperiode bezeichnet. Hoels "Faschismus-Essays" nach 1945
erwähnen die Reichschen Schriften allerdings nicht mehr. Sie wurden
eigentlich erst Ende der Sechzigerjahre in der norwegischen (sowie auch
in der deutschen) Studentenbewegung wieder "entdeckt".

Zu erinnern sei auch noch daran, dass zur selben Zeit auch Leo Trotzki
in Norwegen Asyl fand - wie Reich ebenfalls nur für kurze Zeit. Er war
ein Anhänger der Psychoanalyse, wollte sie sogar quasi zur
Staatswissenschaft in der Sowjetunion machen, finanzierte Freud, mehrere
Institute und eine psychoanalytische Buchreihe, die er von Otto
Julewitsch Schmidt und seiner Frau Vera betreuen ließ, letztere war die
Erfinderin der "Kinderläden", deswegen wurde sie in der Studentenbewegung
bekannter als ihr Mann Otto Julewitsch.
Der ultimative Überfick (von Jan Feddersen)
Alles sei nur ein Missverständnis, eine grobe Vereinfachung dessen,
worum es zu gehen habe, sagt Heike Buhl. Nein, dieser Mann dürfe - und
als sie dies betont, guckt sie traurig - keineswegs als
Orgasmusprediger genommen werden. "Es geht doch nicht um Triebabfuhr",
sagt sie eben vor Schluss dieser Konferenz. Man müsse noch viel
herausfinden, sagt sie, sehr viel forschen, noch viel stärker darauf
hören, was als Körperarbeit nötig sein wird, da sei es ihr zu billig,
ihn als Pornografen abzutun.
Die Vorsitzende der Wilhelm-Reich-Gesellschaft, Inhaberin einer eigenen
Praxis in einem eher gediegen-bürgerlichen Viertel von Berlin, ist freilich
nicht allein mit ihrem Gefühl, irgendwie auf verlorenem Posten zu stehen.
Dabei geht es ihr um die Erbschaft eines der einflussreichsten Männer
sexualpolitischer Anstrengungen des vorigen Jahrhunderts. Wilhelm Reich?
Mit der Achtundsechzigerbewegung hätte er es zum Popstar bringen
können, wenn er nicht schon 1957 gestorben wäre. "Massenpsychologie
des Faschismus", "Charakteranalyse", "Die Funktion des Orgasmus"
hießen die Bestseller, die vor fast einem halben Jahrhundert aus den
intellektuellen Sedimenten der Weimarer Republik für die Achtundsechziger geborgen wurden.
Grob gesprochen: Der Faschismus fickte nur viehisch, der Orgasmus sei
seelenkrank nur als hydraulisches Superseufzen entäußert worden, die
bürgerliche Klasse habe immer nur ein Interesse an herz- und lieblosem
Sex gehabt, energetisch nichts als ein böses Gewitter im Körper.
Reich hingegen glaubte an die Segnung des kosmischen Ficks.
Reich hatte sehr präzise Vorstellungen von dem, was eine gesunde
Sexualität zu sein habe - und ein Unmensch sei nicht, wer dieses Ziel,
diese Norm verfehle, aber eben beschädigt, krank, verwundet. In seinen
späteren Jahren, als er sich nicht mehr als Psychoanalytiker verstand,
sondern als Naturwissenschaftler, hatte er auf einen Kasten gehofft,
den er Orgon-Energie-Akkumulator nannte und der Berichten
zufolge ein feines Kribbeln im Körper verursacht.
Auf der Konferenz jedenfalls sieht man einen solchen Kasten -
eine mobiliartechnische Kreuzung aus Hundezwinger und stählern
verstärktem Überseetransportbehältnis. In der Ausstellung ist er
ebenso zu sehen wie auch zwei Gerätschaften, die den Unterschied
zu einem therapeutischen Verfahren - wie das der nicht auf
körperlichen Kontakt setzenden Psychoanalyse - umreißen. Eine
Art Gymnastikrolle beispielsweise, mit deren Hilfe Körperblockaden
gelöst werden können. Blockaden? Eine Vokabel mit starkem Nachhall.
Eine, die anzeigt, wie einflussreich Wilhelm Reich wirklich auf die therapeutische
Szene der Bundesrepublik nach 1968 wirkte. Charakterpanzer, Blockade,
Ströme, Bioenergetik, Wärme, Kälte, Ganzheitlichkeit: kaum ein therapeutisches
Verfahren, das sich nicht dieser Worte bedient, um jeweilige Miseren zu
beschreiben, sexuelle vor allem.
Wilhelm Reich und seine Jünger waren es ja, die sehr genaue
Vorstellungen davon hatten, was gesunder Sex zu sein habe -
und Heike Buhl zitiert die entscheidende Sehnsuchtspassage in
ihrer Eröffnungsrede. Reich, so sprach sie, habe am Ende seines
Lebens über eine "italienische Nacht" Zeugnis abgelegt, in der
er aus der Zeit des Ersten Weltkriegs eine sexuelle Begegnung
mit einer Frau schildert, die kosmische Verschmelzung belegender
und traurig hinterherträumender nicht sein könnte. Alles hat, so
will es Reich erinnern, gestimmt. Beide Körper zerflossen zu einem,
"hier, zum ersten Mal, 'fiel er in Liebe'. Er war nicht bloß ein Mann
in Verbindung mit einer Frau. Er war verloren in der Erfahrung. Es gab
keine Grenzlinie zwischen ihm und der Frau."
Verblüffend an dieser von Heike Buhl mit leuchtenden Augen
geschilderten Überlieferung ist nicht, dass sie so deutungslos
dargereicht wurde, sondern vor allem, dass man nur Reichs Version
bekommt - und man doch gern jene Italienerin gehört hätte. Wie fand
sie denn ihren, heute würde man sagen: Partner im One-Night-Stand?
Auch alles so schwebend, schwimmend?
Man hätte gern einmal eine realistische Stimme gehört auf dieser
Konferenz, die prunkvoll in der Kaiserin-Friedrich-Stiftung an der
Berliner Charité gegeben wurde, obendrein nobilitiert durch die
Berliner Ärztekammer, die sie zur Fortbildung ausgelobt hatte. Eine,
die halbwegs nüchtern bilanziert hätte: Reich träumte in seine
italienische Nacht etwas hinein, was viele, vielleicht die allermeisten
Menschen so fantasieren, denken sie an Sexuelles. Das Besondere
nämlich, die perfekte Realisation vom Begehren, der glühende Wunsch,
schier aufgelöst zu werden in dem, was vom ersehnten Gegenüber
sexuell trennt? Und könnte es nicht vielmehr so sein, dass in jedem
Sex das Körnchen Unerfülltheit zurückbleibt - das Gefühl, dass
alles nicht reicht für die Ewigkeit? Anders gesagt: dass sexuell Erfülltes
meist eine Ausnahme bleibt.
So oder so: Reichianer, so zerstritten sie untereinander auch
sein mögen, glauben an die Lehre vom mustergültigen Sex. Und
der sei genital. Aber ist das Sexuelle, zumindest im liberalen Westen,
nicht mittlerweile eine Sache des persönlichen Unglücksmanagements
geworden? Strafen, gar juristische Folgen sogenannter Unzucht wegen,
gibt es doch kaum noch - abgesehen vom wohlbegründeten Verbot
von erwachsener mit kindlicher Sexualität. Heike Buhl sieht das nicht
so. "So schwankt unser Umgang mit Sexualität zwischen Verdrängung,
Ängsten und Pseudobefreiung", sagte sie.
Sie meint die, wie sie es empfindet, pornografische Umwelt, all die
Sexanzeigen in den Medien, die Reklamen Man kennt dieses
Unbehagen aus dem feministischen Umfeld der Alice Schwarzer,
auch aus christlichen Milieus, die in der Entdramatisierung der sexuellen
Oberflächen nicht eine zivilisierende "Abstumpfung" (Sexualwissenschaftler
und Reich-Kritiker Gunter Schmidt) erkennen, sondern Unheil, Sünde,
Verderbnis. Wenn das Wilhelm Reich wüsste: dass seine Schüler sich mit
den Neutabuisierern gemeinmachen möchten. Aber den Brei hat der
Meister einst ja selbst angerührt - auch in Form von etwas, das auf
einem Tisch als "Orgondecke" angeboten wird und an eine Heizdecke
erinnert: ein therapeutisches Instrument, das im Bezug Stahlwolle birgt,
die, wie erläutert wird, leider rosten kann, denn rostfreies Material enthält
Metalle, die dem Orgontransfer im Wege stehen.
Eigentlich, denkt man, müssten all diese Menschen glücklich sein über ihren
Erfolg. Kein Hotel kann es sich mehr leisten, Massagen oder Wellness
überhaupt anzubieten, ohne diese über die Herberge hinaus gehenden
Leistungen als "blockadelösend" auszugeben. Und macht es nicht zufrieden,
dass alle Welt von Charakterpanzern spricht, von Energie und Energetik, dass
für kaum etwas so viel Geld ausgegeben wird wie für Schamanisches, fürs
Handauflegen, für therapeutische Hilfen en gros und en détail?
Nein, diese Menschen, die ihren Wilhelm Reich an diesem Wochenende auch
zu betrauern haben, denn 50 Jahre zuvor ist er des Vorwurfs schwerer
Gestörtheit wegen in Haft gestorben, diese Frauen und Männer wirken einsam
- und in dieser Hinsicht ihrem Meister ganz nah. Und das muss mit dem
Umstand zu tun haben, dass das, was Wilhelm Reich glaubte, mit seinen
Apparaten herausgefunden zu haben, dass es Bioenergie gibt, plasmaähnliche
Ströme, nie nachgewiesen werden konnte, der Anerkennung - das ist die
Pointe - als Krankenkassen-taugliche Therapieform nach dem Gusto Reichs
also fehlt.
Insofern ist dieser Wilhelm-Reich-Kongress eine Trauerfeier gewesen:
Man trauerte um den Meister selbst. Man fühlte dessen Kränkung nach,
von den Kommunisten wie von Freudianern einst verstoßen worden zu sein.
Und man wird nicht so recht an die Tröge des Gesundheitswesens gelassen.
Und schließlich: Der Messias kommt nicht erst, er war schon da. Das wiederum
ist dann wie gewöhnlicher Sex: Der beste ist immer der, den man nicht hatte.
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P.S.:  Dass was W. Reich suchte, in einer "italienischen Nacht" auchl fand und dann
mit seinem Orgon-Akkumulator dauerhaft und quasi für alle einfangen wollte,
hat auch S.Freud eine Weile beschäftigt:   Er begriff die derart erfüllte Liebesbeziehung
zunächst als "wirkungsvolles Mittel gegen das Unbehagen in der Kultur", da nur
sie imstande sei, ein ozeanisches Gefühl befriedigten Narzißmus hervorzurufen.
Da jedoch nichts verletzender ist als der Bruch einer Liebesbeziehung, nahm er
wieder Abstand von dieser schönen Vorstellung - und damit auch vom "ozeanischen
Gefühl" als etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt. An die Stelle der gefährlichen
Ambivalenz der Liebe trat die öde Balance des Ichs - zwischen Nähe und Distanz,
wie sie heute von so vielen meist us-amerikanisch verdumpften Psychoanalytikern
anvisiert/angepriesen wird.
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Reichs Wechsel von der Psychoanalyse und Sozialwissenschaft zur
Naturwissenschaft, bedeutete die Erarbeitung  einer anderen - neuen.
Hierzu hat Peter Berz einen erhellenden Beitrag geschrieben:
Die andere Biologie des Wilhelm Reich 

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/11/05/wilhelm-reich/

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kommentare

  • Hier noch ein weiterer Wilhelm-Reich-Kongreßbericht von Alexander Reich aus der Jungen Welt:

    FLIESSEN, WEINEN, BRENNEN

    »Wilhelm Reich war ein Außerirdischer, der Menschen zum Onanieren in kleine Apparate gesteckt und mit Patientinnen geschlafen hat, bis er von der CIA ermordet wurde.« Heike Buhl ist Vorsitzende der Wilhelm-Reich-Gesellschaft (WRG). Sie kennt die Vorurteile. Reich, sagt sie, wurde schon zu Lebzeiten laufend für verrückt erklärt, weil er unbequem war. Am 3. November vor 50 Jahren ist er gestorben. Ihm zu Ehren fand am Wochenende in Berlin ein Kongreß statt.

    Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich hat das Leben als Orgon-Energie begriffen, die beim Sex entladen werden kann. Wenn man Liebe macht. Statt zum Beispiel »in die Frau zu urinieren«, was Reich bildlich meinte. Zur hohen Schule der Liebe braucht es nach Reich Vertrautheit, die beim Überwinden von Beziehungskrisen entsteht. Man lernt, einander zu lieben. Mit der Zeit.

    Das Gelingen des Sexualakts hat Reich mit allen Mitteln zu bestimmen versucht, mit Formeln und Skizzen und mit Floskeln aus Groschenheften. Es gibt da viele Versuche. Mit einem eröffnete Heike Buhl am vergangenen Samstag den Reich-Kongreß ihrer Gesellschaft. Sie trug den volkstümlichen Text »Italienische Nacht« vor. »Das schmelzende, strömende Ineinanderverschmelzen war ruhig und majestätisch, ohne jede Eile«, heißt es da über einen in der Erinnerung idealisierten Akt. Hinterher weinen die zwei, fallen in tiefen Schlaf. Aus dem erwachen sie klar, rein und nochmals rein: »Sie waren liebenswert und liebend.«

    Reich hat sich bei der Reduktion von Komplexität ohne Zweifel übernommen, ist aber vorwärts gescheitert, zumindest bis in die frühen 30er Jahre. Da wollte er jeden dazu befähigen, seine Verspannungen in »italienischen Nächten« zu lösen. Gerade die proletarischen Massen. Ein gestörtes Sexualleben ist kein Privileg von Besserverdienenden, das gilt nur für die Therapie. Reich: »Den Neurosen der arbeitenden Bevölkerung fehlt nur die kulturelle Finesse. Sie sind grobe, unverhüllte Rebellion.«

    Wenn Buhl sagt: »Er hat die Psychoanalyse auf die Straße gebracht«, stimmt das vor allem für seine Jahre in Berlin (1930–1933). Als Mitglied der KPD machte Reich in dieser Zeit »proletarische Sexualpolitik«, gründete eigens dafür einen »Reichsverband«. Nachdem Hitler Kanzler geworden war, ging Reich ins Exil, beschränkte sich in Oslo auf die elektrische Messung der Libido seines Freundes Willy Brandt und anderer.

    Als Analytiker war Reich nicht mehr legitimiert, als ihn die psychoanalytische Vereinigung 1934 ausschloß, rückwirkend. Nicht so sehr wegen seiner fixen Idee, die Existenz der von Freud entdeckten Libido naturwissenschaftlich zu beweisen. Die vorrangig bürgerlichen Adressaten der Freudschen Psychoanalyse fingen teilweise mit den Faschisten zu kungeln an. Damit war Reich erledigt, erklärt Buhl: »Er war Jude. Er war Kommunist. Und vor allem war er Antifaschist.«

    Man ändert Leute mit Verhältnissen, aber auch umgekehrt. Warum zum Beispiel das DDR-Bürger-Sein nicht die erwarteten Auswirkungen auf das Bewußtsein hatte, könnte freudomarxistisch sicherlich mit Gewinn untersucht werden. Andersherum ist Freud ohne Marx nicht mehr als Partyservice. Durchaus auch ein Problem des Reich-Kongresses am Wochenende, der fehlende politische Anspruch.

    Die erste Referentin, Annelie Keil, ehemals Dekanin der Uni Bremen, hatte als 68erin noch am deutlichsten auf dem Schirm, daß das Private politisch ist: »Wenn jemand nach einem wissenschaftlichen Referat sagt: ›Gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung‹, frage ich mich immer: Wer hat eigentlich bis jetzt geredet?« Viele Wissenschaftler stießen, fixiert auf Drittmittel und Literaturangaben, immer nur das aus, »was wir in Friesland den Schrei der Möwen nennen: Meins! Meins!« Sie verpanzerten, machten alles im Sitzen, müßten halt zwanghaft auf ihrem Scheiß sitzen bleiben.

    Den Klassenkampf der 68er nannte Keil »unterkomplex«: Beim Agitieren vor Fabriktoren »haben wir die sozia­le Beheimatung unterschätzt«, die ein abgesichertes Ausbeutungsverhältnis so kuschelig macht. Bis heute empfindet die Emeritierte es als »schmerzhaft, daß die politische Bewegung und die spirituelle so auseinandergedriftet sind«. Als »Reichschen Klassiker« zitierte sie die Beschwerde eines Alzheimer-Patienten vom vergangenen Jahr: »Ich will den Geschäftsführer sprechen, irgend jemand hat mir in die Hose geschissen.«

    Als Keil sich über eine »therapierte Gesellschaft« lustig machte (»Atmen, Bewegen – wir brauchen für alles einen Therapeuten«), war das obere Drittel gemeint. Auch die Orgontherapie nach Wilhelm Reich ist dem vorbehalten (pro Sitzung an die 100 Euro, nur wenige Privatkassen übernehmen die Kosten). Was Reich nach seiner Übersiedlung in die USA 1939 an Naturwissenschaft betrieb, ist nie weit über den Status hinausgekommen, den die US-Gesundheitsbehörde seinen Orgon-Apparaten bescheinigte: Quacksalberei. Weil ein Mitarbeiter Teile der Apparatur gegen die Auflage der Behörde über eine US-Bundesstaatsgrenze schaffte, kam Reich in Haft, wo er am 3. November 1957 starb.

    Auf dem Berliner Kongreß hatte man entsprechende Probleme. So sprach sich die freischaffende Therapeutin Gabrielle St. Clair gegen »die Verdinglichung von Eros in Eros-Centern« aus, dann aber gleich noch gegen »Vergangenheit/Zukunft-Konzepte«, denen sie das »Fließen in Absichtslosigkeit«, den »Flow«, der noch beim Sterben helfe, entgegenhielt. »Was ist Eros?« habe sie einmal eine Pa­tientin gefragt. Die habe geantwortet: »Komm her, leg dich zu mir. Auch ein sterbender Körper ist voller Leben. Er ist außen kühl auf der Haut, aber innen brenne ich wie in mancher Liebesnacht.«

    David Schnarch, der als »zur Zeit vielleicht populärster Paartherapeut der USA« vorgestellt wurde, bezeichnete in seinem Vertrag Krisen mit sehr wenig sehr schlechtem Sex als die »Feuerproben« jeder Partnerschaft. Er rate zum Zusammenbleiben. Kann man also sein Heil in der Ehe suchen und sich dabei auf Reich beziehen? »Reich war nicht der, der gesagt hat: Fickt euch frei«, meint Heike Buhl. Die 68er hätten das mißverstanden. Na und?

    Ohne politischen Anspruch ist das Reden über solchen Kram so interessant wie das Reden über das Wetter. Und es macht die Leute verrückt. Wilhelm Reich hat sich in den USA für das Regen-Machen bezahlen lassen. Und er hat UFOs gesichtet. Buhl hält auch das für möglich. »Vermag ich nicht zu beurteilen«, sagt sie.

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