vonHelmut Höge 17.04.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Die taz hat ein Wander-Reader im Angebot: „Das Glück zu Fuß – Wandern mit der taz“, für schlappe 13 Euro plus Porto. Eigentlich müßte es im Untertitel heißen „Wanderungen von taz-mitarbeitern“. Diese  schwärmten aus – im Urlaub meistens, um nahezu überall auf der Welt und in allen Regionen herumzuwandern und wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Anschließend schrieben sie darüber einen taz-artikel – und setzten sich dann wieder auf ihren taz-stuhl. Es handelt sich bei diesen Texten also um ein Gehen im Kreis, um eine Kreisbewegung – ohne Aus-Flucht. Diese gibt es für tazler nur noch dort, wo sie von der taz weg zu einer anderen Zeitung GEHEN – die sie dann u.U. besser bezahlt.

Das war einmal ganz anders. Dazu hier ein taz-text vom 8.10. 81 – unter der Überschrift „Moving Targets“ und mit dem Motto „Nur die ergangenen Gedanken haben Wert“ (Friedrich Nietzsche):

Ich beginne, wie abgesprochen, mit der Rezension des Buches »Gehen« von Dietrich Garbrecht (erschienen im Beltz-Verlag). Hierzu genügte es vielleicht bereits, die Personalangaben zum Autordieses Buches auf dem Cover zu zitieren: „D. Garbrecht, Dr.-Ing. und Master in City Planning, 1935 in Berlin geboren, studierte Architektur in Braunschweig, Stadtplanung und Mensch-Umwelt-Beziehungen am Massachusetts Institute ofTechnology (MIT) und an der Harvard Universität Er hat als Projektleiter in Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern Pianungs- und Forschungsaufgaben bearbeitet. Heute lebt er als selbständiger Stadtplaner und verhaltenskundlicher Berater in Zürich.“

Soweit der Klappentext über den Autor. Was ist von solch einem Menschen zu erwarten?! Der Fuß-Gänger ist von den motorisierten oder Massen-Verkehrsmitteln an den Rand gedrängt worden. Aus-Gangs-Position! Konzeptionen, Gedanken, Ideen, gestützt auf Forschungsergebnisse, Statistiken, die das wieder rückgängig machen sollen:

„1. Schritt: Das Gehen genauso ernst nehmen wie den Autoverkehr“/ 2. Schritt: Die Umwelt dem Men- schen zu Fuß anpassen./ 3. Schritt: ein Netz ununterbrochener Bürgersteige./ Noch einen Schritt weitergehen: Den Anteil des Autos am Verkehr reduzieren. Jeder Schritt zählt“, usw.

Das Ganze wird dann mit dem Bierernst, dem Eifer und der stilistischen Armut eines engagierten Um- weltschützers aufbereitet. Dazwischen: Zitate von oder über Thoreau (der täglich sechs Stunden lang Spaziergänge unternahm), Döblin (der durch Berlin schlenderte), und Joyce (der die Irrfahrt seines „Ulysses“ in Dublin beginnen und enden ließ)… usw. Fertig ist das Buch. Fehlt nur noch (am Anfang) die Liste der Personen und Institutionen, die am Zustandekommen dieses Werkes maßgeblich beteiligt gewesen waren („ohne die dieses Werk nie zustande gekommen wäre…“). Habe ich was vergessen?

Sicher. Ich meine, ganz sicher ließe sich hier noch dieses oder jenes Brauchbare aus diesem Buch herausnehmen, erwähnen. Aber ich will es hier genug sein lassen. Und das nicht deswegen, weil ich schnelle Wagen liebe (und damit Fußgänger, besonders gebrechliche, gerne über irgendwelche Kreuzungen scheuche). Nein. Abgesehen davon bin ich ein leidenschaftlicher Fuß-Gänger. Diese Art der Fortbewegung nicht als Stadt- bzw. Landschaftsplanerisches Element, als „Chip“ – ähnlich dem „Nichtraucher in der Umweltverschmutzungsdebatte. Das ist nur zu blöde. Noch blöder als die „Dickleibigkeit“ in der Diskussion der Frauenbewegung. Oder das „Veilchen“ in der Naturschutzdebatte.

Wie gesagt, ich bin ein leidenschaftlicher Fuß-Gänger. Mein Pferd und ich. Das Zu-Fuß-Gehen als Fluchtlinie. Ich wiederhole: DasZu-Fuß-Gehen, als das Weg-Gehen, das Abhauen als Flucht-Weg. Ich reite nicht. Mein Pferd läßt niemanden auf sich reiten. Ich will damit sagen: Ich sitze hier jetzt an meinem Schreibtisch, vor der Schreibmaschine, und vielleicht auch noch morgen oder übermorgen, und schreibe dieses oder Ähnliches, korrespondiere mit dieser oder jener Zeitschrift/Zeitung, telefoniere mit diesem oder jenem Verlag, fahre zur Bank, um mir meine Kontoauszüge anzuschauen, etc., überlege mir jedes Wort, bestelle mir Bücher, lese sie durch, lese sie quer, manchmal höre ich dabei „Loving is easy with both eyes closed!“ Etc. Etc. Aber das ist kein Leben. Oder jedenfalls nicht meins. Weniger wäre mehr gewesen sozusagen. Oder anders ausgedrückt: Diese Buchmesse nehme ich noch mit, dann hau ich aber wirklich ab. Mit meinem Pferd. Das trägt die Satteltasche. Für die wenigen Klamot- ten, die ich brauche, und die paar Bücher. Vielleicht „Rimbaud“, ein bißchen „Nietzsche“ oder „Milles Plateaux“. Mehr ist nicht drin. Ein Zentner höchstens. Und die Satteltasche wiegt schon einen halben Zentner.

Soll ich noch mehr ins,Detail gehen? Nein. Das alles ist vielleicht ebenso unwichtig wie die Lektüre des Buches »Gehen« (s.o.). Mein Privatvergnügen eben. Es geht um etwas anderes, Es geht um ein neues Projekt (d.h. so neu ist es auch wieder nicht, aber egal erst einmal). Ich beginne noch einmal. Diesmal mit einem Zitat von Pasolini: „Die ‚unglückselige Generation‘. Die Einsamkeit: Man muß sehr stark sein/ um die Einsamkeit zu lieben; man muß gut zu Fuß sein/ und eine außergewöhnliche Widerstandskraft haben; man darf nicht Räuber oder/ Mörder fürchten; wenn es heißt, den ganzen Nachmittag/ oder vielleicht den ganzen Abend zu laufen/ muß man es tun können, ohne mit der Wimper zu zucken/ hinsetzen kann man sich nicht/ vor allem im Winter, mit dem Wind, der übers nasse Gras streicht/ und den großen Steinen, die feucht und schlammig zwischen Müllhaufen liegen/ es gibt gar keinen Trost, darüber besteht kein Zweifel, als den, daß man einen Tag und eine Nacht ohne irgendwelche Pflichten oder Schranken vor sich hat,/ Der Sex ist ein Vorwand…“ So weit Pasolini dazu. Vielleicht sollte ich hier noch daran erinnern, daß „Pedestre“. also „Fuß-Gänger“ – auf italienisch auch „uninspiriert“ heißt; und nicht „Ein- atmen“.

Aber jetzt zu meiner oder unserer Idee, zu unserem Projekt. Es ist schon einmal eingebracht worden – auf dem Tunix-Kongreß, danach wurde es dann von verschiedenen kleineren Gruppen oder Zirkeln diskutiert, hier und dort wurde auch schon mal was darüber publiziert, einige von uns sind dann vor einem Jahr nach Amerika gefahren, um dort die Idee zu verbreiten, die Idee einer Bewegung von Moving Targets. Zuvor, d.h. vor dem Tunix-Treffen hatten einige es alleine (also in Einsamkeit) auch schon versucht, nach dem Tunix-Treffen dann zu mehreren noch einmal · es waren etwa hundert Leute – und nicht zu Fuß, sondern mit Wohnwagen, Tippis, Treckern, Bussen, das Ding hatten sie „No Haft für Sess Maden“ genannt, sie kamen nicht weit, außerdem beanspruchte die Technik zu viel Auf- merksamkeit. Das alles waren Versuche, die mußten gemacht werden… Alleine und zu mehreren, aber mit einem Riesenaufwand, der natürlich einen gewissen Luxus garantiert (die dabei beteiligten Frauen haben prompt fast alle Kinder bekommen). Aber dieses „No Haft für Sess Ma- den“ hatte wie gesagt mit „Gehen“ sowieso nichts mehr zu tun.

Jetzt aber zum Dritten An-Lauf: Wir stellen uns vor, 10.000 oder 20.000 oder 50.000 Leute treffen sich irgendwo, rauchen ein paar Joints, trinken einige Tassen Kaffee und gehen dann los. Kein Sternmarsch (nach Bonn), keine Friedensdemonstration (nach Paris). Völlig ohne Ziel. Man könnte der Ironie wegen sagen: bis in die äußerste Mongolei (also dorthin, wo es noch mehr Pferde als Men- schen gibt, wo Swifts Yahoo noch nicht triumphiert hat, wo es eine Lust sein muß zu leben – laut Cioran). Aber das Ziel – wie gesagt – ist unwichtig. Musik ist natürlich ganz wichtig dabei. (Ein Vorschlag: „Walking in the Rain“). Über die Verpflegung brauchten wir uns wahrscheinlich dabei keine Sorgen zu ma- chen. Das würden die diversen „Hilfsorganisationen“ übernehmen. Wichtig ist allein: Immer weiter (zu) Gehen. Immer weiter. Dabei macht es wenig, wenn unterwegs immer wieder Einzelne oder größere Gruppen abspringen, es werden immer wieder neue dazu kommen!

Einige von uns haben dieses Projekt „Neuer Kreuzzug“ genannt. Aber abgesehen davon, daß wir das “ Neue Jerusalem“ nicht erobern wollen, sondern höchstens allen neuen „Jerusalems“ aus dem Weg gehen wollen, also abgesehen davon wissen wir doch mittlerweile: Johannes von Patmos kündigte den Löwen von Juda an, aber stattdessen tritt ein Lamm auf… (Gut, wird man sagen, mal was anderes), es ist ein gehörntes Lamm, das brüllt wie ein Löwe und einzigartig heimtückisch geworden ist, umso grausamer und entsetzlicher, als es sich als Opfer ausgibt und nicht mehr als Opferpriester oder Henker. Ein Henker, schlimmer als die anderen. „Johannes insistiert auf dem ‚geschlachteten‘ Lamm: aber wir sehen nie, wie es geschlachtet wird, wir sehen es nur die Menschheit zu Millionen schlachten. Selbst wenn es am Ende in einem blutigen Siegeskleid auftritt, ist das Blut nicht sein eigenes Blut…“ (Lawrence). Zum Teufel mit diesen Lämmern im Löwenpelz. Deleuze nennt sie die „kollektive Seele“: „Die kollektive Seele will nicht einfach die Macht an sich reißen oder den Despoten auswechseln. Zum Teil will sie die Herrschaft vernichten, sie haßt die Herrschaft und die Macht. Johannes von Patmos haßt aus ganzem Herzen den Kaiser des Römischen Reiches. Aber zum Teil will sie auch in alle Poren der Macht eindringen, ihre Zentren vervielfachen, sie über das ganze Universium verbreiten: sie will eine kosmopolitische Macht, aber nicht offen, wie das Imperium, sondern in allen Ecken und Winkeln, in all den dunklen Nischen, in jeder Falte der kollektiven Seele.“
Zum Teufel mit allem Wollen. Wir wollen nur noch weiter Gehen. Immer weiter. Bis ans Ende der Welt. Oder bis wir uns die Füße abgelaufen haben. Immer in Bewegung bleiben. Es muß immer weiter gehen. Und man wird sehen. Xenophon, der sich am Rückzug der Zehntausende beteiligte, sagte an einer Stelle: „Immerhin, jetzt hatten wir Zeit, um miteinander zu reden; vorher war das nicht möglich gewesen, und hinterher wird es nicht mehr möglich sein. Laßt uns also den Weg in Ruhe fortsetzen, Freunde, mit bedächtigem Schritt und wohldurchdachten Worten…“ So soll es sein. Und wenn wir klug vor-gehen, werden wir – beiwegelang – die Speisen- und Getränkefolgen der Welt kennenlernen, und warum wo etwas gemacht wird und warum nicht oder wie man sich auszudrücken beliebt.

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Die Zeiten verändern sich, wie oben angedeutet, und in einem zweiten taz-text vom 16.5.2007 wird nun folgendermaßen über das Gehen geredet:

Die Kuratoren des Kunstraums Kreuzberg im Bethanien haben einen Wettbewerb ausgerufen: „Gesucht wird der liebste, der schönste Spaziergang dieser Stadt.“ Die Idee geht auf den Berliner Verleger Martin Schmitz zurück, der kürzlich einen Lehrauftrag für Spaziergangswissenschaft an der Uni Kassel bekam, wo schon der Basler Spaziergangsforscher Lucius Burckhardt seit 1987 „Promenadologie“ lehrte – ein Fach, für das er lange und leidenschaftlich warb.

Burckhardt starb im Sommer 2003. 1984 traf er sich mit mir, der ich gerade von einem langen Marsch zurückgekehrt war. Ich war von der Wesermarsch in die Toskana gegangen, wobei jedoch ein Pferd mein Gepäck getragen hatte. Zuvor, 1978, hatte ich auf dem Tunix-Kongress in Berlin ein Flugblatt verteilt, in dem ich davor warnte, das dort propagierte „Abhauen“ als bloße Metapher zu verwenden. Genau darüber wollte Burckhardt bei unserem Treffen mehr wissen: Wir sprachen über das Gehen als langsame Flucht- oder Absetzbewegung und über das dazu passende Schuhwerk.

Im Gegensatz zu dem Promenadologen ging es mir beim Gehen um das Reinfinden in verschiedene Landwirtschaften (Handarbeiten) und weniger um reine Spaziergangsforschung (Fuß- und Kopfarbeit). Aber Lucius Burckhardt hat mich damals sozusagen unheilbar infiziert: Seit 1984 bin auch ich ein überzeugter Geher – solange ich das Gefühl habe, jederzeit einfach weggehen zu können, bin ich einigermaßen zufrieden. Und um meine Beine und Füße dafür in Form zu halten, gehe ich fast täglich irgendwohin. Inzwischen ist mir schon fast jedes Bleiben ein bloßes Auf-der-Stelle-Treten.

Zu dieser Einstellung trug nicht zuletzt der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz bei, der einmal – in seinem Exil in Buenos Aires – auf einem Empfang Jorge Luis Borges‘ traf und von dessen bourgeoisem Gerede so angewidert war, dass er sich zum Gehen entschloss – und auch tatsächlich ging. Über diesen seinen Weggang berichtete er später ausführlich, das heißt seitenlang, in seinem Buch „Trans-Atlantyk“. Gombrowiczs „Gehen“ unterscheidet sich gewaltig von Walter Benjamins „Flanieren“ und Lucius Burckhardts „Promenieren“. So weit noch meine Füße tragen, versuche ich nun, mich dazwischen auszubalancieren. In puncto Gehgeschwindigkeit und -gewissen aber steht mir Gombrowicz immer noch am nächsten.

Daneben ist der Weddinger Klavierstimmer Oskar Huth ein Vorbild. Kürzlich erschien im Merve-Verlag posthum sein „Überlebenslauf“, herausgegeben von seinem Malerfreund Alf Trenk. Der Begriff der Balance ist darin zentral. Insbesondere gilt dies für die „Nazizeit“ des Einzelgängers Huth, dem die Amerikaner 1946 die „Evidence of Anti-Nazi-Activities“ bescheinigten. Oskar Huth selbst sprach von einer „artistischen Balancemeierei – unvorstellbar!“ Und erklärte sie wie folgt: „Was mir dazu geholfen haben muß, durchzukommen, ist wohl, daß mich die Leute hinsichtlich meiner Nervenfestigkeit, meiner physischen Kraft und (wenn ich’s mal ein bißchen eitel sagen darf) auch, was die Sache eines gewissen Witzes angeht, unterschätzt haben …“ Später werden ihm die Nazis eine Stelle im Kultursenat antragen. Der „freischaffende Kunsttrinker“ zieht es jedoch vor, selbständig zu bleiben. Pro forma war er 1938 als Zeichner im Botanischen Garten angestellt, 1941 tauchte er mit falschen Papieren unter. Am Breitenbachplatz betrieb er daraufhin im Keller eine Druckwerkstatt, in der er falsche Pässe und Lebensmittelkarten herstellte. Damit ermöglichte er fast sechzig Menschen, überwiegend Juden, das Überleben. Tagtäglich war Oskar Huth zu Fuß unterwegs, auf Buttertour zu den Untergetauchten. In den von Trenk notierten Gesprächsmitschriften spricht Huth von seinem täglichen „monsterhaften Latsch durch die Stadt“ – zeitweilig auch bewaffnet, einmal brachte er einen Nazi sogar um, am Ende des Lebens wünschte er sich, er hätte noch mehr „Kanaillen abgemurckst“.

Solch hehre Gehziele haben kaum noch etwas mit „Peripathetik“ – dem klassischen Herumwandeln zwischen Olivenbäumen – zu tun. Aber auch der postmoderne Promenadologe würde nie mit Skistöcken bewaffnet ausgehen, wie sie die Nordic Walker im Grunewald in den Händen halten. Auch ein Walkman oder MP3-Player, wie die Jogger im Tiergarten oder in Prenzlauer Berg sie sich ins Ohr stöpseln, wären tabu. Wenn das schlichte Gehen heute zum „Walking“ aufgesportet wird, dient es nicht mehr dem wirklichen Aufbruch, sondern nur noch der Fitness. „Nur der Zigeuner weiß noch aufzubrechen, er macht daraus so etwas Einfaches wie Geborenwerden oder Sterben“, meinten Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer „Nomadologie“.

Daneben gibt es – jedenfalls in Berlin – immer mehr Touristen, die das Gehen behindern, indem sie zu langsam schlendern und dabei noch nach oben kucken. Insbesondere gilt dies für die vielen spanischen Touristen. Dabei gehört Madrid eigentlich zu den Städten auf der Welt, wo man am schnellsten geht – zusammen mit Singapur, wo sich das Lauftempo in den vergangenen zehn Jahren um 30 Prozent beschleunigt hat“, wie Urbanisten meinen herausgefunden zu haben. New York und Tokio lägen dagegen nur im Mittelfeld, während sich die Gehgeschwindigkeit auch in Berlin ständig erhöhe: Als Grund werden die sinkenden Reallöhne im Verein mit den steigenden Lebenshaltungskosten hier erwähnt. Und das leuchtet auch ein: Man braucht bloß die Mieten um 20 Prozent zu erhöhen – schon muss jeder mehr verdienen und sich also schneller bewegen. Eine Freundin riet mir neulich schon zu einem Fahrrad. Aber das ist keine Lösung für Weggeher.

Inzwischen gibt es – ausgehend vielleicht von Peripathetikern wie Goethe und Johann Gottfried Seume, der 1802 einen „Spaziergang“ von Deutschland nach Sizilien unternahm – eine wachsende Zahl von Gehern, die nach ihren Gängen anschließend von ihnen berichten. Erwähnt seien der Journalist Wolfgang Büscher, der 2002 von Berlin nach Moskau ging, und der TV-Entertainer Hape Kerkeling, der eine Pilgerreise zu Fuß auf dem Jakobsweg unternahm. Es scheint, dass das Gehen heute drei unterschiedlichen Zwecken dienen kann: der psychischen bzw. der physischen Wellness, dem unerhörten Langstreckenrekord oder der mehr oder weniger durchgeplanten Promenadologie. Für Erstere wird immer mehr teures Equipment angeboten, für Letzteres stehen inzwischen schon Tausende von Guides bereit, die qualifizierte Spaziergänge offerieren – etwa in Tübingen und Heidelberg oder durch irgendwelche Mittelgebirge.

In Berlin machte sich die Künstlerin Ekaterina Beliaeva 2004 mit einer nächtlichen „Führung durch das russische Berlin“ mit Unterstützung des Arbeitsamts selbständig. Für solche oder ähnliche Spaziergänge gibt es inzwischen im Internet 25.700 Werbe-Einträge. Daneben machen sich auch immer mehr Stadtforscher zu Fuß auf – meist in Richtung „sozialer Brennpunkte“. Professor Rolf Lindner von der Humboldt-Universität veröffentlichte zuletzt ein Buch über die Geschichte dieser Art von Stadtforschung, die zunächst aus der Angst des Bürgertums vor den „gefährlichen Klassen“ in den Slums und Ghettos entstand. Lindners Werk trägt den von einer schwarzen US-Sängerin stammenden Titel: „Walk on the wild side“. Demnächst will er sich mit seinen Studenten gehend und Spontaninterviews führend drei heutige Soziotope im Vergleich vornehmen: die Karl-Marx-Straße (West), die Ackerstraße (Ost) und die Adalbertstraße (Ost und West).

Ich dagegen widme mich zusammen mit einer Stadtentwicklungsforscherin gerade der Kreuzberger Waldemarstraße. Während die autonome Szene dort inzwischen nahezu verschwunden ist, hat sich das türkische Leben in dieser Straße fest etabliert, wird aber nun akut von der Gentrification bedroht. Das Weichbild einer Stadt verschiebt sich ständig, aber wir Spaziergangsforscher bleiben ihr hartnäckig auf den Fersen – zu Fuß.

Details:
Vom 1. September bis 14. Oktober findet im Kunstraum Kreuzberg eine Ausstellung statt mit dem Titel „Walk! Spazierengehen als Kunstform – Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Gehen“. In diesem Zusammenhang sucht der Kunstraum Kreuzberg den schönsten Spaziergang in Berlin. Jeder kann bei diesem Wettbewerb mitmachen, der seinen liebsten bzw. schönsten Stadt-Spaziergang beschreiben und der Ausstellung zur Verfügung stellen möchte. Einzureichende Unterlagen: ein Text (nicht länger als 2 Seiten) und/oder ein Verlaufsplan und/oder Fotos und/oder ein Film (max. 5 Min. auf Mini-DV oder DVD). Einsendeschluss: 15. Juni (Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2, 10997 Berlin). Die Wahl des schönsten Spaziergangs erfolgt durch eine Jury. Der Gewinner-Spaziergang wird im September gemeinsam gegangen und mit einem Honorar in Höhe von 150 Euro belohnt. Der 2. Preis ist ein MP3-Player, der 3. Preis ein Buchpaket zum Thema Spazierengehen. Ausgewählte eingesandte Spaziergänge werden in der Ausstellung und in einer Begleitzeitung vorgestellt.

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Wenn man speziell dieses „Detail“ über das Walking-Projekt im Bethanien mit dem Weggeh-Projekt im ersten taz-Text aus dem Jahr 1981 vergleicht, kommt man nicht umhin, Parallelen mit dem aktuellen Konflikt zwischen dem Kunstraum und Künstlerhaus im Nordflügel des Bethanien und dem Soziokulturellen Zentrum „Neu York“ im Südflügel zu sehen. Während diese sagen: „Wir GEHEN hier nicht raus,“ meint der Sprecher des Künstlerhauses: „Wir haben eine vollkommen andere Sicht auf dieses Haus“, das geht einfach nicht zusammen.“ Erstere suchen kollektive Fluchtwege, während letztere im Kreis gehen, der höchstens ebenso spiralistisch wie individualistisch nach oben führt.

Das Aktionszentrum ist am „Köpi“ in Mitte orientiert und das Künstlerhaus sowie der Kunstraum will mit den „Kunstwerken“ in Mitte aufschließen. Das geht fürwahr nicht zusammen, aber das Bethanien-Haus ist für beide WEGE eigentlich sogar zu groß – mindestens groß genug: Wenn man nur wollte, würde man sich dort nie begegnen müssen, man könnte sogar zwischen beiden „Projekten“ eine Wand mauern. Absurderweise wurde das „Künstlerhaus“ einst nach der Besetzung nur dort zugelassen, weil es sich als „Soziokulturelles Zentrum“ im Problembezirk zu etablieren versprach. Auch damals waren schon viele dagegen gewesen. In Summa: taz und Kunstraum/Künstlerhaus Bethanien sind den selben WEG gegangen – von der fast pfeilgeraden Fluchtlinie nach Draußen zum Gehen im Kreis drinne, mit kleinen Ausflügen im Urlaub in Form von Nordic Walking-Touren auf ausgeschilderten Wanderwegen.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/04/17/gehenwalkingwandernweggehen/

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kommentare

  • Es gibt darüberhinaus immer mehr Bücher – mit Schilderungen eines Fußwegs/-marsches: Im blog-eintrag über die Rhön finden sich bereits zwei erwähnt.

    Einer der Autoren, der Thüringer Landolf Scherzer („Grenz-Gänger“) hat sich bereits ein zweites Buch ergangen: „Immer geradeaus: Zu Fuß durch Europas Osten“. Ein Tagesspiegel-Mitarbeiter ging von Berlin nach Moskau, ein TV-Komiker auf einem berühmten Pilgerpfad, ein konservativer Autor die Donau entlang, ein englischer Reiseschriftsteller durch Patagonien, ein polnischer Exilant aus einem Borges-Salon, ein Konstanzer Drogist durch die Wüste Gobi, ein Petrarca auf den Mont Ventoux usw.. Und alle schrieben anschließend Bücher über diese „Erfahrung“ – diesen mehr oder weniger enormen Gang.

  • Zur Zeit ist sie wieder in Berlin – die Weggeh-Künstlerin Kinga Araya.

    Vor zwanzig Jahren ist die aus Polen stammende Künstlerin Kinga Araya aus ihrem Land weggelaufen. Das Jubiläum feiert sie in Berlin. Noch bis Donnerstag geht sie den ehemaligen Grenzverlauf der Mauer um das ehemalige Westberlin ab. In zehn Etappen hat sie sich den Grenzstreifen eingeteilt. 15 Kilometer will sie täglich gehen.

    Das schrieb die taz über die Weggeherin 2008. Weiter heißt es dort:

    Araya kennt sich aus mit Grenzen und mit deren Überwindung. Sie überwindet sie, indem sie geht. Dies ist ihr zur Quelle künstlerischer Inspiration geworden. Sie geht. Mal schnallt sie sich dabei ein drittes Bein an. Es soll sie erden und behindert sie nur. Mal zieht sie sich Schuhe aus Glas an und kommt deshalb nicht vorwärts. Mal setzt sie sich einen metallenen Hut auf, an dem meterlange Metallstäbe hängen. Jede Bewegung erzeugt einen Ton. Mal geht sie einfach. Mit einem Koffer an den Strand etwa. Den setzt sie dort in Brand. Ihre Kleider, die sie am Leib hat, wirft sie auch ins Feuer. Nackt geht sie weiter.

    „Ich gehe weg, um irgendwo anzukommen.“ Dabei kommt sie nie an. Als aber die Mauer fiel, die hier symbolisch für Ostblock steht, da war zumindest der Rückweg für sie wieder offen.

    Die Geschichte der Kinga Araya, die Polen 1988 verließ, zu einer Zeit also, als der Westen den sozialistischen Ländern noch verschlossen waren, klingt entschlossen und hoffnunglos zugleich: „Ich bin einfach losgegangen, weggegangen, gegangen eben. Und habe mich nicht mehr umgedreht. So habe ich die Grenze überwunden.“

    In Berlin wollte Araya eigentlich länger bleiben. Nun kommt es wieder anders. Von einer Kunsthochschule in Florida wurde ihr, die sich seit fast 20 Jahren von einem Stipendium zum nächsten hangelt, eine Professur angeboten. Bald geht sie. „So ist es immer bei mir: Ich will endlich irgendwo angekommen und mich sicher fühlen, dann reise ich wegen der Sicherheit weiter.“

    2010 kehrte die Weggeh-Künstlerin jedoch wieder nach Berlin zurück.

    1978 fand bereits der legendäre Tunix-Kongreß unter dem Motto „Abhauen“ statt („Etwas besseres als den tod finden wir überall“).

    Auch das war schon in gewisser Weise künstlerisch angelegt – insofern es bloß metaphorisch gemeint war, unter all den vielen Arbeitsgruppen (workshops würde man heute sagen), darunter eine zur gründung der taz, war keine, die sich mit der Organisation des Abhauens (aus Deutschem Herbstland) befaßte.

  • Über Pilger und Bettler:

    Mir ist aufgefallen, dass immer mehr Leute – auch und vor allem nichtreligiöse – sich auf Pilgerfahrt begeben. Sie gehen – gemüts- oder midlifekrisen-gebeutelt – den Jakobsweg all the way long. Oder – wie ein krebskranker Süddeutscher gerade – über Umwege bis nach Rom. So lange der Weg anhält, geht es diesen Leuten anscheinend auch gut, aber das Ziel der Reise versöhnt sie dann regelmäßig wieder mit dem Schweinesystem, wie wir das früher nannten. Das Ziel ist eine Falle!

    Aber gilt das auch für all die Filmemacher und Soziologen, die sich an diese „Long-distance-walkern“ ranhängen – um daraus ihrerseits Honig zu saugen. Mit der wachsenden Unübersichtlichkeit und Machtlosigkeit hat die Religion an Attraktivität gewonnen – sogar für ihre intelligenten Verächter. Aus dem einsamen oder geselligen Trip wird erst ein Erfahrungsbericht, dann eine TV-Dokumentation, schließlich ein (französischer) Spielfilm sowie eine soziologische Partizipationsstudie (in Amerika, wo das Interesse an allem, was Mekka heißt, besonders groß ist).

    Aber nicht nur dort verknüpft sich dieses „Phänomen“ zunehmend mit dem Terrorismus, der ebenfalls religiös geworden ist und zudem seine eigenen Pilgerpfade kennt – in palästinensische oder paschtunische Ausbildungslager z.B.. Zuvor waren auf diesen Routen bereits Millionen Hippies gewandert – nach Indien. Als die indischen Bauern diesen nicht abreißenden Strom von Pilgern und Bettlern sahen, erklärten sie sich das damit, dass in Europa eine große Dürre ausgebrochen war. Jetzt sieht man manchmal noch den einen oder anderen aus diesem Strom auf den hiesigen Straßen unterwegs – um zu betteln. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Leidensgeschichte erzählen, um Mitleid zu erwecken, sondern sich durch die öffentliche Wahrnehmung und Meinung bewegen wie eine Ratte im Schilf.

    So ging einer während des Berliner Bankenskandals z.B. die draußen vor den Lokalen in Kreuzberg sitzenden Gäste mit dem Satz an „Bei mir ist Ihr Geld sicher“ wobei er eine kleine Holzschachtel öffnete, in der man es sogleich deponieren konnte – was fast jeder mit einem Lächeln tat: erleichtert darüber, nicht auch noch ein FAZ-Abo oder einen Handy-Vertrag unterschreiben zu müssen. Denn der freundliche Bettler bedankte sich bloß und ging zum nächsten Tisch.

    Ein anderer läuft täglich Berlin-Mitte ab, er hat einen Bart und allerlei Krimskrams bei sich: Den Damen schenkt er Nelken ohne Stiel und ein fortlaufend numeriertes Flugblatt, das zuvor Antje Ritter-Jasinska aus dem Polnischen übersetzte und Bert Papenfuß redaktionell bearbeitete. Den Herren bietet er an, einmal seine Fahrradhupe zu betätigen, die er ihnen dazu hinhält. Die meisten hupen dann auch reflexhaft. Worauf er ihnen einen mit Geld gefüllten Eimer hinhält, der je nach Restaurant mit Münzen oder kleinen Scheinen gefüllt wird. In seinem letzten Flugblatt (13/2007) – in Form eines Briefes an den Staatspräsidenten, erfuhr man, wie alles anfing: Ihm wurde die Mitgliedschaft im Berufsverband der Künstler verwehrt, weil er seine Krankenversicherung mit dem Verkauf von Obdachlosenzeitungen finanzieren wollte. Dafür „purzelten“ ihm dann „die Ideen nur so aus dem Ärmel“: Er „machte den Verkauf der Obdachlosenzeitung zu einer Performance.“ Es gab Zeiten, da hatte er „ein paar Tausender im Ärmel und schlief unter Brücken oder in Kellern.“ Das erbettelte Geld investierte er in eigene Drucksachen, die er wieder „in die Stadt zurückpumpte“. „Allein die Auflage der Visitenkarte mit der Adresse“ seiner Hauptanlaufstelle, „dem Club der polnischen Versager, lag bei zwanzigtausend,“ auf „eigene Kosten“ ließ er außerdem zigtausende von 50-DM-Scheinen drucken. Zwischendurch geriet er mit der Obdachlosenzeitung „Motz“ über Kreuz, die „zwei Jahre lang“ seine Autobiographie abdruckten, aber sich dann bei einem Obdachlosen-„Literaturwettbewerb“ als „Hyänen“ erwiesen. Eine Kurzfassung findet sich unter „www.himmel-heiliger-peter.de“, dort kann man sich außerdem noch einen Kurzfilm über ihn runterladen.

  • Klaus-Jürgen Detmar (z.Zt. Bern):

    Darf ich noch daran erinnern, dass auch der 10.000 Kilometer-Marsch, den die unter dem Partisanenführer Kowpak kämpfenden Männer und Frauen in Weißrussland von den Pripjetsümpfen bis in die Karpaten zurücklegten, dem berühmten „Langen Marsch“ von Mao Tse-tung in nichts nachstehen…

    Erwähnt seien ferner die Erinnerungen des berühmten Partisanenkommandeurs Alexander Saburow, dessen Männer und Frauen aus den Brjansker Wäldern heraus operierten,sein Buch heißt bezeichnenderweise „Partisanenwege“.

    Von diesen Wäldern aus aus kämpfte auch der ehemalige Filmregisseur Pjotr Werschigora, sein „Tatsachenbericht“ hat den Titel „Im Gespensterwald“. In den „Schwarzen Wäldern“ spielte die Handlung der „Dokumentarerzählung“ von Semjon Zwigun: „Wir kehren zurück“. Und im Kuban-Gebiet kämpfte die Partisanen-Abteilung von Pjotr Ignatow, die fast ausschließlich aus Vertretern der städtischen Intelligenz bestand und vor allem Sprengungen durchführte. Nebenbei organisierten sie noch eine Partisanen-Ausbildungsstätte, die sogar den Titel „Diplom-Partisan“ verlieh. Ignatows „Notizen eines Partisanen“, die bereits 1945 in London und Melbourne erschienen, werden ausführlich zum Zwecke der nordirischen IRA-Bekämpfung von Brigadier Dixon und dem westdeutschen Historiker Heilbrunn zitiert – in ihrem Buch „Communist Guerilla Warfare“, das 1954 in New York erschien und 1956 in Westdeutschland. Ignatows schrieb seine „Notizen“ zum Andenken an seine beiden Söhne Jewgeni und Genja, die als „Helden der Sowjetunion“ im Partisanenkampf fielen.

    Sehr schön sind auch die Erinnerungen von Pjotr Andrejew an seinen Partisanenkommandanten Sergej Antonow – mit dem Titel „Über meinen Freund“. Mit am Besten haben mir die Erinnerungen des bulgarischen Arbeiterehepaars Elena und Dobri Dshurow gefallen, die als Partisanen in den Wäldern des Balkans kämpften. In ihrem Buch „Operationsbasis Murgasch“ wechseln sie sich kapitelweise beim Erzählen ab, auf diese Weise fielen sie sich nicht ständig gegenseitig ins Wort, wie das sonst bei Ehepaaren der Fall ist.

    Das berühmteste sowjetische Partisanenbuch ist
    „Die junge Garde“ von Alexander Fadejew. Es handelt von einer Gruppe Jugendlicher, die im ukrainischen Bergarbeiterstädtchen Krasnodon den Kampf gegen die Deutschen aufnehmen. Am Ende werden alle – 35 Jungs und 19 Mädchen – gefoltert und schließlich hingerichtet. Gleich nach der Befreiung Krasnodons im Februar 1943 – also kurz nach „Stalingrad“, der einen Umschwung in der Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Roten Armee in fast ganz Europa bewirkte – erforschte eine Kommission die näheren Umstände des Scheiterns der „Jungen Garde“.

    Anschließend bat das Zentralkomitee des Komsomol den Schriftsteller, sich dieser Geschichte anzunehmen: „Das Material hätte einen Stein erweichen können,“ meinte Fadejew später. Sein mit „viel Herzblut“ geschriebenes Buch war bereits Ende 1944 fertig. Später wurde es aufgrund vieler kritischer Anmerkungen noch einmal von ihm überarbeitet, die zweite Romanfassung erschien 1951. In der Zwischenzeit wurde „Die junge Garde“ verfilmt. Der Film, von Sergej Gerassimow, war ebenfalls ein großer Erfolg – weltweit.

    Während der Mensch in den meisten Kriegsfilmen nur ein Schräubchen in einer gigantischen Militärmaschine war, nahmen die Menschen im Koordinatensystem des Partisanenfilms „Die junge Garde“ den ersten Platz ein, wie der sowjetische Filmkritiker Chanjutin schrieb. Doch 16 Jahre später, 1964, wird der Roman vom selben Regisseur noch einmal verfilmt. Der Autor, Fadejew, hatte inzwischen Selbstmord begangen – weil er die Rolle der Kommunisten in der Untergrundbewegung positiver darstellen sollte, wie ein Rezensent der Springerzeitung „Die Welt“ Ende 1964 einfach naßforsch behauptete. In der ersten Filmversion ist die Romanfigur Tretjakewitsch ein Verräter und Potschepzow einer der Helden. In der zweiten Filmversion, die damit begründet wurde, daß in der Zwischenzeit neues Tatsachenmaterial gefunden wurde, ist es nun umgekehrt: der Verräter ist Potschepzow. 1988 schreibt der sowjetische Filmkritiker Schmyrow: „Die Authentizität des Films wird heute noch immer diskutiert – als eine entscheidende Frage für sein weiteres Schicksal und seinen Ruf“. Inzwischen gibt es sogar noch einen weiteren Film dazu: „Auf den Spuren der Helden des Films ‚Die junge Garde'“. Die Schauspieler unterhalten sich darin mit den Überlebenden vor Ort in Krasnodon und alle versichern sich gegenseitig, daß es genauso wie im Film war – „damit man im Pathos der kritischen von der Perestroika geforderten Gedanken nicht die Orientierung verliert,“ wie es heißt.

    Es gibt einen weißrussischen Schriftsteller, Wassil Bykau, der sich bis zum heutigen Tag mit nichts anderem als mit Partisanen beschäftigt. Er lebt jetzt übrigens – wegen der Nachperestroika-Wirren in Weißrußland – im Exil in Berlin-Köpenick.Unlängst gab er der Zeitung „Russki Berlin“ ein Interview, darin meinte er: „Bis noch vor kurzem durfte man die ganze Wahrheit über den Krieg nicht sagen. Das lag nicht an der Zensur oder am dogmatischen Sozialistischen Realismus, die natürlich auch die Literatur unterdrückten, sondern an dem besonderen Charakter des gesellschaftlichen Bewußtseins in der Sowjetunion, der nach dem Krieg eine fast süchtige Beziehung – nicht zur Wahrheit des Krieges, sondern zu den Mythen des Krieges hatte: das betraf die Helden, die Flieger, die Partisanen usw. Diese schönen Mythen waren auch für die Veteranen annehmbar, obwohl sie ihren eigenen Erfahrungen widersprachen. Die Wahrheit über den Krieg war nutzlos und sogar amoralisch. Schon die kleinste Annäherung an die Wahrheit wurde sofort als ein Attentat auf das Heiligste – den Kampf für die Freiheit und die Unabhängigkeit der Heimat – aufgefaßt. Die Autoren, die über den Zweiten Weltkrieg schrieben, waren jedoch begabte und durchaus zu Selbstopfern bereite Menschen, die der Wahrheit in ihren Büchern auf der Spur waren. Ihre Werke hatten deswegen auch oft ein schweres Schicksal (die russische Umschreibung für jahrelanges Druckverbot). Das ist jedoch nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, daß diese Wahrheit nicht nur in den Redaktionsstuben, sondern auch auf den Schlachtfeldern des Krieges selbst erobert werden mußte. Ernest Hemingway hat einmal gesagt: ‚Über den Krieg zu schreiben ist sehr gefährlich, noch gefährlicher ist es aber, die Wahrheit im Krieg selbst zu suchen'“.

    Fidel Castro, der mit Hemingway einmal bei einem Angelwettbewerb zusammentraf, urteilte nebenbeibemerkt über dessen Partisanen-Buch „Wem die Stunde schlägt“: „Es zählte zu den Büchern, die mir halfen, eine Taktik gegen Batistas Armee zu entwerfen“. Über Wassil Bykaus Partisanen-Geschichten, die fast zur Gänze auf Deutsch übersetzt wurden, jedoch seit der Wende alle vergriffen sind – in Ost und West, kann man sagen, daß er darin wirklich die – moralische – Wahrheit des Krieges suchte. Mehrere seiner Geschichten wurden verfilmt.

  • Ein Dritter Weg:

    Olga Benario kennt man, besonders in der DDR, weniger bekannt ist, dass ihre zwei großen Lieben sich an den zwei großen Langen Märschen in der Geschichte des Partisanenkampfes beteiligten. Ihr zweiter Mann, der brasilianische Revolutionär Louis Carlos Prestes gilt gar als der Erfinder des „großen Fußmarsches“ – wie die 25.000 Kilometer-Expedition seiner rebellischen „Kolonne Prestel“ in Brasilien genannt wird. Dieser Gewaltmarsch begann 1924 nach einem gescheiterten Aufstand seiner Militäreinheit. Danach bezeichnete man Prestes in Brasilien als „Ritter der Hoffnung“.

    1930 emigrierte er nach Moskau, von wo aus ihn die Kommunistische Internationale vier Jahre später als Aufstandsspezialist unter falschem Namen erneut nach Brasilien schickte. Als Partnerin gab man ihm Olga Benario mit. Unterwegs verliebten sich die beiden – für den 37jährigen Prestes war es das erste Mal: Er hatte bis dahin immer nur gekämpft. Olga Benario war dagegen zuvor in Moskau mit Otto Braun liiert gewesen, den sie 1927 in Berlin mit Pistolengewalt aus der Moabiter U-Haftanstalt befreit hatte. Für diese Befreiungsaktion wurde Olga Benario von der Linken in ganz Deutschland gefeiert. Sie und Otto Braun tauchten unter und flohen dann nach Moskau, von wo aus die Revolutionärin im Auftrag der Komintern unter falschem Namen einige Kurierreisen nach Westeuropa unternahm. Otto Braun verliebte sich derweil in eine Russin und wurde dann von der KI als Aufstandspezialist nach China – in Mao Tse Tungs Hauptquartier geschickt, wo er 1934 an dessen Langen Marsch teilnahm. Bei dieser 10.000 Kilometer-Expedition blieben 70.000 kommunistische Kämpfer auf der Strecke, die restlichen 20.000 machten dafür unterwegs „Chinas Wirklichkeit zu ihrer eigenen“, wie Otto Braun später in seinen „Chinesischen Aufzeichnungen“ schrieb, die 1973 in der DDR erschienen, wo der Autor 1990 starb.

    Weniger erfolgreich war dagegen die Mission von Olga Benario und Carlos Prestes: Auch dessen zweiter Versuch, einen Volksaufstand in Brasilien zu entfachen, schlug fehl. Während der Rest ihrer KI-Gruppe nach Verrat verhaftet und teilweise getötet wurde, konnten Prestes und Olga Benario zunächst untertauchen. Sie wurden schließlich aber doch gefaßt. 1936 schob man die schwangere Olga Benario nach Deutschland ab, wo sie in Gestapohaft kam: 1942 wurde sie vom KZ Ravensbrück aus nach Bernburg gebracht, wo man sie in der Gaskammer ermordete. Ihre Tochter Anita war zuvor der in Mexiko lebenden Mutter von Prestel übergeben worden. Sie ist heute Professorin an der Universität von Mexiko-City. Ihr Vater Louis Carlos Prestes starb 1990.

    Als Rudi Dutschke und andere den Langen Marsch der chinesischen Partisanen auf die hiesigen Verhältnisse übertrugen, dachten sie weniger daran, die deutsche Linke nun massenhaft in Staat, Verwaltung und Wirtschaft zu lenken, wie es dann die Zeitung Der Lange Marsch suggerierte – und ihr Herausgeber Tilman Fichter in der SPD vorexerzierte. Es sollte hier vielmehr von den Genossen ein – zuvor vom Guerillaführer Che Guevara propagierter – „Focus“ gebildet werden: im Sinne von Widerstandszellen.

    Che war damit zwar gescheitert, nicht zuletzt wegen der „Ausländerfeindlichkeit“ der bolivianischen Bauern, aber der lange Marsch in und durch die deutschen „Institutionen“ war erfolgreich, ähnelte jedoch mehr dem einst von der Vierten Internationale propagierten „Einsickern“. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den wunderbaren Diamantenschleifer Jakob Moneta, der wirklich weltweit aufrüherisch tätig war und ist. Zwar flog er – als Antizionist – erst aus einem Kibbuz, dann als Trotzkist aus der SPD und später auch noch aus der IG-Metall, aber die ostdeutsche Betriebsräte-Initiative hielt ihn bis zuletzt.

    Die „68er“ versuchte der deutsche Staat im übrigen durch einen „Radikalenerlaß“ draußen zu halten, was ihm bei einigen moskauorientierten Briefträgern und Lehrern auch gelang. Die maoistische bis spontaneistische Linke ließ sich dagegen massenhaft auf die Verfassung vereidigen. Die meisten wurden jedoch „umgedreht“, das heißt sie verrieten nicht die Verfassung, sondern ihre revolutionäre Vergangenheit.

    Neulich nun traf ich in einem Ostberliner Arbeitsamt (AA) auf fünf Mitarbeiter, die der ursprünglichen SDS-Idee treu geblieben sind. Ursprünglich wollten sie nach dem Studium in Westberlin in diverse Massenmedien einsickern, zuerst bei der Zeit, wo Helmut Schmidt sich jedoch gerade jede weitere Anstellung von Wehrdienstverweigerern verbeten hatte. Zu der Zeit wohnten die fünf zusammen in Moabit in einer WG. Inzwischen haben sie alle ein eigenes Häuschen im Grünen, dafür bilden sie aber seit 1983 im AA eine „Kommune“: zuerst in West- und nun in Ostberlin.

    Auch die Weiterbildungsmaßnahmen aus Nürnberg oder von ihrer Gewerkschaft absolvieren sie gemeinsam. Drei haben mittlerweile Kinder, einer ist geschieden und einer schwul geworden. Nicht nur schieben sie sich ihre „Vorgänge“ gegenseitig zu und helfen sich bei der Bearbeitung, wobei sie unbillige Härten und Unzumutbarkeiten nach Möglichkeit zu vermeiden suchen, außerdem bilden sie auch innerhalb der Behörde eine Widerstandsgruppe gegenüber den Vorgesetzten, mit der etwa acht weitere Kollegen lose sympathisieren. Mit diesen treffen sie sich regelmäßig nach Feierabend in einer Kneipe, um Sabotage-Aktionen nach oben und Dem-Volke-Dienen-Verbesserungen nach unten zu planen. Seit drei Jahren kommt auch ein engagierter Arbeitsrechtler. Von diesem – ebenfalls ein „68er“ – stammt der Name der Gruppe: „AA-Kommune“.

    Auf einem Zeltlager bei Güstrow, organisiert von einer Arbeitsloseninitiative, an dem die fünf AA-Mitarbeiter teilnahmen, hatten sie bereits an ihr großes Zehnmannzelt ein Schild mit der Aufschrift „AA-Ini“ befestigt. Tatsächlich sind sie auch mehr und mehr im Arbeitslosenbereich organisatorisch aktiv – das heißt nach Feierabend, während sie im Dienst eher bremsen: wenn es zum Beispiel um die Vermittlung in unzumutbare Arbeitsbedingungen geht, etwa in Call-Center oder in Agrarunternehmen als Erntehelfer. Diese eigentümlich menschenfreundliche Dienstauffassung veranlasste neulich bereits einen langzeitarbeitslosen Ost-Akademiker zu der nicht unfrohen Bemerkung, nachdem er die „AA-Kommune“ ohne Job wieder verlassen hatte: „Der Kapitalismus hat seine Widersacher anscheinend gleich mitgebracht!“

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