So nennt der Gräzist Gerhard Baudy unseren Balkensepp – in seinem Aufsatz „Zum Brotessen verdammt – durch Brot erlöst“. In den altmediterranen Ackerbaukulten gab es jedoch auch schon vor Jesus solche Brotgötter:
„So offenbarte etwa das Enthüllen einer Getreideähre denen, die sich in die eleusinischen Mysterien einweihen ließen, das größte aller Geheimnisse. Wir wissen das nur, weil der Kirchenvater Hippolytos dieses ‚unsagbare‘ Mysterium ausplauderte in der Absicht, sich über die Banalität des heidnischen Konkurrenzkults lustig zu machen. Derselbe Autor teilt uns auch mit, dass die vom Hierophanten unter heiligem Schweigen emporgehaltene Ähre ein männliches göttliches Kind repräsentierte, das von der Ackerbaugöttin geboren worden sei.“
Von der frühgriechischen Gemeinschaft über den christlichen Brotgott bis zum Kommunismus bleibt dieses „Geheimnis“ das selbe. So entwickelt Friedrich Engels in seinem Buch „Die Dialektik der Natur“ (S. 126ff) das größte Geheimnis des Marxschen Materialismus – nämlich die Dialektik – just am Beispiel der Entwicklung des Gerstenkorns. Stalin machte aus der Gerste später Weizen – als er uns die immer und überall währende Gültigkeit der Dialektik verklickerte. Es geht beiden um das Umschlagen von Qualität in Quantität und die wiederum in Qualität usw.
Der Gräzist Gerhard Baudy schreibt an anderer Stelle:
„Im Bewusstsein der Antike manifestierte sich die Analogie zwischen Mensch und Getreidepflanze in einer Vielzahl gegenseitiger Übertragungen: Wie das Getreide galt der Mensch als Kind der Erdmutter; pflanzengleich ihrem Schoß entsprungen, lernte er nach ihrem Vorbild, sowohl Kinder zu zeugen und zu gebären als auch pflanzliche Nahrung mit dem Pflug zu produzieren. Das griechische Wort für den Getreidesamen, Sperma, diente zugleich als Metapher für den männlichen Samen. Der Pflug galt als künstlicher Phallos, das männliche Genital umgekehrt als Pflug. Im athenischen Hochzeitsritus übergab der Brautvater dem Schwiegersohn seine Tochter formelhaft ‚zur Einpflügung legitimer Kinder‘. Der Schoß der Jungfrau war das Analogon des jungfräulichen Landes, das durch den Pflug urbar gemacht und kultiviert wurde. Same hieß auch das neugeborene Kind. Man legte es wie geerntetes Getreide in eine zum Reinigen der Körner benutzte Schwinge, die Urform der Kinderwiege.“
Für Michel Serres ist der Pflug ein „Opfermesser“, mit dem alles kurz und klein geschlagen wird, die ganze chaotische Vielfalt, um hernach auf dem sauber geeggten Geviert die Homogenität zu zelebrieren, zu züchten:
„Wenn die Wut des Messers sich gelegt hat, ist alles bearbeitet: zu feinem Staub. Geeggtt. Auf die Elemente zurückgeführt. Analyse oder: Nichts ändert sich, wenn man von der Praxis zur Theorie übergeht. Agrikultur und Kultur haben denselben Ursprung oder dieselbe Grundfläche, ein leeres Feld, das einen Bruch des Gleichgewichts herbeiführt, eine saubere, durch Vertreibung, Vernichtung geschaffene Fläche. Eine Fläche der Reinheit, eine Fläche der Zugehörigkeit…Der Bauer, der Priester, der Philosoph. Drei Ursprünge in drei Personen in einer einzigen Verrichtung im selben Augenblick.“
An anderer Stelle schreibt Michel Serres:
„Es ging nicht darum, die Erde durch Bearbeitung fruchtbar zu machen, es ging um Ausmerzen, Unterdrücken, Vertreiben, es ging um Zerstören, das Pflugmesser ist ein Opfermesser“.
Und weil das so ist, deswegen dürfen wir unsere Pausenbrote nicht einfach auf den Müll werfen, müssen wir das Brot ehren.
Dem gegenüber beginnt der Film „We Feed the World“ mit Müllwagen, die morgens durch Wien fahren und alles am Vortag nicht verkaufte Brot in den Supermäkten einsammeln – um es zu vernichten. Hunderte von Tonnen täglich, derweil die Weizenanbauer immer mehr Hektar unter den Pflug nehmen müssen, um über die Runden zu kommen, wie man so sagt.
In Hessen hat man sich jetzt darüberhinaus noch was einfallen lassen: Dort wollen die Bauern ihren „überschüssigen Weizen“ in Bio-Kraftstoff umwandeln.
Während der Hungersnot infolge des russischen Bürgerkriegs schrieb Ossip Mandelstam ein Gedicht mit dem Titel „Schöner Brotteig“. Nikolai Bucharin hatte ihm versprochen, es auf die Seite 1 der Prawda abzudrucken – und so geschah es dann auch.
Schöner Brotteig, langsam ist er
Aufgegangen, wächst und wächst,
Und es tobt vor lauter Hitze
Schon der Hausgeist wie behext.
So als würden Brot-Sophien
Auf dem Tisch der Cherubim
Glutvoll rundgegossen ihre
Kuppeln in die Höhe ziehn.
Dass gewaltsam oder zärtlich
Wunderbar Gewicht auftreibt,
Greift die Zeit – der Königshirte
Sich das Wort: als runden Laib.
Dürrer Stiefsohn dieser Zeiten
Findet endlich seinen Platz –
Den zu früh geholten Broten
Als ein Zustück mitverpaßt.
Übersetzt hat dieses Gedicht der eher fleißige als begeisternde Schweizer Ralph Dutli, der dazu anmerkt, dass die Korn-Metapher bei Ossip Mandelstam („Das Korn des tiefen, vollen Glaubens“) Teil eines für den Dichter zentralen Korn/Weizen/Brot-Metapherngefüges mit neutestamentlichem Ursprung ist. Konkret zum Gedicht „Schöner Brotteig“ merkt Dutli an: Religiöse Symbolik und die poetologische Brot-Metapher greifen hier ineinander.
In „Das Wort und die Kultur“ schreibt Ossip Mandelstam 1921:
„Es heißt, der Grund für die Revolution sei der Hunger in den interplanetarischen Räumen. Man müßte Weizen ausstreuen in den Äther! Die klassische Poesie ist die Poesie der Revolution.“
In der DDR-Ossip-Mandelstam-Ausgabe, von Fritz Mierau herausgegeben, fehlt dieser letzte Satz wie auch so manches andere, dafür sind Mandelstams Gedichte und Texte jedoch durchweg besser übersetzt als in den vollständigeren BRD-Ausgaben seiner Werke.
Ralph Dutli merkt zu dem im Band „Über den Gesprächspartner“ abgedruckten Europa-Essay „Menschenweizen“ (1922) an: Im Zusammenhang mit den russischen Kathedralen („Kornspeicher“) verwendet Ossip Mandelstam das „Korn“ als Bild für Spiritualität. Im „Hufeisenfinder“ (1923) schreibt Ossip Mandelstam:
„Was ich jetzt sage, sage nicht ich,/
Es ist ausgegraben aus der Erde,
Körnern gleich von versteinertem Weizen.“
Das Brot – ganz unmetaphorisch:
Statt von der Weizenproduktion auf das neue Testament zu kommen, wie Ossip Mandelstam, kann man auch von dieser Warenproduktion auf den Fetischcharakter der Waren und des Geldes kommen – wie es Alfred Sohn-Rethel vorexerziert hat. Es ging ihm dabei um eine Analyse unserer warenproduzierenden Gesellschaft, „in der ein Stück Brot, das einer ißt, den anderen nicht satt macht“.
Und diese Gesellschaft, die entwickelte sich etwa um 500 vor Chr. in Ionien – mit den ersten Münzprägungen, die bereits damals die ganze vorangegangene Gesellschaft zerstörten, atomisierten.