Über die BI gegen den Gastrassenverlauf machte ich mir zwischen Ostern und Pfingsten folgende Gedanken:
„Die Hysterie steht am Anfang jeder Wissenschaft“ (Jacques Lacan)
An der geplanten Ostsee-Pipeline, die von Wyborg nach Greifswald unter Wasser und von dort bis Tschechien über Land weitergeführt wird, liegt ein Dorf (nahe Berlin), wo die Gasrohre direkt durch die Vorgärten verlegt werden sollen: Groß Köris. Außerdem will der Gasprom-Konzern, genauer gesagt: seine Tochtergesellschaft „Wingas“, kurz vor dem Ort, die einzige Verdichterstationen auf der ganzen Pipeline-Strecke errichten, in der mittels vier riesiger Flugzeugturbinen das Gas gereinigt und mit Druck weitergeleitet werden soll.
In dem märkischen Dorf gab es, bevor diese Pläne bekannt wurden, eine Bürgerinitiative (BI), die gegen den Lärm der allzu nahe vorbeiführenden Autobahn A13 kämpfte, indem sie Lärmschutzwände forderte. Nachdem sie dies erreicht hatte, wandte sie sich dem Gastrassenbau zu, indem sie sich erst einmal sachkundig machte und mit diversen Ämtern sowie Verantwortlichen (z.B. aus der Raumordnungsbehörde) Gespräche führte bzw. korrespondierte. Bei den Aktivisten der BI handelt es sich um Ostler, allerdings nicht um alteingesessene Dorfbewohner. Etwas abseits davon am Wald haben einige Westler – Künstler und Wissenschaftler, allesamt aus Kreuzberg – ihre Häuschen: Sie gründeten wenig später ebenfalls eine BI gegen den geplanten Gastrassenverlauf und die Verdichterstation am Dorfrand.
Während in der ersten BI eine „Trassensprache“ vorherrscht – ihre Sprecherin ist eine Ingenieurin (sie löste außerdem gerade den in Ungnade gefallenen Bürgermeister ab), wird in der zweiten BI eine „Projektemachersprache“ gepflegt, mit der – multimedial aufbereitet – öffentliche Veranstaltungen bestritten werden und die auch auf ihrer gemeinsamen BI-Webpage (www.opalsonicht.de) präsent ist, auf der sich darüberhinaus Darstellungen der Welt-Energie-Versorgung und Marktanalysen von Pipeline-Netzen (bestehende und geplante) finden. Teile dieser BI diskutieren daneben noch gerne mit Moderatoren bzw. Mediatoren, die vorgeben, als professionelle BI-Berater über das entsprechende „Know-How“ zu verfügen, daneben aber auch schon mal für einen Gaskonzern arbeiteten. Sie verstehen sich als Vermittler oder Übersetzer und operieren dabei mit einer eigenen Begrifflichkeit – mit Worten wie „konsensfähige Performance“ z.B..
Kürzlich hat sich an einem nahen See, dessen Halbinsel bereits zum Nachbardorf gehört, noch eine weitere BI (der „Bürgerverein Schenkenland“) gegen den Trassenverlauf gegründet – von neuhinzugezogenen Westlern (sowie wieder dorthin gezogenen Ostlern). Ihr Sprecher ist ein Anwalt und ihre Sprache eine juristische. Ihre Flugblätter drucken sie auf Hochglanzpapier, und da die BI auch vom dortigen Bürgermeister unterstützt wird, werden ihre Infos hier von Gemeindehelfern verteilt, außerdem steht ihnen die Kita als Versammlungsort zur Verfügung. Die BIs arbeiten zwar zusammen, die dritte und die erste BI verstehen sich jedoch leichter – anscheinend verknüpft sich dabei die Ingenieur- mit der Juristensprache. In der zweiten, der Kreuzberger BI ist die „Projektemachersprache“ nicht nur vom „Interaktionsmanagement“-Jargon, sondern auch von einer Kritik an all den eben erwähnten Sprachen versucht: „Es fehlt ihnen dabei eine ganze Schicht – die politische Sprache“. Zwar lappt ihre Diskussion z.B. über die globale Produktion und Verteilung von Öl und Gas in die Sprache der Nationalökonomie, insofern z.B. hiesige Politiker die wachsende Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas beklagen und für eine Diversifizierung der Energieversorgung plädieren, aber es tut sich auch dabei für die zweite BI immer noch ein zu großer Bruch auf – zwischen der konkreten Bedrohung des Dorfes durch den geplanten Trassenverlauf und der Weltpolitik des Kapitals im Bereich der Energieförderung und -vermarktung. Hinzu kommt noch: „Alles hat Einfluß auf das Öl- und Gas-Geschäft,“ wie Tom Abelaine, ein Londoner Broker, es auf der Internationalen Gaskonferenz des Gaspromkonzerns in Berlin 2000 ausdrückte. Das macht die Findung einer eigenen „politischen Sprache“ nicht einfacher. Man kann aber vielleicht sagen: die zweite BI ringt darum – und bis dahin ist sie vielsprachig.
Das Zusammenkommen all dieser Sprach-Patchworks zu einem „Trialog“ wird auch noch dadurch erschwert, dass das Dorf bis jetzt das einzig widerständige auf der ganzen 700 Kilometer langen Landstrecke der geplanten Gastrasse ist. Und dass es auch noch einen Gemeinderat im Dorf gibt (wo wie erwähnt die Vorsitzende der ersten BI nun Bürgermeisterin ist). Er gilt als ein sehr sprachmächtiges Gremium von alteingesessenen Interessensvertretern. Man könnte ihre „Amtssprache“ vielleicht als eine geerdete bezeichnen. Von dieser aus Herkommen, Besitz, Tradition und Gremienerfahrung sich ermächtigenden Sprache bis hin zu einer neuen „politischen Sprache“, die der Weltgaspolitik gewachsen ist – und deswegen erfolgreich Widerstand leisten kann, tun sich noch Abgründe auf. Obwohl alle das selbe wollen: Dass die Gastrasse nicht durch die Vorgärten geführt wird, sondern um das Dorf herum, dass die Gasverdichterstation ein paar Kilometer weiter weg gebaut wird und dass das ganze Bauvorhaben nicht allzu viel Wald dort zerstört.
An diesem Punkt kämen eventuell auch noch einige BIs von Umweltaktivisten bzw. Baumschützern sowie diverse Naturschutzverbände ins Spiel, d.h. zu Hilfe. Man weiß inzwischen, aus vielen BI-Erfahrungen, dass die Umweltschützer im Notfall engagierter und auch erfolgreicher sind als z.B. Denkmalschützer. Obwohl sie natürlich das Sprachproblem der drei ortsverbundenen BIs noch um mindestens eine weitere Sprache verkomplizieren würden.
Auch für diese drei BIs gibt es „einen gewissen Zwang zum Erfolg – spätestens ab einem bestimmten Grad von Bedrohung, die eine ständige Ausweitung der Mittel in der Auseinandersetzung mit dem Gaspromkonzern erforderlich macht“, dessen Einfluß bekanntlich bis hin zu Teilen der SPD reicht, insofern der Ex-Bundeskanzler, Schröder, Aufsichtsratsvorsitzender der Betreibergesellschaft der Ostsee-Pipeline – einer halben Gasprom-Tochter – ist. Man darf bei diesem BI-Widerstand außerdem nicht die Rolle der Lokalpresse vergessen, die fast täglich darüber berichtet – und damit auch noch eine journalistische Sprache zur Geltung bringt. Und schließlich ist da die Großbehörde „Bundesnetzagentur“, die mit Wettbewerbsargumenten, also mit einer ordoliberalen Sprache, für eine Entflechtung des Besitzes von Gasproduzenten und Gasnetzbetreibern eintritt – und damit vielleicht die Investoren der Ostsee-Pipeline ausbremst – oder umgekehrt: diese die Agentur. Während man vor Ort im besagten Dorf zum Einen um Einfluß nach oben ringt und dafür Kontakte knüpft, und zum Anderen mit der Mobilisierung von Öffentlichkeit davon ausgeht, dass nur durch Druck von unten etwas bewegt werden kann: Was die erste BI fürchtet, dass man damit die da oben nur „verschreckt“, ist im Grunde genau die Absicht der zweiten BI. Aber auch die Sprache der ersten und der dritten BI, ihr Ingenieurs- und Juristen-Denken, hebt auf Entgegengesetztes ab: Dieses aufs Allgemeinste – das Gesetz – und jenes auf die mögliche Machbarkeit vor Ort – als eine besondere Ausnahme von der Kosten-Nutzen-Regel. Was beide BI-Sprachweisen eint, ist das Kastendenken, seine einem Code ähnliche Anwendbarkeit – und dass sie nach oben gerichtet sind, um dort Gehör zu finden, und nicht nach unten, um ihre „Sympathisantenbasis“ zu vergrößern und damit den Druck nach oben zu verstärken. Manche ihrer Begriffe sind sogar geeignet, diese Stoßrichtung regelrecht zu verschleiern: „Gemeinwohloptimierung“ z.B..
Untergründig stellt sich jedoch eine allen drei BIs gemeinsame Sprache her: Ein großes Wissen über die Trasse und alles was damit zusammenhängt, das sich ständig erweitert – auch in der Form seiner Artikulation sowie in dem, was nicht gesagt wird: die Beziehungen der beteiligten Bürger untereinander, ihre Zu- und Abneigungen usw.. Wenn eine BI sich gründet, muß sie eine gemeinsame Sprache finden, eventuell auch Sprecher, die diese am überzeugendsten verkörpern (rüberbringen). Ein vorschneller Entschluß, z.B. den Rechtsweg zu beschreiten – durch alle Instanzen möglicherweise, macht aus den engagierten Bürgern erst einmal brave Jurastudenten, Stammler, so dass einem Juristen unter ihnen fast automatisch Sprecherfunktionen zukommen.
Sie sind dann auch die Berufsgruppe, die spätestens seit Zolas „J’Accuse“ die bürgerliche Aufklärung dominieren, wobei sie zwar vom Einzelfall bis zur Weltkritik fortgeschritten sind, aber dies nur um den Preis ihrer Klientel vor Ort, die sie dabei gegen „die ganze Menschheit“ austauschten – d.h. als deren Anwalt sie dann auftraten und sprachen. Anders die Naturwissenschaftler und Techniker, deren Denken und Planen selbst in seinen Auswirkungen immer globaler wurde und wird. Der Philosoph Michel Foucault erwähnt als Beispiel den Atombombenbau des Physikers Robert J. Oppenheimer, den er als „spezifischen Intellektuellen“ – im Gegensatz zu den obigen „allgemeinen“ – bezeichnet. Die BI nun muß dazwischen steuern bzw. lavieren. „Zu spezifisch“-Sein, das würde auf ein „Sankt Florians Prinzip“ hinauslaufen – und z.B. die Verdichterstation bloß näher an ein anders Dorf (ohne BI-Widerstand) rücken. „Zu allgemein“-Sein liefe dagegen auf Interesselosigkeit hinaus und damit auf eine Beliebigkeit der Forderungen. Und dies würde sich noch einmal bei der Wahl der Mittel zu ihrer Durchsetzung wiederholen. Ohnehin tendiert das Suchen und Finden einer gemeinsamen Sprache in der BI dazu, auf immer neue Sprachen – in Form von Problemfeldern – zu stoßen. So fangen einige in den BIs des Gastrassen-Dorfes z.B. an, sich für den Zustand des ebenfalls vom Trassenbau teilweise bedrohten Waldes in der Umgebung zu interessieren. Dazu arbeiten sie sich in die Fortwissenschaft und -wirtschaft ein. Andere beginnen sich für die nahen Seen zu engagieren, d.h. sie sind auf dem besten Weg, Amateur-Limnologen zu werden, wobei sie auch die dort häufig anzutreffenden Wasservögel mitdenken wollen. Überhaupt entwickelt sich, wenn gewohnte Land- und Liegenschaften plötzlich gefährdet sind, ein anderer Blick darauf: sie dehnen sich aus – ins Genaue und vor allem Historische.
In Anknüpfung an die Lage zu DDR-Zeiten, da die Region ein Urlaubsgebiet für den halben Ostblock war, was dann ab 1990 abrupt zu einem Ende kam, zeigen sich im Gastrassendorf und seiner Umgebung bereits wieder zarte Pflänzlein des Tourismus und man denkt verstärkt über eine erneute Wiederbelebung des Tourismus nach,d.h. man beschäftigt sich mit „Ferien auf dem Bauernhof“, regionalen Besonderheiten (Sehenswürdigkeiten), Fremdenverkehrs-Ökonomie und der landschaftlichen (Ver-)Nutzung. Unweigerlich kommt man von da aus auf die Ökologie, und damit z.B. , obwohl es dort kaum noch Landwirtschaft gibt, auf die Pflanzenschutzgifte in den Äckern, auf genmanipulierte Feldfrüchte, den Einfluß der Agrarkonzerne sowie die landwirtschaftliche Misere in Brandenburg und weit darüberhinaus. Jedes dieser Felder eröffnet bzw. bedingt mindestens eine neue Sprache. Und dabei spielt auch die Geschichte mit hinein. So wollte z.B. ein später in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilter IG-Farben-Manager während des Krieges eine widerstandsfähigere Kartoffelsorte dort züchten, weil er sich dachte: Wenn meine Kartoffel in Groß Köris wächst, dann wächst sie überall. Er hat dann ein Mustergut ganz in der Nähe des Dorfes angelegt, den Wilhelminenhof, der zu DDR-Zeiten in eine LPG umgewandelt wurde, betrieben von Flüchtlingen aus Schlesien. Der Sohn des „Schweizers“ aus der LPG, der in den Baracken der von der Roten Armee noch nicht geschleiften, 1943 im Wald von Groß Köris vor den Bombenangriffen versteckten Reichsbahnhauptverwaltung von Berlin zur Schule ging, lebt heute noch auf dem ansonsten ganz verfallenen Mustergut. All dies recherchierte jemand aus der zweiten BI.
Es gibt unter den BI-Aktivisten natürlich auch Vorlieben, Neigungen. Und das führt zu einer gewissen Arbeitsteilung, die entlastend auf die drei BIs wirkt, um so mehr, da man sich diese als mit einer Vielzahl von anderen BIs und Experten verbunden vorstellen muß. Unter den Aktivisten finden sich regelrechte „Kontakthersteller“, die den ganzen Tag lang Mails verschicken und immer 18 Fenster gleichzeitig auf ihrem Mac geöffnet haben: „Netzwerker“ könnte man sie auch nennen. Andere gehen in die Tiefe: Meistens solche, die es gewohnt sind, bei jedem Problem erst einmal pawlowmäßig die nächste Bibliothek aufzusuchen und die entsprechende Literatur heranzuziehen. Überhaupt häufen sich bei fast allen BI-Leuten zu Hause die Protokolle, Gutachten, Flugblätter und Bücher über immer mehr Problemfelder. Gerade wird dort z.B. der schmale Essayband „Russland gibt Gas“ von Alexander Rahr (erschienen im Hanser-Verlag für 19 Euro 90) gründlich studiert. Aber auch die 464-Seiten-Chronik des Lausitzer Braunkohlekonzern-Gegners Michael Gromm: „Horno – verkohlte Insel des Widerstands“ (2006 im Selbstverlag erschienen zum Preis von 43 Euro 50) findet im Gastrassen-Dorf vielleicht noch einmal „schöpferische Anwendung“.
Bei denen, die von einem „langandauernden Widerstand“ ausgehen, macht sich ein „skeptischer Realism“ breit, wie Goethe das nannte: z.B. bei den Verhandlungen über das Raumordnungs- bzw. Planfeststellungsverfahren im Landesbergamt Cottbus: Sind die da so freundlich und entgegenkommend oder tun sie nur so? – Wie zuletzt beim Braunkohlebergbau von Vattenfall, wo es im Falle des Dorfes Horno auch nur darum ging, die Abbaggerungs-Trasse ein paar Kilometer um das Dorf herum zu führen: vergeblich! Obwohl es sich hierbei sogar noch – im Gegensatz zum Gastrassendorf – um einen „denkmalgeschützten Ort“ (den schönsten in der Lausitz) handelte.
Dumm gefragt: Erweist sich vielleicht dort im Landesbergamt der russische Energiekonzern schließlich als noch einflußreicher denn der schwedische? Oder hat sich in dem Cottbusser Amt vielleicht der einstige kommunistische Russenrespekt inzwischen zu einer westlichen Russophobie gewandelt? Und dann steht das erste Gespräch mit Gasprom/Wingas an: Soll man denen gegenüber alle seine Karten offen legen? Oder vielleicht doch einige Trümpfe noch zurückhalten – die an den nahen Seen brütenden Kraniche z.B.? All das sind Fragen bzw. Phrasen, die unweigerlich zu der entscheidenden – Tschernitschewskyschen – Frage „Was Tun?“ führen. An einer Stelle heißt es in diesem Buch – auf Seite 306 (in der DDR-Ausgabe von 1947): „Ein rechtschaffener und intelligenter Bürger kann höchstens getäuscht werden, weil er den Vorgängen zu geringe Aufmerksamkeit schenkt.“ Damit könnten all jene BIler gemeint sein, die sich deduktiv engagieren, d.h. vom Allgemeinen auf das Besondere (den Widerstand des Dorfes gegen die Gastrassenführung) gestoßen sind. Sie würden sich im Falle der Niederlage einfach einem neuen Widerstands-Herd bzw. -Projekt mit Hingabe widmen. Das sind Leute, Ingenieure des Sozialen, aber auch Affekt-Soziologen und ähnlich Vereinsamte, die eine eigene „Organisations-Sprache“ entwickeln. Man könnte daraus eine wahre BI-Ethnologie machen. Aber nicht jene, die die Mitarbeit in einer solchen Widerstands- oder Aktionsgruppe als eine Art Praktikum in einer NGO begreifen. Diese „Campaigner“ bringen neben einer Reihe englischer Wörter noch jede Menge praktische Ideen aus den USA mit in den BI-Sprachmix. Gleichzeitig dient ihr Engagement jedoch primär dem eigenen Fortkommen, derart, dass es am Ende noch jedesmal auf einen Job in einer internationalen Hilfsorganisation hinauslief. Auf diese Weise gerät ihnen ihre Erfahrung im märkischen Gastrassen-Dorf am Rande der Großstadt in der Tat zu einer Art Kolonialwissenschaft – mit Wörtern wie „tools“ und „ranking exercises“ z.B..
Der bayrische Filmemacher Herbert Achternbusch, den der DDR-Dramatiker Heiner Müller einmal als „Klassiker des antikolonialen Befreiungskampfes auf dem Territorium der BRD“ bezeichnete, meint: „Da, wo früher Pasing und Weilheim waren, ist heute Welt. Ein Mangel an Eigenständigkeit soll durch Weltteilnahme ersetzt werden. Man kann aber an der Welt nicht wie an einem Weltkrieg teilnehmen. Weil die Welt nichts ist. Weil es die Welt gar nicht gibt. Weil Welt eine Lüge ist. Weil es nur Bestandteile gibt, die miteinander gar nichts zu tun haben brauchen. Weil diese Bestandteile durch Eroberungen zwanghaft verbunden, nivelliert wurden. Welt ist ein imperialer Begriff. Auch da, wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Früher hat man einen Bachlauf nicht verstanden, heute wird er begradigt, das versteht ein jeder. Ein Bach, der so schlängelt. Karl Valentin sagt: ‚Das machen sie gern, die Bäch’….“ Achternbusch redet zuerst „von den Autobahnen in den Gehirnen, von den Begradigungen und Sanierungen, und dann spreche ich von den unsinnigen Betätigungen der Begradigten und Sanierten…“
Eine BI-Ethnologie geht von dieser „romantischen“ Sicht als Sachlage aus, um von da aus das „Kommunikationserlebnis“ flach zu halten, wie der Politologe Bruno Latour es in „Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“ fordert, deren „erster Schritt“ darin bestünde, „das Globale [zu] lokalisieren““. Der zweite: „das Lokale neu verteilen“. Der dritte: „Orte verknüpfen“. Das „Flach halten“ nun nicht aus der Gewißheit heraus, das alles Wesentliche sowieso an die Oberfläche kommt, sondern weil es sich dabei um eine Art Lebensforschung handelt, bei der jede Genauigkeit den Ort des Durchgangs zu dem, was geschieht, verfehlt. Die BI ist deswegen – mindestens für sie – ein Ort des Ungenauen. Und die BI-Ethnologie ist von daher eher literarisch als philosophisch gestimmt („Die Akte durch Deutung sind am gefährlichsten für die Freiheit,“ so sagte es der Foucault-Assistent Francois Ewald). Eine BI-Ethnologie kann aber auch die kleine Form von „Bewegungsmeldungen“ annehmen, die die große „Klassenanalyse“ – basierend auf der organischen Zusammensetzung des antikapitalistischen Potentials – ersetzen, indem ihre Autoren die restaurative Zeit auf Fragmenten des Sozialen quasi driftend überbrücken.
So nahm die abflauende internationale Studentenbewegung spätestens Mitte der Siebzigerjahre bereits Kurs auf die BIs als eine neue Form der Selbstorganisation. Das begann mit dem örtlichen Widerstand gegen den geplanten Bau eines Atomkraftwerks in Whyl im badisch-elsässisch-schweizerischen Grenzgebiet. Einer der ersten BI-Sprecher dort war der Sänger Walter Mossmann, von dem gerade eine Sammlung von Liedern und Poemen unter dem Titel „Der Nasentrompeter“ erschien (in der Berliner edition freitag, 226 Seiten, 19 Euro 80). Mossmann verstand seine „Flugblattlieder“ als Ausdruck des gemeinsamen Kampfes und gemeinsamer Ziele. Seine Sprache war einfach, plakativ, populär, teilweise in der alemannischen Mundart. Diese Lieder wurden „Gemeingut“ der Bewegung. Gisela Probst-Effah schreibt über dieses Klein-Werden der Sprache: „Die Auseinandersetzungen in Wyhl am Kaiserstuhl gaben das ‚zweite ‚Signal‘ zu einer Dialektrenaissance. 1974 besetzten Bürgerinitiativen den für das Kernkraftwerk vorgesehenen Bauplatz. Die Dialektsprache als Verständigungsmittel bot sich aus mehreren Gründen an: An den Protestaktionen nahmen ländliche Bevölkerungsgruppen, in denen die Mundart noch eine breite Basis hat, teil. Zwischen ihnen und anderen Gruppen, z.B. Studenten, die seit den sechziger Jahren auf die Rolle des ‚Bürgerschrecks‘ festgelegt zu sein schienen, mußten Barrieren überwunden werden, auch sprachliche. Ähnliche Entwicklungen gab es im elsässischen Marckolsheim, wo ein Bleichemiewerk gebaut werden sollte. In dieser Region hatte die Verwendung der Dialektsprache auch besondere historische Gründe: Seit Jahrhunderten war das Elsaß Streitobjekt zwischen Frankreich und Deutschland. Der Dauerkonflikt, dessen letzter Höhepunkt durch den nationalsozialistischen Terror ausgelöst wurde, äußerte sich u.a. darin, daß das ‚Elsässerdeutsch‘ oft unterdrückt und aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde. Durch die geschichtlich bedingte Ächtung konnte die Dialektsprache hier als Gegensprache fungieren: Durch sie ließ sich regionale Zusammengehörigkeit gegenüber trennenden Staatsgrenzen demonstrieren. Vielen Protestierenden ging es nicht nur um die Bewahrung der eigenen Tradition, sondern allgemeiner um den ‚Kampf gegen eine Gesellschaft, die alles zermalmt und verflacht, was nicht in ihren oft unmenschlichen Rationalisierungsdrang paßt‘. Walter Mossmann, der an vielen Protestaktionen beteiligt war, schreibt: ‚In den Amtsstuben, Schulen, Unis, Büros wird kein Dialekt geduldet, er paßt sich also auch nicht den dort herrschenden Denkgewohnheiten an. Er hält und entwickelt sich in den Dörfern und Fabriken und drückt deshalb auch drastisch die Realität dort aus‘.“
Das hat sein Gutes, behauptet auch der Whyler Naturschutzwart M. Schwörer – auf Alemannisch (hier übersetzt ins Hochdeutsche): „Ich mein‘ grad, etwas profitieren wir doch bei dem ganzen Krieg, der über uns geht. Wir sehen wieder einmal, dass wir zusammengehören…mit unserer eigenen Sprache…, die sie in Paris nicht verstehen, die sie in Bonn nicht verstehen und die sie in München nicht verstehen.“
Auch um eine gemeinsame „Handlungs-Sprache“ mußte in den BIs dort gerungen werden – bei Fragen „des zivilen Ungehorsams, des gewaltfreien Widerstands und der Platzbesetzungen“. Die sich zusammenfindenden 50 BIs lassen sich als „ländliche“ (aus der Umgebung von Whyl und dem Schwarzwaldrand), „elsässische“ (14 örtliche und regionale Organisationen) und „städtische“ (bürgerliche und studentische Initiativen aus Freiburg) charakterisieren. „Wir haben kein Recht, unseren Widerstand aufzugeben,“ so bekundeten sie schließlich gemeinsam ihre Entschlossenheit – auch zur Eskalation des Konflikts gegenüber Politik, Behörden, Investoren, Polizei und Justiz. Denn immer wieder wurden sie von diesen auf den staatsbürgerlich vorgegebenen Klageweg verwiesen und weg von den Großbaustellen. Sie traten denn auch als Kläger auf, aber das war – wie fast überall – die teuerste und unsinnigste Form des Widerstands: Die juristische Spiegelfechterei endete 1981 im Hauptsacheverfahren beim Verwaltungsgerichtshof in Mannheim – mit einer Niederlage. Immerhin hatten die BIs damit Zeit gewonnen. Und die Bauern hatten unterdes auf den besetzten Bauplätzen Weizen eingesät. Zwischen ihnen und den von weither angereisten „Chaoten“ bzw. gewaltbereiten „Bürgerschrecks“ scheint es vordergründig die größten Verständigungsschwierigkeiten gegeben zu haben. Rückblickend meint jedoch z.B. Hans Schuierer, der ehemalige SPD-Landrat des bayrischen Kreises Schwandorf, zu dem der Ort Wackersdorf gehört, wo 1985 der Widerstand gegen den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage (WAA) begann: „Für unsere Region war das eine furchtbare Zeit. Wenn man sich vorstellt, wie viele Strafverfahren gegen friedliche Demonstranten liefen. Doch der fünfzehnjährige Kampf hat sich gelohnt…Und dann muß ich ganz ehrlich sagen: Wir haben diese Autonomen gebraucht. Denn die Regierung hätte uns noch zehn Jahre um den Zaun tanzen lassen“.
1977 erschien das Kursbuch 50 „Bürgerinitiativen/Bürgerprotest – eine neue vierte Gewalt“, gleich im ersten Beitrag berichtete Walter Mossmann darin über die Geschichte des BI-Widerstands. Zuvor, 1975, hatte er bereits im Kursbuch „Provinz“ einen Text veröffentlicht über „Erfahrungen aus dem Kampf der badisch-elsässischen Bevölkerung gegen ein Atomkraftwerk in Wyhl und ein Bleichemiewerk in Marckolsheim“: „Die Bevölkerung ist hellwach“ betitelt.
Die Whyler BI war nicht nur der Anfang der Anti-AKW-Bewegung, sondern auch einer allgemeineren Umwelt- und Naturschutz-Bewegung. Um sich zu „effektivieren“ wurden in der BRD zunächst die verschiedenen Stränge des bürgerlichen Naturschutzes und des administrativ-technischen Umweltschutzes mit den Bürgerinitiativen, also der Ökologiebewegung als „neuer sozialer Bewegung“, koordiniert. Mit der Gründung des „Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschlands“ (BUND) 1975 gelang auf Initiative von Horst Stern, Hubert Weinzierl, Konrad Lorenz, Robert Jungk und Bernhard Grzimek die Zusammenführung von Natur- und Umweltschutz. Die Bürgerinitiativen hatten sich zuvor bereits zum „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz“ (BBU) zusammengeschlossen. Walter Mossmann schreibt: „Den Startschuß für die Platzbesetzung in Wyhl gaben die Motorsägen, die im Rheinauewald im Höchsttempo Baum um Baum umlegten. Das war ein sehr sinnfälliges Beispiel für den zerstörerischen Charakter der Atomindustrie. In Gorleben brannten (vielleicht zufällig) riesige Flächen Wald nieder, bevor die Atomindustrie bekannt gab, daß sie der Region mit einer Atom-Müll-Deponie aufhelfen will.“
Noch zu Beginn der achtziger Jahre sollte sich dieses Muster hinsichtlich des Widerstandes gegen den Bau der ‚Startbahn West‘ am Frankfurter Rhein-Main-Flughafen wiederholen, als die Bürgerinitiativen zur Waldbesetzung aufriefen und der „Kahlschlag vom 28. Oktober“ 1980 zur „Geburtsstunde des Dorfes im Flörsheimer Wald“ wurde. Die Rettung der Bäume bzw. Wälder vor Großbauprojekten, die zudem noch als schändlich begriffen wurden, nahmen in Verbindung mit dem Alarmismus „Waldsterben“ bisweilen hysterische Züge an. Eine 1984 (!) von einem Autorenkollektiv veröffentlichte Kampfschrift zum Thema hieß „Baumlos in die Zukunft“ (ohne Fragezeichen), eine eher mystisch-kontemplative Studie aus Amerika trug den artenübergreifenden Titel „Was die Bäume sagen“.
Die gegen ein Atomendlager sich wehrende BI in Lüchow-Dannenberg ist noch heute aktiv, in ihrer „Gorleben Rundschau“ berichtete sie unlängst über ihre andauernde Aneignung der dazu notwendigen Sprachen: „So lauschten die ‚Dorfbewohner/innen‘ einem Vortrag von Udo Jentzsch über die biologische Wirksamkeit von Neutronenstrahlung. Er ist ein pensionierter Strahlenphysiker und hat jahrelang im Kernforschungszentrum Geesthacht gearbeitet. Inzwischen engagiert er sich in der ‚Fachgruppe Radioaktivität‘ der Bürgerinitiative im Wendland. Am Tag zuvor in der Dorfkneipe nebenan hatte Geologie-Professor Dr. Klaus Duphorn über das Quartär als geologisches Leichentuch des Endlagerbergwerks Gorleben vorgetragen. Orte jener Verquickung von wissen Wollen und Kunst Können sind die Freundschaftshäuser mit ihrem Mix aus Vortrag, Palaver und Kulturprogramm. Das hat Tradition. Das erste Freundschaftshaus wurde bei der Platzbesetzung im Wyhler Wald errichtet.“
An anderer Stelle heißt es – rückblickend: „Die Freie Republik Wendland, das Hüttendorf auf der Tiefbohrstelle 1004 über dem Salzstock Gorleben, war das herausragendste Beispiel einer Symbiose von Kunst und Wissenschaft. Jo Leinen hielt einen Vortrag über Friede und Ökologie. Das Puppenspiel „Die Bundschuhbauern“ wurde aufgeführt. Walter Mossmann kam und blieb auf 1004 und kreierte das Gorlebenlied. Es gab ein eigenes Radio, es wurde gefilmt und es gab und gibt Filme über die Platzbesetzung, jene sechs Wochen „anarchistischen Frühlings“ im Mai und Juni 1980. Es gab Dichterlesungen mit Klaus Schlesinger, Wolf Biermann war da und der Juso Gerhard Schröder. Es gab Rock, Folk und Blues, Schweine, Hühner, eine Solaranlage, ein Frauenhaus und wo man hinhörte: Diskussionen. Beim Zähneputzen, Abwaschen und auf dem Donnerbalken. Über Demokratie und Polizeigewalt, über Halbwertzeiten und Bohrergebnisse.“
So oder so ähnlich begann die Entwicklung einer eigenen BI-Sprache – im Zusammenkommen als einer solchen. Schon bald paßten sich ihr selbst sprachgefestigtere Gruppen bzw. Organisationen an: z.B. der Kommunistische Bund Nord (Hamburg), der sich im Zuge seiner Beteiligung an den Kämpfen in Gorleben erst zu einer „Basisgruppe“ und dann zu einer „BI“ umformte. Die „ganze Schicht der politischen Sprache“ ging dabei jedoch verloren, Nicht nur heißt ihre Zeitschrift „AK“ statt „Arbeiterkampf“ jetzt „Analyse & Kritik“, selbst über das Wort „Proletariat“ muß heute – zuletzt auf dem Rosa-Luxemburg-Kongreß der Linken in Berlin – schon gerungen werden. Einige SPD-Spitzenpolitiker meinten neulich sogar, es gäbe nicht einmal mehr eine „Unterschicht“, das sei eine reine Erfindung ewig-gestriger Soziologen. Diese konterten jetzt mit einem ganzen Aufsatzband zur „Unterschicht“ (herausgegeben von dem Professor für Europäische Ethnologie an der Humbodt-Universität Rolf Lindner), in dem sie erneut den „Klassenbegriff“ zur Sprache brachten, obwohl die einst „gefährliche Klasse“ mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft noch immer in zunehmender Dekomposition begriffen ist – d.h. atomisiert wird. Die marxistische Arbeiterbewegung hatte im übrigen nie ein Problem damit, den individuellen Konflikt vor Ort (der immer mit dem Arbeiter als Anhängsel der großen Maschinerie im Zusammenhang stand) überzeugend und nahezu bruchlos mit dem Rest der Welt (der allgemeinen Misere) zu verknüpfen: in Theorie und Praxis, wie man so schön sagte (auch noch in den Whyler BIs). Weswegen man den Marxismus auch als eine (eigene) Wissenschaft bezeichnet. Fraglich ist jedoch, ob es eine „BI-Wissenschaft“ geben kann. Diese Frage hat auch das inzwischen legalisierte „Radio Dreyeckland“ – als Medium aus dem „geistigen Kraftwerk“ wandernde „Volkshochschule Whyler Wald“ einst hervorgegangen – nicht beantwortet. Dabei füllen die Analysen dieser „Kulturbewegung“ inzwischen Bände („Whyl 1“, „2“ usw.). Zwar wurde hier die lokale Bornierung, das „Sankt Florians-Denken“ überwunden – mit der Parole „Kein AKW in Whyl und anderswo“, aber selbst wenn ihr Horizont die BIsierung der ganzen Welt wäre, also die Bewegung hin zu einer (vielleicht „samtenen“) Revolution, dann ist immer noch zu fragen, ob diese als Lokomotive oder als Bremse verstanden wird. Wie der Schriftsteller John Berger in seinem Buch über die Bauern – „SauErde“ – herausarbeitete, wird sie auf dem Land eher als Bremse gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen begriffen, in der Stadt dagegen als ein Motor von zum Besseren führende Veränderungen. In der durchgehend urbanisierten Gesellschaft gibt es nun sone BIs, die etwas fordern, einklagen und solche, die etwas abwehren, weghaben wollen.
Die neueste Blüte sind – in Stadt und Land – BIs, die das Rauchverbot in Versammlungsräumen wieder aufheben wollen. In der 1948er-Revolution hatten dies die Berliner Bürger für ihre öffentlichen Plätze schon einmal erreicht gehabt. Während der russischen Revolution und noch lange danach wurde auf den fast ununterbrochen stattfindenden „Meetings“ stets als erstes ein Rauchverbot für die Dauer der Veranstaltung gefordert und dann darüber abgestimmt. Obwohl jedesmal eine Mehrheit dafür war, rauchten alle danach ungeniert weiter. Die Abstimmung und das Rauchverbot war städtisch-aufklärerisch, das Mehrheitsergebnis und das gleichzeitige Weiterrauchen dagegen dörflich-bäuerlich – und zwar aus Dörfern mit Allmende und Kollektivbesteuerung. Eine ähnlich zwielichtige Ausgangsposition (entre chien et loup) haben wir wieder in der durchurbanisierten Gesellschaft. Und nicht selten sind dabei die wenigen wirklichen Bauern oder die noch ähnlich wie sie Wirtschaftenden die ruhigen Pole, um die herum die BI-Debatten laut werden.
Solch eingefleischte Bukolik, die es auch in der Stadt gibt: im „Kiez“ – womit einmal ein ärmliches Fischerdorf bezeichnet wurde, bildet den romantischen Horizont vieler BI-Aktivitäten. Alles wird gut! Zwar besteht der Zweck der BI bereits in ihr selbst. Dennoch ist das Suchen einer gemeinsamen Sprache auf Andere – nach Außen – gerichtet: als Beschwerde, Forderung, Kritik, Abwehr. Sich heute dem Landrat und morgen der ganzen Welt verständlich machen. Dies gilt scheinbar auch für all jene BIs, die sich einem Konzern, einer Partei oder sonstigen Interessensorganisationen verpflichtet fühlen, bzw. von diesen gekauft wenn nicht sogar gegründet wurden. Aber darin liegt bereits ihre Schwäche. Indem ihr Zweck rein äußerlich ist, tun sie nur so, als wären sie eine Initiative von Bürgern, man müßte hierbei eher von einer AI (Angestellten-Ini) sprechen. Es sind auf alle Fälle „BI-Fakes“. Als Beispiel sei eine Berliner BI erwähnt, die gegen die Schließung des riesigen innerstädtischen Flughafens Tempelhof kämpft – aus niederen Motiven: für reiche Privatflieger. Eher von einer „Pseudo-BI“ könnte man hingegen im Falle einer Kreuzberger BI sprechen, die die Neugestaltung einer Grünanlage zu beiden Seiten des sogenannten „Engelbeckens“ planerisch von unten begleitet – und dabei eine derart gestalterische Strenge („preußische Rabatten“) an den Tag legt, dass man eher von einer Bürger-Verschwörung als von einer offenen BI sprechen kann. Nach einem gefakten Baum-Gutachten und dem Fällen der ersten Pappeln trat dann auch prompt eine Baumschützer-BI auf den Plan, die zuvor mit allen Schikanen das Fällen von Linden am Landwehrkanal verhindert hatte. Auch zu der Tempelhof-Flughafen-BI gibt es eine Gegen-BI in Neukölln.
Den „BI-Fakes“ und den „Pseudo-BIs“ gemeinsam ist, dass sie oft nur allzu effektiv vorgehen. Sie müssen nicht zu einer gemeinsamen Sprache finden, diese wird ihnen gewissermaßen frei Haus geliefert. Im Falle der Pseudo-BI vom Engelbecken waren es die (Master-)Pläne für die Gestaltung der beiden Grünzüge aus den Zwanzigerjahren, die nun erneut 1:1 verwirklicht werden sollen. Diese BIs haben bloß die Aufgabe, Öffentlichkeit zu simulieren. Es sind Handlanger, wenn es hoch kommt noch ein bißchen Mitdenker. (1)
Dies gilt allerdings teilweise auch für jede andere BI, insofern sie sich sachkundig machen und dabei auf schon bestehende Sprachen zurückgreifen muß. So wurden z.B. aus vielen Anti-Atom-Aktivisten wahre Atomtechnik-Experten, indem sie sich bald besser als die Kraftwerksingenieure z.B. mit den Einlaß- und Auslaßventilen und der Wahrscheinlichkeit ihrer maximalen Belastbarkeit auskannten. Wieder war es hier ein Atomphysiker, der Maoist und Bremer Professor Jens Scheer, der am bruchlosesten den hysterischen und den wissenschaftlichen Diskurs, wenn man so sagen darf, zusammenbringen (verkörpern) konnte. Das beinhaltet eine tendenzielle Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit: Vom Flugblatt Entwerfen, Drucken und Verteilen bis zum Vorbereiten und Durchführen von Aktionen – Blockaden, Sabotageakte usw.. Diese Beispiele deuten bereits begrifflich auf ihren Charakter als Bremse einer bestimmten Entwicklung hin. In bezug auf die Einheit von Hand- und Kopfarbeit verfügt der Bauer noch über eine Primärerfahrung. Sie ist ebenso ursprünglich wie notwendig. Das macht die Mitwirkung von bestimmten Experten in den BIs so problematisch – nicht jedoch die Expertensprachen selbst: wie das Ingenieur-, Planer-, Juristen-, Soziologen- und Politiker-Denken. Wobei das letztere nicht mit der „Schicht ‚politische Sprache'“ verwechselt werden darf. Diese besteht auch nicht darin, dass man sich unter Umständen an Politiker wendet bzw. mit ihnen verhandelt, sondern eher darin, dass eigenmächtig eine Sprache gefunden wird, die das Besondere (das BI-Anliegen) mit dem Allgemeinen (der globalen Gesellschaft) verbindet. So wurde z.B. in den BIs der Lausitz, die sich gegen die Wegbaggerung der Region durch den Vattenfalls-Konzern wehrten, der Erhalt ihrer Dörfer verbunden mit einer generellen Kritik an der Verstromung von Braunkohle, die von allen Energieträgern die Umwelt, das Klima, am meisten belastet. Ähnlich gradlinig argumentiert eine BI im Kreuzberger „Wrangelkiez“, die sich erst gegen den Bau eines riesigen Einkaufscenters an der Spree wehrte, dann gegen ein dort geplantes Marriot-Hotel und nun dagegen, dass der Bezirk das Spekulationsgelände regelmäßig von aller immer wieder dort ansässig werdenden Flora und Fauna säubert: Ihre Argumentation spannt den Boden von der Gefährdung des dortigen Einzelhandels bis zu den internationalen Immobilienfonds, die aus allzu großer Entfernung hier vor Ort Entscheidungen treffen – aus verwerflich-spekulativen Motiven.
Ganz so einfach ist es für die BIs im Gastrassen-Dorf nicht. Zumal die Pipeline-Rohre nach ihrem Zusammenschweißen in die Erde versenkt werden. Sie sind nur im Winter bei Schnee zu ahnen, weil das Gas sich unter dem Druck der Verdichterstationen erhitzt und den Schnee auf der Trasse wegschmilzt. Immerhin ist auch hier die Rede von CO2-Emissionen, die sich angeblich mit jeweils zwei kleineren – statt einer großen – Verdichterstation – verringern ließen. Aber all das ist noch nicht wirklich „politisch“ gesprochen, bedauern einige Aktivisten. Und das gelte auch für eine mögliche „Vernetzung“ der BIs mit den gegen die Ostsee-Pipeline inzwischen protestierenden skandinavischen Umweltschützern und den postkommunistischen Staaten zwischen Russland und Deutschland, die gegen den Unterwasser-Verlauf der Rohre außerhalb ihrer 5-Meilenzone sind, weil ihnen dadurch Transitgebühren entgehen. Obwohl das märkische Gastrassen-Dorf natürlich von deren erfolgreichen Protesten profitieren würde. Dennoch oder desungeachtet sucht man hier weiter nach Bündnispartnern, die ähnlich wie sie konkret von der „North-Stream“-Pipeline betroffen sind – an Land, d.h. im Inland. Eine BI hat sich bereits bei ihnen gemeldet – eine griechische: Sie wehrt sich jedoch gegen den Verlauf der „South-Stream“-Pipeline, die derzeit ebenfalls von Gasprom in Angriff genommen wird und nicht nur durch Griechenland geführt werden soll. Auch die einst von den Nationalsozialisten erfundene, mindestens systematisierte Planersprache der „Raumordnung“ kennt den Begriff des „Widerstands“: So sind Biotope, aber auch Siedlungen ein „hoher Raumwiderstand“, Windkraftanlagen dagegen bloß ein „mittlerer“.
Auch wenn sich die drei hiesigen BIs über zwei Gemeinden und einige abseits gelegene Häuser erstrecken, sind sie doch nur ein Ort im Widerstand gegen den Gastrassenverlauf, wie ihn der Gasprom-Konzern geplant – aber immerhin noch nicht genehmigt bekommen hat. Sie wissen jedoch, dass die Landesregierung schon einmal den Bewohnern eines märkischen Dorfs – Horno – versprach, es werde nicht abgebaggert, wenn sie dies nicht wollen, dann aber doch ein Gesetz verabschiedete, das dem Braunkohlekonzern ihre Zwangsenteignung ermöglichte. Seit 2007 ist das Dorf und auch der Berg, auf dem es stand, verschwunden. Der Vattenfall-Konzern ließ abschließend nur noch ein archäologisches Gutachten über die 1000jährige Siedlungsgeschichte Hornos erstellen. Post festum wurde damit noch eine weitere Sprache in die schon unterlegene, aufgelöste BI eingebracht – und zwar im Dorfgemeinschaftshaus von Neu- Horno, das nun ein Ortsteil von Forst ist.
Die Sprache der Archäologie und Kulturgeschichte entwickelt sich in dieser Restaurationszeit neben der Sprache der Ökologie, die manchmal auch auf eine Zustandskonservierung hinausläuft, immer rasanter. In der Stadt sowohl als auf dem Land. Hier wie dort geht es dabei um eine Musealisierung des Noch-Bestehenden (so sind z.B. die ehemaligen Großbaustellen bei Whyl heute „Naturparks“): indem nun um der Standortentwicklung und des Tourismus willen immer mehr Regionen zu Biosphärenreservaten, Nationalparks, Naturschutzgebieten und Weltkulturerbe erklärt werden. Selbst auf der Jahreskonferenz des Weltverbandes der Initiativen kleiner nomadisch lebender Völker (WAMIP) wurde 2006 darüber gestritten, ob sie „Nationalparks“ als „Reservate“ für sich fordern oder für den Erhalt ihrer Wanderrouten kämpfen sollen. In Deutschland hat die Bereitschaft zur Landschaftsmusealisierung dazu geführt, dass bereits der Nachweis einer einzigen brütenden Trappe oder einer überwinternden Fledermaus den geplanten Verlauf einer Trasse veränderte, mindestens eine Bauverzögerung bewirkte. Und die Suche nach solchen Nachweisen hat wiederum die Sprache der Ökologie und Biologie für viele BIs notwendig gemacht – oder umgekehrt: Wenn schon immer mehr Großkonzerne, u.a. aus der Lebensmittelbranche, sich dieser Sprache – oft genug als Fake – bedienen, dann wollen auch und erst recht die kleinen BIs damit ernst machen. Ähnliches gilt in bezug auf Gebäude und ganze Siedlungen für die Sprache der Kulturgeschichte. Jedes fünfte Dorf hat inzwischen ein Heimatmuseum, mindestens eine Chronik, die bis auf die erste urkundliche Erwähnung des Ortes zurückreicht. Auch in Groß Köris wird gerade an einer Ortschronik gearbeitet – bewußt im Hinblick darauf, damit dann „schützens-“ bzw. „erhaltenswerter“ zu sein. In bezug auf die großenteils nicht mehr sinnvolle landwirtschaftliche Nutzung der Flächen in der Umgebung machte jemand den Vorschlag, die ganze Landschaft kaluliert verwildern zu lassen – und zwar nach historischen Gesichtspunkten: einen Teil so wie im Mittelalter, einen so wie ihn sich die Romantiker des 19. Jh ausmalten usw..
Im Falle der alten erst keltischen dann sorbischen Siedlung Horno war das Arbeitsplatz-Argument des Braunkohle-Konzerns und der Gewerkschaften schließlich ähnlich ausschlaggebend wie bei der Airbus-Landebahnerweiterung des EADS-Konzerns im Alten Land bei Hamburg. Wobei in der Lausitz die Arbeitsplatzbesitzer oft direkte Nachbarn der Hornoer waren. Sie waren dann auch besonders unsolidarisch und meinten: die Hornobewohner würden nur so tun – mit ihren Trachten z.B., als gehörten sie zur besonders schützenswerten sorbischen Minderheit, wie sie ebenso listig auch ihren Widerstand nur dazu einsetzen würden, die Entschädigungssummen in die Höhe zu treiben. Und so wie die (industriellen und städtischen) Gegner der BI im Alten Land die Trennung der BI-Sprecherin, einer Bio-Obstbäuerin, von ihrem Mann und ihren anschließenden Wegzug aus dem Dorf zum Thema machten, wurde auch der lange zurückliegende etwas unsaubere Konkurs des Horno-Aktivisten Michael Gromm öffentlich gemacht. Dieser konterte damit, dass er als ein aus Süddeutschland zugezogener Engländer sich vom Verwaltungsgericht in Cottbus seine saubere sorbische Abstammung bescheinigen ließ – nachdem die Lokalpresse ihn auch noch als „verhasstesten Ausländer Brandenburgs“ tituliert hatte. Hier stießen gleich mehrere Sprachen der (moralischen) Legitimität bzw. Delegitimierung und der Abstammung aufeinander. Gemeinsam ist ihnen, dass sie kulturgeschichtlich argumentieren, bzw. das geltend machten, was man früher „Sitten und Gebräuche“ nannte.
In Lateinamerika wird mit den „Usos y Costumbres“ noch heute von vielen BIs – insbesondere den indigen-bäuerlichen – gestritten: Während die einen damit auf die Wahrung ihrer uralten, aber nun gefährdeten Arbeits- und Lebensweise pochen und sie damit quasi kulturgeschichtlich legitimieren, wollen die anderen sie neu definieren und haben nichts dagegen, wenn in den Dörfern z.B. Punkkonzerte stattfinden. Die „Sitten und Gebräuche“ standen in gewisser Weise auch in der Lausitz zur Debatte – im Konflikt zwischen dem verfassungsmäßig garantierten „Siedlungsgebietsschutz“ der Sorben und dem Arbeitsplatzerhaltungs-Argument der Braunkohle-Befürworter. Ähnliches gilt auch für das Alte Land und seine ursprünglich friesischen Obstbauern. Der kroatische Philosoph Boris Buden meint, dass derzeit schier alles in die Sprache der „Kultur“ übersetzt wird, nur leider lasse diese sich nicht mehr weiter – in eine andere Sprache – übersetzen. Sie erweist sich somit vielleicht als eine Sackgasse.
Kann es sein, dass die Sprache der BIs globalen Konjunkturen und Moden folgt? Dafür spricht z.B. der bisherige Erfolg der Zapatistas (der EZLN) im lakandonischen Urwald, der im Ausland fast größer ist als in Mexiko selbst. Aber auch, dass im Postkommunismus, da aus Gegnern plötzlich Partner geworden sind, immer mehr Anwalts- und ähnlich -Büros sich „bürgernah“ als Moderatoren und Mediatoren den BIs andienen, ja ganze „BI-Akademien“ gründen, mindestens Kurse anbieten zum Thema „Wie gründe ich eine BI?“, oder sich als „Evaluierer“ von NGOs und „Controller“ von oft aus BIs hervorgegangenen Vereinen bzw. Genossenschaften einen Namen machen. Manchmal scheint es fast schon so, dass die BIs sich von vorneherein die Sprache erfolgreicher BIs aneignen (wollen). Eine seltsame Geschäftigkeit macht sich dabei breit: Als erstes wird ein Pressesprecher gewählt, alles muß immer protokolliert und archiviert werden, Beschlüsse penibelst eingehalten und Sitzungen ordentlich abgehalten werden. Die Presseberichte werden abgeheftet und wie Briefmarkensammlungen, Urlaubsalben oder Brigadetagebücher behandelt. Mit den Photo- und Video-Dokumentationen von Aktionen kommen sie bei diversen Power-Point-Präsentationen zum Einsatz. Auf DVDs gebrannt lassen sie sich daneben auch noch vermerchandisen, wobei die schlagkräftigsten Titel („Der Bauer ist witzig geworden,“ merkte bereits Martin Luther an) sich gut und gerne auch als Kampflosungen auf T-Shirts drucken lassen. So verkaufte die BI der Bergarbeiter im thüringischen Eichsfeld, als sie gegen die Schließung ihrer Kaligrube „Thomas Müntzer“ kämpften, allein für über eine Million DM T-Shirts mit der Aufschrift „Bischofferode ist überall“. Sie erwarb damit nach der Niederlage die ehemalige Poliklinik des Werkes, die nun als ihr Bergwerks-Museum und Vereinsheim dient. Ein Schicksal, das vielen Arbeits- und Lebensplätzen droht – bis hin zu den Eckkneipen.
In Kreuzberg gründete sich dazu bereits eine BI, die 2006 bei der UNESCO die Aufnahme der Tagesbar „Goldener Hahn“ in die Liste der „Weltkulturerbe“ beantragte – und dazu einen ganzen Text-Bildband veröffentlichte (er erschien im Karin-Kramer-Verlag Berlin und kostet 12 Euro 80). Gleich hinter der Kneipe, am Mariannenplatz, bekämpfen sich gerade zwei BIs in einem riesigen Gebäudekomplex voller Kultureinrichtungen, den man 1970 mit dem „Denkmalschutz“ vor dem Abriß zugunsten eines Einkaufscenters gerettet hatte. Während die eine im Südflügel für mehr „Soziokultur“ plädiert, möchte die andere im Nordflügel ihr Angebot an reiner Kunst ausdehnen. Ihr Sprecher. Christoph Tannert, meinte: „Wir haben eine vollkommen andere Sicht auf dieses Haus“, das geht einfach nicht zusammen.“
Am Runden Tisch des Bezirks versucht inzwischen der Bürgermeister als Moderator zu einer eigenen Meinung über den richtigen Mix im „Künstlerhaus“ zu gelangen. Dabei fallen ihm Worte wie „Belegungskompromiß“ ein: „Das war klar, nachdem ein moderiertes Gespräch zwischen Künstlerhaus und Besetzern im November gescheitert ist.“ Letzteren war zuvor von den ersteren u.a. vorgeworfen worden, dass sie im Grunde nur ein „BI-Fake“ seien, umgekehrt meinten die „Besetzer“, dass das Künstleratelier-Projekt im Nordflügel seit der Kürzung seiner finanziellen Mittel sich nur noch selbst verwalte – mithin also auch bloß ein „Fake-Projekt“ wäre.
Anderswo, im Prenzlauer Berg, mußte sich eine BI von Baumschützern und eine von Baumgegnern – Ostler in den Hinterhäusern der Hufelandstraße die einen, Westler aus den Vorderhäusern die anderen – von den zwischen ihnen moderierenden Bezirksamtsträgern sagen lassen, dass es sich bei den Platanen, die dort gepflanzt werden sollen, um ein „Straßenbegleitgrün“ handelt, das man nun kompromißlerisch mittels häufigerer „Erziehungsschnitte“ und einer „Stammreduzierung“ lichtdurchlässiger als ursprünglich geplant gestalten will. Ein Journalist spöttelte darüber in der „Jungen Welt“: „Die Ostler hätten nach der Wende lieber Sprachkurse besuchen sollen, als nach Gran Canaria zu fahren… “
In den BIs des märkischen Gastrassen-Dorfes stießen sich einige insbesondere an den Mediatoren-Begriffen „gemeinwohloptimierende Lösungen“ und „Vorhabensgestaltung“. Letzteres war an die Adresse ihrer Gegner – Gazprom bzw. Wingas – gerichtet und lautete im ganzen Satz: „…Um der Antragstellerin beschleunigt zu einer Vorhabensgestaltung zu verhelfen, die eine positive landesplanerische Beurteilung ermöglicht.“ Das ließen sie sich erst einmal auf der Zunge zergehen, um dann nachzuhaken: „Also, wir verhelfen der Wingas zu einer Vorhabens… hm. Ist das noch der Wolf im Schafspelz oder schon das Mondschaf? In diesem Sinn, Das Mondschaf sagt sich selbst gut Nacht, /D.h. es wurde überdacht/ von seinem eignen Denker:/ Der übergibt dies alles sich/ Mit einem kurzen Federstrich (sprich click)/ Als seinem eignen Henker.“
In anderen Worten: Sie befürchten, dass sich die Bürger im Gastrassen-Dorf damit selbst zu ihrer eigenen untersten Verwaltungseinheit im Land machen, indem sie über solch ein Kompromißdenken unmerklich von einer gesellschaftlichen zu einer staatlichen Sprache wechseln. Der Philosoph Boris Buden sieht genau in solchem Spracherfindungs-Drang, der von ihm als bürokratisch von oben kommend begriffen wird, die Gefahr für die Entwicklung einer „lebenden Sprache“ von unten, wobei er jedoch nicht an die von BIs denkt, sondern an die von Kroatien, dessen Sprache immer noch mit der von Serbien allzu identisch ist. Ein ähnliches Sprachproblem stellt sich im übrigen auch Katalonien und der selbständig gewordenen Ukraine. Mit BIs haben sie gemeinsam, dass sie sich territorial begreifen und eine Gesellschaft bilden (wollen) – wozu sie eine allen gemeinsame Sprache entwickeln (müssen). Vordergründig geht es dabei stets um einen „guten Endzweck“, wie man das in Ostfriesland nennt. Wobei die „Single Issue“ (bzw. „Point“ oder „Target“) – Initiativen am Erfolgreichsten sind, das behaupten jedenfalls namhafte BI-Experten. Im Gegensatz zu „Kroatien“ etwa ist das bei der BI des sich gegen die Gastrassenplanung wehrenden Dorfes in Brandenburg durchaus der Fall.
Bei einer ganzen Bürger-Nation wie Kroatien kommt die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache dagegen einem „Multitasking“ gleich, das sowohl befreiend als auch einengend sein kann. Die Kärtner Slowenin Katja Gasser hat diesen Prozeß erforscht. Im kroatischen Rijeka sprach sie eine Schuhverkäuferin auf Slowenisch an – und bekam zur Antwort: „I don’t understand this laguage.“ Von einer anderen Schuhverkäuferin wurde sie jedoch sofort verstanden. „Die Sprache war Waffe. Die Sprache verriet, markierte, trennte und verband. Wenn es ums Brot ging, bestanden die Kroaten wie die Slowenen auf ihrem kruh, die Serben auf ihrem hleb, die Bosnier auf ihrem hljeb. Das Wort für Tod war jedoch bei allen gleich: smrt. Die selbstverständliche Bereitschaft, einander über die großen und kleinen sprachlichen Unterschiede hinweg zu verstehen, hat der Krieg wohl für immer zerstört.“ Im dalmatinischen Hinterland lernte die Autorin: „Wenn man auf dem Land die Menschen mit dober dan – Guten Tag auf slowenisch – begrüßt, wird man für eine Anhängerin der abgelaufenen jugoslawischen Idee gehalten. Bog – Gott – ist jetzt der geläufigere Gruß. Der Krieg ist noch nicht vorbei. Aus vielen Gesichern spricht bis heute Lähmung, und die Angst, ein Wort zu viel zu sagen oder etwas Falsches. Zugleich sind sichtbar: die Freude und die Lust am Versuch, das Wort Freiheit in erfülltes Leben zu übersetzen.“ In Zabgreb fallen der Autorin die vielen schönen jungen Menschen und ihre Modesprache auf: „Mit ihrem Outfit und der Art ihrer Coolness schließen sie an eine Welt an, die sie gleichzeitig abzulehnen und anzuhimmeln scheinen. Zwischen Offenheit und Verschlossenheit, zwischen Stolz und Scham, Zuversicht und Angst wird hier um ein neues Selbstverständnis gerungen, denke ich…Der Wunsch, schön und groß zu sein, mithalten zu können mit dem Weltenlauf: Er bestimmt die Stimmung im Zentrum der Stadt, während sich an den Rändern die Vergangenheit schutzlos zu erkennen gibt.“ In der slowenischen Hauptstadt Ljubljana fragte Katja Gasser einen jungen Mann auf Slowenisch nach dem Weg. Er antwortete ihr auf Englisch, sprach dann aber durch sein Handy „in schönem Slowenisch“. Sie meint dazu: „Dass ich die Welt nicht verstehe, weiß ich längst. Oder liegt es doch daran, dass mein Slowenisch im Laufe der Jahre so schlecht geworden ist?“ In einem Vortrag bei den Kulturwissenschaftlern an der Humboldt-Universität über „die Artenbildung durch den Gesang“ erklärte dies der Biologe Cord Riechelmann so: Der Gesang – der Stare z.B. – wird innerhalb einer Schar weiterentwickelt, wobei die Vögel Geräusche ihrer Umgebung mit „verarbeiten“. Zieht nun ein Teil des Schwarms sagen wir von Ljubljana nach Klagenfurt, dann entwickeln sich die Gesänge der Dagebliebenen und der Weggeflogenen auseinander – bis sie sich nicht mehr verstehen und dann auch nicht mehr paaren können. Das ist z.B. bei den Nachtigallen auf der Westseite der Oder und den Sprossern auf der Ostseite der Fall, die sich zwar gelegentlich paaren – aber es kommt nichts mehr oder noch nichts dabei raus.
Mindestens Menschen und Singvögeln geht es in der Abtrennung, im Exil, im Ausland also ähnlich: Ihre „Sprache“ beginnt sich zu unterscheiden, sie wird „schlecht“, mit Katja Gasser zu reden. Dabei entwickeln sie durch Zusammenkommen in Freiheit jedoch gleichzeitig eine neue. So hat die Potsdamer Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese gerade nachgewiesen, dass der vermeintlich restringierte Berliner „Kiez-Dialekt“ von „bildungsfernen“ deutschen, arabischen und türkischen Jugendlichen in Kreuzberg und Neukölln sich inzwischen zu einer neuen Sprache entwickelt hat. Der „BI-Sprache“ droht eher das Gegenteil: sich zu schnell mit einer oder mehreren der herrschenden Sprachen zu arrangieren. Dies kommt einer Unterwerfung in der Auflehnung gleich.
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(1) Die Pseudo-BI vom Kreuzberger Engelbecken wurde inzwischen von dort vertrieben. Dieser Vorgang sowie das schändliche Wirken dieser Handlanger sei hier etwas ausführlicher dargestellt, weil eine ihrer Auftraggeber, in diesem Fall eine ehemals linke Kreuzberger Baustadträtin, deren Part dann wieder in ihre eigene (Politplaner-) Sprache zurücknehmen mußte, die sich dann als noch viel gemeiner erwies:
Der ehemalige Luisenstädtische Kanal, der einst die Spree in einem Bogen über das heutige Engelbecken mit dem Kreuzberger Urbanhafen verband, wurde 1840 von Peter Joseph Lenné geplant. Der Bau gilt als erste ABM-Maßnahme der Geschichte: Rund 5.000 Arbeiter waren dort zur Zeit der größten Unruhen 1848 ohne größere technische Hilfsmittel beschäftigt. Später kam es zu blutigen Ausschreitungen der Arbeiter aus Furcht, ihre Arbeitsplätze an Baumaschinen zu verlieren. 1926 wurde der Kanal, da er eine zu geringe Fließgeschwindigkeit aufwies und zu stinken begann, im Rahmen einer weiteren Arbeitsbeschaffungsmaßnahme mit dem Aushub aus dem Bau der U-Bahnlinie 8 zugeschüttet und durch den Stadtgartendirektor Erwin Barth als vertiefte Promenade angelegt. 1927 wurde für die vorgesehene Streckenführung der U8 unter der Dresdener Straße der Bahnhof Oranienplatz errichtet, der zum Teil heute noch existiert. Die Pläne wurden dann jedoch auf Druck des Wertheim-Konzerns, der eine direkte Anbindung seiner Filiale am Moritzplatz wünschte und dafür fünf Millionen Reichsmark zahlte, geändert. Die Familie Wertheim verlor wenig später ihren Besitz im Zuge der „Arisierung“. Die Rechtsnachfolge Wertheims trat nach 1989 Karstadt-Quelle an. In den Neunzigerjahren kam der Konzern in massive finanzielle Schwierigkeiten und verkaufte zahlreiche Grundstücke, wie etwa das ehemalige Wertheim-Gelände am Potsdamer Platz – an den Metro-Konzern Otto Beisheims (er war SS-Offizier der Leibstandarte Adolf Hitler gewesen).
Mit dem Bau der Mauer 1961 war der Ostteil der Promenade Grenz- und damit „Todesstreifen“ geworden. Den Westberliner Abschnitt, der nach dem Krieg ebenfalls mit Trümmerschutt aufgefüllt worden war, hatte 1986 der Künstler Wiegand Witting gestaltet, wobei er zwischen Büschen und Bäumen unregelmäßig behauene Granitblöcke verteilte. Am Oranienplatz stellte er einen „Drachenbrunnen“ auf.
Nachdem dieser Kreuzberger Teil nach Wende und Wiedervereinigung in das Förderprogramm für Städtebaulichen Denkmalschutz einbezogen worden war, entschied man sich für eine Sanierung des ehemaligen Kanals. Der Planungsausschuss der Bezirksverordnetenversammlung stellte dafür 2005 dem „Bürgerverein Luisenstadt e.V.“ finanzielle Mittel zur Organisation einer Bürgerbeteiligung zur Verfügung.
„Der Drachenbrunnen ist ein Kunstwerk von beeindruckender Wirkung“, ist auf der Webseite der Senatsverwaltung noch immer zu lesen. „Der die Phantasie des Bürgers anregende Brunnen leistet in seiner Gesamtheit zweifellos einen entscheidenden Beitrag zur Verschönerung des Oranienplatzes.“ Doch „das waren noch andere Zeiten, und jetzt sind wieder andere Zeiten“, wie die parteilose Baustadträtin des Bezirks Jutta Kalepky einer aufgebrachten Gruppe von Bürgern am 27. März 2008 bei einer Ortsbegehung erklärte, um ihnen u.a. das baldige Verschwinden des Brunnens zu erklären. Kurz zuvor war der ursprünglich in Mitte gegründete „Bürgerverein Luisenstadt e.V.“ aus dem Verfahren ausgestiegen. Anwohner hatten ihnen vorgeworfen, keine ausreichende Öffentlichkeitsarbeit gemacht und eine Anwohnerbeteiligung sogar verhindert zu haben – niemand hatte Einladungen zu Gesprächen erhalten. Vor allem aber warfen sie der Ost-BI „Rassismus“ vor. Auf ihrer Webpage hatte es geheißen: „Die Mehrzahl der bisherigen Nutzer waren trinkfreudige Arbeitslose, schwer geschädigte Alkoholkranke und türkische Rentner. Allzu viele Nutzer betrachteten den Oranienplatz als Verbrauchsgut, d.h. wie viel Müll oder Zerstörung man hinterließ, spielte keine Rolle. Andere Nutzer, wie z.B. Familien mit Kindern, deutsche Rentner, erholungsbedürftige oder ordnungsliebende Einzelpersonen etc. mieden den Ort.“ In der Umgebung des Oranienplatzes und des Luisenstädtischen Kanals wohnen vor allem Türken, von denen viele inzwischen im Rentenalter sind. An der Waldemarbrücke, die über den Grünzug führt, befindet sich das Alevitische Kulturzentrum und die dort lebenden Aleviten sind derzeit besonders stark von „Gentrifizierung“ bedroht. „Indymedia“ schreibt: „Es gibt, so die Sichtweise des ‚Bürgerverein Luisenstadt‘, vor allem zwei Gruppen von Menschen in Kreuzberg. Die einen sind ‚erholungsbedürftig und ordnungsliebend‘, und in aller Regel anscheinend mit einem deutschen Pass ausgestattet. Die anderen sind weder erholungsbedürftig noch ordnungsliebend, sondern hinterlassen vor allem Müll und Zerstörung. Das ist eine Frechheit und eindeutig rassistisch-diskriminierend. Allein aufgrund seiner inhaltlichen Ausrichtung und rassistischer Vorurteile ist der „Bürgerverein Luisenstadt“ nicht in der Lage, eine qualifizierte Bürgerbeteiligung durchzuführen.“
Ein Planungsbüro hatte für den einstigen Kanal in mehreren Teilabschnitten „Bestandsanalysen“ auf Basis alter Planstände erstellt, die als Grundlage für eine bürgerbeteiligte Maßnahme dienen sollten. Archäologische Grabungen hatten dann alte Treppenanlagen und Aufmauerungen zutage gefördert, die „zur Rekonstruktion verpflichten“. „So ein Fund ist natürlich eine Verlockung für die Denkmalschützer“, wie Baustadträtin Frau Kalepky weiß, „eine richtige Schatzkiste.“
Man buddelte, um was zu finden: Schon in der ersten Verfahrensphase war man von einer Wiederherstellung einer abgesenkten Gartenanlage, die dem „Grundgedanken der Barthschen Planung folgen sollte“ ausgegangen. 2006 kam dann sogar Georg Friedrich Prinz von Preussen, um sich einen „Eindruck über die Probleme bei der Sanierung des Kanals und seines Umfeldes zu verschaffen“, wie es dazu im Hause Hohenzollern auf Ihro Webpage heißt. Unter einem von der Bürgerininitiative „Bäume für Kreuzberg“ angebrachten Transparent mit der Aufschrift „Umweltzone ohne Bäume? Wehrt euch!“ spricht die Stadträtin nun über „Sichtachsen“, „Symmetrie“ und „Leitbilder“- wobei letzteres eine „höchst akademische Diskussion“ berühre.
„Uns gefällt die Anlage aber wie sie ist!“, wenden dagegen die Anwohner ein, die sich mit höchst unterschiedlichen Motiven aber einem Ziel zusammengefunden hatten: Die historisierende und sauteure Sanierung des Grünzugs zu verhindern, der bereits auf Grundlage eines höchst fragwürdigen Baumgutachtens mehrere Pappeln zum Opfer fielen.. „Sollen wir hier preußisch diszipliniert werden?“ fragen sie und reden von einer „Diktatur der freien Sichtachsen!“ „Wollen Sie hier etwa den ,Organolook‘?“ höhnt Frau Kalepky, die sich kurz zuvor noch jede Polemik verbeten hatte. „Was spricht denn gegen naturnahe Gestaltung?“ kommt es zurück, und „warum wird hier nicht der Bürgerwille akzeptiert?“
Das findet Frau Kalepky „sehr anarchisch“ und erinnert an die militante „Kiez-Miliz“, die hier 1988 den Bürgerwillen nachträglich einführte, und die Böschungsmauern der letzten Gestaltung einfach mit einem entwendeten Baufahrzeug umriss. „Das ist eine Frage der Haltung zu Architektur.“, reißt sie dann noch ein anderes akademisches Thema an – mit dem Hinweis auf das wildwüchsige Strauchwerk, und dass „die Welt sich eben verändert“ hätte. „Wir wollen, dass hier Klartext geredet wird.“, wird ihr entgegnet – und die Frage nach dem tatsächlichen Stand der Planung gestellt: „Wurde überhaupt eine Ausschreibung dafür gemacht? Wie wurden die Diskussionsstände öffentlich gemacht?“
„Aber wir sind doch hier zusammengekommen, damit sie das Gefühl haben, einbezogen zu werden“, erwidert Frau Kalepky, „wir stimmen doch gerade diesen Teil mit Ihnen ab.“ Der winzige Plan, den sie dabei hat, ist dann aber wieder nicht mehr aktuell. Er zeigt jedoch immerhin, dass eine Rampe zur Erschließung der knapp 1,90 abgesenkten Grünanlage vorgesehen ist. Für Behinderte, „oder Mütter mit Kinderwagen!“ ergänzt eine Mutter mit Kinderwagen. „Als Frau trau ich mich nachts aber nicht durch eine abgesenkte Anlage!“, sagt eine Dame. „Naja“, entgegnet ihr die Baustadträtin, „unter dem Aspekt ,Gender‘ könnte man das vielleicht auch noch mal diskutieren.“ Mit diesen Worten verläßt sie die Versammlung am Drachenbrunnen – und eilt zum nächsten Termin.
Antonia Herrscher hatte in der taz einige Wochen zuvor in einem Artikel, der den Rückzug des „Bürgervereins Luisenstadt e.V.“ bewirkt und die Baumschützer-BI vom Landwehrkanal auf den Plan gerufen hatte, daran erinnert, um was es bei den mehr als überflüssigen „Verschönerungsmaßnahmen“ am zugeschütteten Luisenstädtischen Kanal geht und woher das ganze Geld dafür kommt: „Der jetzige Entwurf des Engelbeckens und der Promenade von dort bis zum Urbanhafen scheint vor allem dazu zu dienen, viel Geld zu verballern. Einer der edlen Spender für diese Maßnahmen – eigentlich war es eine ‚Grünflächenausgleichszahlung‘ für die Bebauung am Potsdamer Platz – war ausgerechnet Otto Beisheim. Eigentum verpflichtet! Wohl vor allem dazu, Ansprüche des Eigentums oder der Einflussnahme an den Stadtraum zu stellen. Die Arbeiten am ersten Abschnitt sind nun fast abgeschlossen. Nach dem Motto ‚Viel hilft viel‘ und ‚in Anlehnung an die Pläne von 1928‘ entworfen: das Becken begrenzt eine Betonkante, an der im vergangenen Frühjahr noch gerne ein Graureiher saß, dahinter ein Grünstreifen (englisch), danach ein Geländer vor einer Reihe kniehoher Büsche sowie eine umlaufende Pergola, im Engelbecken 16 Fontänen – da wurde es wohl selbst dem Reiher zu bunt, der ja im Stadtraum eher sachliche Architektur bevorzugt. Bis Anfang des Jahres lebten hier außerdem Schwäne, Enten, Blesshühner, Frösche und sogar eine brütende Rohrdommel im Schilf, das dann der Verschönerung ebenso zum Opfer fiel wie die Wasservögelnester. In den 20er-Jahren schwammen im Becken zwei zahme Karpfen, die die Berliner ‚Max und Moritz‘ tauften, nach denen sich später das Wirtshaus nahe des Oranienplatzes benannte. Im übrigen wurden die bisherigen Arbeitsaufträge zur ‚Rekonstruktion‘ der gesamten Anlage derart kleinteilig gestückelt, dass man sie nicht ausschreiben mußte.“
In Summa: Am Luisenstädtischen Kanal hat man geradezu exemplarisch alles getan, um seine Neugestaltung, die sich nebenbeibemerkt bis auf das Bethanien- und das Kinderbauernhof-Gelände erstrecken soll, so undemokratisch und neoliberal wie möglich durchzudrücken, wobei man nicht einmal vor der Gründung einer Pseudo-BI zurückschreckte, die von einem elitären Pfarrer, namens Duntze, angeführt wurde. Er hat zum Thema „Leitbilder“ Folgendes zu sagen: Die sozial Benachteiligten in Kreuzberg – „Das sind diejenigen, die keine andere Beziehung zum Quartier haben als die: es bietet billigen Wohnraum. Diese immer stärkere Gruppe ist die der Ausländer – vornehmlich Türken – und der sozial Benachteiligten, die von außen in das Quartier kommen und die nur eins suchen: ein Dach über dem Kopf. Sie kommen denen, die die Häuser des Quartiers als Eigentümer und Verwalter ausbeuten, am stärksten entgegen, weil sie weder rückblickend (wie die Angestammten) noch in Zukunft sich mit dem Quartier identifizieren können. Für sie ist es reine Gegenwart, herkunftslos, zukunftslos. Und sie passen denen am besten ins Konzept, die darauf warten, dass durch Abriss und Neubau eine bessere wirtschaftliche Nutzung neue Rendite bringt. Und doch: bei den Türken entwickelt sich selbst in diesen paar Jahren eine eigenständige und voll funktionierende Subkultur mit eigenen Treffpunkten, Informationssystemen und Hilfsorganisationen. Was die weiland Kreuzberger Einwanderer in den Gründerjahren erlebten und bewältigten – hier wiederholt es sich bei knapp 30% der Blockbewohner. Nur Anatolien statt Schlesien oder Posen. … Von den deutschen Mitbürgern ist diese Entwicklung mit Argwohn, Misstrauen und immer mehr mit aggressiven Ängsten miterlebt worden; sie fühlen sich nicht mehr als die ‚Herren im Hause‘.“ Man kann hinzufügen: Noch mehr gilt dies für die Ostberliner, dort leben jedoch keine Türken.
Gleichzeitig bekommt die South-Stream-Pipeline Konkurrenz von einem anderen Pipeline-Projekt:
Durchbruch in Mittelost
Der Kampf um Ressourcen tobt weltweit, und Konzerneuropa ist dabei. Nun
kann die EU erste bescheidene Erfolge beim zentralasiatischen
Energiepoker vorweisen/ Von Tomasz Konicz (Junge Welt):
Kasachstan steht offenbar kurz davor, sich offiziell bei der westlichen
Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline (BTC-Pipeline) zu engagieren. Eine
entsprechende Meldung von Itar-Tass lief bereits am Donnerstag über die
Nachrichtenticker. Die im Juni 2006 in Betrieb genommene Pipeline
transportiert Erdöl aus Aserbaidschan über georgisches Territorium in
den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Ziel des von den USA
durchgesetzten und unter der Führung des britischen Energiemultis BP
realisierten Projekts ist es, die russische Einflußsphäre beim
Öltransport aus dem Mittleren Osten zu umgehen und die
Energielieferanten der EU zu diversifizieren.
Umgehungsstrategie
Der erwähnten russischen Nachrichtenagentur zufolge soll das
Kooperationsgesetz zwischen Kasachstan und Aserbaidschan über Lieferung
kasachischen Erdöls an die BTC-Pipeline kurz vor seiner Verabschiedung
stehen. Der bilaterale Vertrag sieht »den Aufbau eines neuen
Transportsystems für kasachisches Erdöl über das Kaspische Meer zum
System Baku-Tbilissi-Ceyhan vor«, ergänzte die ebenfalls russische
Nachrichtenagentur RIA-Nowosti. Den bisherigen Planungen zufolge soll
der kasachische Hafen Kuryk am Kaspischen Binnenmeer ausgebaut und an
das Pipelinesystem des zentralasiatischen Landes angeschlossen werden.
Von Kuryk aus soll das Rohöl mit Tankern gen Aserbaidschan und die
BTC-Pipeline transportiert werden. Kasachstans Rohölvorkommen bei
Kaschagan und Tengis im Kaspischen Schelf stellen laut RIA-Nowosti die
»Ressourcenbasis« dieses Unterfangens.
Das 1740 Kilometer lange BTC-Pipelinesystem hat eine maximale
Jahreskapazität von 50 Millionen Tonnen Rohöl. 2007 wurden indes nur
etwas mehr als 28 Millionen Tonnen befördert. Zusätzliche kasachische
Lieferungen sollen nun die volle Auslastung der Pipeline garantieren.
Mit diesem Deal gelang es dem Westen erstmals, einen östlichen
Anrainerstaat des Kaspischen Meeres zur Lieferung von Rohöl unter
Umgehung russischen Territoriums zu verpflichten. Bislang dominierte die
Russische Föderation diese geopolitische Schlüsselregion, da jegliche
Exporte von Energieträgern gen Westen über das russische, aus
Sowjetzeiten geerbte, Pipelinenetz gingen.
Einen ähnlichen Coup will die EU auch beim Erdgas gelandet haben – doch
ist dies zumindest fraglich. Von einem »Durchbruch« sprach hingegen die
EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner Mitte April. Stolz verkündete
sie, den turkmenischen Despoten Gurbanguly Berdimuhammedow anläßlich
einer Staatsvisite überredet zu haben, der EU jährlich zehn Milliarden
Kubikmeter Gas zu liefern. Damit sei auch das Projekt der europäischen
Nabucco-Pipeline einen »wichtigen ersten Schritt« vorangekommen, so
Ferrero-Waldner.
Ähnlich der BTC-Ölleitung soll via Nabucco Erdgas über die Türkei in die
EU geliefert und dabei russisches Territorium umgangen werden. Bisher
krankte dieses Projekt daran, daß keine verbindlichen Lieferzusagen
vorlagen. Sie muß aber mindestens 30 Milliarden Kubikmeter pro Jahr
transportieren, um rentabel zu sein. Zudem steht die für 2013 geplante
Nabucco-Leitung in Konkurrenz zur russisch-italienischen Pipeline »South
Stream«, deren Projektierungen fortgeschrittener sind und die deutlich
früher in Betrieb gehen soll. Dazu merkte die Financial Times an, daß es
keineswegs klar sei, woher das turkmenische Erdgas stammen soll, das der
EU von Berdimuhammedow versprochen wurde. Die derzeitigen
Förderkapazitäten Turkmenistans von 50 Milliarden Kubikmetern jährlich
seien bis 2028 durch Lieferverträge –hauptsächlich mit China und Rußland
–gebunden, so daß zuerst weitere Erdgasreserven erschlossen werden
müßten. Ob man tatsächlich bei den turkmenischen Lieferzusagen über zehn
Milliarden Kubikmeter Erdgas von einem »Durchbruch« sprechen kann, wird
auch angesichts der Dimensionen beim Verbrauch der EU fraglich: 2006
verfeuerte Westeuropa ca. 500 Milliarden Kubikmeter. Davon lieferte
Rußland allein 125 Milliarden.
Gas aus dem Irak
Um eine annähernde Kapazitätsausnutzung der geplanten, Rußland
umgehenden, Nabucco-Pipeline zu gewährleisten, steht die Europäische
Union sogar in Verhandlungen mit dem Irak. Am 16. April betonten
EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der irakische
Ministerpräsident Nuri Al-Maliki in Brüssel, daß die Europäische Union
und der Irak in »Energiefragen enger zusammenarbeiten« wollen. Die EU
strebe laut Barroso eine »Energiepartnerschaft« mit dem von den USA
besetzten Staat an. Vor allem bei der Frage eventueller Gaslieferungen
würden »die Verhandlungen sehr gut laufen« und könnten »sehr bald
abgeschlossen werden«. Aus EU-Kreisen hieß es dazu, dieses irakische
Erdgas solle über die Nabucco-Pipeline befördert werden. Bislang habe
der Irak den Europäern in einem »ersten Schritt die Lieferung von fünf
Milliarden Kubikmetern« zugesagt, meldete die Nachrichtenagentur
Reuters. Diese energiepolitischen Vorstöße der EU sollen durch ein
bilaterales Handels- und Kooperationsabkommen mit dem Irak flankiert
werden, dessen konkrete Ausgestaltung laut Barosso ebenfalls gut
vorankomme. Al-Maliki könne »auf die Solidarität der EU und der
EU-Kommission beim Aufbau eines friedlichen und wohlhabenden Irak«
zählen, betonte Barroso.
28.04.2008