vonHelmut Höge 04.07.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Als ich in den Achtzigern einmal längere Zeit als Hofmeister in der Toskana arbeitete (bei Talla), wunderte ich mich, dass man dort in der Macchia kaum Vögel singen hörte. Alle 50 Meter hingen kleine Schilder an den Bäumen: „Jagen verboten“, „Schutzzone“, Jagdzone“ – zwischen diesen absurd kleinen Korridoren huschten die Singvögel quasi lautlos durch das Gestrüpp, um ja nicht zwischen zwei „Schutzzonen“ erwischt zu werden.

In diesem Jahr war es jedoch anders: Überall hörte man Vogelstimmen in der Toskana. Was war da in der Zwischenzeit geschehen? Kaum wieder in Deutschland zurück klärte mich die Süddeutsche Zeitung auf – sie hatte sich bei einigen Vogelexperten, u.a. bei Alexander Heyd vom Bonner Komitee gegen den Vogelmord kundig gemacht:

„Naturschützer kämpfen teilweise seit Jahrzehnten gegen die illegale Vogeljagd und sammeln verbotene Netze oder Leimfallen ein, erstatten Anzeigen, informieren die Öffentlichkeit und erzeugen politischen Druck. Das zahlt sich zunehmend aus – in Italien etwa, das lange als klassisches Jägerparadies galt.“

„Italien ist das beste Beispiel, was Aufklärung und strengere Durchsetzung der Gesetze bewirken“, sagt Alexander Heyd. Von einst 2,6 Millionen Jägern blieb nur etwas mehr als ein Viertel übrig. Die Zahl legaler Fanganlagen schrumpfte auf ein Hundertstel. Verkauf und Import getöteter Singvögel wurden verboten, die Zahl der zum Abschuss freigegebenen Arten und die Jagdzeiten drastisch beschränkt.

Selbst die früher notorische Wilderei ist vielerorts gebannt. Italiens Forstpolizei bekämpft die illegale Jagd mittlerweile effektiv. Auch prominente Funktionäre bekämen dies zu spüren, sagt Heyd. Der Präsident des süditalienischen Jagdverbandes musste ebenso büßen wie ein bekannter Feinkoch von Ischia, der Nachtigallen für seine Küche fing.

Es ist das „Wunder von Süditalien“, so Alexander Heyd enthusiastisch, „die heutige Situation ist kein Vergleich mehr zu früher“.

Die Süddeutsche Zeitung befragte dazu auch Martin Schneider-Jacoby von Euronatur in Radolfzell. Dieser meinte ebenfalls: „Da viele Schutzgebiete nun tabu sind für die Jagd, kehren seltene Vögel wie der Löffler nach Italien zurück.“

Auch in anderen Ländern waren die Kampagnen der Vogelschützer erfolgreich. Belgien untersagte den Fang von Singvögeln, Deutschland und die Niederlande schränkten die Jagd auf Gänse ein, die als arktische Gäste im Wattenmeer überwintern.

Die Slowenen sind laut Schneider-Jacoby sogar die Musterschüler Europas. „Sie schießen keine Zugvögel mehr. Das ist die konsequente Umsetzung der Vogelschutzrichtlinie.“

Das Sorgenkind der Vogelschützer ist immer noch „Malta“. Damit beginnt auch der Artikel der Süddeutschen Zeitung, denn dort hatte man im Herbst einen Schreiadler aus der Mark Brandenburg namens Sigmar abgeschossen: „Obwohl Naturschützer das verletzte Tier aufsammelten und per Flugzeug in die Tierklinik der Freien Universität Berlin bringen ließen, überlebte er nicht. Die Ärzte mussten den Greifvogel wenige Wochen später wegen einer infizierten Wunde einschläfern. Ein bitterer Verlust, denn in Deutschland leben nur noch 90 Paare dieser Art. Auch auf Sigmar ruhte die Hoffnung, dass sich die Schreiadler-Population erhalten lässt.“

Sigmar war auf dem Weg nach Afrika gewesen. Auf dieser alljährlichen Flugroute erwischt es viele der im Sommer in Mitteleuropa lebenden Vögel: „Insgesamt dürfen in Europa etwa 120 Millionen Vögel legal getötet werden. Dazu kommen aber 30 bis 100 Millionen gewilderte Tiere“, sagt Alexander Heyd vom Bonner Komitee gegen den Vogelmord.“

Viele Arten schwinden deshalb europaweit, ein Viertel der offiziell jagdbaren Vögel ist betroffen. „Neben Veränderungen in der Landnutzung spielt die Jagd eine wichtige Rolle beim Artenrückgang. Bisweilen trifft sie ins Herz der Bestände“, bestätigt Hans-Günther Bauer vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell. Aber auch auf Malta tut sich was – zum Schutz der Zugvögel, die dort jedes Jahr massenhaft Zwischenstation machen: „Wir beobachteten in diesem Jahr viele seltene Vögel, die statt gehetzt weiter zu ziehen singend auf Leitungen und Bäumen saßen“, sagt Heyd und verspricht: „Wir machen weiter.“ Mit diesem fast optimistisch klingenden Satz endet der Artikel in der Süddeutschen Zeitung.

Eine andere Erklärung dafür, dass vor allem in Italien die Singvögel nicht mehr gehetzt und stumm von einem Busch zum anderen huschen, sondern auf hohen Bäumen sitzen und laut singen, bietet der Marxist Sergio Bologna: Nach ihm hat das Kapital auf die Erfolge der italienischen Arbeiterbewegung in den Siebziger- und Achtzigerjahren dergestalt reagiert, dass es die Leute massenhaft outgesourct hat. Italien ist inzwischen das Land mit den meisten Selbständigen. Diese sind eigentlich immer noch Arbeiter, nun müssen sie jedoch täglich fast 16 Stunden malochen, um noch einigermaßen so wie zuvor über die Runden zu kommen, d.h. sie haben keine Zeit mehr, nach der Frühschicht z.B. durch die Macchia zu strolchen und auf alles zu schießen, was sich da bewegt.

Mir geht es ähnlich: Früher habe ich mindestens vier Stunden am Tag Spaziergänge unternommen , um alles zu beobachten, was da kreucht und fleucht, aber seit der verdammten Wiedervereinigung, dem verfluchten Euro und den allgemeinen Lohn- bzw. Honorarsenkungen arbeite ich sieben Tage in der Woche zehn Stunden täglich – und komme doch nicht über 850 Euro monatlich hinaus. Allerdings ist meine Arbeit nicht ganz so stumpfsinnig wie die der italienischen „Selbständigen“.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/07/04/vogelgesang_das_wunder_von_italien/

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kommentare

  • In Deutschland werden Fledermäuse weder bejagt noch gewildert.
    Fledermäuse werden hier auch nicht zu köstlichen Delikatessen
    verarbeitet. Trotzdem geht ihr Bestand ständig zurück.

    Das Jagdrecht für jedermann haben die gemeinen Leute im
    19. Jahrhundert der Obrigkeit abgetrotzt. Jetzt kommen edle weiße
    Ritter und neidische grüne Schildbürger aus der Stadt daher und nehmen
    der Landbevölkerung Stück für Stück ihre hart erkämpften Bürgerrechte
    wieder ab.

    Und die Mund-zu-Mund-Beatmung von Adlern und Schwalben ist ein
    Schildbürgerstreich und keine heroische Heldentat. Oder kann mir einer
    der Schreiberlinge von der Süddeutschen oder von der TAZ erklären,
    welches Umweltproblem gelöst wurde, als man den armen Adler von Malta
    nach Berlin flog. Oder anders gefragt, gibt es auf Malta keinen
    Tierarzt, der einen Adler tierschutzgerecht den Hals umdrehen kann.

    Und warum hat der Primitiv-Blog der TAZ immer noch keine Vorschaufunktion?

  • Dazu gibt es nicht viel zu sagen: Bei traditionellen selbständigen Arbeitern (Händler, Freiberufler usw.) ist Steuerhinterziehung vielleicht gang und gäbe, aber die selbständigen Arbeiter, um die es uns hier geht, die durch dezentralisierte Produktionsformen und neue unternehmensorientierte Dienstleistungen entstanden sind, können schon aus dem einfachen Grund nicht in großen Umfang Steuern hinterziehen, weil ihre Auftraggeber ein Interesse daran haben, die ihnen entstandenen Kosten nachzuweisen. Von daher ist das Haupthindernis bei der Steuerhinterziehung nicht das Finanzamt, sondern der Auftraggeber selbst – meist ein Industrieunternehmen oder zumindest eine Einrichtung mit unternehmerischen Zielen. In den letzten Jahren hat die steuerliche Belastung der selbständigen Arbeit zugenommen, während der im Parteiensystem verkörperte Staat stark verkommen ist, was das Gefühl von Fremdheit und Feindschaft gegenüber den Institutionen noch verstärkt hat, falls das überhaupt möglich war. Die Einführung der minimum tax [Mindeststeuer, die jeder unabhängig von einer Steuererklärung bezahlen soll, A.d.Ü.] riskiert einen endgültigen Bruch zwischen staatlichen/politischen Institutionen und selbständiger Arbeit, ohne spürbar mehr Steuereinnahmen zu bringen. Das Prinzip der minimum tax kehrt das Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Bürger, auf dem die von Vanoni eingeführte Einkommenssteuererklärung beruhte, vollkommen um und ersetzt es durch eine Schuldvermutung gegenüber dem Bürger.

    Noch eine letzte Beobachtung zu einer verbreiteten Mentalität im Umkreis der selbständigen Arbeit: Nicht wenige derjenigen, die diese Form von Tätigkeit gewählt haben, sind infolge der Entlassungen und Säuberungen Ende der 70er Jahre dazu gezwungen worden, d.h. sie gehören zu der Generation, die von den damaligen Utopien und dem damaligen gesellschaftlichen sozialen Antagonismus lebte. Sie haben eine Niederlage und einen Marginalisierungsprozeß ähnlich wie in den Jahren nach dem Krieg hinter sich, als Tausende von Menschen nach verlorenen Kämpfen auf dem Land und in den Fabriken emigrierten oder sich in Produktions- und Arbeitskooperativen organisierten. Der große Unterschied besteht höchstens im Schulbildungsniveau und in der Art der Arbeit, die die Ausgeschlossenen der 50er Jahre im Vergleich zu denen der 70er Jahre ausüben konnten. Diese Generation der 70er Jahre hatte die Muster der fordistischen Gesellschaft und der kommunistischen Ideologie kulturell schon überwunden. In vielen Fällen stand hinter der Entscheidung für eine selbständige Arbeit die bewußte Ablehnung der totalen Institutionen der Produktion [in der Soziologie sind mit »totalen Institutionen« v.a. Knäste und Psychiatrien gemeint; A.d.Ü.]. So oder so, ob die Entscheidung aufgezwungen war oder nicht, ist die selbständige Arbeit der 80er Jahre in Italien von den Ereignissen der 70er Jahre und der politischen Atmosphäre der »bleiernen Zeit« kulturell geprägt. Es ist gut möglich, daß die mißtrauische Haltung gegenüber den Institutionen von diesen Prozessen herrührt.

    Der Kongreß von Nijmegen (November 1992)

    Am 30. November und 1. Dezember 1992 fand in der holländischen Universitätsstadt ein internationaler Kongreß mit dem Titel Autonomy and independent work? und dem Untertitel Experiences with restructuring industrial organization in West and East statt.

    Es war eine wichtige Gelegenheit, um

    – eine Bilanz über den Wissensstand und die Erklärungsversuche zum Phänomen der selbständigen Arbeit zu ziehen;

    – eine Reihe von Daten über die Ausbreitung des selbständigen Unternehmertums in den ehemaligen sozialistischen Staaten seit 1989 zu bekommen;

    – festzustellen, daß der Begriff »selbständige Arbeit« auch in der sogenannten »internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft« langsam eine eigene, vom Begriff »Kleinstfirma« unterschiedene Bedeutung gewinnt.

    Die Lektüre der Unterlagen bestätigt die im ersten Teil dieses Aufsatzes eingeschlagene Untersuchungsrichtung; zahlreiche Forscher anderer Länder sind zu denselben Schlußfolgerungen gelangt. [36]

    Das Eröffnungsreferat wurde von dem amerikanischen Ökonomen Charles Sabel gehalten, der entscheidend dazu beigetragen hatte, den Mythos vom italienischen Modell der flexiblen Spezialisierung zu kreieren, und sozusagen als einer der Väter der historischen Kategorie »Postfordismus« gilt.

    Der Ansatz von Sabel und Michael Piore, die 1984 in dem Buch The Second Industrial Divide ausgehend von einer Untersuchung der italienischen Industriereviere den Kleinbetrieb und das vernetzte Unternehmen analysierten, hat in der ganzen Welt Schule gemacht und wird, ohne daß die Verfasser selbst dies gewollt hätten, in den östlichen Ländern, die die Marktwirtschaft einführen wollen, als positives politisches Modell verstanden.

    Interessanterweise ließ sich in Nijmegen nämlich feststellen, daß sich zwei gegensätzliche Interpretationsrichtungen abzeichnen: die eine sieht im Klein- und Kleinstunternehmen weiter einen neuen Entwicklungshorizont des Kapitalismus und der Demokratie, eine moderne Version der »animalischen Geister« des Unternehmertums. Die andere unterstreicht die tiefe Kluft zwischen Unternehmensorganisation und selbständiger Arbeit, betont die Arbeitsleistung und begreift sie als Teil der Krise des kapitalistischen Modells, der Deindustrialisierung und der Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt.

    Das Interessante daran ist, daß diese zweite Interpretationsrichtung, der ich mich zurechne, keine marxistischen Analyseschemata benutzt, sondern höchstens vage Anklänge an den Marxismus. Das zeigt einerseits, daß man nur die klassischen Kategorien der »bürgerlichen« ökonomischen und soziologischen Analyse korrekt anwenden muß, um die Ideologie und Praxis des heutigen Neoliberalismus zu kritisieren. Zum anderen zeigt es, daß in der Kritik nicht notwendigerweise die Forderung nach Abschaffung der Marktwirtschaft enthalten ist.

    Es würde sich lohnen, die etwa hundert Referate und Beiträge auf dem Konreß zu analysieren; leider reicht der Platz dafür hier nicht. Ich beschränke ich mich auf einige wenige, um die wichtigsten Untersuchungsrichtungen anzudeuten.

    Jane Wheelock vom Fachbereich Sozialpolitik der Universität Newcastle hat eine Stichprobe von Kleinstfirmen im nordostbritischen Wearside untersucht. Sie sieht das self employment als Folge des Deindustrialisierungsprozesses und insofern als eine notgedrungene Entscheidung, um aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen, was übrigens von einigen Untersuchungen über die Zwischenkriegszeit bestätigt wird. [37]

    In den vier Konfigurationen subcontract, self employment, freelance und associate employees funktioniert die Kleinstfirma in den Nischen der Wettbewerbsökonomie, steigert die Arbeitsintensität und führt zu Einkommensniveaus, die das reine Überleben decken und oft unter dem Einkommen vor Gründung des Kleinstunternehmens liegen.

    Wheelock ist Autorin verschiedener Veröffentlichungen in dieser Richtung. In der Tradition der Frauenforschung sieht sie als entscheidendes Element dafür, daß das Geschäft funktioniert, die Kleinfamilie. Sie erlaubt Teamwork (auf demselben Niveau wie die Gruppenarbeit bei Nissan); sie ist für die Flexibilisierung der Arbeit verantwortlich, und sie macht die Selbstausbeutung möglich, weil sie Verdienstanreize mit Gefühlsanreizen verbindet; sie ist der Kleber zwischen entlohnter Arbeit und unbezahlter Hausarbeit; sie erlaubt eine Austauschbeziehung zwischen Männer- und Frauenrolle, die der Kleinstfirma auch ohne öffentliche Sozialleistungen das Überleben sichert.

    Die Autorin greift in diesem Zusammenhang auf den Begriff domestication zurück, der den häuslichen Bereich als Schutz vor den Schwierigkeiten des Marktes versteht und ihr eine viel komplexere und interessantere Interpretation der selbständigen Arbeit ermöglicht als Begriffe wie »Individualismus«. [38]

    Kiril Todoroff vom Fachbereich Industrie-Business der Universität Sofia erinnert zunächst daran, daß in Bulgarien seit 1989 etwa 180.000 neue Firmen entstanden sind, daß die durchschnittliche Beschäftigtenzahl pro Firma kaum mehr als drei beträgt, daß nur 19,4 Prozent dieser Firmen immaterielle Güter produzieren und daß 25 Prozent Handel betreiben. Davon ausgehend betont er,

    – daß diejenigen, die wegen der Abwicklung der staatlichen Industrie arbeitslos geworden sind, sich notgedrungen für neue Kleinstfirmen entschieden haben;

    – daß die neuen Kleinstfirmen nur mit Mühe überleben, da sich die Verbraucherpreise vervierfacht haben, so daß sie sich bei ihren staatlichen Lieferanten verschulden;

    – daß sie zum größten Teil aus Menschen zwischen 35 und 40 mit höherer Schulbildung und umfangreichen beruflichen Kenntnissen bestehen. [39]

    Zu noch eindeutigeren Schlußfolgerungen kommt Saija Katila von der Schule für Ökonomie in Helsinki nach einer großangelegten empirischen Untersuchung über Motivationen und Werte bei finnischen Kleinstunternehmern. Sie spricht von einem »erzwungenen« Prozeß der Aufnahme nichtländlicher Unternehmertätigkeiten, den der Ruin der traditionellen Landwirtschaftsbetriebe ausgelöst habe. [40]

    Das Referat von Klara Foti vom Institut für Weltwirtschaft in Budapest, das zusammen mit der Universität von Nijmegen die Konferenz organisiert hat, läßt klar erahnen, daß das Modell der flexiblen Spezialisierung der italienischen Industriereviere für die neuen Ökonomen der östlichen Länder eine politische Ausrichtung und symbolische Bedeutung gewinnt, die meilenweit von der Wirklichkeit entfernt ist. In ihrem Sprachgebrauch sind die Begriffe »Fordismus« oder »fordistisches System der Massenproduktion« inzwischen gleichbedeutend mit dem »sowjetischen System«, d.h. mit der staatlichen Zentralisierung der Produktionsmittel (der arme Henry Ford würde sich im Grab umdrehen), die zu Stagnation und Krise geführt habe. Das Modell der flexiblen Spezialisierung ist folglich ein neues Paradigma, eine Synthese des neuen demokratischen Denkens. Es sieht so aus, als würden sehr viele neue Ökonomen in den osteuropäischen Länder entweder dieses Modell als allgemeines Paradigma übernehmen oder ganz unverfroren mit dem Schumpeterschen Begriff der »schöpferischen Zerstörung« hantieren.

    Mit der Analyse der Entwicklung einer Reihe von ungarischen Verarbeitungsbetrieben seit den ersten Reformen (1968-1988) will Foti zeigen, wie die Bemühungen um Wettbewerb und Effizienz trotz angeblicher Autonomie der Unternehmerentscheidungen von ständigen Eingriffen des Staates auf die Produkt- und Prozeßentscheidungen frustriert worden seien. [41]

    Der Übergangsprozeß zur Marktwirtschaft folgt dem gleichen Muster wie die Reformen in der kommunistischen Zeit, da es sich bei ihm um eine von oben gesteuerte Privatisierung handelt. Obwohl sie an das Modell des kleinen spezialisierten Unternehmens glaubt, betont die Autorin, die sich hierin mit ihrer Kollegin Magdolna Sass einig ist, daß in Ungarn bis heute die institutionellen, Markt- und subjektiven Bedingungen für die Durchsetzung eines derartigen Modells fehlen. [42] Der Staat hat die »Filetstücke« verkauft, und die privatisierten Firmen verwandeln sich schnell in Subunternehmerfirmen, seit ein Steuerrecht eingeführt wurde, das subcontractors begünstigt. Auch die beiden Ökonominnen aus Budapest heben hervor, daß die Menschen, von denen neue unternehmerische Initiativen ausgehen oder ausgehen könnten, über ein sehr hohes Bildungsniveau und großes »Humankapital« verfügen.

    Malgorzata Balkowska von der Wirtschaftsstiftung der NSZZ »Solidarnosc« in Danzig erzählt, daß ihre Stiftung zusammen mit der Ohio State University Schulungsprogramme für kleine Firmengründer organisiert und Klein- und Mittelbetrieben »Brutkasten«-Dienste in Form von finanzieller und juristischer Unterstützung bietet. [43] Die vom Vorstand der »Solidarnosc« eingerichtete Stiftung finanziert sich aus Beiträgen des polnischen Staates und ausländischer Regierungen, besonders der USA. Staaten. Aber nicht alle glauben, daß diesem Weg Erfolg beschieden sein wird.

    Scharfsichtig und streng analysiert Witold Jakobik, ein Ökonom vom Institut für politische Studien der polnischen Akademie der Wissenschaften, die Schocktherapie, der die Wirtschaft Polens seit fünf Jahren nach den monetaristischen Rezepten unterworfen worden ist. [44] An einem konkreten Beispiel legt Jakobik die Strategie der »schöpferischen Zerstörung« bloß und benennt die Gründe für ihr Scheitern. Es habe sich um einen Prozeß gewollter Rezession gehandelt, um die wettbewerbsschwachen Firmen zur Aufgabe zu zwingen und damit die Verschiebung von Ressourcen in effizientere Sektoren und Firmen zu fördern. Trotz unbestreitbarer Erfolge bei der Wechselkursstabilität, der Inflationsabbremsung und der Verfügbarkeit von Waren auf dem Markt sei das Ziel des Umbaus des Produktionsapparats vollständig gescheitert. Der vorgebliche Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsinterventionismus habe sich ins Gegenteil verkehrt, da der Staat immer noch mit den Mitteln der Geld- und Haushaltspolitik den makroökonomischen Rahmen bestimme, einschließlich der Finanzierungsbedingungen der Privatfirmen und besonders der finanziellen Möglichkeiten der öffentlichen Firmen, die noch 75 Prozent des verarbeitenden Sektors ausmachen. Es gab also einen dramatischen Zusammenbruch der Produktion, ohne daß neue Initiativen entstünden, da der Staat weder über eine Strategie noch über ein industriepolitisches Instrumentarium verfüge, um selektiv zu intervenieren und nach der Zerstörung die Aufbauphase einzuleiten. Jakobik scheint nicht an die Modelle der flexiblen Spezialisierung und den Mythos des spontanen Kleinbetriebs zu glauben. Seiner Meinung nach bieten nur gemischte Eigentumsverhältnisse einen Ausweg.

    Ähnlich skeptisch werden die Aussichten des Kleinunternehmens und das Modell der flexiblen Spezialisierung von Al Rainnie beurteilt, der der englischen Zeitschrift Capital and Class nahesteht und den Forschungsbereich Lokale Wirtschaft an der Universität Hertfordshire leitet. Er greift eine von Wissenschaftlern wie Ben Harrison und Ash Amin initiierte Interpretationslinie auf. [45]

    Ihre These ist, daß die Tendenz des gegenwärtigen Kapitalismus nicht in Richtung Abbau vertikaler Strukturen, sondern in Richtung Konzentration des Kommandos geht, wobei eine vernetzte Struktur benutzt wird, in der die Hierarchien verschiedene Formen annehmen, nicht nur die einer Pyramide. Besonders beobachtet Rainnie die Veränderungen, die im Verlauf dieses Prozesses in den Subunternehmen vor sich gehen. Er unterscheidet drei Typen von Subunternehmen: Subunternehmen aufgrund von mangelnden Produktionskapazitäten, spezialisierte Subunternehmen, die eine Art Partnerschaft mit dem Auftraggeber eingehen, und Zulieferer. Die Einführung der just-in-time-Techniken und der Qualitätskontrolle hätten das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Subunternehmer radikal geändert – entlang der subcontracting chain. Außer bei den Firmen »ganz oben«, von denen es immer weniger gibt, findet man die Subunternehmerkette hinab hierarchische Beziehungen, an denen deutlich wird, daß der unabhängige Kleinbetrieb verschwindet. Je weiter nach unten oder an die (funktionale, nicht räumliche) Peripherie man kommt, desto austauschbarer werden die Subunternehmer; das Großunternehmen sucht sich die mit den niedrigsten Arbeitskosten aus. Es ist eine völlige Illusion, zu glauben, daß sich auf einer derart wackligen Grundlage und ausgehend von einem derart despotischen Verhältnis zum Auftraggeber lokale Ökonomien errichten ließen. Die Auftraggeber, d.h. die großen Konzerne, werden immer mehr auf outsourcing und global sourcing zurückgreifen. Einmal werden sie sich bei Subunternehmern vor Ort eindecken, dann wieder bei Subunternehmern in Fernost oder Lateinamerika oder in den Steppen Zentralasiens. Daher sei das »postfordistische« Modell auf dem absteigenden Ast: Es sei weder ein Erklärungs-Paradigma noch eine Perspektive für eine neue Ökonomie mehr, und mit ihm seien auch die Lokalismen im Untergang begriffen.

    Entgegengesetzter Meinung ist Huib Ernste vom Fachbereich Geographie des Schweizerischen Bundesinstituts für Technologie, der sein Vertrauen in die Modelle des Industriereviers und der flexiblen Spezialisierung bekräftigt, wobei er die Uhrenproduktion im Jura als Beispiel nimmt. [46] Ernstes Referat ist interessant, weil er darauf hinweist, daß Charles Sabel das Produktionsmodell der Reviere nicht nur als Kapitalismus von morgen gelobt hatte, sondern auch als neue Form des Sozialstaats, in der die öffentliche Hand Hilfen und Dienstleistungen für die Unternehmensstrategien bereitstellt und lokale Selbstregulierungssysteme eine grundlegende Rolle spielen, die in einer bestehenden Kooperationskultur wurzeln (wie im weißen Veneto oder in der roten Emilia). Es handele sich daher um »harmonische« Gesellschafts- und Produktions-Modelle, die die lokale Struktur intakt lassen. Ernste, der die ökologische Dimension außer acht läßt und stattdessen eine Art humanistischen Marxismus wiederaufgreift, meint, man könne dieses System von »Mini-Sonnenstädten« [»microcittà del sole«] weiterentwickeln. Dabei bezieht er sich auf Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns, die der Definition auf ethischen Prinzipien beruhender sozio-ökonomischer Systeme neuen theoretischen Raum eröffnet. Die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Gleichgewichts sei wichtiger als die technische Innovation selbst. Sabel folgend behauptet der Schweizer Wissenschaftler, daß es legitim sei, wenn die Reviergemeinden die eigene Besonderheit auch gegen die zerstörerischen Gefahren der Innovation verteidigten, was er am Beispiel von Swatch zeigt. Wenn sich die Jura-Gemeinde auf den neuen Produkttyp geworfen hätte, um den Japanern nachzueifern, hätte sie wahrscheinlich sowohl die eigene Identität, das eigene Selbstregulierungssystem als auch den Wettlauf auf dem Markt verloren. Durch eine kluge Politik der Bereitstellung lokaler Dienstleistungen und der Schulung und Förderung für Unternehmen, die Anreize zur Übernahme des computer integrated manufacturing geben sollte, habe man die Produktion mechanischer Uhren umstellen und mit einem Produkt hoher Qualität auf dem Markt bleiben können.

    Sehr interessant war die Untersuchung, die die Russen Natalia Chernina und Efim Chernin vom wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereich der Universität Novosibirsk vorstellten. Erstens machen sie eine klare Unterscheidung zwischen Kleinbetrieb und selbständiger Arbeit, und zweitens enthalten sie sich ideologischer Vorurteile für oder gegen das postfordistische Modell. [47] Nach Aussage der beiden russischen Wissenschaftler stellen die Kleinbetriebe, die durch die Verselbständigung von aus Großunternehmen herausgelösten Bereichen oder ihrer Privatisierung mittels der Ausgabe von Belegschaftsaktien entstanden sind, den dynamischen Faktor in der russischen Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt dar. Sie hätten aber keine Innovationsprozesse ausgelöst, denn erstens verteilten die neuen Aktionäre die Profite lieber, als sie in neue Maschinerie zu investieren, zweitens täten die völlig vom militärisch-industriellen Komplex abhängigen Universitäten, denen die Welt der Kleinbetriebe völlig fremd sei, nichts für Ausbildung und Forschung, und drittens falle ihr Aufschwung mit einer ökonomischen Krisenphase zusammen. Die russischen Kleinbetriebe sähen sich selbst als »Guerillaeinheiten auf dem Territorium eines von Großunternehmen kontrollierten Marktes«.

    Dieser kurzen Zusammenstellung läßt sich entnehmen, daß die Debatte noch reichlich verworren ist, da sich verschiedene Ebenen vermischen. Ich meine weiter, daß diese Verwirrung unter anderem daher rührt, daß zu den »Kleinbetrieben« sowohl Betriebe mit bis zu hundert Beschäftigten als auch selbständige Arbeiter gerechnet werden. Die Überdehnung des Begriffs »Unternehmen« stiftet Verwirrung, denn die Kategorien zur Analyse von betrieblichen Organismen stammen ausschließlich aus der Praxis der Großunternehmen. Die Gesetze der Mikroökonomie werden vom big business bestimmt. So sehr man sich auch bemüht hat, die spezifischen Merkmale der Kleinunternehmen zu erkennen: in den Augen des Betrachters sind sie immer Mikro-Fiats oder Mikro-IBMs oder Mikro-Toyotas.

    Die Forschung hat Mühe, self employment von enterprise oder selbständige Arbeit von Unternehmen zu unterscheiden, auch weil der angelsächsische Begriff business ganz allgemein eine profitorientierte Tätigkeit bezeichnet und insofern allumfassend ist. Es war schon ein Schritt nach vorn, daß der Kongreß im Titel von work sprach und nicht von business.

    Nichtsdestotrotz ist ein frischer Wind zu spüren, eine kritische Einstellung, die sich nicht mit den üblichen Gemeinplätzen zufriedengibt. Nicht immer weist die Kritik am vorschnellen Enthusiasmus für das »postfordistische« Modell allerdings nach vorn; sehr oft ist sie nostalgisch im alten fabrikorientierten Schema befangen. Die Grenzen des Kongresses waren auch durch die Entscheidung bestimmt, sich nur mit dem Verarbeitenden Gewerbe zu befassen.

    Auf jeden Fall bieten die Referate, die die kritischen Aspekte der gegenwärtigen Übergangszeit betonen, verschiedene Anstöße, die sich auf die Situation in Italien anwenden lassen. Jakobiks Feststellung, es gebe in Polen heute keine industriepolitische öffentliche Kultur und Instrumentarien, trifft heute besonders dramatisch auch auf Italien zu, wo sich das Produktionssystem als weder der Herausforderung des neuen europäischen Marktes noch der des Weltmarktes gewachsen erweist. Der Neoliberalismus beschränkte sich darauf, mit den Hebeln der Geldpolitik und der Haushaltspolitik die makroökonomischen Entwicklungsbedingungen zu schaffen und löste seine industriepolitischen Probleme durch Privatisierungen. Nachdem die Besitzverhältnisse nun geändert sind, müßte aber vielleicht auch eine industrielle Strategie gefunden werden. Wer soll das tun, wenn nicht das Management der großen Konzerne, die die früheren öffentlichen Industrie erworben haben? Und wer bestimmt die Richtung der angewandten Forschung, wenn nicht die großen Konzerne? Und wo werden die Leitlinien der Bildungs- und Ausbildungsprogramme ausgearbeitet, wenn nicht innerhalb der großen corporations? Die italienischen Industriereviere überleben oft nur auf dem Papier, sie sind von anderswo kontrollierten Ketten eingegliedert worden, oder Multis sind an ihre Stelle getreten. Wer sorgt dafür, daß sie und die von den Regionen zur Verfügung gestellten Dienstleistungssysteme neu qualifiziert werden? Soll das spontan geschehen? Genügen die linearen wachstumsorientierten Innovationen, oder müssen die Produktstrategien radikal gerändert werden? Geht es nur darum, die Zukunft der Betriebe zu überdenken, oder darum, neue gesellschaftliche Paradigmen, neue historische Szenarien auf den Punkt zu bringen?

    Welche Rolle spielt dann die selbständige Arbeit in den Lernprozessen und der Wissensproduktion? Ist sie trotz ihrer unverzichtbaren Rolle auf dieser Ebene ein völlig abhängiges [subalternes] Subjekt?

    Wir haben die ökonomischen Vorteile untersucht, die sie Ausbreitung der selbständigen Arbeit mit sich bringt (Arbeitszeit, gesellschaftliche Belastung, Verfügbarkeit), aber wir haben uns kaum mit den Vorteilen beschäftigt, die die selbständige Arbeit dem Gesamtkapital bietet bei

    * der Einsparung von Ausbildungskosten
    * den Lernzusammenhängen
    * der Qualität des Wissens.

    Ein neuer Forschungsstrang: Die räumliche Verlagerung des Wissens

    Im ersten Teil dieses Textes, der in der ersten Nummer von Altre ragioni erschien, hatte ich die selbständige Arbeit vor allem hinsichtlich der intensiven Ausbeutung der Arbeitskraft betrachtet.

    Es schien mir ebenfalls wichtig, die selbständige Arbeit unter dem Aspekt von beruflichen Tätigkeiten anzusehen, die ein großes intellektuelles Engagement und eine höhere technisch-wissenschaftliche Ausbildung erfordern, und die bislang den Führungstätigkeiten zugerechnet wurden.

    Auch hierbei habe ich auf meine persönliche Erfahrung – weniger als Akteur, sondern eher als jemand, der die Arbeit von anderen aus der Nähe beobachtet – und auf einige Interviews, vor allem mit Michele Pacifico, zurückgegriffen.

    Eine Branche, die sich besonders gut eignet, um einige Ausgangshypothesen zu überprüfen, ist die Unternehmensberatung. Die Wurzeln dieses Berufs gehen auf das scientific management der 20er Jahre zurück, aber wie wir sehen werden, hat eine Reihe von Umständen in den letzten 20 Jahren dazu geführt, daß er den »neuen freien Berufen« zugerechnet wird. Er steht also zwischen »Fordismus« und »Postfordismus«.

    An dem anderen Sektor, mit dem ich mich beschäftigt habe, lassen sich eigentlich sowohl die Probleme aus dem ersten Teil dieser Studie als auch die aus dem zweiten Teil untersuchen, da Überausbeutung und Einsatz hoher technisch-wissenschaftlicher Kenntnisse hier eng miteinander verwoben sind. Da er eine Brücke zwischen dem ersten und dem zweiten Teil darstellt, will ich ihn zuerst vorstellen.
    Anmerkungen über die handwerklichen Zulieferbetriebe in der hochentwickelten Großindustrie (Chemie, Stahl)

    Im Bereich der Instandhaltung/Reparatur in den großen Industriewerken werden seit mindestens 15 Jahren immer mehr Arbeiten ausgelagert. Daher läßt sich die selbständige Arbeit in der Produktion hier besonders gut untersuchen. Hier gibt es spezialisierte kleine Handwerksfirmen, deren Inhaber zwei oder drei feste Mitarbeiter plus je nach Arbeitsanfall ein paar andere beschäftigen (die Arbeit wird meist überdurchschnittlich bezahlt, weil das Personal hochspezialisiert ist und diese Arbeit außerdem meist als Zweitjob macht). Dann gibt es unspezialisierte kleine Handwerksunternehmen, die gegründet werden, kaputtgehen, sich neu zusammensetzen und einen Bereich mobiler prekärer Hilfsarbeit schaffen. Schließlich gibt es Einzelpersonen, Arbeiter und Einpersonenfirmen, meist ehemalige Beschäftigte und Frührentner, die den Großunternehmen ständig für Instandhaltungsdienste oder andere Arbeiten zur Verfügung stehen. [48]

    Das Problem der ständigen Verfügbarkeit ist ein Sonderproblem in der großen Galaxis der selbständigen Arbeit an der Grenzlinie zur prekären Beschäftigung und zur Unterbeschäftigung. Sie ist weder vertraglich noch juristisch definiert, sondern eine mündliche Übereinkunft zwischen dem Betrieb und meist ehemaligen Beschäftigten, um rund um die Uhr Mädchen für alles zur Verfügung zu haben. Die Verfügbarkeit ist die eigentliche Arbeitsleistung, die tatsächliche Arbeitsleistung ist in Wirklichkeit eine Nebensache. Da diese Beziehungen informeller Natur sind, könnte man schlußfolgern, daß es hier um Schwarzarbeit tout court geht. Das ist in Wirklichkeit aber oft nicht so, denn der Betrieb muß seine Ausgaben nachweisen können, und dadurch wird der Auftraggeber indirekt zum Finanzbeamten. Schwarzarbeit ist es nur insofern, als die Verfügbarkeit nicht als entlohnbar anerkannt wird. Rund um jedes große Stahl- oder Chemiewerk gibt es Dutzende von Kleinstunternehmen, die unter faktischen Monopolbedingungen arbeiten: Wenn sie zur Arbeit gerufen werden, müssen ihre Leute Doppelschichten und 70, 80 Überstunden pro Woche bei einer Siebentagewoche machen. Die Tarife liegen seit drei Jahren bei 24.000 Lire pro Stunde plus Auslöse, aber obwohl das schon 20 bis 30 Prozent unter dem tarifvertraglichen Mindestlohn liegt, wird eine zehnprozentigen Senkung gefordert. Seit einem Jahr haben viele Großunternehmen hier die Zahlungen ausgesetzt oder erheblich verzögert.

    Die Instandhaltungsarbeit setzt jedenfalls ständige Verfügbarkeit voraus, sei es, weil es sich um Notfälle handelt, sei es, weil sie fast ausschließlich an Sonn- und Feiertagen ausgeübt wird. Ein Wartungsmann kennt weder Sonntage noch Weihnachten; an Tagen, wenn alle anderen arbeiten, hat er nichts zu tun; er arbeitet in den Sommerferien. Das ist einer der Hauptgründe, weswegen die Betriebe die Instandhaltung ausgelagert haben: Das eigene Personal war zu teuer, hatte die Woche über oft nichts zu tun und bekam außerhalb der regulären Arbeitszeit 100 Prozent Überstundenzuschlag. Ein Wartungsmann arbeitet bis zum Umfallen und kann sich unter oft stark gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen nur auf seine eigene körperliche Widerstandskraft verlassen.

    Tatsächlich stellt das Unfallrisiko den zweiten Hauptgrund für die Auslagerung dar. Da diese Tätigkeiten mit hohem Risiko behaftet sind oder jedenfalls die Gesundheit gefährden, haben sich die Betriebe geweigert, die Kosten für das Risiko zu übernehmen. Beim eigenen Personal ließ sich die Häufung gesundheitsschädlicher Wirkungen nachweisen, während sich beim prekären Personal Gesundheitsschäden »nicht einem Betrieb oder einer spezifischen Arbeit zuordnen lassen« und bei Betriebsunfällen die Verantwortung auf das Subunternehmen abgewälzt wird. Tatsächlich gehört die Erhöhung des durchschnittlichen Arbeitsrisikos zu den besonderen Merkmalen des Postfordismus, denn hier wirkt sich die Prekarisierung dreifach aus: durch ein unbekanntes Arbeitsumfeld geht die »Erfahrungskurve« gegen Null; es wird überdurchschnittlich viel gefährliche Arbeit angeboten; es gibt keine Rechts- und Versicherungsgarantien.

    Durch die Auslagerung wurde die Instandhaltung drastisch reduziert, so daß die Unsicherheit, Unzuverlässigkeit und Veraltung der Anlagen exponentiell zunahm. Die in Kleinstfirmen aus dem Bereich Anlagenwartung und Instandhaltung gesammelten Interviews zeigen, daß es mit der Sicherheit und Effizienz der Anlagen in den italienischen Chemie- und Stahlkomplexen seit 1980 immer schlechter aussieht, was die angeblichen Bemühungen um Qualität lächerlich macht.

    Die Abschaffung des festen Instandhaltungspersonals und die Auslagerung dieser Arbeit hat tiefgreifende Veränderungen in der Struktur des technischen Wissens des Unternehmens und indirekt in der industriellen Kultur mit sich gebracht. Diese Veränderungen ließen sich folgendermaßen zusammenfassen: »Im Betrieb gibt es keine Leute mehr, die die Anlagen kennen.« Die meisten Großbetriebe der hochentwickelten Sektoren wie Chemie und Stahl haben die technischen Abteilungen abgeschafft, die die Eigenheiten der Anlagen und der Prozesse kannten und nicht nur einschätzen konnten, welche und wie umfangreiche Reparatur- oder Instandhaltungsmaßnahmen nötig waren, sondern auch, was das kosten würde und wie lange es dauern würde – so daß das Unternehmen den mit der Ausführung beauftragten Firmen einen Zeitlohn zahlen konnte. Wegen der Abschaffung der technischen Abteilungen haben die Betriebe jetzt große Schwierigkeiten, den Lieferanten exakte Angaben über die zu liefernden Materialien und Werkzeuge zu machen. Daher haben sich all diese Kenntnisse auf die Subunternehmen verlagert, bzw. auf jene Handvoll von Subunternehmen, die eben wegen ihrer wirtschaftlichen Stabilität und organisatorischen Kontinuität die »technische Erinnerung« an die Eigenheiten der Anlagen bewahren, mit denen sie zu tun hatten. Heute verhandeln nicht mehr die technischen Abteilungen, sondern die Einkaufsabteilungen mit den Subunternehmen.

    Wozu hat diese Vernichtung des technischen Kenntnisschatzes geführt? Dazu, daß die normalen Reparaturen und die begrenzten Instandhaltungsmaßnahmen abgeschafft werden und man die Anlage solange verrotten läßt, bis sie ganz ersetzt werden muß. Dadurch veralten die Anlagen schneller, womit nicht nur die Investitionen angekurbelt werden, sondern natürlich auch die Notwendigkeit entsteht, »schlüsselfertige« Anlagen zu liefern. Nach dieser Philosophie würde sich jemand, dem ein Ventil im Automotor verschmort ist, statt den Zylinderkopf zu erneuern, ein neues Auto kaufen.

    Außerdem müssen die Unternehmen die Qualitätssicherung einführen, sind aber nicht in der Lage, die technischen Vorgaben für die Zulieferer auszuarbeiten, so daß die Qualitätssicherung zu einem rein formalen Akt wird, der nach Erpressung riecht.

    Bestimmte Kenntnisse werden auch deshalb ausgelöscht, weil die Managementtechniken sie in gewisser Weise überflüssig gemacht haben. Ein Manager kennt nämlich eine einzige, eiserne Regel: das ihm zur Verfügung stehende Budget; er tut nicht, was zu tun ist oder was die technischen Merkmale der Anlage erfordern, sondern was das Budget erlaubt. Da jetzt in den jährlich aufgestellten Instandhaltungsplänen die sich aus der Kenntnis der Anlagen ergebenden Bewertungskriterien fehlen, fehlt auch die Fähigkeit, die Kosten im voraus abzuschätzen. Deshalb muß die Firma, die sich um einen Werkvertrag bewirbt, schon bei Angebotsstellung Aufstellungen und Kostenvoranschläge einreichen (d.h. einen zusätzlichen, nicht anerkannten Service bieten), um Arbeiten durchführen zu können, für die eigentlich spezialisiertes Personal und eine eigene technische Abteilung nötig wären. Dies führt gegenwärtig unter den Subunternehmen, die Anlagen warten oder reparieren, zu einem harten Ausleseprozeß. Da sie alle in einem sehr engen Kostenrahmen arbeiten, können sie sich keine eigene technische Abteilung leisten, sondern bewahren häufig die »Erinnerung« an die Anlagen, mit denen sie schon zu tun hatten. Das heißt aber noch lange nicht, daß sie Aufstellungen oder Pläne erarbeiten können. Also arrangieren sie sich, so gut es geht, sonst müßten sie sich aus der Konkurrenz um die attraktiveren Aufträge nämlich gleich verabschieden. Wenn sie nicht in der Lage sind, die Variablen eines Auftrags genau einzuschätzen, dann können sie auch nicht einschätzen, wie lange sie zur Durchführung der Arbeit brauchen, und laufen daher Gefahr, zu niedrige Angebote abzugeben. Da die Verträge aus den oben genannten Gründen nicht mehr wie früher auf Zeitlohn basieren, sondern »pauschal« abgeschlossen werden, ist das Risiko groß: Lohnaufträge basieren auf einer meist recht präzisen Abschätzung der Mannstunden. Daher riskierte die Werkvertragsfirma nichts; sie mußte einfach die Mannstunden mit dem Stundensatz multiplizieren, den sie fordern wollte, und konnte sich dabei auch noch dicke Spekulations- und Arbeitsvermittlungsgewinne einstecken (die Differenz zwischen dem mit dem Auftraggeber vereinbarten Stundensatz und dem seinen gelegentlich Beschäftigten ausbezahlten Stundenlohn). Heute muß der Subunternehmer den Kostenvoranschlag selbst erstellen. Der Auftraggeber beschränkt sich darauf, das »Problem darzustellen«, er kann nur noch das Angebot mit seinem Budget vergleichen, um alles andere »soll sich der Subunternehmer kümmern«. Dieser ist an sehr engen Zeitrahmen gebunden, da die Anlagen still stehen, solange er arbeitet. Die selbständigen Arbeiter müssen immer mehr wissen, wenn sie sich auf dem Markt halten wollen, aber dadurch erlangen sie keine größere Verhandlungsmacht gegenüber dem Auftraggeber, sondern konkurrieren sich nur untereinander nieder. Sehr selten kann eine Firma z.B. Zahlungsbedingungen aushandeln – diese werden vom Auftraggeber diktiert (60-90 Tage nach Rechnungsstellung).

    Die pauschalen Werkverträge sind riskant für die Subunternehmer, weil sie auch Material liefern, d.h. vorfinanzieren müssen, was zu einem weiteren Auslesefaktor unter den Subunternehmern wird, vor allem aber, weil nur für ein »taugliches« »Werk« bezahlt wird. Was besagt das? Daß die Anlage nach Beendigung der Reparatur- oder Wartungsarbeiten funktionieren muß, und wenn sie aus anderen als denen von der Werkvertragsfirma gefundenen Gründen nicht funktioniert, ist sie dafür verantwortlich. Daher ist die Werkvertragsfirma implizit dazu gezwungen, die Anlage vor Vertragsabschluß komplett durchzuchecken; manchmal muß sie sogar die technische Abnahme übernehmen. Ergebnis: Während die Subunternehmer (einmal abgesehen von den Arbeitsvermittlern) vor fünfzehn Jahren nur handwerkliche Qualifikationen organisierten, waren sie seither, um auf dem Markt zu bleiben, gezwungen, sich in High-Tech-Unternehmen (Anlageninspektion, Projekterstellung, technische Abnahme usw.) zu verwandeln und mit einem stark ausgeweiteten Geschäftsvolumen ihr finanzielle Selbständigkeit bewahren. Nur so können sie Firmen mit mehreren Kunden werden. Aber weil der Gewinn immer ziemlich niedrig bleibt, da der Auftraggeber sie weiter wie einen Handwerksbetrieb behandelt, konzentriert sich das notwendige neue Wissen auf die zwei, drei Firmeninhaber.

    Mit der Rezession seit 1991 hat in Italien eine neue und noch erbarmungslosere Auslesephase begonnen, die daher rührt, daß die Großunternehmen die Zahlungsfristen für die Zulieferer und damit auch für die Instandhaltungsfirmen verlängert haben. Da die großen Chemie- und Stahlwerke zu einem Großteil in Staatsbesitz sind, bekommt das Volk der Dienstleister, d.h. die selbständigen Arbeiter nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politisch-institutionellen Schwierigkeiten der staatlichen Industrie zu spüren.

    Normalerweise erfolgte die Zahlung 60 oder 90 Tage nach der Rechnungstellung bei Abschluß der Arbeiten. Einige Industrien haben die Zahlungen eingestellt, andere haben die Frist auf sechs Monate verlängert. Das hat unter denjenigen Werkvertragsfirmen, die nicht mehr einfache Handwerker oder Arbeitsvermittler waren, sondern die Modernisierung geschafft und deshalb ihr Überleben für gesichert gehalten hatten, ein Massensterben ausgelöst. Durch Konkurse und Geschäftsaufgaben wurde viel mühsam erworbenes Know how und Kleinstunternehmerenergie verschleudert, während prekäre Arbeit, Verfügbarkeit ohne Gegenleistung und qualitativ schlechte Leistungen zunehmen und die Zuverlässigkeit und Sicherheit der Anlagen abnehmen.

    Auch da, wo die Zahlung 60 Tage nach Rechnungsstellung erfolgt, führen die im Rahmen der Qualitätskontrollen eingeführten neuen bürokratischen Verfahren zu derartigen Verzögerungen, daß zwischen Beendigung der Arbeiten und Zahlungseingang sechs Monate vergehen.

    Einige Großunternehmen haben nämlich gegenüber den Subunternehmern, mit denen sie Werkverträge abschließen, einen sogenannten Zertifikatsschein eingeführt. Dabei legt das Unternehmen zu Jahresbeginn eine Obergrenze für die Instandhaltungskosten fest und gibt einen Instandhaltungsauftrag hinaus, in dem einige Parameter wie die Lohntarife und die Materialkosten festgelegt werden (die Unordnung auf dem Wechselkursmarkt macht ihnen dann wieder einen Strich durch die Rechnung). Man vergibt den Werkvertrag an eine Firma. Diese soll nach Beendigung der Arbeit eine Abrechnung aufstellen, in der die Lohnkosten und Materialkosten getrennt aufgeführt sind. Die Abrechnung für die entstandenen Materialkosten wird an die Einkaufsabteilung weitergeleitet, die nach sorgfältiger Kontrolle der angegebenen Lieferbeträge eine »Bedarfsaufstellung« anfertigt, bei der jede einzelne Materiallieferung eine laufende Nummer bekommt. Erst jetzt kann das Verfahren zur Ausstellung des Zertifikatsscheins beginnen, d.h. der Bescheinigung, die besagt, daß der Auftraggeber die vom Subunternehmer vorgestreckten Einzelkosten akzeptiert, und diesen zur Rechnungsstellung berechtigt. Trotz Automatisierung der Verwaltungstechniken vergehen Monate, bis das bürokratische Procedere abgeschlossen ist, und auch wenn die Zahlung 60 Tage nach Rechnungsstellung eingeht, erfolgt sie insofern faktisch erst sechs Monate nach Abschluß der Arbeit. Um mit der Verspätung der Zahlungen fertigzuwerden, greifen einige Werkvertragsfirmen auf das factoring zurück, aber dieses stellt nach Aussage meiner Interviewpartner eher ein Erpressungsinstrument als einen Finanzierungsservice für ihre Firma dar: abgesehen von den an den aktuellen Geldkosten orientierten Zinsen führt das factoring zu einem 7,5-prozentigen Rabatt bei der Auftragssumme und schließt den Rücktritt des Vertragspartners aus. Manche Großfirmen, die es gewöhnt sind, mit Verspätung zu zahlen, verpflichten die Subunternehmer zur Nutzung ihrer eigenen factoring-Dienste. Dabei handelt es sich zum allergrößten Teil um staatliche Firmen.

    Man sieht also, daß das Großunternehmen technische Kenntnisse und Dienste abstößt, gleichzeitig aber bürokratische Kenntnisse und Funktionen sammelt und dabei immer mehr zu einem Organismus wird, der nicht Waren, sondern Verfahren produziert. Die reine Orientierung an der Bilanz und die Eliminierung aller technischen Kenntnisse hat in den Großunternehmen zu einer tiefgreifenden Veränderung der Mentalitäten und Kulturen geführt, die immer weniger technisch-industriell und immer mehr Verwaltungs- und Managementkulturen sind. Neben dem zunehmenden Verschwinden der Arbeiterklasse läßt sich auch ein starker Rückgang der technischen Kenntnisse von Meistern, Angestellten und Managern feststellen. Die Mentalitäten des industrialistischen Zeitalters werden in der Großfabrik immer seltener und verlagern sich immer mehr in die Galaxis der selbständigen Arbeit.
    Organisations- und Managementberatung

    Die Unternehmensberatung entsteht in dem Moment, wo die Entwicklung der Unternehmen und die Kapitalfinanzierungspraktiken, besonders an der Börse, die Einrichtung einer äußeren Autorität zur Kontrolle der Managementmethoden mit gleichzeitigen Aufsichts- und Notariatsfunktionen erforderlich machen. [49]

    So entstehen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, ein »neuer« Dienstleistungstyp, denn die Finanzierungsverfahren der Unternehmen wie die gewöhnliche Kreditaufnahme, der Eintritt neuer Gesellschafter oder die Ausgabe von Aktien machen eine Überprüfung der Managementmethoden nötig.

    Einige der ersten Unternehmensberatungsfirmen auf dem Markt waren ursprünglich Wirtschaftsprüfungsgesellschaften.

    Die Unternehmensberatung entwickelt sich aber in dem Moment zu einer spezifischen Sparte, wo die Organisationssysteme und Managementverfahren, d.h. der technische und kulturelle Wissensstand des scientific management, derart anwächst und sich ausdifferenziert (Personalverwaltung, Marketing, Buchhaltung, Ausbildung usw.), daß spezialisierte Profis notwendig werden.

    MacKinsey als bekannteste und Andersen als größte Unternehmensberatungsfirma sind inzwischen auf 7.000 bzw. 30.000 Beschäftigte angewachsen. Das Problem der selbständigen Arbeit taucht in dem Moment auf, wo wie heute neben den größeren Gesellschaften eine Schicht von Ein-Personen-Firmen entsteht, von Büros mit zwei, drei oder fünf Gesellschaftern. Es rührt aber auch daher, daß die Beschäftigten der großen Gesellschaften letztlich sehr ähnliche Arbeitsverhältnisse wie selbständige Arbeiter haben, gerade weil es um den Verkauf von professionellen Dienstleistungen geht.

    Die selbständige Arbeit in dieser Sparte müßte nach zwei verschiedenen Arten von Kriterien analysiert werden:

    – die Organisation der Arbeit selbst und die erforderlichen Qualifikationen;

    – die fachlichen Inhalte, d.h. die durch das Eingreifen des Beraters erzeugte Kultur, ihr Innovationsgrad. [50]
    Die Hegemonie der US-Kultur

    Methode, Jargon und Kultur der Unternehmensberatung wurden und werden bis heute fast ausschließlich von den US-Gesellschaften und den amerikanischen Business Schools bestimmt.

    Ihre Verfahren sind am besten überprüft, ihre Ausbildungsmethoden am klarsten; die Berater passen sich nicht nur aus Gewohnheit, sondern pflichtgemäß an sie an; sowohl ihnen als auch den Kunden gibt die Einhaltung der Standardverfahren der US-Schule ein Gefühl von »Sicherheit«.

    Man kann in diesem Zusammenhang unmittelbar zweierlei von Beobachtungen machen:

    Erstens, daß die Unternehmensberatung eines der deutlichsten Beispiele für die kulturelle Hegemonie der USA über das westliche Gesellschaftssystem ist. Da der Betrieb in den 80er Jahren zum sozialen Archetyp par excellence geworden ist, zu dem Organisationsmodell, an das die anderen sozialen Organismen sich in Stil, Sprache und Zielen anpassen mußten, funktionierte er schließlich auch als Vervielfältigungsmechanismus für die amerikanische kulturelle Hegemonie: Wenn der Betrieb einen US-Jargon spricht und die Gesellschaft den Betriebsjargon, verstärkt sich der Kolonisationseffekt.

    Diese Hegemonie wird von der gesamten Geschäftswelt ohne jede Diskussion akzeptiert, sogar von der französischen. Seit der Ausbreitung des Europagedankens und der allmählichen Zunahme des Austauschs zwischen Italien und den EG-Ländern und der gleichzeitigen drastischen Abnahme des Austauschs mit den USA bekommt die totale kulturelle Abhängigkeit von den USA in Sachen Management und Betriebsorganisation allerdings Risse.

    Von daher könnte es interessant sein – wir werden gleich sehen, wie das mit dem Problem der selbständigen Arbeit zusammenhängt -, zu überprüfen, ob die Erfolge der Lega Nord in den Teilen Italiens mit sehr vielen Kleinunternehmern nicht zu einem Niedergang des amerikanischen Mythos und zu seiner Ersetzung durch einen »deutschen« oder »französischen Mythos« geführt haben, d.h. ob im Bewußtsein des italienischen Unternehmers Frankreich und Deutschland – angeblich effiziente Länder, wo es viele Dienstleistungen zur Unternehmensentwicklung gibt – den USA nicht die kulturelle Führung abgenommen haben.

    Trotz der unbestreitbaren Erfolge bestimmter europäischer Länder und der ebenso unbestreitbaren Mißerfolge bestimmter amerikanischer Firmen und Institutionen ist die Abhängigkeit vom amerikanischen Modell in der Kultur der Unternehmensberatung so stark, daß man hier geradezu von kolonialer Unterwerfung sprechen kann.

    Einer der neuen Unternehmensberatungssektoren der 90er Jahre ist der Logistik- und Transportsektor; auf diesem Feld führen die USA nicht. Ohne von den Japanern und vom Toyotismus zu reden, haben Schweden, Holländer, Engländer, Deutsche und Franzosen äußerst fortgeschrittene und ausgeklügelte Organisations- und integrierte Steuerungsmethoden für Lagerhaltung und Warenströme entwickelt. Sie haben eigene Techniken und eigene Schulen entwickelt. Dennoch ist die koloniale Trägheit so stark, daß man oft Untersuchungen von Unternehmensberatungsfirmen oder Universitätsinstituten über den Logistik-, Transport- und Distributionsektor lesen kann, die sich ausschließlich auf US-Quellen beziehen. Auch wenn sich die Dinge langsam ändern, spricht dieses Beispiel dafür, daß die Unternehmensberatung in Italien im europäischen Vergleich am stärksten von den USA abhängig ist. Dabei läuft sie Gefahr, sich selbst »aus dem Markt« zu drängen, nicht zuletzt, weil auch die italienischen Unternehmen selbst mit der festen Überzeugung in die 90er Jahre gehen, ein immer integralerer Teil Europas zu sein, und sich auch kulturell von der Unterwerfung unter die Herrschaft der USA befreien möchten.

    Sei es, weil der Beruf des Unternehmensberaters das Markenzeichen USA trägt, oder sei es, weil er die Werte Effizienz, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit konkretisiert: so oder so mußte er in den Rang eines der kommenden »neuen freien Berufe« aufsteigen, zum Symbol der »Modernität« der 80er Jahre werden, auch wenn seine Ursprünge im allerältesten Fordismus liegen. Da er vorwiegend in Form von selbständiger Arbeit ausgeübt wird, mußten die mit ihm verbundenen Symbole, Werte und Phantasien auf die ganze selbständige Arbeit im sogenannten modernen Dienstleistungssektor ausstrahlen.
    Beziehungsqualifikationen und berufliche Qualifikationen

    Die zweite Reihe von Beobachtungen betrifft das Verhältnis zwischen der »Kreativität« des einzelnen Beraters und der Anwendung standardisierter Verfahren. Da sich der Berater zwangsläufig an die überprüften Verfahren anpassen muß, macht es keinen großen Unterschied, ob er freelancer oder Partner oder Beschäftigter einer großen Beratungsgesellschaft mit ihren besonderen Methoden und besonderen Produkten ist. Ein-Personen-Firmen oder ein paar zu einer Sozietät zusammengeschlossene Freiberufler kochen – auf dieser Ebene – mit demselben Wasser wie Berater, die für eine große Gesellschaft arbeiten.

    Der Berater lernt also eine Methode und wendet sie an, aber das ist nicht seine ganze Qualifikation. Ich will hier die Hypothese aufstellen, daß dieser Teil seiner Qualifikation im ganzen gerechnet weniger wichtig ist.

    Der wichtigere Teil ist seine Fähigkeit, sich auf den Kunden einzustellen, d.h. einen Beziehungsmechanismus mit dem komplexen System einzugehen, mit dem er es zu tun hat: dem Kundenunternehmen.

    Auf dieser Ebene bringt es ihm wenig, daß er die standardisierten Verfahren parat hat. Er braucht vielmehr Einfühlungsvermögen, Diplomatie und Behutsamkeit, d.h. Kenntnisse, die – wie bei allen Berufen normal und üblich – teilweise eine Frage der Erfahrung sind, die aber keine Innovationen produzieren, d.h. es sind Anpassungskenntnisse, keine Veränderungskenntnisse.

    Der Berater mischt die Karten der Macht im Unternehmen neu und er stößt möglicherweise genau bei den Subjekten auf Widerstand, die ihm die für die Voruntersuchung unverzichtbaren Informationen geben sollen. Während er die Karten der Macht im Unternehmen neu mischt, ist er oft Beobachter von Machtkämpfen zwischen verschiedenen Fraktionen. Als Berater sollte er sich neutral verhalten, aber damit löst er sein Problem nicht, nämlich die organisatorischen Mechanismen zu durchdringen, um seine Rationalisierungsmaßnahmen und -verfahren zum Ansatz bringen zu können.

    Das Produkt, das der Berater verkauft – ob als freelancer oder als Angestellter einer großen Gesellschaft -, ist also nur teilweise innovativ, letzten Endes ist es immer dasselbe. Der innovative und kreative Teil seiner Arbeit ist die »Beziehungsarbeit« und läßt sich daher sehr schwer standardisieren, hier herrscht die Informalität.

    Die informelle Beziehung zeichnet sich dadurch aus, daß sie sich nur schwer in Verfahren einbinden, d.h. übertragen läßt. Sie ist eine Innovation, die im selben Moment verbraucht wird, in dem sie erzeugt wird.

    Die »abgesehen von besonderen Qualifikationen« und standardisierten Verfahren (also abgesehen vom eigentlichen Beratungsprodukt) zum Kunden hergestellte Beziehung ist so wichtig, daß sie auch erklärt, warum ständig neue Beratungsgesellschaften gegründet werden, d.h. warum sich ein Berater vom Mutterunternehmen löst, um »sich selbständig zu machen«.

    Wenn ein bei einer großen Gesellschaft angestellter Berater die Firma verläßt, um eine eigene Firma zu gründen oder selbständiger Arbeiter zu werden, spricht man von einem spin off-Prozeß.

    Obwohl das Kundenunternehmen natürlich möchte, daß geprüfte Verfahren angewandt werden, möchte es natürlich ebenso einen »persönlichen« Service und eine ganz besondere Aufmerksamkeit seitens des Beraters bekommen. So stellt sich ein Mechanismus von Vertrauen und Komplizenschaft mit dem Berater her, aus dem die Firma, mit dem das Kundenunternehmen den Vertrag abgeschlossen hat, d.h. der Arbeitgeber oder -vermittler des Beraters, der zwischen 40 und 60 Prozent seines Lohns abschöpft, nach und nach ausgeschlossen wird.

    Der Berater trennt sich vom Mutterunternehmen und beginnt seine Laufbahn als selbständiger Arbeiter, oft aufgrund von mündlichen Absprachen, d.h. informellen Beziehungen mit dem Kundenunternehmen, das ihm lange genug Arbeit zusichert, damit er sich selbständig machen kann.

    Die beim spin off mitgenommenen Kenntnisse bestehen aus den Grundlagenkenntnissen (Methoden und Verfahren) und der permanenten Weiterbildung bei der Muttergesellschaft. Der Beziehungsmechanismus zum Kunden wiederum macht die Trennung und den Start möglich. Sehr selten dagegen steht hinter einem spin off die Entwicklung eines neuen Produktes, d.h. ein authentischer Innovationsprozeß.

    Wenn unser Mann völlig selbständiger Arbeiter geworden ist, sind seine beiden größten Probleme:

    – der Aufbau eines Kundenstammes, der von ihm eine neue Investition in Beziehungsfähigkeiten erfordert;

    – die permanente Weiterbildung, die ihm gewisse Kosten abverlangt, um sich immer auf dem laufenden zu halten.

    Tatsächlich stehen hinter der umgekehrten Entscheidung, nämlich an eine große Gesellschaft gebunden zu bleiben, folgende beiden Faktoren: die Fort- und Weiterbildung, die eine große Gesellschaft ihren Beschäftigten bietet, und die Geschäftsaktivität. In Wirklichkeit muß bei Gelegenheiten zur Fort- und Weiterbildung, d.h. die meist ziemlich teure Teilnahme an Seminaren und Kongressen, selbst wieder Beziehungsarbeit geleistet werden: Der als selbständiger Arbeiter tätige Berater muß sehr sichtbar bleiben, und während er lernt, muß er gleichzeitig auch immer gesellschaftlich-geschäftliche Beziehungen herstellen. Die Beratungskultur unterliegt stark der Mode: Auf dem neuesten Stand zu sein, bedeutet mitunter, frühzeitig über die neuen Moden und die neuen Schlüsselwörter informiert zu sein. Die Bildungsinhalte können also sehr oberflächlich sein, pseudokulturell und pseudotechnisch, und ihr Wert und ihre Verwertbarkeit liegt wiederum überwiegend auf der Beziehungsebene: Die Moden sind weder Kultur noch Innovation, sondern Zeichen der Zugehörigkeit, also Beziehungsprozesse.

    Der spin off ist eine Form der Schaffung neuer unternehmerischer Subjekte. Eine andere besteht darin, daß jemand, der in einem Großunternehmen nach oben gekommen ist oder besonders verantwortliche organisatorische Leitungsaufgaben übernommen hat, sich irgendwann von der Firma trennt, um sich als Berater selbständig zu machen.

    Während im ersten Fall ein Fachmann seinen Beruf in anderer Form fortsetzt, handelt es sich hier um einen richtigen Berufswechsel: Der leitende Angestellte oder Manager, der den Beruf des Beraters ergreift, weiß weder so gut über Methoden und Verfahren Bescheid wie jemand, der schon immer Berater war, noch hat er Erfahrungen mit so vielen unterschiedlichen Unternehmen. Dafür kann er oft auf einen viel breiteren und gefestigteren Fundus von Beziehungen zählen, und dies ist das wahre »Kapital«, das er mitnimmt, viel mehr oder mindestens genauso sehr wie sein berufliches Knowhow. Wer eine bestimmte Stellung in einem Großunternehmen einnimmt, hat hunderte von Menschen kennengelernt, kleine und große Gefälligkeiten erweisen können, vor allem an Menschen außerhalb des Unternehmens. Er hat Aufträge vermittelt, kleine und große Geschäfte, wenn er in der Personalabteilung gearbeitet hat, hat er Menschen kennengelernt und ausgesucht und mit der Gewerkschaftsgalaxis verhandelt.

    Auch hier sehen wir – sogar noch mehr -, daß der informelle, freundschaftliche Beziehungsfaktor wichtiger oder genauso wichtig ist wie der fachliche Faktor, d.h. die Gesamtheit der Kenntnisse, aus denen das verkäufliche Produkt besteht.

    Wir können also die Hypothese aufstellen, daß die selbständige Arbeit sich von der abhängigen Arbeit durch das besondere Gewicht – was Zeit, Energie und Geld angeht – des nötigen »Beziehungs«-Engagements und durch den extrem hohen Wert des »Beziehungskapitals« des einzelnen – seines Systems informeller Beziehungen – unterscheidet.

    Die eigentliche technisch-wissenschaftliche Qualifikation, d.h. der eigentliche fachliche Inhalt, erscheint als etwas Repetitives, wesentlich Lebloses, das keinen Anreiz zu kreativem oder intellektuell produktivem Verhalten bietet.

    Außerdem versuchen die großen Beratungsgesellschaften, zu ihrem Personal Beziehungen herzustellen, die nichts mit den Formalien abhängiger Arbeit zu tun haben. Die Laufbahn eines Angestellten innerhalb einer solchen Gesellschaft mündet in eine Partnerschaft, d.h. in den Erwerb eines Anteils am Unternehmensrisikos durch den Mitarbeiter. An diesem Punkt ist der Partner auch ein Handelsvertreter – in manchen Fällen wird ein Jahresumsatz festgelegt, den er erreichen muß. Oft findet der spin off genau dann statt, wenn der Berater Partner werden soll. Wenn er dagegen lieber in neuem Gewand in der Firma bleibt, hat seine Tätigkeit große Ähnlichkeit mit der eines selbständigen Arbeiters: er muß Kunden suchen, d.h. persönlich sichtbar sein. Sein einziger, sehr wichtiger Vorteil gegenüber dem freelance liegt in der Fort- und Weiterbildung, die ihm die Firma, der er angehört, bietet.

    Auch hier sehen wir, daß es bei der geforderten Arbeit mehr um die Herstellung von Geschäftsbeziehungen als um Fachwissen geht.

    (wird fortgesetzt [schrieb der Autor in Altreragioni 2/93])

    Fußnoten:

    [1] Composition de classe en Italie dans les années 90, Paris, den 12. März, 1990. Dieser hektographierte Text wurde an verschiedene Personen und Forscher verteilt, von denen einige kritische Anmerkungen oder Anregungen geäußert haben, die ich hoffentlich in dieser gegenüber dem französischen Text erheblich überarbeiteten italienischen Version berücksichtigt habe. Besonderer Dank geht an Riccardo Bellofiore, Patrizio Bianchi, Sergio Bruno und Enzo Rullani.

    [2] In der Zeitschrift »Primo Maggio«, die 1973 von einer Forschergruppe, darunter dem Autor dieser Zeilen, gegründet wurde, wurden verschiedene, auch historische Essays über die Arbeit im Gütertransport veröffentlicht, die dann im Juni 1978 gesammelt als »Dossier Trasporti« herauskamen.

    [3] Die Beziehung zur CGIL wurde zwar später unterbrochen, aber es besteht nach wie vor eine intellektuellen Austauschbeziehung mit einigen Gewerkschaftskadern, die mir Material und nützliche Anregungen für diese Studie zur Verfügung gestellt haben, besonders Alves Baraldi, damals beim Ufficio Innovazione der CGIL von Reggio Emilia.

    [4] Vgl. der »Rapporto 88« des Arbeitsministeriums, Lavoro e politiche dell‘ occupazione in Italia, Fondazione Brodolini 1988.

    [5] CERVED, »Movimprese. Movimento anagrafico delle imprese italiane«, verschiedene Nummern.

    [6] Le imprese artigiane in Italia. Dati statistici. Beilage zu »Movimprese« Nr. 1/1988.

    [7] Die folgenden Betrachtungen sind die Zusammenfassung einer Untersuchungsarbeit, von der verschiedene schriftliche Darstellungen existieren, auf die ich zur Vertiefung verweise. Vgl. besonders: S. Bologna, Professions du transport et réglémentation du travail dans le secteur coopératif et artisanal italien, Referat auf dem Kongreß »Berufe und Regulierung im Transportwesen im Hinblick auf Europa 1993«, Paris, 31. März, 1989 und Les micro-entreprises de transport en Italie, Referat auf dem Kongreß »Les Transports des marchandises dans les pays européens«, Paris, 7. Juni, 1989, italienische Version Il camionista come merce, in »Politica ed economia«, November 1989; siehe auch Les messageries express en Europe. Le cas italien. Forschungsbericht für den »Club Eurotrans«, Paris, Mai 1990.

    [8] Mittlerweile wird allgemein anerkannt, daß diese Beschäftigtenstruktur typisch für die postfordistischen Phase ist, s. unter anderem André Gorz, Metamorfosi del lavoro, Torino 1992, (»die großen Unternehmen haben gelernt, nach japanischem Modell die größtmögliche Zahl von Produktionen und Dienstleistungen zu dezentralisieren und auszulagern. Dazu bedienen sie sich meist winziger Satellitenfirmen – die im Grenzfall aus einem einzigen Handwerker-»Unternehmer« bestehen, der mit vom Großbetrieb zur Verfügung gestelltem Kapital ausschließlich für diesen arbeitet«, S. 73).

    [9] E. de Franceschi, L. Sibilia, Professionisti e lavoratori autonomi, (Fachleute und selbständige Arbeiter), Milano 1992.

    [10] Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich mich mit der Bedeutung der Phase des antiterroristischen Notstands (1979-82) für den Übergang der italienischen Gesellschaft zum Postfordismus befassen. Die wahre »zweite« Republik ist damals entstanden. Sie zeichnete sich aus durch die Verdrängung der Arbeit aus dem Wertesystem, auf dem die erste Republik beruhte. Dieses war genauso sehr ein Verfassungsphänomen wie ein kulturelles, da die Verfassung der aus der Resistenza entstandenen ersten Republik nicht von der Formulierung juristischer und philosophischer Prinzipien ausging, sondern vom Postulat, die Arbeit als produktives und gesellschaftliches Phänomen zur Grundlage des Staates zu machen. Formelle Verfassung und materielle Verfassung wurden also untrennbar miteinander verbunden. Alle, die die Arbeit aus ihrer eigenen kulturellen Sphäre entfernt haben, haben sich damit implizit außerhalb der Verfassungsprinzipien der ersten Republik gestellt und zur Gründung der zweiten beigetragen. Historisch geschah das als Folge der vom antiterroristischen Notstand erzeugten Kultur, einer Zeit, die als einzig wirklich erfolgreicher »Putsch« in Italien nach dem Krieg gelten kann. Welchen Beitrag die PCI zur Kultur des Notstands und damit indirekt zur Formierung der zweiten Republik geleistet hat, ist allen bekannt.

    [11] Michel Savy, »Le fret: industrie ou service?« in: Les cahiers Scientifiques du Transport, Nr. 15-16, 1987.

    [12] Nomisma, Laboratorio di politica industriale, Ristrutturazione industriale e piccole imprese, Bologna 1989.

    [13] M. Lazerson, »La subfornitura nell’industria della magliera a Modena«, in Pyke, Becattini und Sengenberger (Hrsg.), Distretti industriali e cooperazione tra piccole imprese, Studi e informazioni (Zeitschrift der Banca Toscana), Nr. 1, 1991; siehe auch I distretti dell’industria manifatturiera in Italia, Fabio Nuti (Hrsg.), 2 Bde., Milano 1992.

    [14] Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden bei einem Kongreß in Rom am 27. Oktober 1989 vorgestellt. Die Kongreßmaterialien wurden veröffentlicht in dem Band Rischi, patalogia e prevenzione nel lavoro degli autotrasportatori, hrsg. vom Istituto Italiano di Medicina Sociale, Roma 1990. Als Kongreßteilnehmer erinnere ich mich noch daran, wie bestürzt die Referenten über die Realität der Ausbeutung waren, die sie während ihrer Untersuchung entdeckten. Es lohnt sich, aus dem Schlußwort des nationalen Sekretärs der FITA-CNA, Angelo Valenti zu zitieren: »Das Gesundheitsministerium unternimmt nichts zur medizinischen Kontrolle, zur Vorbeugung und zur Anerkennung der Berufsrisiken und Berufskrankheiten der Beschäftigten in dieser Branche, die bei Erkrankung mit 400 000 Lire im Monat in Rente geschickt werden« (ebd. S. 198).

    [15] Patrick Hermlin, Lorry drivers‘ time habits in work and their involvment in traffic accidents, Referat auf dem Kongreß »Irregular and abnormal hours of work« in Brighton am 16.-18. Januar 1987.

    [16] F. van Ouwerkerk, »Working Hours of European Truck Drivers«, in INRETS CEE, Working Conditions of Drivers in Road Transport, Actes INRETS, Nr. 23, Oktober 1989.

    [17] P. Niérat, Traction routière en longue distance: les navettes, une organisation particulière, Rapport INRETS Nr. 91, Februar 1989, und ders., Transport combiné: organisation des dessertes terminales, Rapport INRETS Nr. 110, Januar 1990.

    [18] Eurostaf, Transports et logistique en Italie, Paris/Milano 1992.

    [19] Es sollte betont werden, daß das Interesse an informeller Arbeit, Heimarbeit, Subunternehmertum usw. in modernen Industriesystemen und technologisch modernen Sektoren Ende der 80er Jahre in den USA aufgetaucht ist, und zwar im Zusammenhang mit einer Identitätskrise des amerikanischen Modells, wie sich u.a. an den Untersuchungen des MIT über Made in America und den Toyotismus ablesen läßt. Siehe außer dem Buch von Lozano auch die Forschung einer anderen Wissenschaftlerin, Norma Chalmers, Industrial relations in Japan. The peripheral workforce, London/New York 1989. Der Zusammenbruch der sozialistischen Regime und die nachfolgende Selbstbeweihräucherung des Kapitalismus scheinen das kritische Nachdenken über den Postfordismus gestoppt zu haben.

    [20] Barcellona hat seine Auffassungen in verschiedenen bei Bollati/Boringhieri veröffentlichten Schriften – siehe v.a. L’individualismo proprietario (1987), L’egoismo maturo e la follia del capitale (1988), Il ritorno del legame sociale (1990) – und in verschiedenen Artikeln dargelegt, von denen ich jene ziemlich bezeichnend finde, die gleichzeitig mit dem Fall der Mauer in Berlin erschienen sind: Gli anni di regime del terzo capitalismo, in »L’Unità« vom 9.11.1989 und Per una sinistra che vada oltre l’orrizonte socialdemocratico, »L’Unità« vom 12.7.1990. In dem ersten Buch behauptet Barcellona die Zentralität des Rechts in der Regelung [governo] der gesellschaftlichen Erscheinungen: »Nur die Formalisierung des Rechts, indem es zur reinen Form, zum reinen Verfahren, zur reinen ‚Spielregel‘ wird (gleichgültig gegen den materiellen Inhalt der Gerechtigkeit), kann das Wunder der reductio ad unitatem vollbringen, die die Sprengkraft des neuen Individualismus nicht leugnet. Nur das formale Recht der Gleichheit kann das Wunder der Koexistenz von Einheit (Ordnung) und Vielfalt, von Bleiben (Stabilität) und Werden (Veränderung) vollbringen. Um dieses Wunder zu vollbringen, muß aber ein Preis entrichtet werden: die Spaltung des Subjekts

  • Im Wildcat-Zirkular Nr. 33 (1997) hat Sergio Bologna ausführlich zu diesem „Problem“ Stellung genommen, es handelt sich dabei um eine Übersetzung eines Textes, der zuerst in der Zeitschrift „AltreRagioni“ – Anfang der Neunzigerjahre – erschienen war:

    Teil I

    Mit diesem Artikel knüpfe ich an einige Überlegungen über die selbständige Arbeit an, die ich erstmals im März 1990 in Paris im Rahmen einer Seminarreihe beim Forschungsministerium vorgestellt habe. [1]

    Ein erster Auslöser war meine Mitte der 80er Jahre systematisch begonnene Forschungstätigkeit im Güterverkehrsbereich (mein Interesse an dem Thema reicht allerdings in die 70er Jahre zurück), [2] durch das ich einige Arbeitssituationen der Transportarbeiter in Häfen, Lager- und Verarbeitungszentren und auf Straßen und Schiffen und die jeweiligen Branchenorganisationen kennenlernte.

    Ein anderer Auslöser war meine persönliche Erfahrung als Neuling in der bunten Gruppe der selbständigen Arbeiter in der Branche der »sonstigen und unternehmensbezogenen Dienstleistungen«; und ein weiterer Auslöser war schließlich eine kurze Zusammenarbeit mit der CGIL Emilia-Romagna, bei der ich einen Blick auf eine für die »Flexibilität all’italiana« typische Region werfen konnte. [3]

    Zunächst muß man sich klarmachen, daß die Welt der Kleinstfirmen (wir werden noch sehen, wie ungeeignet dieser Begriff ist) nicht zur »Schatten«-Wirtschaft oder zur »Schwarz«-Arbeit gehört (trotz zahlreicher Berührungspunkte), denn die Kleinstfirmen sind beim Finanzamt angemeldet, d.h. es gibt sie ganz offiziell.

    Die einschlägigen Forschungsinstitutionen könnten den von diesem Universum produzierten Reichtum, die Art der dort geleisteten Arbeit und alle sonstigen Bestandteile dieser komplexen sozio-ökonomischen Erscheinung mühelos statistisch untersuchen, wenn sie nur wollten. Statt dessen müssen wir uns immer noch mit Schätzwerten begnügen, die das Vorurteil bestätigen, die Welt der Kleinstfirmen gehöre zur »Grauzone« des Systems und insofern zur Schattenwirtschaft.

    Ich habe mich nicht beschäftigt mit den sogenannten Ausbildungsverträgen, mit den Volontären, mit den working poor oder mit dem Universum der Arbeiter aus Nicht-EG-Ländern, das mit Sicherheit einen Großteil der inoffiziellen Arbeit ausmacht. Paradoxerweise ist dieser Bereich gründlicher untersucht als die selbständige Arbeit italienischer Bürger, was darauf hinweist, daß die »Grauzonen« oder völlig dunklen Zonen der Klassenzusammensetzung in Italien nicht unbedingt die marginalsten sind.

    Der Arbeitsmarkt in Italien wird üblicherweise in drei Sektoren unterteilt: einen öffentlichen Sektor mit sicheren Arbeitsplätzen, einen zweigeteilten privaten Sektor (einerseits die großen und mittleren Betriebe mit einem formalisierten System industrieller Beziehungen, andererseits die kleinen Familien- und Handwerksbetriebe) und schließlich einen durch Unterbeschäftigung gekennzeichneten Schattenwirtschaftssektor. [4]

    Dabei wird vergessen, daß alle diese drei Sektoren in einer Flüssigkeit »schwimmen«, die aus Millionen von unzutreffenderweise als Kleinstfirmen bezeichneten selbständigen Arbeitern besteht. Über diese selbständigen Arbeiter weiß man fast nichts, höchstens und auch nur wenig über die Handwerker oder Kooperativen unter ihnen.

    Sie arbeiten in der Landwirtschaft, für große und mittlere Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, viele in den (auch hochqualifizierten) Dienstleistungen, nicht so viele, aber immer mehr für die öffentliche Verwaltung und öffentliche Einrichtungen, und eine ganze Menge von ihnen arbeiten schließlich auch in den sogenannten Industrierevieren.

    In bestimmten Bereichen wie dem Güter- und Personentransport macht die selbständige Arbeit einen großen, wenn nicht den überwiegenden Teil der gesamten Arbeitskraft aus.

    Zwischen den Arbeitsverhältnissen, in denen die Flexibilität tarifvertraglich oder gesetzlich geregelt ist, und dem gesamten Universum der Schwarzarbeit oder »inoffiziellen« Arbeit stellt die selbständige Arbeit eine Art »zweite Ebene der Flexibilität der Arbeit« dar.

    Eine korrekte Analyse der Rolle von ImmigrantInnen aus Nicht-EG-Ländern auf dem Arbeitsmarkt müßte diesen Arbeitsmarkt in seiner ganzen Komplexität miteinbeziehen. Üblicherweise wird angenommen, daß die Immigranten entweder als abhängig Beschäftigte im Privatsektor oder schwarz arbeiten, aber immer meint man, daß sie die dirty jobs machen.

    In Wirklichkeit gibt es auch andere Einstiegsmöglichkeiten in den italienischen Arbeitsmarkt, unter anderem die selbständige Arbeit, die ja teilweise hochqualifiziert ist und sich daher für ImmigrantInnen anbietet, die im Gegensatz zur »historischen« Immigration über eine hohe Schulbildung verfügen.

    Dann könnten wir auch jenen Rest von Rassismus über Bord werfen, der nach wie vor in allen menschenfreundlichen Visionen des westlichen Menschen, einschließlich der vorgeblichen »Linken«, steckt, die davon ausgehen, daß die ImmigrantInnen aus Nicht-EG-Ländern nur schmutzige und körperlich schwere Arbeiten machen könnten.

    Wieviele selbständige Arbeiter gibt es in Italien? Wenn wir vorläufig von der Zahl der sogenannten »Ein-Personen-Firmen« ausgehen, um eine Größenordnung zu haben, gibt es nur einen einzigen brauchbaren Datenbestand, nämlich den von Cerved, dem Informationsinstitut der Handelskammern (Tab. 1). [5]

    Diese Zahlen umfassen nur die bei der Handelskammer eingetragenen und als aktiv betrachteten Firmen; dabei handelt es sich schätzungsweise um 50 bis 55 Prozent der wirklich aktiven Firmen, da nicht alle zum Eintrag bei der Handelskammer verpflichtet sind.

    Nach den Daten von Cerved sind also 68,7 Prozent der in Italien tätigen Firmen Ein-Personen-Firmen. Ihre Zahl scheint heute nach einer starken Wachstumsphase langsamer zuzunehmen, so als wäre der Markt gesättigt.

    Betrachten wir jetzt die Verteilung der Ein-Personen-Unternehmen nach Tätigkeitsbereichen (Tab. 2).

    Allein 43,3 Prozent der aktiven Firmen gehören zur Branche Handel und Gaststätten, die der Lizenzpflicht unterliegt und daher vermutlich vollständig in den Cerved-Daten enthalten ist. Es folgen die Baubranche mit 13,0 Prozent; Lebensmittelindustrie, Textil- und Bekleidungsindustrie und Möbelindustrie mit 12,2 Prozent; Kreditwesen und Unternehmensdienstleistungen mit 7,5 Prozent; öffentliche und private Dienstleistungen mit 6,9 Prozent; Metallbearbeitung/ Feinmechanik mit 6,8 Prozent; während der Transportbereich nur 5,5 Prozent ausmacht. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die allermeisten Ein-Fahrzeug-Unternehmen im Handwerk organisiert sind und gesondert eingeordnet werden. Alle anderen Bereiche liegen unter 2 Prozent.

    Interessant ist die Wachstumsrate in den einzelnen Branchen: Am schnellsten entwickeln sich die »Unternehmensdienstleistungen«, am langsamsten der Transportsektor, woran sich auf jeden Fall schon eine starke Sättigung zeigt.

    Es lohnt sich, sich Verteilung nach Tätigkeitszweigen in drei besonders entwickelten Regionen anzusehen, nämlich in der Lombardei, im Veneto und in der Emilia-Romagna. Obwohl der Handel hier ein paar Prozentpunkte höher liegt als im Landesdurchschnitt, nämlich bei 45 Prozent, fällt vor allem die Bedeutung der Bereiche ins Auge, die mit typisch italienischen Produktionszyklen wie der Metall-, Textil- und Bekleidungs-, Möbel-, Lebensmittelindustrie usw. zusammenhängen (Tab. 3).

    Bei der Verteilung der Ein-Personen-Firmen im Land fällt auf, daß sie in den entwickeltsten Regionen wie der Lombardei konzentriert sind; allein in der Provinz Mailand gibt es ungefähr genauso viele Ein-Personen-Firmen wie in der ganzen Emilia-Romagna. (Tab. 4)

    Das niedrigste Wachstum (Verhältnis zwischen Gründungs- und Schließungsrate bei Firmen) fand sich in der Emilia-Romagna, der Toskana und der Lombardei, das höchste dagegen in der Basilicata und den Abruzzen.

    So wenig wir über das Universum der Ein-Personen-Firmen wissen, können wir doch die Hypothese formulieren, daß viele »selbständige Arbeiter« einfache Aufgaben fern von der Produktionseinheit ausüben, die diese in Auftrag gegeben hat, daß ihr Lohn sich in den Rechnungen darstellt, die sie je nach geleisteter Arbeit in unterschiedlichen Abständen ausstellen, und daß die Auftraggeber ihnen immer härtere Bedingungen diktieren.

    Diejenigen, die diese Arbeiten machen, sind nicht nur in den jeweiligen Branchen wie der Lebensmittel-, Metall- oder Textilindustrie usw. registriert, sondern auch im Bereich »Dienstleistungen für Unternehmen« oder »sonstige Dienstleistungen«. In Wirklichkeit sind sie weniger Ein-Personen-Firmen als vielmehr Arbeitnehmer, Erben des alten »Massenarbeiters«. Sie stellen einen Großteil der Beschäftigten im vernetzten Unternehmen dar, das Rohmaterial des hochflexiblen Systems, das gesellschaftliche Terrain der Dezentralisierung.

    Wenn es 2,5 Millionen aktive Ein-Personen-Firmen gibt, wenn Cerved 50 Prozent der geschätzten Gesamtzahl registriert hat und wenn ungefähr ein Drittel der eingetragenen und wahrscheinlich noch ein größerer Teil der nicht registrierten Ein-Personen-Firmen (da die lizenzpflichtigen Sektoren alle in den Cerved-Daten enthalten sind) aus den Bereichen besteht, in denen sich zusammengenommen die Beschäftigten des vernetzten Unternehmens konzentrieren, gibt es folglich ein Heer von ungefähr zweieinhalb, vielleicht drei Millionen Menschen, das einen ersten wichtigen Bestandteil der »selbständigen Arbeit« darstellt.

    Aber nicht genug: dazu kommen noch die Handwerksfirmen, von denen es 1988 nach einer später leider nicht mehr aktualisierten Cerved-Umfrage 1.385.116 gab. Davon waren 703.506 nach 1980 gegründet wurden. Nur 2.111 hatten die Form von Kooperativen oder Konsortien (Tab. 5). [6]

    Wie leicht zu merken ist, sind die Daten in Tabelle 5 etwas problematisch, was die Zahl der Beschäftigten angeht, die in einigen regionalen Fällen niedriger ist als die der Handwerksfirmen. Diese Zahlen beziehen sich auf die »offiziell« Beschäftigten. Diskrepanzen bedeuten, daß die Firmen keine Angaben über ihre Beschäftigten gemacht haben. Es gibt also 1.680.275 offiziell Beschäftigte, davon ungefähr 20 Prozent Frauen. Vermutlich ist die Zahl der im Handwerk Beschäftigten viel höher, wenn man die Firmeninhaber, die abhängig Beschäftigten, die Auszubildenden usw. mitrechnet, auch wenn die Schätzungen einiger Branchenverbände überzogen scheinen, die von 10 Millionen Beschäftigten im Handwerk sprechen.

    Das Merkmal des Handwerksbetriebs ist gemäß juristischer Definition, daß der Firmeninhaber selbst arbeitet, und nicht hauptsächlich die Arbeit von anderen organisiert.

    Der Handwerksbetrieb gehört daher ganz und gar zur Welt der Arbeit und besonders der hochqualifizierten Handarbeit. Dadurch, daß er, wie sich auch an der zahlenmäßigen Zunahme im Verlauf der letzten zehn Jahre in Italien ablesen läßt, in die postfordistische Produktionsweise einbezogen worden ist, ist er ein wesentlicher Bestandteil der Industriearbeiterschaft der vernetzten Fabrik geworden, was sich auch an der Beschäftigtenstruktur der Industrieregionen ablesen läßt. Die Provinzen mit dem höchsten Handwerkeranteil sind nicht zufällig Vicenza und Modena. Dies waren die Zentren des neuen Booms der Leichtindustrie- und der flexiblen Spezialisierung. Den Handwerker des frühindustriellen Zyklus hat also der Handwerker des postfordistischen (aber nicht postindustriellen) Zyklus abgelöst (Tab. 6).

    Zu den zweieinhalb Millionen Kleinstfirmen muß man also die Millionen von Handwerker-Arbeitern hinzuzählen. Dann ergibt sich, daß das Heer der direkt produktiven selbständigen Arbeit zwischen fünf und sieben Millionen Menschen zählt. Diese Schätzung wurde auch schon mehrmals vom Leiter des italienischen statistischen Zentralamtes bestätigt. Diese Zahl ist beeindruckend, und dennoch findet sich im Tagungsbericht des zuletzt im Oktober 1991 in Bergamo abgehaltenen 6. Kongresses des italienischen Arbeitswissenschaftlerverbandes keine Spur von den Problemen der selbständigen Arbeit in diesem Land.
    Selbständige Arbeit oder Kleinstfirma?

    Kann man den selbständigen Arbeiter wirklich als Ein-Personen-Unternehmen bezeichnen? Versteckt sich in dem Wort »Unternehmen« nicht in Wirklichkeit eine verworrene Ideologie?

    Sehen wir uns einmal drei Faktoren an, die ein Unternehmen ausmachen: das investierte Kapital, die Selbständigkeit auf dem Markt und die Qualität der Produktion und/oder Dienstleistung, und vergleichen wir sie mit einigen Formen der selbständigen Arbeit, wobei es uns weniger um die traditionellen (wie Bewirtung, Handel und Einzelhandel) als um die für die »postfordistische« Periode typischen gehen soll.

    Man könnte meinen, daß das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Kapitalinvestition den eigentlichen Unterschied zwischen »Unternehmen« und und selbständiger Arbeit darstellt. Nehmen wir zum Beispiel den Lastwagenfahrer mit eigenem LKW. [7]

    In diesem Fall könnte man den Begriff »Kleinstunternehmen« (in diesem besonderen Fall auch »Handwerksbetrieb mit einem Fahrzeug« genannt) mit dem sehr hohen Verhältnis zwischen Arbeitskraft und Kapital rechtfertigen. Ein LKW kostet mindestens 200 Millionen Lire (200.000 DM) plus mindestens 4 bis 5 Millionen Lire (4.000 bis 5.000 DM) Unterhalt im Jahr.

    Hier handelt es sich um ein ziemlich hohes Verhältnis zwischen fixem und variablem Kapital, wie das gute Karlchen sagte, aber dadurch sind diese Arbeiter weder selbständig am Markt noch beruht ihre Arbeit im wesentlichen auf etwas anderem als körperlicher Anstrengung.

    Was die Selbständigkeit am Markt anbetrifft, hat diese Art von Arbeitern ein ähnliches Verhältnis zu Vermittlungsagenturen wie eine Haushaltshilfen oder ein Fotomodell, bei denen der Kapitaleinsatz gleich null ist.

    Falls es solchen selbständigen Transporteuren mit eigenem schwerem LKW oder eigener Zugmaschine für Auflieger (die auch ca. 200 Millionen kostet) gelingt, auf der Basis von Abmachungen oder Jahresverträgen ein festes Verhältnis mit einem großen Versender (Produktions- oder Speditionsfirma) einzugehen, ähneln sie eher abhängigen Arbeitern, mit dem Unterschied bei der Bezahlung, daß sie keinen Monatslohn bekommen, sondern stattdessen eine monatliche Rechnung ausstellen, deren fixe Bestandteile (z.B. der Kilometertarif) am Jahresanfang festgelegt werden. Sie sind nicht versichert, sie haben keine vorher festgelegte Mindest- und Höchstarbeitszeit, und außerdem tragen sie die gesamten Instandhaltungslasten der Maschinerie. Bei den Eigentümern von Lieferwagen (die den Löwenanteil der in Italien verkehrenden gewerblichen Fahrzeuge stellen) findet die Bezahlung häufig »tageweise« statt, wie bei den Kurierfahrern, die nicht selten ein rein mündliches Arbeitsverhältnis zum Auftraggeber haben.

    Das System, sich zu Kooperativen und Konsortien zusammenzuschließen, hat das Problem der Selbständigkeit am Markt nur teilweise gelöst und höchstens dazu geführt, daß ihre Lage mehr jener von abhängigen Arbeitern ähnelt.

    In den Kooperativen schließen sich mehrere Kleinstunternehmen zusammen: Jeder Handwerker ist Fahrzeugbesitzer und besitzt die Genehmigung, Transporte von Gegenständen auf Rechnung Dritter durchzuführen, wobei die Leitung der Kooperative die Festlegung der Transportpreise und die Verteilung der Arbeitsaufträge übernimmt. Wo hier die Selbständigkeit der Kleinstfirma am Markt liegen soll, ist völlig unklar. Die Beziehung, die hier entsteht, entspricht einem abhängigen Arbeitsverhältnis. Die Leitung der Kooperative ist zum großen Teil Arbeitgeberin und zum kleineren Teil Vermittlerin. Dagegen hat die Kooperative mit ungeteiltem Fahrzeug- und/oder Genehmigungsbesitz ganz klar die Arbeitgeberrolle inne.

    Anders ist es bei den Konsortien: Hier schließen sich verschiedene Kleinstfirmen auf der Basis von viel weniger strengen und bindenden Regeln als in den Kooperativen zusammen, so daß das Konsortium hauptsächlich Vermittler und in geringerem Maß Arbeitgeber ist und insofern die relative Selbständigkeit der Handwerksfirma oder der Kleinstfirma mit einem Fahrzeug eher gewährleistet ist.

    Wir befinden uns also in einem Bereich, wo sich keine »Unternehmenskultur« erkennen läßt, weil es um Subjekte geht, deren Selbständigkeit auf dem Markt wenig mit dem Begriff »Unternehmen«, d.h. mit einem organisierten, multifunktionalen Gebilde zu tun hat und viel mit der »Kultur der Arbeit«, der regulären wie der irregulären.

    Der LKW-Fahrer, der in der Kneipe neben dem Großmarkt auf den Telefonanruf der Agentur wartet, die ihm die Rückfracht für sein leeres Fahrzeug besorgen soll, ist keine besondere Art von Firma, sondern höchstens eine moderne Version des Stauers, der Anfang des Jahrhunderts in den Hafenkneipen darauf wartete, daß der Vorarbeiter ihn aufrief. Der Unterschied besteht darin, daß das Arbeitsmittel des Stauers von damals ein Haken war, der vier Lire kostete, und das Arbeitsmittel des modernen LKW-Fahrers ein Fahrzeug ist, das 200 Millionen kostet. Ihn »Unternehmer« zu nennen, ist ein ideologisch hoch aufgeladener semantischer Trick.

    Wenn man sich statt mit juristisch-administrativen Formulierungen mit den ökonomischen Beziehungen zwischen der Ein-Fahrzeug-Kleinstfirma und dem Markt und den gesellschaftlichen Beziehungen zwischen ihm und dem Universum seiner Arbeit- bzw. Auftraggeber beschäftigt, dann erweist sich der Begriff »Unternehmen« wahrlich als ungeeignet und in gewisser Hinsicht als grotesk.

    Ähnliche Bedingungen wie die Transporteure können wir bei den Handwerkern der Industriereviere finden, die als Subunternehmer mit hochmodernen Maschinen für die Metall-, Textil- und Bekleidungs-, holzverarbeitende und Möbelindustrie usw. arbeiten.

    Die Umstände des Erwerbs der Maschinerie, d.h. die Investition in fixes Kapital, mögen ähnlich sein, etwa daß die Maschinerie (oder das Fahrzeug) über die Rechnung für die Arbeitsleistung bezahlt wird. Aber der große Unterschied scheint darin zu liegen, daß einerseits eine spezialisierte Maschine und andrerseits ein multifunktionales Fahrzeug benutzt wird, so daß der Transporteur auf dem Markt »selbständiger« erscheint, einfach weil er in ein flexibleres Werkzeug investiert hat, mit dem er mehr Kunden aus verschiedenen Bereichen bedienen kann als jemand, der zum Beispiel an einer numerisch gesteuerten Metallbearbeitungs- oder Stoffzuschneidemaschine arbeitet, dessen Kunden auf seinen besonderen Tätigkeitsbereich beschränkt sind.

    Wenn wir den Transportsektor aus der Nähe analysieren, stellt sich heraus, daß er in Wirklichkeit viel spezialisierter ist, als man gemeinhin glaubt. Der Bereich ist stark in spezielle Segmente gegliedert und spezialisiert sich zunehmend innerhalb eines jeden Segments, so daß die Fahrzeuge immer weniger »universelle« und immer mehr spezifische Arbeitsmittel sind. Außerdem braucht der Transporteur eine Lizenz, die in Italien Kontingentierungsvorschriften unterliegt (die Fahrer leichter Fahrzeuge sind davon befreit, daher gibt es so viele Lieferwagen, die wie gesagt die große Mehrheit der in Italien zugelassenen gewerblichen Fahrzeuge darstellen).

    Versuchen wir jetzt einmal, das Werkzeug des selbständigen Transporteurs mit einem anderen Werkzeug zu vergleichen, das ebenfalls als »universell« gilt: dem PC. Auch bei einem besonders leistungsfähigen, auf Computer Aided Design oder auf Graphik-Funktionen ausgelegten PC lassen sich die für eine Informatik-Kleinfirma notwendigen Investitionen in Maschinen einschließlich Software nicht mit denen eines selbständigen Transporteurs vergleichen.

    Daß viel Kapital in Maschinerie investiert wurde, scheint also nicht auszureichen, um einen selbständigen Arbeiter auf dem Markt selbständig zu machen.

    Entscheidender scheint die Unterscheidung zwischen selbständigem Arbeiter mit einem Kunden und selbständigem Arbeiter mit mehreren Kunden zu sein. Der Arbeiter mit einem Kunden ist hat eine feste oder langfristige Beziehung zu einem einzigen Auftraggeber wie z.B. ein Ingenieur, der in Frührente gegangen ist und für seinen alten Arbeitgeber weiter dieselbe Tätigkeit wie früher ausübt, oder jemand, der in seiner Heimwerkstatt auf einer Textilmaschine im Auftrag für Max Mara arbeitet, oder ein Physiotherapeut, der die Kranken einer einzigen Klinik betreut, oder ein Van-Carrier-Fahrer, der die Container einer Großreederei stapelt.

    Sie sind nichts anderes als aus dem Lohnverhältnis entlassene Arbeiter. Sie setzen sich nicht selbständig ins Verhältnis zu einem Markt mit mehreren Kunden. Sie sind aber nicht aus dem Taylorismus entlassen, da sie streng festgelegte dienstliche Zeiten und Verfahrensweisen einhalten müssen. Obwohl sie also die Form der Kleinstfirma tragen, sind sie in Wirklichkeit der neue Massenarbeiter des vernetzten Unternehmens. [8]

    Der selbständige Arbeiter mit mehreren Kunden schafft sich selbst seinen eigenen Markt und muß daher zwangsläufig Zeit und Geld investieren, um sich Kunden zu suchen. Damit ist aber nicht gesagt, daß er viel selbständiger ist als der Arbeiter mit einem Kunden, da er – hier hilft wieder das Beispiel der Transporteure – oft nur zu einem Vermittler Beziehungen hat (man denke dabei auch an die Subunternehmer aus Prato, die nur zu einem Bekleidungshersteller Beziehungen haben), eben um die Kosten der Kundenakquisition zu senken.

    Dennoch ist die Unterscheidung zwischen einem und mit mehreren Kunden schon eher ein Unterscheidungskriterium zwischen Kleinstfirma und selbständiger Arbeit.

    Die hier zur Diskussion gestellten Beobachtungen sollen unterstreichen, wie grundlegend wichtig es ist, herauszufinden, welche Art von Tätigkeiten und welcher Typ von Beziehungen zum Auftraggeber die Situation des selbständigen Arbeiters in Italien charakterisieren. Solange wir nicht über zufriedenstellende qualitative Untersuchungen zu diesen beiden Punkten verfügen, werden wir die gesellschaftliche und ökonomische Funktion der sogenannten Kleinstfirmen und der damit zusammenhängenden Formen selbständiger Arbeit nie begreifen.

    Diese Fragen immer nur auf der Basis des Zivilrechts und von der Rechtsform des Unternehmens beantworten zu wollen, d.h. sich auf ein Rechts- und Verwaltungswissen zurückzuziehen, ist gleichbedeutend mit der Weigerung, zu begreifen, welche Rolle die selbständige Arbeit historisch in der postfordistischen Epoche spielt. Tatsächlich sind die in der Rechts- und Verwaltungsliteratur gebräuchlichen Definitionen voll von Zweideutigkeiten und Widersprüchen.

    In dem kürzlich veröffentlichten Handbuch Professionisti e lavoratori autonomi von De Franceschi und Sibilia, das bei der Erledigung von Steuererklärung und Buchführung helfen soll, wird die selbständige Arbeit den im Berufsregister (artt. 2222-2228, 2229-2238, titolo III, libro V, Codice Civile {Zivilgesetzbuch}) erfaßten intellektuellen freien Berufen zugeordnet. [9]

    Das Zivilgesetzbuch definiert den selbständigen Arbeiter im Gegensatz zum abhängig beschäftigten Arbeiter und zum Unternehmer. Gemäß Artikel 2222 liegt selbständige Arbeit vor, »wenn eine Person sich verpflichtet, gegen Vergütung eine Arbeit oder eine Dienstleistung mit vorwiegend eigener Arbeit und ohne abhängige Bindung an den Auftraggeber auszuführen«.

    Die Tatsache, daß die erbrachte Leistung im wesentlichen aus einer Werkleistung besteht, stellt das Problem des Materialeinsatzes; laut Autoren »darf das eingesetzte Material nicht die erbrachte Dienstleistung überwiegen«. Dabei ist aber nicht klar, ob unter »eingesetztem Material« – wie es logisch wäre – auch das notwendige Werkzeug, d.h. die Maschinerie verstanden wird oder nicht. Wenn man bei dem von uns untersuchten LKW-Fahrer unter dem eingesetzten Material das Fahrzeug versteht, läßt sich schwer sagen, ob bei der erbrachten Werkleistung mehr die Arbeit oder das Material zählt.

    »Der Umstand, der den Unternehmer eindeutig vom selbständigen Arbeiter unterscheidet«, ist für De Franceschi und Sibilia, »daß die Tätigkeit des ersteren darin besteht, die Arbeit Dritter zu organisieren, während letzterer das geforderte Werk oder die geforderte Dienstleistung mit eigener Tätigkeit vollbringt«.

    Aus dieser Definition ergibt sich recht deutlich der Widerspruch, der dem Begriff »Ein-Personen-Unternehmen« innewohnt. Wenn wir ihn als eine Form bezeichnen, in der Unternehmer und Leistungserbringer dieselbe Person sind, dann gilt die soeben formulierte Definition des selbständigen Arbeiters nichts mehr, oder kann man dann kaum noch sagen, welche Definition zweideutiger ist: »Ein-Personen-Unternehmen« oder »selbständiger Arbeiter«.

    Ebenso eindeutig scheint den Autoren die Gegenüberstellung mit dem abhängigen Arbeiter, insofern der selbständige Arbeiter sich »nach den technischen Kriterien, die er für die Erreichung eines bestimmten Ergebnisses am geeignetsten erachtet, in seiner Tätigkeit selbst organisiert«. Daraus soll sich »eine gewisse Selbständigkeit« ableiten, da er »das Risiko tragen muß, das zuvor festgelegte Ziel zu erreichen« (»Unternehmerrisiko«).

    Zur Stützung dieser Interpretation führen sie die Definition aus einem der angesehensten Kommentare zum Zivilrecht an, nach der »das selbständige Arbeitsverhältnis in allen Fällen eintritt, in denen dem Arbeitenden nicht von vornherein eine festgelegte Vergütung garantiert ist und er persönlich für die Erreichung des zuvor festgelegten Ergebnisses verantwortlich ist: Tatsächlich gestaltet sich die Vergütung bei der selbständigen Arbeit derart, daß das überwiegende Risiko aus der Schwierigkeit der Arbeit vom Leistungserbringer zu tragen ist«.

    Nebenbei fügen sie hinzu, die Selbständigkeit sei nicht »absolut, da es verschiedenartige Einschränkungen gäbe, nicht zuletzt die vom Auftraggeber gesetzten«.

    Vielleicht passen diese Definitionen auf die selbständige Arbeit traditionellen Typs wie im Handel, in der Gastronomie oder im Einzelhandel, aber angesichts der tiefgreifenden Veränderungen der Arbeit durch die postfordistische Produktionsweise, vor allem durch die gegenwärtige Jagd nach der »totalen Qualität«, angesichts der immer strengeren Auflagen der Auftraggeber an die selbständigen Arbeiter löst sich die Vorstellung von der Selbstorganisation der Arbeit in nichts auf.

    Um zum Straßentransport zurückzukehren: Wenn wir bedenken, daß es mit der Einführung von neuen Informationstechnologien möglich sein wird, die LKW-Fahrer auf ihren Touren in Echtzeit zu verfolgen und zu kontrollieren, und daß sie auch den laufenden Anweisungen der Streckenoptimierungsprogramme werden folgen müssen (noch unentwickelte Formen dieser Kontrollpraktiken sind schon in der Distributionslogistik der großen Unternehmen im Einsatz), dann sieht es so aus, als wäre die Selbständigkeit im Sinne der Möglichkeit, die eigene Arbeit unabhängig zu organisieren, eine aussterbende Situation.

    Ausgehend von der Erfahrung im Forschungsfeld und der verfügbaren Literatur – zum Beispiel zum Phänomen der Auftragsarbeit in den Industrierevieren – läßt sich m.E. die Hypothese formulieren, daß die gesellschaftliche und produktive Funktion der selbständigen Arbeit sich nicht sehr von der des Massenarbeiters in der fordistischen Epoche unterscheidet, d.h. von der Ausführung einfacher Aufgaben innerhalb einer vorbestimmten Organisation des Arbeitsprozesses.

    Wirklichkeitsnäher ließe sich die selbständige Arbeit als Arbeit definieren, bei welcher der Arbeitleistende alle aus dem Arbeitsverhältnis rührenden Risiken auf sich nimmt: das Risiko seiner persönlichen Unversehrtheit, das Risiko des Maschinenausfalls, das Risiko der Nichtbezahlung seines Arbeitsentgelts wegen Unzufriedenheit des Auftraggebers.

    Das ist eine gesellschaftlichen Abhängigkeitssituation, die uns in die frühindustrielle Epoche zurückversetzt; unsere Gesellschaft nähert sich einem Grad von Arbeitsunsicherheit, der hundert Jahre politischer und gesellschaftlicher Geschichte des Westens und damit hundert Jahre Geschichte der Demokratie zunichte machen wird.

    Der Neoliberalismus der 80er Jahre hat einen Großteil der produktiven Arbeit und der intellektuell hochqualifizierten Arbeit wieder in diese Abhängigkeitssituation gebracht. Das geschah aber, abgesehen von einigen Sonderfällen wie Italien, nicht mit Gewalt oder durch den Umsturz der Institutionen, sondern ausgehend von einem neuen gesellschaftlichen Kompromiß: Die selbständige Arbeit konnte über einen Anteil der zirkulierenden Liquidität (ich ziehe diesen Begriff dem Begriff »Einkommen« vor) verfügen, der ihr ein befriedigendes Konsumniveau erlaubte – das teilweise viel höherer war als das der abhängigen Arbeit, so daß ein Statussprung stattfand. [10]

    Der Begriff der »Verfügbarkeit von Liquidität« ist grundlegend, um zu verstehen, wie die selbständige Arbeit funktioniert und was für Widersprüche scheinbar darin stecken.

    Wenn wir noch einmal den selbständigen LKW-Fahrer nehmen und sein Einkommen auf der Basis des Nettogewinns berechnen, der seinem Kleinstunternehmen am Jahresende verbleibt, werden wir kaum etwas auf der Aktivseite finden: so wenig, daß viele sich inzwischen – in den letzten Jahren sind die realen Tarife durch die äußerst starke Konkurrenz zwischen den Fuhr-Subunternehmen gesunken – fragen, was die selbständigen LKW-Fahrer abgesehen vom wirtschaftlichen Kalkül dazu bringt, ihrem Beruf treu zu bleiben.

    Unter anderem muß man bedenken, daß diese selbständigen Arbeiter oder Handwerker, oder wie auch immer man sie nennt, über eine völlig andere Liquidität verfügen als ein abhängiger Arbeiter, wenn man bedenkt, daß die Bezahlung für eine einzige Langstreckentour dem Monatslohn eines Industriearbeiters in Lohngruppe 3 entspricht.

    Lassen wir vorläufig das Problem außen vor, wie viele Arbeitsstunden eine einzige Tour bedeuten, und konzentrieren wir uns zunächst auf die Verfügbarkeit von Liquidität in diesem Beruf, sowohl wegen der hohen Betriebskosten als auch wegen des hohen Unsicherheitsfaktors in diesem Gewerbe als auch wegen des getätigten Umsatzes. Aber dieser hohen Liquidität stehen am Jahresende ziemlich magere Reingewinne und manchmal sogar Verluste gegenüber.

    Die unechte Tertiarisierung

    Das Fehlen von systematischen Analysen zur Qualität der Arbeit im Kleinstbetrieb und das Wirrwar von Vorstellungen hinsichtlich der Art der gesellschaftlichen Beziehungen, in deren Rahmen die selbständige Arbeit stattfindet, haben zu einer Reihe von Mißverständnissen geführt, die wiederum zur Grundlage von Ideologien und Allgemeinplätze geworden sind.

    Ein solche Mißverständnis betrifft das Problem der Tertiarisierung des ökonomischen Systems: Niemand kann leugnen, daß die Beschäftigtenzahl in der Landwirtschaft und im Verarbeitungssektor im Vergleich zum Dienstleistungssektor stark zurückgegangen ist. Das ist ein sekulärer Trend: Die Vereinigten Staaten hatten das Stadium einer überwiegend tertiären Wirtschaft schon zur Zeit der Weltwirtschaftskrise erreicht.

    Ohne jetzt genauer auf die Arbeitsstatistiken in den USA der 30er Jahre einzugehen, muß man sich m.E. allerdings fragen, ob der Begriff »Dienstleistungssektor« in einer Zeit des Postfordismus und des »vernetzten« Unternehmens wirklich so klar ist, wie er scheint, oder ob man ihn nicht einer sorgfältigen Überprüfung unterziehen muß.

    Ich vertrete die These, daß die Gesamtgröße »Tertiärsektor« teilweise eine statistische Illusion ist.

    Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Ein Teil der Tätigkeiten der Kleinstfirmen stellt sich als Fortführung einer abhängigen Arbeit an einem anderen Ort als der auftraggebenden Produktionseinheit dar. Der Verwaltungsangestellte eines Süßwarenbetriebs oder der Software-Ingenieur einer Maschinenbaufirma, die dieselbe Arbeit wie vorher für dieselbe Firma fortführen, allerdings formal nicht mehr als abhängige Beschäftigte, sondern als Berater oder als in der Sparte »Unternehmensdienstleistungen« registrierte Kleinstfirmen: Gehören sie zum Dienstleistungssektor oder nicht vielmehr zum Verarbeitenden Sektor?

    Wieviele direkte Produktionstätigkeiten gelten heute als »Dienstleistungstätigkeiten«, nur weil sie im Rahmen der typischen postfordistischen Beziehungen selbständiger Arbeit stattfinden? Wieviele Dienstleistungsfirmen sind in Wirklichkeit Subunternehmer des Verarbeitenden Sektors?

    Die größte Verwirrung gibt es wiederum im Gütertransport: Ist er eine Industrie oder eine Dienstleistung? Der gute Karl Marx hatte keine Zweifel, daß er eine Industrie ist. Vielleicht können sich alle auf die Definition von Michel Savy, Professor an der École des Ponts in Paris einigen: Er ist eine Industrie, die als Dienstleistung erscheint. [11]

    Arbeitszeiten in den Industrierevieren und im Straßentransport

    Obwohl die in den letzten fünfzehn Jahren produzierte Literatur über die Industriereviere eindrucksvoll ist, gibt es nur wenige Studien, die sich mit dem Problem der Arbeitsbedingungen auseinandergesetzt haben – die allermeisten beschäftigen sich mit der Organisationsform des Unternehmens, aus der Sicht des Betriebswirtschaftlers oder des Unternehmenshistorikers.

    Einer Untersuchung von Nomisma (1989) über Prato sind nützliche Informationen über die Arbeitsorganisation im Textil- und Bekleidungssektor zu entnehmen: Die Aufteilung der an die Subunternehmer vergebenen Arbeitspartien hat die Maschinenleerlaufzeiten um 50 bis 130 Prozent erhöht, so daß die vertraglichen Tarife um 30 Prozent gesunken sind. [12]

    Die Handwerker sind gezwungen, bis zu 16 Stunden am Tag zu arbeiten, 3 bis 5 davon brauchen sie allein für den Transport der Waren (je kleiner die Partien sind, desto öfter müssen sie fahren, um das Rohmaterial abzuholen und das fertige Produkt abzuliefern). Das hat das Revier nicht vor der Krise gerettet: Von den 16.839 Firmen, die 1985 in Prato ansässig waren, gab es 1991 noch 11.894, davon waren 80 Prozent Handwerksbetriebe.

    Die eigentliche Verarbeitungszeit macht nur 5 Prozent des Gesamtzyklus aus. In den restlichen 95 Prozent liegt die Ware beim Auftraggeber im Lager oder in der Maschine oder im LKW oder Lieferwagen.

    Nach einer anderen Untersuchung von 1988 zum Wirkereisektor von Carpi, wo zur Zeit der Untersuchung etwa 4.300 Unternehmen tätig waren, der größte Teil von ihnen Sub-Lieferanten (85 Prozent von ihnen hatten feste Beziehungen mit den Auftraggebern), führt die dezentralisierte Produktionsorganisation dazu, daß bei den kleinen Handwerksfirmen die Transportkosten 2 bis 10 Prozent der Gesamtkosten ausmachen. Um mit der japanischen Konkurrenz fertigzuwerden, haben sich die Handwerker-Subunternehmer auf Fertigmode [pronto-moda] spezialisiert, bei der bestehende Modelle kopiert werden. Alles hängt von der Schnelligkeit ab, mit der sie Aufträge erledigen, wobei der Arbeitszyklus insgesamt höchstens 20 bis 60 Tage dauern darf. [13]

    Produziert wird auf Bestellung und just in time, d.h. daß der Handwerker nicht nur die Arbeit so schnell wie möglich erledigen, sondern auch die Ware zu einer festgelegten Zeit abliefern muß, damit sie direkt komplettiert oder vermarktet werden kann. Daher werden tägliche Arbeitszeiten von 16 Stunden zur Norm. Die Studie gibt die Daten verschiedener Untersuchungen wieder, laut denen in der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Handwerker im Wirkereisektor durchschnittlich 2.428 und die Weber 2.817 Stunden im Jahr arbeiteten, und zitiert das Urteil einer staatlich geförderten Untersuchung, die Handwerker seien bereit, »lange Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, fast unbegrenzt, manchmal auch an Sonn- und Feiertagen« (Hervorhebung von mir).

    Die Länge der Arbeitszeit der LKW-Fahrer ist sprichwörtlich. Trotzdem herrschte in den 80er Jahren ein derart tiefgreifendes Desinteresse am Phänomen »Arbeit«, vor allem in der sogenannten »Linken«, daß niemand je versucht hat, eine umfassende Untersuchung über die Arbeitsbedingungen der LKW-Fahrer durchzuführen, trotz der Milliarden, die der CNR {Staatlicher Forschungsausschuß} und andere öffentliche Einrichtungen ausgegeben haben, um die Untersuchungen zum Generalverkehrsplan {Piano generale dei trasporti} zu finanzieren.

    Eine Ausnahme bildet die 1988 – leider nur mit einer kleinen Stichprobe – durchgeführte Untersuchung des Istituto Italiano di Medicina Sociale über Berufskrankheiten bei selbständigen LKW-Fahrern. Die Untersuchung wurde geleitet von Giovanni Berlinguer und gefördert vom Handwerker-Arbeitgeberverband Epasa. [14]

    Die festgestellte Durchschnittsarbeitszeit betrug 12½ Stunden am Tag, die Standardabweichung 5 Stunden 52 Minuten. Gut 20 Prozent der Befragten gaben an, 16 oder mehr Stunden zu arbeiten.

    Diese Daten werden bestätigt durch verschiedene ausländische Untersuchungen: eine Untersuchung von Patrick Hamelin (1987), nach der 74 Prozent der Fahrer einen Arbeitstag von 12 Stunden oder mehr haben [15]; eine Untersuchung der EWG über 650 TIR-Fahrer (1988), bei der sich ein durchschnittlicher Arbeitstag von 14½ Stunden ergab [16]; eine INRETS-Untersuchung über Zugmaschinenfahrer im Containerverkehr von Patrick Nierat (1989) ergab einen Durchschnittsarbeitstag von 13 Stunden und 11 Minuten. [17]

    Der Mythos von der »immateriellen Arbeit«

    Im Zeitraum von Juli 1991 bis April 1992 hat die Tageszeitung »Il Sole – 24 Ore« eine Untersuchung über 60 italienische Industriereviere veröffentlicht, aus der trotz der journalistischen Grenzen hervorging, welch tiefgreifende Veränderung sich in den letzten Jahren vollzogen hat: das Ende einiger Reviere und der Niedergang einer Produktionsweise, die bei ihren Ideologen so viel Begeisterung hervorgerufen hatte.

    Trotzdem wird in etwa 40 Revieren weiter nach dem in den Untersuchungen über Prato und Carpi beschriebenen Schema gearbeitet, und logischerweise läßt sich annehmen, daß sich die Arbeitsbedingungen nicht verbessert haben: im Gegenteil.

    Eine kürzlich (Oktober 1991 – März 1992) bei den Transport- und Logistikverantwortlichen einiger großer Unternehmen durchgeführte Untersuchung hat ans Licht gebracht, daß den Auftraggebern völlig bewußt ist, daß die Arbeitszeiten ihrer Transport-Subunternehmer zwischen 12 und 16 Stunden täglich liegen. [18]

    All das bestätigt die Hypothese, daß die Verlängerung des Arbeitstages zu den grundlegenden Merkmalen der Verbreitung der selbständigen Arbeit gehört.

    Das gilt nicht nur für die stark von körperlicher Anstrengung, Handarbeit und die Bedienung von industrieller Maschinerie geprägte, sondern auch für die die intellektuell hochqualifizierte selbständige Arbeit, über die es leider noch nicht so viele Untersuchungen gibt (siehe verschiedene diesbezügliche Fallstudien zum Raum San Francisco im Buch der amerikanischen Soziologin Beverly Lozano). [19]

    Angesichts der Bedeutung der selbständigen Arbeit in Italien, der in diesem Bereich üblichen Arbeitszeiten und der Qualität der ausgeführten Tätigkeiten ist die Oberflächlichkeit bestürzend, mit der gewisse Theoretiker vom »linken« Flügel des kommunistischen Lagers den Postfordismus in Italien analysiert und damit stark das Denken des PDS-Umfeldes, der CGIL und der Lega Ambiente beeinflußt haben.

    Eine gewichtige Rolle unter ihnen spielt Pietro Barcellona. Dr. Barcellona, früher Mitglied des Obersten Richterrates [Consiglio Superiore della Magistratura] und heute Universitätsprofessor, hat in seinen Schriften die These aufgestellt, daß die Krise der liberalbürgerlichen Systeme und des realen Sozialismus herrühre

    a) aus der Veränderung in der Struktur der Bedürfnisse, die immer »immaterieller« geworden seien (Lebensqualität, zwischenmenschliche Beziehungen),

    b) aus dem starken Rückgang der direkten und »körperlichen« Ausbeutung in der Fabrik, die durch das »telematische Kommando aus der Distanz« ersetzt worden sei.

    Laut Dr. Barcellona soll sich die Arbeit von den Fesseln des »Bedürfnisses« und der »Körperlichkeit« befreit und stattdessen die ätherische Immaterialität informatischer, multifunktionaler Beziehungen gewonnen haben. Die Grenzen der Demokratie sollen sich auf ein völlig anderes Terrain verlagert haben, als die »labouristische« Tradition der Arbeiterbewegung und der europäischen Sozialdemokratie, auf die sich das kommunistische Umfeld in Italien – heute noch – bezieht, immer gemeint hatte.

    Der Demokratie sollen zwar weiterhin Gefahren drohen, aber wenn überhaupt, sollen diese in der Konzentration der Finanzmacht, in der Kontrolle der Medien durch wenige Einzelne usw. bestehen, und dagegen müßte der antimonopolistische Geist der liberalen Tradition, Kartellgesetze, die Regulierungsverordnungen mobilisiert werden, und so geht die Argumentation juristisch weiter. [20]

    Nun kann man dem Ex-Richter zwar zustimmen, daß für viele Produktionsarbeiter Arbeit und Befriedigung von Grundbedürfnissen nicht mehr eng aneinander gebunden sind (dabei muß man allerdings betonen, daß die meisten Menschen ohne minimalen Subsistenzstandard, wie alle Untersuchungen über die Armut gezeigt haben, arbeitende Menschen sind, sogenannte working poor [21]), aber der Vorstellung von der Entmaterialisierung der Arbeit und vom »Kommando aus der Distanz« kann man nur widersprechen.

    Sicher, wenn man die Beschäftigten von Benetton untersucht, wird man feststellen, daß sie zum größten Teil Verwaltungs-, Forschungs-, Datenverarbeitungs-, Promotion-, Marketing- und Logistiktätigkeiten usw. ausführen, aber wenn man sich Benettons 800 regelmäßige Subunternehmer und Hunderte von Gelegenheitsarbeitern ansieht, wird man gesellschaftliche Subjekte finden, die ziemlich viel Ähnlichkeit mit dem altbekannten Massenarbeiter haben, nur daß sie doppelt so lange Arbeitszeiten haben und versicherungsmäßig schlechter gestellt sind.

    Wenn man dann noch analysiert, wie die physische und technische Distanz zwischen Auftraggeber und Subunternehmern überbrückt wird, wird man feststellen, daß die Bestellungen und Informationen oft telematisch übertragen werden, je nach Organisationsgrad des Auftraggebers und der technischen Ausstattung des Subunternehmers, daß der die Manufakturware aber immer mittels körperlicher Bewegung von Menschen und Fahrzeugen bewegt wird; nur so erklärt sich, daß der von Nomisma untersuchte Subunternehmer aus Prato mit Transportarbeiten drei bis fünf Stunden am Tag verbringt, während der er wenig an Lebensqualität und zwischenmenschliche Beziehungen denken kann.

    Im Grunde hat Dr. Barcellona keine Ahnung von der technischen Organisation des vernetzten Unternehmens, und auf diese Ignoranz gründet er seine Vision von den Grenzen der Demokratie im Postfordismus; nur daß sein Niveau, wenn er von gesellschaftlich-technischen zu politisch-juristischen Überlegungen übergeht, noch weiter abfällt.

    Denn selbst wenn man die These von einer fortschreitenden Entmaterialisierung der Arbeit aufstellt: Wie kann man die Arbeitswelt einfach vom Bestimmungszusammenhang der Demokratie in einer Gesellschaft trennen? Wie kann man, bloß weil die organisierte Arbeit in einer bestimmten Phase des historischen Zyklus an politischem Gewicht verloren hat, die Arbeit als »kulturelle Variable« abschaffen?

    Wie kann man meinen, daß die Bedingungen, unter denen man arbeitet, womit der westliche Mensch schließlich den größten Teil seines Tages verbringt, Zusammenhangsfaktoren der Demokratie nicht beeinflussen?

    Wie kann man meinen, durch den Bruch des Verhältnisses von Grundbedürfnissen und Arbeit für einen beträchtlichen Teil der Arbeiterschaft sei die sozialdemokratische Kultur des welfare state überwunden?

    Demokratie und Arbeit

    Die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts hatte die Reduzierung der Arbeitszeit zum Ziel. Ohne den Kampf um den Achtstundentag gäbe es den 1. Mai nicht. Was die tatsächlichen Arbeitszeiten angeht, wissen wir, daß dieses Ziel niemals erreicht wurde, aber nichtsdestotrotz hat es dazu beigetragen, unsere Idee von Demokratie zu »begründen«. Diese beruht auf den historischen Erfahrungen der Organisierung der Arbeiter, der gegenseitigen Unterstützung usw. Ohne die historische Erfahrung der Arbeiterbewegung hätte es keine andere demokratische Kultur als die bürgerlich-liberale gegeben. Aber es gab eine zuerst »sozialistische« und dann »kommunistische« Idee von Demokratie, die sich ganz klar von der bürgerlich-liberalen unterschied.

    Worin unterschied sie sich? In der Erkenntnis, daß die Existenz eines gesetzlichen und verfassungsmäßigen Rahmens als solchen zur Definition einer Demokratie nicht ausreichte, sondern daß man an die Wurzeln der Arbeitsbeziehungen gehen mußte, um zu beurteilen, wie demokratisch eine Gesellschaft war. Arbeit und Demokratie waren kulturell untrennbar. Diese anfänglich sozialistische Idee wurde dann vom auf der Symbiose zwischen bürgerlich-liberalen und sozialistischen Kulturen beruhenden Kapitalismus der keynesianischen Epoche akzeptiert, d.h. in der Zeit zwischen Anfang der 30er Jahre und Ende der 70er Jahre.

    Diese Idee ging von einer genauen Analyse der technischen und gesellschaftlichen Organisation des Produktionsprozesses aus. Was bei Barcellona bestürzt, ist das Unwissen über die Organisationsmechanismen der für den Postfordismus charakteristischen vernetzten Fabrik, sein völlig abstraktes Bild von der in den Informationsflüssen entmaterialisierten Arbeit, das ihn zu unschlüssigen Argumentationen über die Krise der Demokratie führt.

    Wenn wir dagegen von konkreten Analysen der Arbeit oder der Arbeiten ausgehen, können wir uns andere Fragen stellen und andere Gründe für die Krise der Demokratie finden, die uns genauso beunruhigt wie Barcellona: Läßt sich die Verlängerung des Arbeitstages durch den Postfordismus (was anscheinend auch die Arbeitszeiten der Manager betrifft und zur Verkürzung ihres Arbeitsalters führt) als Faktor der Krise der Demokratie definieren? Läßt es sich als ein Indiz für den Verfall der demokratischen Sensibilität einer Kultur verstehen, wenn jemand die Verlängerung des Arbeitstages für irrelevant hält? Ist die kulturelle Spaltung zwischen der Sphäre der Überlegungen zur Arbeit und der Sphäre der Überlegungen zur Demokratie nicht vielleicht eines der offensichtlichen Symptome des intellektuellen Selbstmords der europäischen Linken? Das gewalttätige Wiedererwachen der rechten Bewegungen, ihre Fähigkeit, bei den kleinen Leuten und in die Randschichten einzudringen (Fall Deutschland), das Wiederauftauchen von »operaistischen« Tendenzen in den rechtsexstremistischen Ideologien, das Verfangen der Lega-Thematik bei den postfordistischen Arbeitern (selbständigen Arbeitern, Beschäftigten im Privatsektor, Handwerkern, Auszubildenden, Jobbern) sind ein Zeichen dafür, daß irgendjemand dabei ist, die Fahne der Arbeit aufzunehmen, die die Linke fallengelassen hat (wie die Kommunisten zur Zeit der Faschismen die Fahne der liberalen Demokratie aufgenommen haben, die das Bürgertum fallengelassen hatte). Obwohl die soziale Basis der angeblich »linken« Parteien und Bewegungen zum Teil noch aus Angehörigen der »Volks«schichten besteht, spiegelt die Kultur dieser Parteien nur noch die der hohen Staatsbürokraten, der Berufspolitiker, der Akademiker und einiger Managerschichten wider.

    Im zweiten Teil dieses Artikels werde ich versuchen, einige Aspekte dieser Kultur zu untersuchen, hinsichtlich

    * der Interpretation des Fordismus als historischer Erscheinung,
    * der Interpretation des Postfordismus im Lichte der Debatte über die Industriereviere Italiens,
    * der Bestimmung der Arbeit als Feind durch die Umweltschützer,
    * der selbständigen Arbeit und der Krise der Kulturen der sozialen Sicherheit.

    Teil II

    In dieser Skizze einer Untersuchung über die selbständige Arbeit wollte ich die Analyse auf zwei Ebenen verfolgen:

    * auf einer banalen arbeitssoziologischen Ebene wollte ich rekonstruieren, welche Mechanismen zur Bildung der sogenannten Kleinstfirmen geführt haben, um herauszufinden, in welchem Verhältnis sie zu den anderen Firmenklassen, zum Markt und zum Staat stehen, und zu begreifen versuchen, was sie tun und unter welchen Bedingungen sie arbeiten;
    * auf einer elementaren mentalitätengeschichtlichen Ebene wollte ich herausfinden, wie sich die Denk- und Verhaltensweisen der in der Welt der Unternehmen anzutreffenden Subjekte verändert haben.

    Seit der Veröffentlichung des ersten Teils dieses Texts sind etliche Monate vergangen. Inzwischen sind neue Fakten dazugekommen und haben Diskussionen stattgefunden, aus denen sich neue Fragen ergeben haben. Aus diesem Grund meinte ich, daß ich die für den zweiten Teil vorgesehene Reihenfolge ändern und einige Präzisierungen vorausschicken müßte. [22]
    Arbeitszufriedenheit und Überwindung der historischen Konfliktformen

    Im ersten Teil ging es mir nämlich v.a. um solche Dienstleistungen, die am ehesten der historischen »Blaumann«-Arbeit ähneln, eine gewisse körperliche Robustheit voraussetzen und in einem despotischen Abhängigkeitsverhältnis vom Auftraggeber stehen. Ich hatte von einer Verlängerung der Figur des Massenarbeiters gesprochen.

    Auf die Frage der Mentalität und der subjektiven Wahrnehmung der Arbeit war ich gar nicht eingegangen, und das hatte zu einigen Mißverständnissen geführt.

    Die selbständige Arbeit umfaßt inzwischen viele Tätigkeiten, in denen »lebendige Arbeit« vernutzt wird. Die ideologischen, politischen und sozialen Entwicklungen der letzten hundert Jahre führten dazu, daß diese Tätigkeiten von Menschen übernommen wurden, die ihre Arbeit als Entfremdung und intensive Ausbeutung wahrgenommen haben. Diese Tätigkeiten verbanden sich eng mit kämpferischem Verhalten, Abneigung gegen die und Flucht vor der Arbeit. Gleichzeitig war das Verhältnis sowohl zum Staat und den Institutionen als auch zum Arbeitsplatz in der Fabrik insgesamt ambivalent und widersprüchlich. Die gesellschaftliche Figur des Massenarbeiters steht nämlich einerseits für die Verweigerung der Arbeit, andererseits für Forderungen nach Arbeitsplatzgarantien und Sicherung des Einkommens bei zeitweiliger Arbeitslosigkeit. [23]

    Der selbständige Arbeiter nimmt die Ausbeutung ganz anders wahr, denn die Ausbeutung wird als solche nur wahrgenommen, wenn sie mit einer Vorstellung oder Perspektive von Befreiung verbunden ist. Der Massenarbeiter (und vor ihm der Facharbeiter) hatte sich eine eigene Kultur, eigene Kampfformen und Institutionen zur Kontrolle der Ausbeutung geschaffen, die seine Wahrnehmung der Arbeit verändert hatten. Dagegen kann der selbständige Arbeiter nicht nur die Ausbeutung nicht ausschließlich einem äußeren Kommando zuschreiben, da er sie teilweise seiner eigenen Bereitschaft zuschreiben muß, sondern er kann sich auch keine Formen des Kampfes, der Rebellion, der Erpressung vorstellen (bisher ist es ihm nicht gelungen, sich welche vorzustellen), die ihn dem Auftraggeber gegenüber in dieselbe Machtposition versetzt, in der sich der Massenarbeiter manchmal befand, wenn er streikte.

    Daß es der kapitalistischen Gesellschaft gelungen ist, die ureigenste Waffe des Arbeitskampfes, den Streik, zu entschärfen und einem großen Teil der »lebendigen Arbeit« diese Waffe zu nehmen, ist ein großer Erfolg für sie, denn diese Kampfform war die Keimzelle aller organisierten Formen der Arbeiterbewegung. Jede Gewerkschaft, Partei und Vereinigung zur gegenseitigen Hilfe, jeder Arbeitsvertrag und jede arbeiterfreundliche Gesetzesinitiative hat mit irgendeinem Streik begonnen.

    Damit ist nicht nur der Begriff der Ausbeutung verloren gegangen, sondern auch ein Begriff des Konflikts obsolet geworden, auf dem die politische Kultur jeder und jedes einzelnen beruht hatte. Daher verschwinden nicht nur antikapitalistische Mentalitäten, sondern politische Kulturen schlechthin. Da die Standards der Demokratie eines Landes vom Grad der politischen Kultur bestimmt werden, hat der Verlust des Konfliktbegriffes nicht nur zu einer allgemeinen gesellschaftlichen »Passivität« geführt, sondern auch zu einem (vielleicht vorübergehenden) Verfall der Sensibilität für Demokratie, da nichts anderes den obsolet gewordenen Konfliktbegriff ersetzt hat.

    Dazu müssen allerdings drei Anmerkungen gemacht werden:

    * Die Geschichte des Massenarbeiters besteht nicht nur aus Rebellionen gegen die Arbeit, sondern auch (vielleicht noch mehr) aus langen Zeiten von Passivität und Akzeptanz sowohl der ökonomischen Ausbeutung als auch der politischen Diktatur.
    * Die fordistische Epoche ist zugleich die Epoche, in der der Staatssozialismus noch härtere Formen der Ausbeutung und Disziplinierung des Massenarbeiters verwirklicht als der Kapitalismus, indem er dem Massenarbeiter kulturelle und ideologische Elemente wegnimmt, die als Mittel zum Kampf und zur Befreiung hätten dienen können. [24]
    * Man kann zwar also nicht behaupten, daß nur der selbständige Arbeiter »passiv« sei, aber man kann doch deutlich unterscheiden zwischen
    o der für den Massenarbeiter typischen Abneigung gegen die Arbeit und Neigung dazu, mittelmäßige Qualität zu bringen, und
    o der anscheinend für den selbständigen Arbeiter typischen Leidenschaft für die eigene Arbeit und Neigung dazu, beste Leistung zu bringen.

    Wenn die Ausbreitung selbständiger Arbeit mit einer höheren Produktivität zusammenfällt, dann liegt das nicht nur an der Verlängerung der Arbeitszeit, sondern auch an der veränderten Einstellung zur Leistung. In den von uns gesammelten Aussagen sind wir nicht ein einziges Mal auf den Satz »Ich mache eine Arbeit, die mir nicht gefällt« gestoßen. Beruht diese positive Einstellung zur Arbeit nur darauf, »daß man nicht mehr stempeln muß«, daß man sich seinen Arbeitsplatz selbst aussuchen und seine Arbeitszeit selbst bestimmen kann, oder beruht sie darauf, daß die Ausübung selbständiger Arbeit die Beherrschung eines breiten Spektrums von Qualifikationen erfordert, »Humankapital«, wie es Mario Deaglio nennt? [25]

    Der immer komplexere Erwerb von Wissen, Techniken und Erfahrungen scheint den stärksten Antrieb für die »Zufriedenheit« zu bieten. Manchmal sind auch die Ungewißheit des Marktes, die ständige Kundensuche, die Notwendigkeit, noch perfektioniertere oder neue Dienstleistungen zu erfinden, ein Antrieb dazu, die eigene Leistung zu verbessern und daher eine positive Einstellung gegenüber der Arbeit zu haben.

    Diese neue Lust an der Arbeit hat zu der Vorstellung geführt, der »Klassenkampf« sei endgültig vorbei, und die Zeit des Kampfverhältnisses zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen innerhalb der Produktionsorganisation sei von einer Zeit der Kooperation zwischen den verschiedenen Produktions-»Funktionen« abgelöst worden. Die gesellschaftlichen Konflikte hätten sich auf andere Gebiete, wie die sexuelle Differenz, die Umwelt, die Regeln des politischen Spiels, die Ethnien, usw. verlagert. [26]

    Gegen diese Vorstellung sind verschiedene Argumentationen möglich:

    – Der Begriff »Klassenkampf« läßt sich nicht trennen vom historischen Entwicklungsgang der Parteien, die sich auf den Kommunismus beriefen, von der Veränderung ihrer Programmatik und von ihrer Regierungspraxis in den sogenannten sozialistischen Ländern. Man kann sagen, daß der Klassenkampf im Sinne einer Auseinandersetzung, die mit der Niederlage eines der beiden Gegner enden muß, schon mindestens seit den 30er Jahren, lange vor dem sogenannten »Postfordismus«, aus dem Denken und der Propaganda der kommunistischen Parteien in den hochindustrialisierten Ländern verschwunden ist.

    – Die »gewerkschaftliche« Organisation der Interessen der Beschäftigten läßt sich nicht mit dem institutionellen Ausdruck des Klassenkampfs gleichsetzen. Die Gewerkschaftskultur ist nicht nur im Arbeiterprinzip der Gegenseitigkeit, sondern auch im liberalen Prinzip der Konkurrenz auf dem Markt begründet. [27]

    – Die Behauptung, die postfordistische Arbeitsorganisation habe die Interessenkonflikte abgeschafft, nur weil die »gewerkschaftliche Ausdrucksform« solcher Konflikte obsolet geworden oder von der Gewerkschaft selbst aufgegeben worden ist, oder einige Waffen wie der Streik nicht mehr benutzt werden können, läßt sich nur schwer halten. Denn obwohl die selbständigen Arbeiter derzeit wirklich nicht kämpferisch gegenüber ihren Auftraggebern auftreten und mit der Ausübung ihrer Tätigkeit zufrieden wirken, ist damit nicht gesagt, daß sie sich in einem veränderten historisch-ökonomischen Kontext weiter so verhalten werden.

    – Die bisher angestellten Überlegungen beziehen sich auf einen zu kurzen Zeitraum, nämlich ca. 15 Jahre. Wenn das Verhältnis zwischen Auftraggebern und selbständigen Arbeitern despotisch wird, wenn die Wirtschaftskonjunktur die Marktbedingungen verschlechtert, wenn die Steuerbelastung steigt, wenn die Rezentralisierung der Unternehmen den Markt schrumpfen läßt: Wer garantiert dann, daß in den von der selbständigen Arbeit hervorgebrachten Mentalitäten nicht Gedanken an Kampf und Revolte gegen dieselben Symbole aufblühen, die der Kampf und die Revolte der Arbeiter verwandt hatten?

    – Fünfzehn Jahre sind noch nicht einmal der Abstand einer Generation, und wie Deaglio richtig beobachtet hat, läßt sich das Kapital der selbständigen Arbeit nur zum geringsten Teil an die Kinder übertragen. Der Generationenwechsel könnte noch Überraschungen für uns bereithalten. [28]

    – Die positive oder negative Einstellung zur Arbeit, die vorhandene oder nicht vorhandene Bereitschaft zum Kampf hängen nicht von »anthropologischen«, sondern von historisch-politischen Faktoren ab. [29]

    Daher dürfen wir nicht von der frei erfundenen Frage ausgehen, ob es »den Klassenkampf« noch geben wird oder nicht, sondern

    – ob wir denken, daß die Existenz gegensätzlicher Interessen und die Organisation der Interessen überwunden ist oder nicht, und

    – ob die organisierte Form der Interessen noch die »Gewerkschaftsform« sein kann oder nicht, d.h. eine Form, die ein soziales Kollektiv voraussetzt.

    Auf die Vorstellung, daß der Konflikt sich auf andere Gebiete verlagert habe (Umwelt, sexuelle Differenz, Nationalismen usw.), läßt sich im übrigen sehr leicht anworten, daß diese Konflikte, wenn man bestimmte Interpretationsschemata anwendet, nur als andere Formen des Interessenkonflikts zwischen gesellschaftlichen Gruppen erscheinen. Wiederum sollten wir nicht diskutieren, ob gewisse gesellschaftliche Erscheinungen aus der Geschichte verschwunden sind oder nicht, als handele es sich um ausgestorbene Pflanzen- oder Tierarten, sondern uns klarmachen, von welchen Standpunkten aus eben diese gesellschaftlichen Erscheinungen analysiert werden. Es gibt nicht »einen Umweltkonflikt«, es gibt Dutzende von möglichen Umweltideologien mit unterschiedlichen Kampfintensitäten, -formen und -zielen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Subjekten. Wir können bloß beobachten, daß die vorherrschende Umweltideologie in den achtziger Jahren den Klassenstandpunkt aus ihrem Gesichtskreis verbannt hatte, während das vor 70 oder auch nur vor 15 Jahren anders war. [30]

    Selbständige Arbeit, Individualismus und staatliche Institutionen

    Die gängige Annahme, daß die selbständige Arbeit zum »Individualismus« oder einer individualistischen Mentalität führe, während die abhängige Arbeit, vor allem in Großbetrieben, »solidaritätsorientierte« Mentalitäten hervorgebracht habe, halte ich für sehr fragwürdig. [31]

    Da dies ideologische Begriffe sind, muß man überprüfen, in welchem historisch-politischem Kontext sie formuliert werden. Die Solidarity, in deren Zeichen die ersten Arbeiterrevolten gegen den Individualismus und Egoismus der Streikbrecher stattfanden, zeigte den Bruch innerhalb der Belegschaften an: zwischen den wenigen, die versuchten, den eigenen Rechten Geltung zu verschaffen, und den vielen, die den Kopf einzogen. Die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung ist eine Geschichte von Brüchen mit dem Individualismus zugunsten der gegenseitigen Hilfe oder des kollektiven Protests. Die Massenorientierung wurde immer wieder neu als Widerspruch gegen ein auf dem Individualismus beruhendes »Normal«-Verhalten formuliert. Die Existenz einer kollektiven Mentalität bedeutet nicht per se Solidarität. Die Geschichte des Kapitalismus, insbesondere des Taylorismus und Fordismus, ist eine Geschichte der Einführung von Techniken (wie der Akkordarbeit), die dort, wo sich solidaritätsorientierte Verhaltensweisen durchgesetzt hatten, den Individualismus wiederherstellen sollten. Zu den Grundlagen der Wiederherstellung individualistischer Verhaltensweisen gehörte die Verwandlung der Arbeiterbewegung in eine Bürokratie zur Kontrolle der Klassenbewegungen. Die Solidarität unter Arbeitern wurde zur Gefahr für die Kontrollfähigkeit der Bürokratien. Nicht zufällig tauften im angelsächsischen Raum die meisten Arbeitergruppen, die sich der bürokratisch-mafiosen Verfilzung der Gewerkschaft entgegensetzten, ihre Heftchen auf den Namen »Solidarity«. Solidarische Mentalitäten sind der abhängigen Arbeit nicht »angeboren«, sondern müssen ständig neu erkämpft werden. [32]

    In der Geschichte des Begriff Solidarität gibt es schließlich noch eine ganz »italienische« Bedeutung: Im Gewerkschaftsjargon der 80er Jahre heißt »Solidarität«, daß die abhängige Arbeit auf besondere Forderungen und jegliche Rigidität verzichtet, da diese angeblich die Kollektivität schwächen und auf eine spalterische »korporative« Bewegung hinauslaufen. War die Solidarität ursprünglich ein Mittel zur Durchsetzung von Rechten und ökonomischen Spielräumen, so wird sie jetzt zu einem Mittel des Verzichts darauf zugunsten eines abstrakten »kollektiven Interesses« aller Bürger. Ende der 80er Jahre konnotiert der Begriff »Solidarität« eine bestimmte Politik im Verhältnis zur Einwanderung von außerhalb der EG. [33]

    Aber hier öffnet sich ein weites Feld, das weit über die Unterscheidung zwischen selbständiger Arbeit und abhängiger Arbeit hinausgeht und ein kritisches Nachdenken über die Einwanderungspolitik, über den angeblichen »Rassismus« der weniger begünstigten Schichten und die angebliche »Solidarität« der privilegierten Schichten nötig macht. Umso mehr erscheint die Zuordnung »individualistischer« Verhaltensweisen zur selbständigen Arbeit als Unsinn oder als x-te selbstmitleidige Erfindung der »Linken« zur Erklärung ihres gesellschaftlichen Bedeutungsverlustes.

    Statt über den angeblichen »Individualismus« sollte man sich lieber Gedanken über die räumliche und wirtschaftliche Fragmentierung der selbständigen Arbeit machen, die nicht nur einen Begriff von Konflikt obsolet macht, sondern auch dazu führt, daß die selbständige Arbeit die Öffentlichkeit [agorà] der sozialen Bewegungen nicht benutzen kann. Das verstärkt die Unsichtbarkeit der selbständigen Arbeit als kollektivem Subjekt und gesellschaftlichem Akteur. Interessanter wäre es, das von den Ansätzen der Frauenforschung aufgeworfene Problem der domestication genauer zu untersuchen. [34]

    Um sich politisch ausdrücken zu können und sich überhaupt wieder einen Raum dafür zu schaffen, muß die selbständige Arbeit vielleicht bis zur Erfindung einer telekommunikativen Öffentlichkeit [agorà telematica] warten. Solange diese oder andere Formen nicht erfunden sind, stellt die selbständige Arbeit einfach zwangsläufig einen politischen Schattensektor voller Unbekannter dar.

    Aus allen von uns gesammelten Interviews ergibt sich eine Haltung von totalem Mißtrauen gegenüber dem Staat wenn nicht gar Feindseligkeit gegenüber einer Institution, die nicht da ist, wenn man ihre Hilfe braucht, die nicht funktioniert, wenn man sie benutzen will, und die einem unersättlich an den Geldbeutel will. Das Gefühl, nur eine halbierte Staatsbürgerschaft zu besitzen, nicht voll zum System der Regeln und der Vorteile zu gehören, das ein staatliches Gefüge bietet, führt zu einem Unbehagen, das bis heute keine geeigneten und eigenen Ausdrucksformen gefunden hat, zu einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber den Garantierten, besonders gegenüber den oberen Schichten im öffentlichen Dienst. Je mehr sich der Staat mit den Parteien identifiziert, desto mehr verstärkt diese Einstellung noch die Fremdheit gegenüber der Sprache und den Ritualen der Politik, außer wenn diese einen Marktvorteil darstellen. Deshalb sind sie eher Wechselwähler als ideologische Wähler, bzw. haben sie das »Lagerdenken« zugunsten eines tendenziell warenförmigen Verhältnisses zur Politik aufgegeben. [35]

    Selbständige Arbeit und Steuermoral

    Zu dieser Problematik gehört die Behauptung, die selbständigen Arbeiter seien die wichtigsten Steuerhinterzieher.

    Dazu gibt es nicht viel zu sagen: Bei traditionellen selbständigen Arbeitern (Händler, Freiberufler usw.) ist S

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