Die taz hat neulich ihrem Controller auf Honorarbasis Rheinfried Musch für seine Leistungen gratuliert. Der selbständige „Berater“ war früher Ökonom im mittlerweile abgewickelten KWO – Kabelwerk Oberspree. Vor einiger Zeit interviewte ich ihn über das Werk und seine Arbeit darin:
Neulich entdeckte die BZ doch noch einen „versteckten Arbeitslosen“ – in Köpenick: „Ich bin der letzte vom Kabelwerk“, titelte sie. Gemeint war damit der Kabelmechaniker Harald Schrapers (47), dem nach 30jähriger Tätigkeit im KWO Wilhelminenhofstrasse „ohne Abfindung“ Ende September gekündigt wurde, weil das Werk endgültig dicht macht. Zuvor waren bereits die Kabelwerke von Siemens, Pirelli, Kaiser und Alcatel in Westberlin stillgelegt worden. Zu Hochzeiten arbeiteten über 36.000 Kabelwerker allein in der „Elektropolis“ Berlin. Das KWO gehörte zur AEG und wurde 1897 gegründet. Wiewohl man versuchte, gegen die „englische Kabelherrschaft“ ein deutsches Funk-Weltnetz auf- und auszubauen (u.a. von Telefunken), konnten die Elektrokonzerne nicht auf eine eigene Kabelproduktion verzichten.
Da alle mit dem Edison-System arbeitenden Firmen sich im Elektrokartell IEA bei Lausanne zusammengeschlossen hatten, lag ein Kabelkartell – als eine Sektion der IEA – nahe, dieses wurde 1928 unter dem Namen ICDC in Vaduz gegründet. Nach der Wende behauptete das IEA zwar, es habe sich 1989 aufgelöst, aber allein die Privatisierung des KWO, das zu DDR-Zeiten 16.000 Mitarbeiter hatte, durch den britischen Konzern BICC 1993, widerlegte diese mir damals schriftlich mitgeteilte Behauptung bereits, denn es ging dem weltweit zweitgrößten Kabelhersteller BICC nur um eine zügige Abwicklung des Ostberliner Werkes: 1997 stieg die niederländische Draka Holding dort mit ein, 1999 übernahm das US-Unternehmen General BICC das Werk, und zuletzt wickelte es die Wilms-Gruppe ab, die nicht Mitglied im Arbeitgeberverband ist: „Geh mir los mit Wilms“, so ein IG-Metallfunktionär. Jeden Betriebsübergang hatte man zum Anlaß einer neuen Entlassungswelle genommen und jedesmal schrieb die Berliner Bürgerpresse hernach: „Jetzt geht es aufwärts – die Talsohle ist durchschritten, das KWO hat sich endlich konsolidiert!“
In den Fünfzigerjahren wurde zunächst in der Schweiz das Kabelkartell mit seinem lokalen Platzhalter BBC von einem kleinen Kabelhersteller bekämpft. 1975 verurteilte das Bundeskartellamt elf deutsche ICDC-Mitglieder wegen Preisabsprachen zu Geldstrafen, nachdem das Kieler Institut für Weltwirtschaft festgestellt hatte, dass keiner der Kabel-Anbieter die höheren Exportpreise genutzt hatte: „Dieser Fall ist nur bei einem geschlossenen Kartellverhalten denkbar“. Die Times berichtete im selben Jahr, dass das ICDC seinen „Fonds für gezieltes Dumping“ aufgestockt habe, um das Aufkommen neuer „producing countries“ zu verhindern und anschließend dort – z.B. im Iran – Superprofite einzufahren. Das lokale englische Kabelkartell schaffte es zwischen 1965 und 1975, der englischen Post 25 Mio Pfund zu viel für seine Kabellieferungen abzuknöpfen, seine Profitrate lag dabei zwischen 53 und 38 Prozent, während sich die übrige Industrie mit durchschnittlich 13,6 Prozent zufrieden gab. In Brasilien wies Pirelli 40 Prozent Gewinne aus. 1976 verklagten Japan und USA rund ein Dutzend Kabelkonzerne wegen unerlaubter Preisabsprachen. Und 1997 verhängte das Bundeskartellamt erneut eine Geldbuße (in Höhe von 280 Mio DM) gegen so ziemlich alle namhaften Kabelhersteller, darunter auch das Köpenicker KWO. Nach dessen gänzlicher Abwicklung bleiben nun in Berlin nur noch drei kleine Restbetriebe – von Baika, Draka und Wilms – übrig, in denen Glasfaserkabel und Litzen gefertigt, Draht und Kunststoff aufbreitet oder Kabelstränge konfektioniert werden – mit insgesamt etwa 240 Mitarbeitern.
Nachdem der letzte Kabelwerker das KWO verlassen hatte, sprach ich mit dem ehemaligen Planungsleiter des KWO-Betriebs ASLID. Dieser, Reinfried Musch, meinte zu der traurigen Nachricht aus seinem früheren Betrieb: „Da ist auch eine Menge Experiment und Innovation mit untergegangen“. Sein Werk in Adlershof, gehörte als einer von fünf Berliner KWO-Standorten sogar zu den ersten, die abgewickelt wurden, „weil man dort nur auf die Zentrale in der Wilhelminenhofstraße gehofft und nicht gekämpft“ hatte, obwohl es „das kreativste und interessanteste Werk“ gewesen sei und Adlershof sich auf die Marktbedingungen bereits seit 1985 eingestellt habe. Musch hatte als Bereichsökonom und Sozialwissenschaftler selbst ein starkes Interesse „wettbewerbsnahe Arbeitsbedingungen“ herzustellen: „Wir hatten autonome und teilautonome Brigaden – und waren also schon, was die Verwendung von Technologien, Ressourcen (Arbeitsmaterialien), Maschinenauslastung und Arbeitszeitregime betrifft, marktnahe“:
1. „Aufgrund unseres speziellen Brigadeprinzips – mit begrenzter Budgethoheit – hatten wir nur 20% der üblichen Überstunden, d.h. wir waren in der Lage, Flexibel alle möglichen Fertigungs- und Sortimentswünsche sofort zu erfüllen“. Im Sozialismus wurde ansonsten meistens mit Überstunden gearbeitet.
2. „Ein weiterer Engpaß, das waren meistens die Maschinen-Verfügbarkeit, Ausfallzeiten, Reparaturen etc., spielte kaum noch eine Rolle. Bei uns waren die Instandhalter der Produktionsbrigade assoziiert, d.h. sie kamen auf Bedarf. Das hat die Stillstände weitgehend abgebaut. Und im übrigen waren die Kabelwerker daran interessiert, daß die Maschinen liefen, denn sie verdienten ihr Geld nicht mit Überstunden, sondern im Leistungslohn“. Dieser bestand aus einem technologisch kalkulierten Grundlohn, wobei es Lohngruppen – nach Qualifikation und Leistung – gab, plus Leistungszuschlägen, die sich aus Normübererfüllung und Schichtzuschlägen zusammensetzten. Hinzu kam nun noch die Innovation von Musch: ein Überstundenabbauzuschlag. „Die Grundregel dabei lautete: 50% der Einsparungen für die Kabelwerker und 50% für das Werk“.
Um den Materialfluß zu gewährleisten gab es eine „offensive Fachdirektion für Beschaffung, die teilweise auf Tauschbasis operierte und auf Sonderkontigente zurückgreifen konnte, die zur Absicherung von Aufträgen für den Westexport (NSW) und die Armee (NVA) gewährt wurden. So konnten Materialengpässe ,überwunden‘ werden“.
In Summa: „Wir waren auf die Marktwirtschaft gut vorbereitet, paradoxerweise waren wir dann die ersten, die abgewickelt wurden. Von einigen Kollegen, die an andere Berliner KWO-Standorte versetzt worden waren und von BICC übernommen wurden, weiß ich, daß die Engländer unser Brigadesystem sofort abschafften – zugunsten eines ganz konservativen Top-Down-Prinzips. Die englischen Manager gingen z.B. nur mit dem Fertigungsleiter durch die Hallen, unter ihm gab es niemanden mehr, mit dem sie sprachen bzw. verhandelten. Das heißt, alles was wir – mühsam aber lustvoll – an aufwendiger und hemmender Bürokratie abgeschafft oder ausgeschaltet hatten, haben sie wieder, und zwar noch hierarchischer als vorher, eingeführt. Von daher ist mit der endgültigen Abwicklung des KWO zugleich auch ein Stück Selbstverwaltung, Selbstorganisation und überhaupt eine Produktionskultur, die über die in Westdeutschland herrschende hinausging, beendet worden“.
Der jetzige Unternehmensberater Musch ist jedoch zuversichtlich, dass man sich zu gegebener Zeit an diese ihre Erfahrungen im KWO wieder erinnern wird und die Manager erneut in die Situation kommen werden, solche Erfahrungen zu benötigen. Anders als bei Alcatel in Neukölln hat es in den vergangenen 13 kapitalistischen Jahren beim Köpenicker KWO keinen einzigen Arbeitskampf gegen die Entlassungswellen gegeben. „Alles ging seinen ordentlichen Gang,“ wie der Pressesprecher der KWO-Geschäftsführung Antoni sich ausdrückte. Nur im Herbst 1994 füllten sich die leeren Fabrikhallen noch einmal kurz mit Lärm und Menschen – das war, als der Regisseur Thomas Heise dort Heiner Müllers Revolutionsdrama „Zement“ aufführte.