Kropotkin im Gespräch mit Lenin – über Genossenschaften
Ich kann die Zusammenkunft von Wladimir Iljitsch und Peter Alexejewitsch Kropotkin mit annähernder Sicherheit zwischen den 8. und 10. Mai (1919) datieren. Wladimir Iljitsch bestimmte die Zeit nach den Arbeitsstunden des Sovnarkom (Rat der Volkskommissare) und benachrichtige mich, daß er gegen fünf Uhr in meiner Wohnung sein würde. Ich teilte Peter Alexejewitsch telefonisch Tag und Stunde des Treffens mit und schickte ihm um diese Zeit einen Wagen.
Wladimir Iljitsch erschien früher bei mir als Peter Alexejewitsch. Wir sprachen über die Werke der Revolutionäre früherer Zeiten; Wladimir Iljitsch gab während dieser Diskussion seiner Meinung Ausdruck, daß zweifellos bald die Zeit käme, in der wir vollständige Ausgaben unserer Emigrantenliteratur und ihrer führenden Autoren sehen würden, mit allen erforderlichen Anmerkungen, Vorworten, und allem anderen Untersuchungsmaterial.
„Dieses ist äußerst notwendig“, sagte Wladimir Iljitsch. „Nicht nur müssen wir selbst die Geschichte unserer revolutionären Bewegung studieren, sondern wir müssen auch jungen Forschern und Schülern die Möglichkeit geben, eine große Anzahl von Artikeln zu schreiben, die auf diesen Dokumenten und auf diesem Material fußen, um möglichst große Massen mit dem vertraut zu machen, was in Rußland während der vergangenen Generation existierte. Nichts wäre verderblicher, als zu glauben, die Geschichte unseres Landes begänne mit jenem Tag, an dem die Oktoberrevolution ausbrach. Trotzdem hören wir diese Meinung jetzt sehr häufig. Solch eine Dummheit ist es nicht wert, daß man sie diskutiert. Unsere Industrie ist wieder hergestellt, die Papier- und Druckkrise geht vorüber, und wir werden hunderttausend Exemplare solch eines Buches wie die „Geschichte der französischen Revolution“ von Kropotkin drucken und andere seiner Werke; trotz der Tatsache, daß er Anarchist ist, werden wir seine gesammelten Werke in jeder nur denkbaren Weise herausgeben, mit allen notwendigen Anmerkungen für den Leser, damit er deutlich den Unterschied zwischen den kleinbürgerlichen Anarchisten und der wahren kommunistischen Weltanschauung des revolutionären Marxismus versteht“.
Wladimir Iljitsch nahm ein Buch von Kropotkin aus meiner Bibliothek und ein anderes von Bakunin, die ich seit 1905 besaß, und durchblätterte sie schnell, Seite für Seite. In diesem Augenblick erfuhr ich, daß Kropotkin angekommen war. Ich ging, um ihn zu begrüßen. Er stieg langsam unsere ziemlich steile Treppe hinauf. Ich begrüßte ihn, und wir gingen in mein Arbeitszimmer. Wladimir Iljitsch durchschritt schnell den Korridor und bewillkommte, warm lächelnd, Peter Alexejewitsch. Peter Alexejewitsch errötete und sagte gleich zu ihm: „Wie glücklich bin ich, Sie zu sehen, Wladimir Iljitsch! Wir haben Meinungsverschiedenheiten in einer ganzen Reihe von Fragen, den Mitteln der Aktion, und der Organisation. Aber unsere Ziele sind die gleichen, und was Sie und Ihre Genossen im Namen des Kommunismus tun, ist meinem alten Herzen sehr nahe und teuer“.
Wladimir Iljitsch nahm ihn beim Arm und führte ihn sehr aufmerksam und höflich in mein Arbeitszimmer, ließ ihn in einem Sessel Platz nehmen und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch.
„Nun, da unsere Ziele dieselben sind, gibt es vieles, das uns in unserem Kampf verbindet“, sagte Wladimir Iljitsch. „Natürlich ist es möglich, sich einem und demselben Ziel auf verschiedenen Wegen zu nähern, aber ich glaube, daß unsere Wege in vielerlei Hinsicht zusammengehen müßten“.
„Ja, sicherlich“, unterbrach Peter Alexejewitsch, „aber ihr verfolgt die Genossenschaften und ich bin für sie“. „Und wir sind für sie“ , rief Wladimir Iljitsch lebhaft aus, „aber wir sind gegen die Art von Genossenschaften, hinter denen sich Kulaken, Landbesitzer, Händler und privates Kapital im allgemeinen verbergen. Wir wollen einfach dieser falschen Genossenschaft die Maske abreißen und den breiten Massen der Bevölkerung die Möglichkeit geben, einer echten Genossenschaft beizutreten“.
„Das will ich nicht bestreiten“, antwortete Kropotkin, „und natürlich muß man, wo immer es dergleichen gibt, dieses mit aller Strenge bekämpfen, da man aller Unwahrheit und Täuschung entgegentritt. Wir brauchen keinen Deckmantel; wir müssen jede Lüge unbarmherzig bloßstellen, überall. Aber in Dmitrov sehe ich, daß man Genossenschaften verfolgt, die nichts mit denen, die Sie gerade erwähnten, gemein haben; und dieses, weil die lokalen Autoritäten, vielleicht gerade die Revolutionäre von gestern, wie jede andere Autorität verbürokratisiert sind, zu Beamten konvertiert, die ihren Untergebenen die Zügel anziehen – und sie glauben, daß ihnen die gesamte Bevölkerung untergeben ist“.
„Wir bekämpfen die Bürokraten überall und zu jeder Zeit“, sagte Wladimir Iljitsch. „Wir bekämpfen die Bürokraten und die Bürokratie, und wir müssen die Überbleibsel mit den Wurzeln ausreißen, wenn sie noch in unserem neuen System nisten; letztlich, Peter Alexejewitsch, verstehen Sie sehr gut, daß es sehr schwierig ist, die Menschen zu ändern, daß, wie Marx sagte, die furchtbarste und uneinnehmbarste Festung der menschliche Schädel ist! Wir ergreifen alle nur denkbaren Maßnahmen, um in diesem Kampf zu siegen; und in der Tat, das Leben selbst zwingt natürlich, viel zu lernen. Unser Mangel an Kultur, unsere fehlende Bildung, unsere Rückständigkeit, sind natürlich überall offenkundig, und niemand kann uns, als Partei, als Regierungsmacht, für das tadeln, was in der Maschinerie dieser Macht an Fehlern begangen wird; noch weniger für das, was in der Tiefe des Landes, weit entfernt von den Zentren, geschieht“.
„Es ist deswegen jedoch keineswegs leichter für die, die dem Einfluß dieser unaufgeklärten Autorität ausgesetzt sind“, rief Peter Alexejewitsch Kropotkin aus, „welche sich bereits als zersetzendes Gift für diejenigen erweist, die sich diese Autorität für sich selber aneignen“.
„Aber es gibt keinen anderen Weg“, fügte Wladimir Iljitsch hinzu. „Man kann keine Revolution machen, wenn man weiße Handschuhe trägt. Sie wissen sehr gut, daß wir eine große Zahl von Fehlern gemacht haben und machen werden, daß es viele Unregelmäßigkeiten gibt, und viele Menschen unnötig gelitten haben. Aber was korrigiert werden kann, werden wir korrigieren; wir werden unsere Irrtümer eingestehen, die häufig nur simpler Dummheit anzulasten sind. Es ist aber unmöglich, während einer Revolution keine Fehler zu begehen. Keine zu begehen hieße dem Leben gänzlich entsagen und überhaupt nicht zu handeln. Wir aber haben es vorgezogen, Irrtümer zu begehen und zu handeln. Wir wollen und werden handeln, trotz aller Fehler, und wir werden unsere sozialistische Revolution zum schließlichen und unvermeidlichen siegreichen Ende führen. Und Sie können uns dabei helfen, indem Sie uns all ihre Informationen über Unregelmäßigkeiten mitteilen. Sie können sicher sein, daß jeder von uns sich dieser Informationen mit größter Sorgfalt annehmen wird“.
„Ausgezeichnet“, sagte Kropotkin. „Weder ich noch sonst jemand wird sich weigern, Ihnen und all Ihren Genossen so weit wie möglich zu helfen, aber unsere Hilfe wird hauptsächlich darin bestehen, Ihnen all die Unregelmäßigkeiten zu berichten, die überall vorkommen und unter deren Auswirkungen die Menschen an vielen Orten stöhnen…“
„Nicht das Stöhnen, sondern das Geschrei der widerstehenden Konterrevolutionäre, demgegenüber wir ohne Gnade waren und sind…,“
„Aber Sie sagen, es sei unmöglich, ohne Autorität auszukommen“, begann Peter Alexejewitsch erneut zu theoretisieren, „und ich sage, es ist möglich. Wohin Sie auch blicken, entsteht eine Grundlage für die Autoritätslosigkeit. Ich habe gerade die Nachricht empfangen, daß in England die Dockarbeiter in einem der Häfen eine hervorragende, gänzlich freie Genossenschaft organisiert haben, die ständig von Arbeitern aller anderen Industriezweige besucht wird. Die Genossenschaftsbewegung ist enorm und ihre Bedeutsamkeit sehr groß…“
Ich beobachtete Wladimir Iljitsch. Seine Augen glitzerten ein wenig spöttisch, und er schien, indem er Peter Alexejewitsch aufmerksam zuhörte, verblüfft, daß jemand angesichts des ungeheuren Aufschwungs und der mitreißenden Bewegung der Oktoberrevolution nur von Genossenschaften und immer wieder von Genossenschaften sprechen konnte. Und Peter Alexejewitsch fuhr fort, unaufhörlich darüber zu sprechen, wie noch an einem anderen Ort in England desgleichen eine Genossenschaft organisiert worden sei, wie an irgendeinem dritten Ort, in Spanien irgendeine kleine Föderation errichtet werde, welchen Aufschwung die syndikalistische Bewegung in Frankreich genommen habe… „Es ist in der Tat schädlich“, konnte sich Wladimir Iljitsch nicht enthalten einzuwerfen, „der politischen Seite des Lebens keinerlei Aufmerksamkeit zu widmen und offensichtlich die arbeitenden Klassen zu demoralisieren, sie abzulenken vom unmittelbaren Kampf…“
„Aber die syndikalistische Bewegung vereinigt Millionen; dies allein ist ein bedeutender Faktor“, sagte Peter Alexejewitsch erregt. „Zusammen mit der Genossenschaftsbewegung ist dies ein ungeheurer Schritt vorwärts…“
„Das ist schön und gut“, unterbrach ihn Wladimir Iljitsch „Natürlich ist die Genossenschaftsbewegung wichtig, ebenso wie die syndikalistische Bewegung schädlich ist. Wie läßt sich das bestreiten? Das ist ganz offensichtlich, wenn sie erst einmal eine wirkliche Genossenschaftsbewegung wird, verbunden mit den großen Massen der Bevölkerung. Aber ist das wirklich der Punkt? Ist es möglich, gerade hierdurch zu etwas Neuem zu gelangen? Glauben Sie wirklich, die kapitalistische Welt wird sich dem Weg der Genossenschaftsbewegung fügen? Sie versucht durch jede Maßnahme und mit allen Mitteln, die Bewegung in ihre Hände zu bekommen. Und diese kleine Genossenschaft, eine Handvoll englischer Arbeiter ohne Macht, wird zermalmt und erbarmungslos zum Diener des Kapitals gemacht werden; diese neu entstehende Entwicklung in der Genossenschaftsbewegung, die Sie so sehr begrüßen, wird in direkter und absoluter Abhängigkeit durch tausende von Fäden sein, die sie wie ein Spinnennetz umgeben. Das alles ist engstirnig! Sie werden mir vergeben, aber das ist alles Unfug! Wir brauchen die direkte Aktion der Massen, die revolutionäre Aktion der Massen, diese Aktivität, die die kapitalistische Welt an der Gurgel packt und sie zu Fall bringt. Jetzt aber gibt es diese Aktivität nicht, gar nicht zu reden von Föderalismus oder Kommunismus oder sozialer Revolution. Das alles ist Kinderei, nutzloses Geschwätz, hat keinen realistischen Boden unter sich, keine Kraft, keine Bedeutung und fast nichts, sich unseren sozialistischen Zielen zu nähern. Ein direkter und offener Kampf, ein Kampf bis auf den letzten Blutstropfen – das ist es, was wir brauchen. Der Bürgerkrieg muß überall ausgerufen werden, unterstützt durch alle revolutionären und oppositionellen Kräfte, soweit sie nur irgend in solch einem Bürgerkrieg gehen können. Es wird viel Blut vergossen werden, und es wird viele Greuel in solch einem Kampf geben. Ich bin überzeugt, daß diese Greuel in Westeuropa noch größer als in unserem Land sein werden, wegen des schärferen Klassenkampfes dort und der größeren Spannung der entgegengesetzten Kräfte, die in diesem vielleicht letzten Gefecht mit der imperialistischen Welt bis zum letzten kämpfen werden“.
Wladimir Iljitsch erhob sich von seinem Stuhl, nachdem er dies alles klar und deutlich, mit Lebhaftigkeit, gesagt hatte. Peter Alexejewitsch saß zurückgelehnt in seinem Sessel und lauschte mit einer Aufmerksamkeit, die in Teilnahmslosigkeit überging, den feurigen Worten Wladimir Iljitschs. Danach sprach er nicht mehr von Genossenschaften.
“Natürlich sind Sie im Recht“, sagte er. „Ohne Kampf kann nichts in irgendeinem Land vollbracht werden, ohne den verzweifeltsten Kampf…“
„Aber nur ein massiver“, rief Wladimir Iljitsch. „Wir brauchen nicht den Kampf und gewaltsame Akte einzelner Personen. Es ist höchste Zeit, daß die Anarchisten dies verstehen und damit aufhören, ihre revolutionäre Energie an gänzlich nutzlose Dinge zu verschwenden. Nur in den Massen, nur durch die Massen und mit den Massen, von Untergrundarbeit zu massivem roten Terror, wenn es nötig ist, zum Bürgerkrieg, zu einem Krieg an allen Fronten, zu einem Krieg aller gegen alle – nur diese Art des Kampfes kann von Erfolg gekrönt sein. Alle anderen Wege – die der Anarchisten eingeschlossen – wurden der Geschichte überlassen, den Archiven, und sie sind von keinerlei Nutzen für irgendjemand, ungeeignet für jeden; niemand wird von ihnen angezogen, und sie demoralisieren nur diejenigen, die sich aus irgendeinem Grund zu diesem alten, unbrauchbar gewordenen Weg verleiten lassen…“
Wladimir Iljitsch unterbrach sich plötzlich, lächelte höflich und sagte: „Vergeben Sie mir. Es scheint, daß ich fortgerissen wurde und Sie ermüde. Aber so ist es nun einmal mit uns Bolschewisten. Dies ist unser Problem, unser Cognac, und es geht uns so nahe, daß wir nicht ruhig darüber reden können“. „Nein, nein“, antwortete Kropotkin. „Es ist äußerst erfreulich für mich, alles, was Sie sagen zu hören. Wenn Sie und all Ihre Genossen in dieser Art denken, wenn sie nicht von der Macht vergiftet sind und sich selbst sicher fühlen vor der Versklavung durch die staatliche Autorität, dann werden sie vieles vollbringen. Dann ist die Revolution wirklich in zuverlässigen Händen“.
„Wir werden es versuchen“, antwortete Lenin gutmütig, „und wir werden sehen (er gebrauchte seinen bevorzugten Satz), daß niemand von uns eingebildet wird und zu hoch von sich selber denkt. Das ist eine furchtbare Krankheit, aber wir haben ein exzellentes Heilmittel: wir werden diese Genossen zurück an die Arbeit schicken, zu den Massen“. „Das ist ganz ausgezeichnet“, rief Peter Alexejewitsch aus. „Meiner Meinung nach sollte dieses jeder viel häufiger tun. Dies ist sinnvoll für alle. Man darf niemals den Kontakt mit den arbeitenden Massen verlieren, und man muß wissen, daß es nur mit den Massen möglich ist, all das zu vollbringen, was in unseren progressivsten Programmen niedergelegt ist. Aber Sozialdemokraten und uninformierte Menschen in allen Ländern glauben, daß es in eurer Partei viele Nichtarbeiter gibt, und daß dieser Bestandteil an Nichtarbeitern die Arbeiter korrumpiert. Was nötig ist, ist das Gegenteil: der Bestandteil an Arbeitern sollte überwiegen, und die Nichtarbeiter sollten den arbeitenden Klassen nur durch Unterweisung helfen, ein Gebiet des Wissens oder ein anderes zu meistern; sie wären wie ein Hilfselement in der einen oder anderen sozialistischen Organisation“.
„Wir brauchen aufgeklärte Massen“, sagte Wladimir Iljitsch, „und es wäre wünschenswert, wenn z.B. Ihr Buch, „Geschichte der französischen Revolution“, sofort in einer sehr hohen Auflage herausgebracht würde. Schließlich ist es für jeden nützlich. Wir würden dies ausgezeichnete Buch sehr gerne publizieren und es in einer Anzahl herausbringen, die für alle Bibliotheken, Leseräume der Dörfer und Kompaniebüchereien der Regimenter ausreichte“.
„Aber wo kann es veröffentlicht werden? Ich werde kein staatliche Ausgabe dulden…“ „Nein, nein“, unterbrach Wladimir Iljitsch Peter Alexejewitsch schlau lächelnd. „Natürlich, nicht im Staatsverlag, sondern in einem genossenschaftlichen Verlag…“ Peter Alexejewitsch nickte zustimmen. „Nun dann“, sagte er sichtlich erfreut über diese Ermunterung und diesen Vorschlag, „wenn Sie das Buch für interessant und nützlich halten, stimme ich zu, es in einer billigen Ausgabe herauszubringen. Vielleicht läßt sich ein genossenschaftlicher Verlag finden, der es annimmt …“
„Wir finden einen, wir finden einen“, versicherte Wladimir Iljitsch. „Ich bin davon überzeugt“. Damit begann sich die Unterredung zwischen Peter Alexejewitsch und Wladimir Iljitsch zu erschöpfen. Wladimir Iljitsch sah auf seine Uhr, erhob sich und sagte, er müsse sich auf eine Sitzung des Rates der Volkskommissare vorbereiten. Er sagte Peter Alexejewitsch auf das herzlichste Lebewohl, und fügte hinzu, daß er immer froh sein würde, Briefe und Instruktionen von ihm zu bekommen, denen immer ernsthafte Aufmerksamkeit geschenkt werden würde. Peter Alexejewitsch sagte uns Lebewohl und ging zur Tür, durch die Wladimir Iljitsch und ich ihn hinaustreten sahen. Er fuhr im selben Automobil ab, um in seine Wohnung zurückzukehren.
Aus: Peter Kropotkin – Unterredung mit Lenin sowie andere Schriften zur russischen Revolution, Verlag „Die Freie Gesellschaft“, Hannover 1980
Der Text wurde von Max Otto Lorenzen übersetzt, die Originalquelle ist in der Broschüre leider nicht angegeben. Es ist daher auch nicht ersichtlich, wer über diese Unterredung zwischen Kropotkin und Lenin berichtet.
Leo Trotzki hatte zu den Genossenschaften, die nach der Revolution in Rußland wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, ein ähnlich taktisches Verhältnis wie Lenin, in „Die III. Internationale nach Lenin“ äußerte er sich u.a. auch über Lenins Schrift „Über das Genossenschaftswesen“:
Das bedeutende,
wenn auch nicht beendete Werk „Über das Genossenschaftswesen”, das durch die Einheit seiner Gedankengänge mit den anderen
bedeutenden Abhandlungen der letzten Periode zusammen gleichsam wie ein Kapitel eines einzigen Buches erscheint, eines Buches
über die Oktoberrevolution und die Kette der Revolutionen des Westens und des Ostens, das nicht zu Ende geschrieben ist,
spricht überhaupt nichts davon, was ihm die Revisionisten so leichtsinnig andichten. Lenin erklärt in diesem Artikel, dass die
„Handels”-Genossenschaft ihre gesellschaftliche Rolle in einem Arbeiterstaat ändern kann und muss. Bei einer richtigen Politik könnte
man die Verbindung der privaten bäuerlichen Interessen mit den allgemeinstaatlichen auf eine sozialistische Bahn schieben. Diesen
unbestreitbaren Gedanken begründete Lenin folgendermaßen:
“In der Tat, die Verfügungsgewalt des Staats über alle großen Produktionsmittel, die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, das Bündnis dieses
Proletariats mit den vielen Millionen Klein- und Zwergbauern, die Sicherung der Führungsstellung dieses Proletariats gegenüber der Bauernschaft usw.,
ist das nicht alles, was notwendig ist, um aus den Genossenschaften, die wir früher geringschätzig als krämerhaft behandelt haben und die wir in
gewisser Hinsicht jetzt unter der NEP, ebenso zu behandeln berechtigt sind, ist das nicht alles, was notwendig ist, um die vollendete sozialistische
Gesellschaft zu errichten? Das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu dieser Errichtung notwendig und
hinreichend ist.” (Lenin, 4./6. Januar 1923, Lenin Werke, Band 33, S. 453-461, hier S. 454)
Schon der Text der Zitate allein, der den unbeendeten Satz “um aus der Genossenschaft” enthält, beweist, dass es sich hier um
einen nicht verbesserten Entwurf handelt, der dazu noch diktiert und nicht eigenhändig niedergeschrieben wurde. Um so
unverzeihlicher ist es, einzelne Worte des Textes herauszugreifen, anstatt sich in den Geist der Abhandlung hineinzudenken.
Glücklicherweise gibt auch der Buchstabe des angeführten Zitats, nicht nur dessen Geist‚ gar keine Berechtigung zum Missbrauch,
den die Verfasser des Programmentwurfs damit treiben. Lenin grenzt in diesem Artikel seine Thesen streng ab. Er untersucht dort nur
die Frage, durch welche Methoden wir aus der Zersplitterung und Zerrissenheit der Bauernwirtschaften heraus, ohne neue
Klassenerschütterungen, beim Vorhandensein des Sowjetregimes, zum Sozialismus gelangen könnten. Der Artikel ist vollkommen der
gesellschaftlichen Organisationsform des Übergangs von dem privaten Kleinhandel zum kollektiven, nicht aber dessen materiellen
Produktionsbedingungen gewidmet. Wenn heute z. B. das europäische Proletariat gesiegt haben würde und uns mit seiner Technik zu
Hilfe kommen würde, so würde die von Lenin aufgeworfene Frage von der Genossenschaft als einer gesellschaftlichen
Organisationsform der Vereinigung privater Interessen mit den allgemeinen ihre volle Bedeutung beibehalten. Die Genossenschaft
zeigt den Weg, den man gehen müsse. Durch die Elektrifizierung könnte man beispielsweise unter dem Sowjetregime Millionen von
Bauernwirtschaften vereinigen. Doch die Genossenschaft selbst ersetzt nicht diese neue Technik und erschafft diese auch nicht aus
sich selbst heraus. Lenin spricht nicht nur allgemein von den „notwendigen und genügenden Voraussetzungen”, sondern zählt diese,
wie wir es gesehen haben, genau auf. Da ist: 1. die Macht des Staates über alle wichtigsten Produktionsmittel (der Satz ist auch nicht
korrigiert worden), 2. die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, 3. Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen kleiner
und kleinster BäuerInnen, 4. Sicherstellung der Führung des Proletariats in bezug auf diese BäuerInnen. Und nur nach der Aufzählung
dieser rein politischen Vorbedingungen – von materiellen Vorbedingungen wird hierbei nicht gesprochen – zieht Lenin die
Schlussfolgerung, dass das (das Aufgezählte nämlich) alles Notwendige und Genügende auf dem politischen Gebiet – nicht mehr – für
den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft ist. Also, alles Notwendige und Genügende politisch genommen – nicht mehr -. „Doch”,
fügt Lenin hinzu, „das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft.” (vgl. a.a.O., S. 456) Warum denn nicht? Weil
auch genügende politische Voraussetzungen die ganze Frage noch nicht lösen können. Es bleibt noch die Frage der Kultur. „Nur”,
sagt Lenin, indem er das Wort Nur unterstreicht und in Anführungsstriche setzt, um die ungeheure Bedeutung dieser uns fehlenden
Voraussetzung zu zeigen. Doch die Kultur hängt wieder ihrerseits mit der Technik zusammen; das wusste Lenin genau so gut wie wir.
Und er zwingt die Revisionisten, wieder zur Erde zurückzukehren, indem er sagt:
„Denn um Kultur zu haben braucht man eine bestimmte materielle Basis.” (a.a.O., S. 461.) Es genügt, wenn wir dabei das
Elektrifizierungsproblem erwähnen, das Lenin speziell mit der Frage der internationalen sozialistischen Revolution verbindet. Der
Kampf um die Kultur würde beim Vorhandensein der politischen Voraussetzungen unsere fernere Arbeit bestimmen, wenn nicht die
Frage des unnachsichtigen blutigen Kampfes zwischen der sich auf einem rückständigen Boden aufbauenden sozialistischen
Gesellschaft und dem sich bereits dem Untergang zuneigenden, aber noch immer durch seine Technik mächtigen Weltkapitalismus
vor uns stünde.
„Ich würde sagen,” unterstreicht Lenin am Ende dieser Abhandlung, „dass sich das Schwergewicht für uns auf bloße Kulturarbeit
verschiebt, gäbe es nicht die internationalen Beziehungen, hätten wir nicht die Pflicht, für unsere Positionen im internationalen Maßstabe zu kämpfen.” (a.a.O., S. 460.) Das waren die wirklichen Gedanken Lenins, wenn man nur seinen Aufsatz über die
Genossenschaften betrachten und alle seine übrigen Werke außer Acht lassen wollte. Wie soll man nach diesem die Handlungsweise
der Verfasser des Programmentwurfs bezeichnen, falls man es nicht eine Fälschung nennen soll, die in Lenins Worte über das
Vorhandensein von genügenden, notwendigen Voraussetzungen von sich aus einfach die hauptsächlichste Voraussetzung, die
materielle, einflechten. Obwohl Lenin gerade diese Voraussetzung hervorgehoben hatte als eine, die uns doch fehlt, und die wir uns
erst erkämpfen müssen, in Verbindung mit dem Kampf für unsere Stellung im internationalen Maßstabe, d. h. also in Verbindung mit
der internationalen proletarischen Revolution. So steht es also mit diesem zweiten und letzten Zauberkunststück dieser Theorie. Wir
erwähnen hier ganz bewusst nicht die zahllosen Aufsätze und Reden Lenins, in welchen er mehrfach in ganz kategorischer Form
wiederholt, dass ohne siegreiche Weltrevolution uns der Untergang droht, dass … der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in
einem rückständigen Lande seinem ganzen Wesen nach eine internationale Aufgabe ist. Daraus zieht Lenin Folgerungen, die vom
Standpunkt der Schöpfer der national begrenzten Utopie vielleicht pessimistisch klingen, doch vom Standpunkt des revolutionären
Internationalismus optimistisch genug sind. Wir werden uns hier nur auf jene Zitate beschränken, die die Verfasser des Programms
selber anführen, um so genügende und notwendige Voraussetzungen für ihre Utopie zu schaffen, und wir werden sehen, dass ihr
ganzer Bau bei einer bloßen Berührung in nichts zerfallen wird. Wir halten es aber immerhin für zweckmäßig, hier wenigstens ein
direktes Zeugnis von Lenin über die strittige Frage anzuführen, welches keiner Erklärung bedarf und keine Auslegungen zulässt.
„In einer ganzen Reihe von Schriften, in allen unseren Reden, in der ganzen Presse haben wir betont‚ dass in Russland die Dinge nicht so liegen,
dass wir in Russland eine Minderheit von Industriearbeitern und eine ungeheure Mehrheit von kleinen Landwirten haben. Die sozialistische Revolution
kann in einem solchen Lande nur unter zwei Bedingungen endgültigen Erfolg haben. Erstens unter der Bedingung, dass sie rechtzeitig durch die
sozialistische Revolutionen in einem oder in einigen der fortgeschrittenen Länder unterstützt wird. Die andere Bedingung ist die Verständigung zwischen
dem Proletariat, das die Diktatur ausübt oder die Staatsmacht in seinen Händen hält, und der Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung… Wir wissen,
dass nur eine Verständigung mit der Bauernschaft die sozialistische Revolution in Russland retten kann, solange die Revolution in anderen
Ländern nicht eingetreten ist.” (Lenin, [„Referat über die Ersetzung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer”, 15. März 1921, Lenin Werke,
Band 32, S. 216, 232, hier S. 217, Hervorhebungen von mir. L. T.)
In der gegen die Stalinisierung der Partei gerichteten Schrift „Verratene Revolution“ schreibt Trotzki 1936:
Um die natürlichen Zweifel seines amerikanischen Gesprächspartners zu zerstreuen, stellte Stalin eine neue Überlegung an: „Kandidatenlisten werden bei den Wahlen nicht nur die Kommunistische Partei, sondern auch alle möglichen parteilosen Organisationen … einreichen. Solche Organisationen aber gibt es bei uns Hunderte… Jede dieser Schichten [der Sowjetgesellschaft] kann ihre speziellen Interessen haben und sie durch die vorhandenen zahlreichen gesellschaftlichen Organisationen zum Ausdruck bringen“. Dieser Sophismus ist nicht besser als die anderen. Die „gesellschaftlichen“ Organisationen – Gewerkschaften, Genossenschaften, kulturelle Vereinigungen usw. – vertreten keineswegs die Interessen der verschiedenen „Schichten“, haben sie doch alle ein und dieselbe hierarchische Struktur: selbst in den Fällen, wo sie scheinbar Massenorganisationen sind, wie bei den Gewerkschaften und Genossenschaften, spielen darin ausschließlich Vertreter der privilegierten Spitzen eine aktive Rolle, und das letzte Wort gehört der „Partei“ d.h. der Bürokratie. Die Verfassung schickt den Wähler einfach von Pontius zu Pilatus.
In „Was tun? schrieb Trotzki angesichts des Anwachsens der faschistischen Bewegung über Deutschland und die Genossenschaften:
Im Laufe vieler Jahrzehnte haben die Arbeiter innerhalb der bürgerlichen Demokratie, unter deren Ausnutzung und im Kampf mit ihr, eigene Festungen, eigene Grundlagen, eigene Zentren der proletarischen Demokratie geschaffen: Gewerkschaften, Parteien, Bildungsklubs, Sportorganisationen, Genossenschaften usw. Das Proletariat kann nicht im formellen Rahmen der bürgerlichen Demokratie an die Macht kommen, sondern nur auf revolutionärem Wege; das ist durch Theorie und Praxis gleichermaßen erwiesen. Aber gerade für den revolutionären Weg braucht es die Stützpunkte der Arbeiterdemokratie innerhalb des bürgerlichen Staates. Auf die Schaffung solcher Basen lief ja die Arbeit der Zweiten Internationale in jener Epoche hinaus, als sie noch eine progressive historische Arbeit versah.
Manfred Behrend schreibt über Trotzki in Würdigung seiner Verdienste und Fehler:
Diese und andere Programmpunkte, darunter Aufbau und Festigung landwirtschaftlicher Genossenschaften bei strikter Freiwilligkeit des Beitritts, sind u. a. in Trotzkis Analyse der Sowjetwirtschaft und ihrer Entwicklungstendenzen von 1925, einer Erklärung der Vereinigten Opposition vom Juli 1926 und dem Entwurf einer Plattform dieser Opposition vom September 1927 enthalten.
Mal sehen, was der Trotzkismus sonst noch alles über Genossenschaften geäußert hat…