vonHelmut Höge 06.08.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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1948 veröffentlichte Paul Parin, der zuvor als Arzt bei den “Tito-Partisanen” gearbeitet hatte, einen psychiatrischen Bericht über die in Jugoslawien nach dem Krieg bei demobilisierten Partisanen massenhaft aufgetretene “Partisanenkrankheit”, die Parin als hysterische bzw. epileptische “Kampfanfälle” bezeichnete. Sie bedeuteten für ihn das Gegenteil einer “Kriegsneurose”: Während diese den davon heimgesuchten vor weiteren Fronteinsätzen quasi schützt, legte jene nahe, dass der oder die an ihr Erkrankte nicht mit dem Kämpfen aufhören kann bzw. will. Das betraf damals etwa 120.000 zumeist junge, ungebildete vom Land stammende Demobilisierte (1/3 davon waren Frauen).

Die Partisanenkrankheit war zuvor auch schon von Nadeshda Mandelstam beobachtet worden: Sie fuhr mit ihrem Mann 1922 nach Suchumi – auf dem Schiff befanden sich viele demobilisierte Leichtverwundete, die aus dem Bürgerkrieg zurückkehrten, und ständig kam es unter ihnen zu solchen “Kampfanfällen”.

Zuletzt berichtete Ursula Hauser von ähnlichen Symptomen. Sie hatte in Costa Rica ein psychoanalytisches Institut aufgebaut und in Nicaragua Miskito-Indianer behandelt. Diese waren früher von wiedertäuferischen Brüdergemeinen beeinflußt worden, hatten ansonsten jedoch derart isoliert gelebt, dass sie sich primär durch Inzest vermehrten. Ihr Stamm wurde dann in zwei Teile geteilt: die einen schlossen sich den Sandinistas an, die anderen den Contras. Nach Beendigung der Kämpfe kam es unter ihnen ebenfalls zu einer “ansteckenden Neurose” – ähnlich der Partisanenkrankheit.

Von “Ansteckung” redet auch Roger Caillois in seinem Buch “Méduse & Cie”, in dem es um die “Mimese” geht, die er als tierisches Pendant zur menschlichen Mode begreift. Beides gründet für ihn “auf eine undurchsichtige Ansteckung”. Gilles Deleuze und Félix Guattari sprechen bei der Banden-, Meuten- und Schwarmbildung von “Ansteckung”, insofern es dabei um ein “Werden” geht. Dieses kommt durch Bündnisse zustande: “Werden besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrepondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es läßt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ‘zu scheinen’ noch ‘zu sein’. Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt.”

Dies scheint mir, bei allem Respekt vor marxistischen (politiökonomischen) Analysen, auch für die 68er-Studentenbewegung zu gelten, die sich u.a. in Frankreich und Italien mit den Arbeitern verbündete. Es gab kaum ein Land auf der Welt, das nicht von dieser Protestbewegung erfasst wurde. Und das geschah eben auf dem Wege der Ansteckung: über die Protest-Formen, -Moden, -Musiken, ihre mediale Verbreitung und durch direkten Kontakt mit den Protestierenden selbst. In wissenschaftlicher Hinsicht kann es so etwas wie eine “ansteckende Neurose” nicht geben, dennoch kennen wir solche Phänomene schon seit langem: im Mittelalter die Veitstänze und in den Sechzigerjahren die Hysterien der Beatlesfans. Sogar bei den frühen Sartre-Auftritten war es bereits zu solchen hysterischen Ohnmachten gekommen. Daneben gilt das Lachen, aber auch das Gähnen als ansteckend (nicht einmal Hunde können sich dem entziehen).

Um während der Studentenbewegung die Ansteckungsgefahr zu bannen, d.h. die Revolte an der Ausbreitung zu hindern, setzten die konservativen Kräfte in den meisten Ländern auf die heilsame Wirkung von Polizeiknüppeln. In der Protestbewegung selbst wußte man jedoch, dass gerade die Polizeiknüppel auf Demonstrantenschädel eine bewußtseinserweiternde Wirkung hatten – sogar auf unbeteiligte Fernsehzuschauer. Erst 20 Jahre Jahre später und nach dem “Zusammenbruch des Sozialismus” trauten sich die Politiker wieder, für alle Übel dieser Welt “68” verantwortlich zu machen: Bei Tony Blair und Nicolas Sarkozy war dies sogar (analytischer) Teil ihres Regierungsprogramms. Auch die Universitätspräsidenten beeilten sich landaus landab, “die letzten Folgen von 68” zu beseitigen, wie sie lauthals zu verkünden wagten. Die nächste Protestpest wird deswegen um so gewisser sein. Zumal es bis jetzt noch keinerlei Forschung darüber gibt, wie die Ansteckung wirklich erfolgt – geschweige denn, wie man sie im Keim ersticken kann.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/08/06/die_ansteckungsgefahren_maximieren/

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kommentare

  • Der obige Text über die Ansteckung gehört im strengen Sinne noch zur Genossenschaftsdebatte bzw. -bewegung, denn ohne eine gewisse Ansteckungsgefahr dürfte auch die Gründung von Genossenschaften und/oder Alternativbetrieben nicht über einige mehr oder weniger klägliche Versuche hinauskommen. Erst wenn überall derartige Wirtschaftsweisen aus dem Boden sprießen und sich untereinander verbinden, kann daraus mehr als ein Experiment werden, nämlich eine Lebensweise.

    Zur Hochzeit der Alternativbewegung hat sich insbesondere Rolf Schwendter in Kassel um eine solche “Vernetzung” der Alternativ-Betriebe und -Einrichtungen besorgt. Daraus ging dann u.a. die AG Spak hervor, in der noch immer Publikationen zur Vernetzung dieser Bewegung veröffentlicht werden.

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