vonHelmut Höge 11.08.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Aus „Reform oder Revolution“, Zweiter Teil, zweites Kapitel: „Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Demokratie“ (1899):

Vorwort:

Der Titel der vorliegenden Schrift kann auf den ersten Blick überraschen. Sozialreform oder Revolution? Kann denn die Sozialdemokratie gegen die Sozialreform sein? Oder kann sie die soziale Revolution, die Umwälzung der bestehenden Ordnung, die ihr Endziel bildet, der Sozialreform entgegenstellen? Allerdings nicht. Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen Macht und Aufhebung des Lohnsystems hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist.
Eine Entgegenstellung dieser beiden Momente der Arbeiterbewegung finden wir erst in der Theorie von Ed. Bernstein, wie er sie in seinen Aufsätzen: »Probleme des Sozialismus«, in der ‚Neuen Zeit‘ 1897/98 und namentlich in seinem Buche: »Voraussetzungen des Sozialismus« dargelegt hat. Diese ganze Theorie läuft praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung, das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des Klassenkampfes zu seinem Zwecke zu machen. Bernstein selbst hat am treffendsten und am schärfsten seine Ansichten formuliert, indem er schrieb: »Das Endziel, was es immer sei, ist mir Nichts, die Bewegung Alles«.

Wir haben gesehen, der Bernsteinsche Sozialismus läuft auf den Plan hinaus, die Arbeiter an dem gesellschaftlichen Reichtum teilnehmen zu lassen, die Armen in Reiche zu verwandeln. Wie soll das bewerkstelligt werden? In seinen Aufsätzen »Probleme des Sozialismus« in der »Neuen Zeit« ließ Bernstein nur kaum verständliche Fingerzeige durchblicken, in seinem Buche gibt er über diese Frage vollen Aufschluß: sein Sozialismus soll auf zwei Wegen, durch Gewerkschaften oder, wie Bernstein es nennt, wirtschaftliche Demokratie, und durch Genossenschaften verwirklicht werden. Durch die ersteren will er dem industriellen, durch die letzteren dem kaufmännischen Profit an den Kragen.

Was die Genossenschaften, und zwar vor allem die Produktivgenossenschaften betrifft, so stellen sie ihrem inneren Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwitterding dar: eine im kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche. In der kapitalischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht, angesichts der Konkurrenz, rücksichtslose Ausbeutung, d.h. völlige Beherrschung des Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der Unternehmung. Praktisch äußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst intensiv zu machen, sie zu verkürzen oder zu verlängern, je nach der Marktlage, die Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie abzustoßen und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zu praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen. In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst. Das sind die Tatsachen, die Bernstein selbst konstatiert, aber mißversteht, indem er nach Frau Potter-Webb die Ursache des Unterganges der Produktivgenossenschaften in England in der mangelnden »Disziplin« sieht. Was hier oberflächlich und seicht als Disziplin bezeichnet wird, ist nichts anderes als das natürliche absolute Regime des Kapitals, das die Arbeiter allerdings sich selbst gegenüber unmöglich ausüben können.

Daraus folgt, daß die Produktivgenossenschaft sich ihre Existenz inmitten der kapitalistischen Wirtschaft nur dann sichern kann, wenn sie auf einem Umwege den in ihr verborgenen Widerspruch zwischen Produktionsweise und Austauschweise aufhebt, indem sie sich künstlich den Gesetzen der freien Konkurrenz entzieht. Dies kann sie nur, wenn sie sich von vornherein einen Absatzmarkt, einen festen Kreis von Konsumenten sichert. Als solches Hilfsmittel dient ihr eben der Konsumverein. Darin wiederum, und nicht in der Unterscheidung in Kauf- und Verkaufsgenossenschaften, oder wie der Oppenheimersche Einfall sonst lautet, liegt das von Bernstein behandelte Geheimnis, warum selbständige Produktivgenossenschaften zugrunde gehen, und erst der Konsumverein ihnen eine Existenz zu sichern vermag.

Sind aber somit die Existenzbedingungen der Produktivgenossenschaften in der heutigen Gesellschaft an die Existenzbedingungen der Konsumvereine gebunden, so folgt daraus in weiterer Konsequenz, daß die Produktivgenossenschaften im günstigsten Falle auf kleinen lokalen Absatz und auf wenige Produkte des unmittelbaren Bedarfs, vorzugsweise auf Lebensmittel angewiesen sind. Alle wichtigsten Zweige der kapitalistischen Produktion: die Textil-, Kohlen-, Metall-, Petroleumindustrie, sowie der Maschinen-, Lokomotiven- und Schiffsbau sind vom Konsumverein, also auch von der Produktivgenossenschaft von vornherein ausgeschlossen. Abgesehen also von ihrem Zwittercharakter können die Produktivgenossenschaften als allgemeine soziale Reform schon aus dem Grunde nicht erscheinen, weil ihre allgemeine Durchführung vor allem die Abschaffung des Weltmarktes und Auflösung der bestehenden Weltwirtschaft in kleine lokale Produktions- und Austauschgruppen, also dem Wesen nach einen Rückgang von großkapitalistischer auf mittelalterliche Warenwirtschaft voraussetzt.

Aber auch in den Grenzen ihrer möglichen Verwirklichung, auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaft reduzieren sich die Produktivgenossenschaften notwendigerweise in bloße Anhängsel der Konsumvereine, die somit als die Hauptträger der beabsichtigten sozialistischen Reform in den Vordergrund treten. Die ganze sozialistische Reform durch die Genossenschaften reduziert sich aber dadurch aus einem Kampf gegen das Produktivkapital, d.h. gegen den Hauptstamm der kapitalistischen Wirtschaft, in einen Kampf gegen das Handelskapital, und zwar gegen das Kleinhandels-, das Zwischenhandelskapital, d.h. bloß gegen kleine Abzweigungen des kapitalistischen Stammes.

Was die Gewerkschaften betrifft, die nach Bernstein ihrerseits ein Mittel gegen die Ausbreitung des Produktivkapitals darstellen sollen, so haben wir bereits gezeigt, daß die Gewerkschaften nicht imstande sind, den Arbeitern einen Einfluß auf den Produktionsprozeß, weder in bezug auf den Produktionsumfang, noch in bezug auf das technische Verfahren, zu sichern.

Was aber die rein ökonomische Seite, »den Kampf der Lohnrate mit der Profitrate« betrifft, wie Bernstein es nennt, so wird dieser Kampf, wie gleichfalls bereits gezeigt, nicht in dem freien blauen Luftraum, sondern in den bestimmten Schranken des Lohngesetzes ausgefochten, das er nicht zu durchbrechen, sondern bloß zu verwirklichen vermag. Dies wird auch klar, wenn man die Sache von einer anderen Seite faßt und sich die Frage nach den eigentlichen Funktionen der Gewerkschaften stellt.

Die Gewerkschaften, denen Bernstein die Rolle zuweist, in dem Emanzipationskampfe der Arbeiterklasse den eigentlichen Angriff gegen die industrielle Profitrate zu führen und sie stufenweise in die Lohnrate aufzulösen, sind nämlich gar nicht imstande, eine ökonomische Angriffspolitik gegen den Profit zu führen, weil sie nichts sind als die organisierte Defensive der Arbeitskraft gegen die Angriffe des Profits, als die Abwehr der Arbeiterklasse gegen die herabdrückende Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft. Dies aus zwei Gründen.

Erstens haben die Gewerkschaften zur Aufgabe, die Marktlage der Ware Arbeitskraft durch ihre Organisation zu beeinflussen, die Organisation wird aber durch den Prozeß der Proletarisierung der Mittelschichten, der dem Arbeitsmarkt stets neue Ware zuführt, beständig durchbrochen. Zweitens bezwecken die Gewerkschaften die Hebung der Lebenshaltung, die Vergrößerung des Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum, dieser Anteil wird aber durch das Wachstum der Produktivität der Arbeit mit der Fatalität eines Naturprozesses beständig herabgedrückt. Um letzteres einzusehen, braucht man durchaus nicht ein Marxist zu sein, sondern bloß: »Zur Beleuchtung der sozialen Frage«, von Rodbertus, einmal in der Hand gehabt zu haben.

In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich also der gewerkschaftliche Kampf kraft objektiver Vorgänge in der kapitalistischen Gesellschaft in eine Art Sisyphusarbeit. Diese Sisyphusarbeit ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiter überhaupt zu der ihm nach der jeweiligen Marktlage zufallenden Lohnrate kommen, soll das kapitalistische Lohngesetz verwirklicht und die herabdrückende Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Wirkung paralysiert, oder genauer, abgeschwächt werden. Gedenkt man aber, die Gewerkschaften in ein Mittel zur stufenweisen Verkürzung des Profits zugunsten des Arbeitslohnes zu verwandeln, so setzt dies vor allem als soziale Bedingung erstens einen Stillstand in der Proletarisierung der Mittelschichten und dem Wachstum der Arbeiterklasse, zweitens einen Stillstand in dem Wachstum der Produktivität der Arbeit, also in beiden Fällen, ganz wie die Verwirklichung der konsumgenossenschaftlichen Wirtschaft, einen Rückgang auf vorgroßkapitalistische Zustände voraus.

Die beiden Bernsteinschen Mittel der sozialistischen Reform: die Genossenschaften und die Gewerkschaften erweisen sich somit als gänzlich unfähig, die kapitalistische Produktionsweise umzugestalten. Bernstein ist sich dessen im Grunde genommen auch selbst dunkel bewußt und faßt sie bloß als Mittel auf, den kapitalistischen Profit abzuzwacken, und die Arbeiter auf diese Weise zu bereichern. Damit verzichtet er aber selbst auf den Kampf mit der kapitalistischen Produktionsweise und richtet die sozialdemokratische Bewegung auf den Kampf gegen die kapitalistische Verteilung. Bernstein formuliert auch wiederholt seinen Sozialismus als das Bestreben nach einer »gerechten«, »gerechteren« (S. 51 seines Buches), ja einer »noch gerechteren« (»Vorwärts« vom 26. März 1899) Verteilung.

Der nächste Anstoß zur sozialdemokratischen Bewegung wenigstens bei den Volksmassen ist freilich auch die »ungerechte« Verteilung der kapitalistischen Ordnung. Und indem sie für die Vergesellschaftung der gesamten Wirtschaft kämpft, strebt die Sozialdemokratie dadurch selbstverständlich auch eine »gerechte« Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums an. Nur richtet sie ihren Kampf, dank der von Marx gewonnenen Einsicht, daß die jeweilige Verteilung bloß eine naturgesetzliche Folge der jeweiligen Produktionsweise ist, nicht auf die Verteilung im Rahmen der kapitalistischen Produktion, sondern auf die Aufhebung der Warenproduktion selbst. Mit einem Wort, die Sozialdemokratie will die sozialistische Verteilung durch die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise herbeiführen, während das Bernsteinsche Verfahren ein direkt umgekehrtes ist; er will die kapitalistische Verteilung bekämpfen und hofft auf diesem Wege allmählich die sozialistische Produktionsweise herbeizuführen.

Wie kann aber in diesem Falle die Bernsteinsche sozialistische Reform begründet werden? Durch bestimmte Tendenzen der kapitalistischen Produktion? Keineswegs, denn erstens leugnet er ja diese Tendenzen, und zweitens ist bei ihm nach dem vorher Gesagten die erwünschte Gestaltung der Produktion Ergebnis und nicht Ursache der Verteilung. Die Begründung seines Sozialismus kann also keine ökonomische sein. Nachdem er Zweck und Mittel des Sozialismus und damit die ökonomischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt hat, kann er keine materialistische Begründung für sein Programm geben, ist er gezwungen, zu einer idealistischen zu greifen.

»Wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange?« hören wir ihn dann sagen. »Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewußtseins, des Willens der Menschen?« (»Vorwärts« vom 26. März 1899). Die Bemsteinsche gerechtere Verteilung soll also kraft des freien, nicht im Dienste der wirtschaftlichen Notwendigkeit wirkenden Willens der Menschen, oder genauer, da der Wille selbst bloß ein Instrument ist, kraft der Einsicht in die Gerechtigkeit, kurz, kraft der Gerechtigkeitsidee verwirklicht werden.

Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten, seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher Beförderungsmittel gerittenen Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts andres heimzubringen als ein blaues Auge.

Das Verhältnis von arm und reich als gesellschaftliche Grundlage des Sozialismus, das »Prinzip« der Genossenschaftlichkeit als sein Inhalt, die »gerechtere Verteilung« als sein Zweck und die Idee der Gerechtigkeit als seine einzige geschichtliche Legitimation – mit wieviel mehr Kraft, mit wieviel mehr Geist, mit wieviel mehr Glanz vertrat doch Weitling vor mehr als 50 Jahren diese Sorte von Sozialismus! Allerdings kannte der geniale Schneider den wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht. Und wenn heute, nach einem halben Jahrhundert, seine von Marx und Engels in kleine Fetzen zerzauste Auffassung glücklich wieder zusammengeflickt und dem deutschen Proletariat als letztes Wort der Wissenschaft angeboten wird, so gehört dazu allenfalls auch ein Schneider … aber kein genialer.

Wie die Gewerkschaften und Genossenschaften ökonomische Stützpunkte, so ist die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie. Die heutigen Reaktionsausbrüche sind dem Revisionismus nur »Zuckungen«, die er für zufällig und vorübergehend hält, und mit denen bei der Aufstellung der allgemeinen Richtschnur für den Arbeiterkampf nicht zu rechnen sei.

(Es kommt aber nicht darauf an, was Bernstein auf Grund von mündlichen und schriftlichen Versicherungen seiner Freunde über die Dauerhaftigkeit der Reaktion denkt, sondern welcher innere, objektive Zusammenhang zwischen der Demokratie und der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung besteht.)L

Nach Bernstein z.B. erscheint die Demokratie als eine unvermeidliche Stufe in der Entwicklung der modernen Gesellschaft, ja, die Demokratie ist ihm, ganz wie dem bürgerlichen Theoretiker der Liberalismus, das große Grundgesetz der geschichtlichen Entwicklung überhaupt, dessen Verwirklichung alle wirkenden Mächte des politischen Lebens dienen müssen. Das ist aber in dieser absoluten Form grundfalsch und nichts als eine kleinbürgerliche, und zwar oberflächliche Schablonisierung der Ergebnisse eines kleinen Zipfelchens der bürgerlichen Entwicklung, etwa der letzten 25 bis 30 Jahre. Sieht man sich die Entwicklung der Demokratie in der Geschichte und zugleich die politische Geschichte des Kapitalismus näher an, so kommt ein wesentlich anderes Resultat heraus.

Was das erstere betrifft, so finden wir die Demokratie in den verschiedensten Gesellschaftsformationen: in den ursprünglichen kommunistischen Gesellschaften, in den antiken Sklavenstaaten, in den mittelalterlichen städtischen Kommunen. Desgleichen begegnen wir dem Absolutismus und der konstitutionellen Monarchie in den verschiedensten wirtschaftlichen Zusammenhängen. Andererseits ruft der Kapitalismus in seinen Anfängen – als Warenproduktion – eine demokratische Verfassung in den städtischen Kommunen ins Leben; später, in seiner entwickelteren Form, als Manufaktur, findet er in der absoluten Monarchie seine entsprechende politische Form. Endlich als entfaltete industrielle Wirtschaft erzeugt er in Frankreich abwechselnd die demokratische Republik (1793), die absolute Monarchie Napoleons I., die Adelsmonarchie der Restaurationszeit (1815 bis 1830), die bürgerliche konstitutionelle Monarchie des Louis Philippe, wieder die demokratische Republik, wieder die Monarchie Napoleons III., endlich zum drittenmal die Republik. In Deutschland ist die einzige wirkliche demokratische Einrichtung, das allgemeine Wahlrecht, nicht eine Errungenschaft des bürgerlichen Liberalismus, sondern ein Werkzeug der politischen Zusammenschweißung der Kleinstaaterei und hat bloß insofern eine Bedeutung in der Entwicklung der deutschen Bourgeoisie, die sich sonst mit einer halbfeudalen konstitutionellen Monarchie zufrieden gibt. In Rußland gedieh der Kapitalismus lange unter dem orientalischen Selbstherrschertum, ohne daß die Bourgeoisie Miene machte, sich nach der Demokratie zu sehnen. In Österreich ist das allgemeine Wahlrecht zum großen Teil als ein Rettungsgürtel für die auseinanderfallende Monarchie erschienen, (und wie wenig es mit der eigentlichen Demokratie verbunden ist, beweist die Herrschaft des § 14).M In Belgien endlich steht die demokratische Errungenschaft der Arbeiterbewegung – das allgemeine Wahlrecht – in unzweifelhaftem Zusammenhang mit der Schwäche des Militarismus, also mit der besonderen geographisch-politischen Lage Belgiens, und vor allem ist sie eben ein nicht durch die Bourgeoisie, sondern gegen die Bourgeoisie erkämpftes »Stück Demokratie«.

Der ununterbrochene Aufstieg der Demokratie, der unserem Revisionismus wie dem bürgerlichen Freisinn als das große Grundgesetz der menschlichen und zum mindesten der modernen Geschichte erscheint, ist somit nach näherer Betrachtung ein Luftgebilde. Zwischen der kapitalistischen Entwicklung und der Demokratie läßt sich kein allgemeiner absoluter Zusammenhang konstruieren. Die politische Form ist jedesmal das Ergebnis der ganzen Summe politischer, innerer und äußerer, Faktoren und läßt in ihren Grenzen die ganze Stufenleiter von der absoluten Monarchie bis zur demokratischen Republik zu.

Wenn wir somit von einem allgemeinen geschichtlichen Gesetz der Entwicklung der Demokratie auch im Rahmen der modernen Gesellschaft absehen müssen und uns bloß an die gegenwärtige Phase der bürgerlichen Geschichte wenden, so sehen wir auch hier in der politischen Lage Faktoren, die nicht zur Verwirklichung des Bernsteinschen Schemas, sondern vielmehr gerade umgekehrt, zur Preisgabe der bisherigen Errungenschaften seitens der bürgerlichen Gesellschaft führen.

Einerseits haben die demokratischen Einrichtungen, was höchst wichtig ist, für die bürgerliche Entwicklung in hohem Maße ihre Rolle ausgespielt. Insofern sie zur Zusammenschweißung der Kleinstaaten und zur Herstellung moderner Großstaaten notwendig waren (Deutschland, Italien), sind sie entbehrlich geworden; die wirtschaftliche Entwicklung hat inzwischen eine innere organische Verwachsung herbeigeführt, (und der Verband der politischen Demokratie kann insofern ohne Gefahr für den Organismus der bürgerlichen Gesellschaften abgenommen werden.)

Dasselbe gilt in bezug auf die Umgestaltung der ganzen politisch-administrativen Staatsmaschine aus einem halb- oder ganzfeudalen in einen kapitalistischen Mechanismus. Diese Umgestaltung, die geschichtlich von der Demokratie unzertrenntlich war, ist heute gleichfalls in so hohem Maße erreicht, daß die rein demokratischen Ingredienzien (Zutaten) des Staatswesens, das allgemeine Wahlrecht, die republikanische Staatsform, an sich ausscheiden könnten, ohne daß die Administration, das Finanzwesen, das Wehrwesen usw. in die vormärzlichen Formen zurückzufallen brauchten.

Ist auf diese Weise der Liberalismus für die bürgerliche Gesellschaft als solche wesentlich überflüssig, so andererseits in wichtigen Beziehungen direkt ein Hindernis geworden. Hier kommen zwei Faktoren in Betracht, die das gesamte politische Leben der heutigen Staaten geradezu beherrschen: die Weltpolitik und die Arbeiterbewegung – beides nur zwei verschiedene Seiten der gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Entwicklung.

Die Ausbildung der Weltwirtschaft und die Verschärfung und Verallgemeinerung des Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte haben den Militarismus und Marinismus als Werkzeuge der Weltpolitik zum tonangebenden Moment ebenso des äußeren wie des inneren Lebens der Großstaaten gemacht. Ist aber die Weltpolitik und der Militarismus eine aufsteigende Tendenz der heutigen Phase, so muß sich folgerichtig die bürgerliche Demokratie auf absteigender Linie bewegen. (Schlagendstes Beispiel: die nordamerikanische Union seit dem spanischen Kriege. In Frankreich verdankt die Republik ihre Existenz hauptsächlich der internationalen politischen Lage, die einen Krieg vorläufig unmöglich macht. Käme es zu einem solchen und würde sich Frankreich, wie allem Anschein nach anzunehmen ist, als für die Weltpolitik nicht gerüstet erweisen, dann wäre die Antwort auf die erste Niederlage Frankreichs auf dem Kriegsschauplatz – die Proklamierung der Monarchie in Paris. In Deutschland wurden die neue Aera der großen Rüstungen (1893) und die mit Kiautschou inaugurierte Weltpolitik sofort mit zwei Opfern von der bürgerlichen Demokratie: dem Zerfall des Freisinns und dem Umfall des Zentrums bezahlt.)O

Treibt somit die auswärtige Politik die Bourgeoisie in die Arme der Reaktion, so nicht minder die innere Politik – die aufstrebende Arbeiterklasse. Bernstein gibt dies selbst zu, indem er die sozialdemokratische »Freßlegende«13, d.h. die sozialistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse für die Fahnenflucht der liberalen Bourgeoisie verantwortlich macht. Er rät dem Proletariat im Anschluß daran, um den zu Tode erschrockenen Liberalismus wieder aus dem Mauseloch der Reaktion hervorzulocken, sein sozialistisches Endziel fallen zu lassen. Damit beweist er aber selbst am schlagendsten, indem er den Wegfall der sozialistischen Arbeiterbewegung zur Lebensbedingung und zur sozialen Voraussetzung der bürgerlichen Demokratie heute macht, daß diese Demokratie in gleichem Maße der inneren Entwicklungstendenz der heutigen Gesellschaft widerspricht, wie die sozialistische Arbeiterbewegung ein direktes Produkt dieser Tendenz ist.

Aber er beweist damit noch ein weiteres. Indem er den Verzicht auf das sozialistische Endziel seitens der Arbeiterklasse zur Voraussetzung und Bedingungen des Wiederauflebens der bürgerlichen Demokratie macht, zeigt er selbst, wie wenig, umgekehrt die bürgerliche Demokratie eine notwendige Voraussetzung und Bedingung der sozialistischen Bewegung und des sozialistischen Sieges sein kann. Hier schließt sich das Bernsteinsche Räsonnement zu einem fehlerhaften Kreis, wobei die letzte Schlußfolgerung seine erste Voraussetzung »frißt«.

Der Ausweg aus diesem Kreise ist ein sehr einfacher: aus der Tatsache, daß der bürgerliche Liberalismus vor Schreck vor der aufstrebenden Arbeiterbewegung und ihren Endzielen seine Seele ausgehaucht hat, folgt nur, daß die sozialistische Arbeiterbewegung eben heute die einzige Stütze der Demokratie ist und sein kann, und daß nicht die Schicksale der sozialistischen Bewegung an die bürgerliche Demokratie, sondern umgekehrt die Schicksale der demokratischen Entwicklung an die sozialistische Bewegung gebunden sind. Daß die Demokratie nicht in dem Maße lebensfähig wird, als die Arbeiterklasse ihren Emanzipationskampf aufgibt, sondern umgekehrt, in dem Maße, als die sozialistische Bewegung stark genug wird, gegen die reaktionären Folgen der Weltpolitik und der bürgerlichen Fahnenflucht anzukämpfen. Daß, wer die Stärkung der Demokratie wünscht, auch Stärkung und nicht Schwächung der sozialistischen Bewegung wünschen muß, und daß mit dem Aufgeben der sozialistischen Bestrebungen ebenso die Arbeiterbewegung wie die Demokratie aufgegeben wird.

(Bemstein erklärt am Schluß seiner »Antwort« an Kautsky im »Vorwärts« vom 26. März 1899, er sei mit dem praktischen Teil des Programms der Sozialdemokratie im ganzen durchaus einverstanden, er hätte bloß gegen dessen theoretischen Teil etwas einzuwenden. Dessen ungeachtet glaubt er offenbar noch mit Fug und Recht in Reih und Glied der Partei marschieren zu können, denn welches »Gewicht« ist darauf zu legen, »Ob im theoretischen Teil ein Satz steht, der mit seiner Auffassung vom Gang der Entwicklung nicht mehr stimmt«? Diese Erklärung zeigt im besten Falle, wie vollständig Bernstein den Sinn für den Zusammenhang der praktischen Tätigkeit der Sozialdemokratie mit ihren allgemeinen Grundsätzen verloren hat, wie sehr dieselben Worte aufgehört haben, für die Partei und für Bernstein dasselbe auszudrücken. Tatsächlich führen die eigenen Theorien Bernsteins, wie wir gesehen, zu der elementarsten sozialdemokratischen Erkenntnis, daß ohne die grundsätzliche Basis auch der praktische Kampf wertlos und zwecklos wird, daß mit dem Aufgeben des Endziels auch die Bewegung selbst zugrunde gehen muß.)
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1918 veröffentlicht Rosa Luxemburg das politische Programm „Was will der Spartakusbund?“ Piet Habbel merkt dazu an:

In 25 Punkten fasst Rosa Luxemburg sofortige Maßnahmen zur Sicherung der Revolution im ,,politischen, sozialen, wirtschaftlichen und internationalen Bereich“ zusammen. Sie wiederholt ihre Forderung nach der Bewaffnung der Massen und der Stellung und Verurteilung aller für den Krieg und für die Konterrevolution Verantwortlichen. Des weiteren fordert Rosa Luxemburg an dieser Stelle erneut, alle Macht den Räten und damit dem Proletariat zu übergeben, um so eine sozialistische Republik zu schaffen.
In Bezug auf die Wirtschaft waren die wichtigen Forderungen, die Luxemburg im Namen des Spartakusbundes stellte, die Konfiszierung aller dynamischen Vermögen und Einkünfte zur Verwaltung durch die Allgemeinheit, die Annullierung der Staatsschulden und Kriegskredite, die Enteignung des Grund- und Bodenbesitzes aller Groß- und Mittelbetriebe, die Gründung sozialistischer landwirtschaftlicher Genossenschaften unter einheitlicher zentraler Leitung durch die Arbeiter- und Soldatenräte, die Enteignung aller Banken und der gesamten Industrie durch die Räterepublik und Überführung in den Besitz der Allgemeinheit.
Die USPD verurteilte die im Programm der Spartakisten genannten Forderungen als eine ,,phantastische Phantasie“134. Rosa Luxemburg wehrte sich gegen diese Vorwürfe auf der Generalversammlung der USPD in Berlin und erläuterte das Programm. Sie forderte die USPD auf, die Wahl der Nationalversammlung zu blockieren, um gegen die bürgerliche Demokratie anzukämpfen.
Doch ihr Programm wurde mehrheitlich von den Delegierten abgelehnt und die USPD entschied sich stattdessen für das Programm von Rudolf Hilferding, das auf einen größtmöglichen Erfolg bei den anstehenden Wahlen zur Nationalversammlung ausgelegt war.
Vom 16. bis zum 21. Dezember 1918 tagte in Berlin der 1. Reichsrätekongress der Arbeiter- und Soldatenräte. Es war die Aufgabe des von den rechten Sozialdemokraten majorisierten Kongresses, die Grundfrage der Revolution, die Frage nach der Ausübung der Macht, zu beantworten.
Weder Liebknecht noch Luxemburg hatten ein Mandat für diesen Kongress erhalten, aber insbesondere Rosa Luxemburg versuchte, das von ihr erstellte Programm des Spartakusbundes über die 10 Delegierten des Spartakusbundes einzubringen. Auch veröffentlichte sie Zeitungsartikel in der ,,Roten Fahne“, die den konterrevolutionären Kurs der SPD anprangerten und der SPD vorwarfen, mit den Imperialisten gemeinsame Sache zu machen. Am ersten Tag des Kongresses demonstrierten 250.000 Arbeiter und Soldaten für die Teilnahme Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts und für das Programm des Spartakusbundes.

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kommentare

  • Reform oder Revolution – heute:

    Der städtische Friedhof Eisackstraße am Innsbrucker Platz in Berlin war einmal ein geradezu paradiesischer Fleck, aber nach und nach wurde es dort immer ungemütlicher: Erst rahmte man ihn mit zwei S-Bahntrassen ein und dann zerschnitt ihn auch noch die Stadtautobahn. Der heutige Verkehrslärm hindert nicht nur die Toten an der Ruhe, sondern auch die Lebenden am Zuhören – wenn hier z.B. Worte des Gedenkens fallen.

    Zur Erinnerung an den vor 75 Jahren verstorbenen SPD-Theoretiker und Schöneberger Stadtverordneten Eduard Bernstein versammelten sich desungeachtet rund zwei Dutzend führende SPD-Genossen und Ortsgruppen-Aktivisten an seinem Ehrengrab auf dem Friedhof.

    Die Sozialdemokratie ist auf Sinnsuche und beschäftigt sich wieder mit ihren Vordenkern: „Wir haben keinen Grund, uns von unserer Vergangenheit zu distanzieren,“ erklärte dazu bereits Kurt Beck bei Verabschiedung des neuen Parteiprogramms in Hamburg.

    In diesem Geist zog SPD-Generalsekretär Hubertus Heil nun am neuen Grabstein des „Revisionisten“ Eduard Bernstein eine gerade Linie vom Gothaer über das Erfurter bis zum Godesberger und dem Hamburger Programm: Stets sei es darum gegangen, sich von der „naiven Utopie“ zu verabschieden (ohne allerdings das Wort Sozialismus fallen zu lassen) und stattdessen auf die altbewährte „Methode Reform“ zu setzen. Um es mit den Worten von Eduard Bernstein zu sagen, dem auch noch Willy Brandt zugestimmt hätte: „Das Ziel ist nichts, die Bewegung alles!“

    „Mein lieber Ede, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man,“ entrüstete sich seinerzeit der Genosse Ignaz Auer. Eine satte Mehrheit distanzierte sich gar auf dem Dresdner Parteitag 1903 von Bernsteins Marxismus-Revision: Reform statt Revolution.

    Auch der Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder beharrte 1978 noch darauf: „Als Sozialist muß man das Paradies auf Erden für möglich halten.“ Als Kanzler peilte er dann jedoch ähnlich wie Tony Blair pragmatisch die „Neue Mitte“ an. Seit dem Hamburger Bundesparteitag im Oktober 2007 ringt man nun aber um eine „solidarische Mehrheit“ und bringt dabei erneut den „demokratischen Sozialismus“ aufs Tapet.

    Dazu gehört auch eine gute Portion „Geschichtsarbeit“, wie der SPD-Landesvorsitzende Michael Müller am Bernsteinschen Grab ausführte. Hubertus Heil verband Eduard Bernstein kurzerhand mit J.F.Kennedy, als er am Ende der Gedenkfeier ausrief: „Ich bin ein Revisionist!“ Applaus von den ums Grab versammelten Genossen, darunter die Berliner Landtagsabgeordnete Dilek Kola, die in ihrer Begrüßungsrede bereits die Aktualität von Bernstein betont und sich bei den bisherigen Grabpflegern aus dem Ortsverein bedankt hatte.

    Am Ende der sympathisch bescheidenen und kurzen Veranstaltung an diesem kalten Dezembermorgen richteten einige Genossen noch schnell die rot-weißen Blumengebinde auf dem Grab, dann waren die meisten auch schon wieder verschwunden – unterwegs zu einem weiteren „Termin“.

    Zurück blieben zwei Friedhofsbesucher, die sich erst anhand der Grabinschrift informieren mußten, um wen oder was es bei den Reden überhaupt gegangen war. Einer meinte daraufhin – geschichtsbewußt: Er würde in dem alten „Revisionismusstreit“ zwar die Position von Luxemburg, Liebknecht und Kautsky eingenommen haben, aber so antisozialistisch sei der von ihnen angegriffene Eduard Bernstein doch nun auch wieder nicht gewesen, als dass er nicht ein schönes Grab auf dem Sozialistenfriedhof in Lichtenberg verdient hätte – statt hier an der sozialdemokratischen Autobahn zu liegen.

  • Die Anarchisten heben als engagierte Antistalinisten natürlich gerne auf den Zwangscharakter der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion ab. In der Revolution entstanden jedoch zigtausende von Landkommunen zunächst von unten, deren Einbindung in die Kollektivierung von oben – ab 1929 – man nicht begreift, wenn man sie nur als Zwang begreift.

    In der DDR veröffentlichte Erwin Strittmatter 1963 einen Roman „Ole Bienkopp“, in dem es um die Gründung einer kollektiven Landwirtschaft im märkischen Blumenau namens „Neue Bauerngemeinschaft Blühendes Feld“ geht, die noch vor der flächendeckenden „Zwangskollektivierung“ der Bauern durch die Partei versuchte, Boden zu gewinnen.

    Zuvor hatte bereits Peter Hacks sich in seinem Stück „Moritz Tassow“ an einem ähnlichen „Landwirtschafts-Projekt“, das quasi gegen die Partei entstand, versucht. Benno Besson, dem Strittmatter eine Arbeit in der LPG des Dorfes Schulzenhof, in dem er wohnte, vermittelt hatte, inszenierte „Moritz Tassow“ dann 1965.

    Die Zeit faßte den Inhalt des Stückes 1967 wie folgt zusammen:

    1945, nach Kriegsende, begründet der Sauhirt Tassow, der sich zwölf Hitler-Jahre lang taubstumm gestellt hatte, auf einem mecklenburgischen Gut eine Kommune. Das Rittergut des Herrn von Sack gehört plötzlich allen. Die Hintersassen saufen, huren, empfinden aber keineswegs Lust zur Arbeit für Gemeineigentum.

    Gegenspieler des kommunistischen Utopisten Tassow ist der. Bezirksbevollmächtigte Mattukat. Er ist sich einig mit Tassow im Ziel, möchte aber das Rittergut zunächst in Parzellen als Eigentum an die Landarbeiter verteilt wissen. Taktische Zwischenstufe der sozialistischen Bodenreform. Am Ende treten sie beide ab: der utopistische „Riese“ (Idealist) Tassow und der kranke Kämpfer Mattukat. Die Administration übernimmt der Pragmatiker Blaschke. In seiner Person traf Hacks die SED-Funktionärswelt so hart, obwohl nur mit wenigen Sätzen, daß sie seinem Stück den Garaus machte.

    Das Problem war aber auch, dass Hacks im Gegensatz zu Strittmatter keine Ahnung von der Landwirtschaft hatte!

  • Revolution versus Genossenschaften, das war 1917 in Russland kein Widerspruch, ebensowenig dann im spanischen Bürgerkrieg. Das Archiv der Anarchisten von der FAU hat dazu Folgendes zu sagen:

    Im Juli 1936 ergriffen Landarbeiter und Kleinbauern, vor allem in den bereits genannten Regionen, die Initiative und übernahmen die Ländereien der meist schon geflohenen Großgrundbesitzer oder schlossen ihre Kleinbetriebe zu örtlichen Kollektiven zusammen. Auch hier handelte es sich nicht um einen von oben gelenkten und zentral geleiteten oder auch nur koordinierten Vorgang. Darum gab es sowohl hinsichtlich des Ausmaßes als auch der Form der Kollektivierung große Verschiedenheiten, nicht nur von Region zu Region, sondern schon von Ort zu Ort. Treibende Kraft und organisatorische Basis waren durchweg die lokalen Syndikate der Landarbeiter und Bauern. Auf örtlicher Ebene kam es weithin zu einer Kooperation von Anarchisten und Sozialisten, während die Kommunisten eine eindeutig antikollektivistische Politik verfolgten. Dazu Rolf Reventlow:

    „Tatsache ist, daß nur auf dem Landwirtschaftlichen Betrieb sowohl die sozialdemokratisch orientierte UGT wie die anarcho-syndikalistische CNT auf die Gestaltung des Großbetriebes und auf kollektive Betriebsführung ausgerichtet waren. Das war nicht Kollektivierung wie die in Sowjetrußland, die verordnet, angeordnet und durch militärische Gewalt herbeigeführt wurde, sondern eine ganz spontane Bewegung aus diesen beiden Organisationen heraus, die zwar Raum ließ für Familienbetriebe; das waren aber, wie der spanische Landarbeiterverband in der Sitzung seines Nationalkomitees vom 23. Dezember 1936 schon feststellte, eine ganz kleine Minderheit. Es gab natürlich anderswo Bauern oder Pächter, die das Land in Besitz genommen hatten und nicht bereit waren, den Kollektiven bzw. den Genossenschaften beizutreten. Sie wurden von den Kommunisten in ihrer lebhaften Propaganda sozusagen ‚eingekauft‘, d.h., sie wurden aufgenommen in die Organisation; sie waren bis dahin unorganisiert. Und die kommunistische Politik unter dem kommunistischen Landwirtschaftsminister Uribe ging eigentlich auf die Aufteilung des Landes an einzelne Landwirte hinaus. Sie legten den Genossenschaften die größten Schwierigkeiten in den Weg.“

    Einige Zahlen mögen das Ausmaß der Agrarkollektivierung andeuten: In Aragon entstanden 450 lokale Kollektive recht unterschiedlicher Größenordnung mit insgesamt 433.000 Mitgliedern. Für die Levante wird diese Zahl von etwa 350 Kollektiven genannt. Im Zentrum und im republikanischen Teil von Andalusien gab es – Hugh Thomas zufolge – weitere 250 Kollektive und in Katalonien etwa 250. Gaston Leval schätzt, daß 1937 rund 3 Millionen Menschen in landwirtschaftlichen Kollektiven lebten. Augustin Souchy berichtet:

    „Der Unterschied zwischen der Kollektivierung hier und den Kolchosen in der Sowjetunion ist, daß es in Spanien absolut freiwillig war. Wer Kollektiven nicht beitreten wollte, brauchte es nicht; den nannte man Individualisten. Die Individualisten konnten weiterexistieren, aber sie haben dann zusammengearbeitet. Und ich erinnere mich an ein kleines Beispiel: In einem kleinen Dorf in Aragonien gab es zwei Cafes, eins der Kollektivisten, dort tranken sie ihren Kaffee gratis, eins der Individualisten, dort mußten sie ihren Kaffee bezahlen. Die meisten aber waren…, schlossen sich der Kollektive an. Wirtschaftlich war es doch wohl so – nehmen wir das Dorf Calanda, wo ich auch unter anderem gewesen bin; drei- bis viertausendfünfhundert Einwohner, dreitausendfünfhundert entschieden sich für die Kollektive, und die anderen blieben allein. Die Kollektive, die hatte nun den Lastkraftwagen, um ihre Produkte in die Stadt zu bringen; das hatten die einzelnen nicht. Natürlich mußten sie dann wirtschaftlich mit der Kollektive zusammenarbeiten, wenn sie überhaupt zu etwas kommen wollten. Das war das gleiche, möchte ich gleich hinzufügen, in Kastilien, also Altkastilien, da gab es nicht die Landarbeiter, sondern die Kleinbauern. Als der Umschwung kam, haben sie ihre Arbeit zusammengelegt, kauften einen Lastkraftwagen und anstatt daß jeder mit dem Eselskarren in die Stadt fuhr, um seine Produktion zu verkaufen, machten sie es gemeinsam. Man hat zunächst an der juristischen Struktur, dem Eigentum, nichts geändert, aber die praktische Verwirklichung war eben die kollektive Arbeit und das gemeinsame soziale Leben.“

    Angesichts der unzulänglichen Nutzung des privaten Großgrundbesitzes und der Unrentabilität des landwirtschaftlichen Kleinbetriebes in den meisten Teilen Spaniens war die Kollektivierung ökonomisch sinnvoll und offensichtlich auch erfolgreich. Die Produktionsmethoden wurden durch eine stärkere Mechanisierung auf kollektiver Basis modernisiert. Die ökonomische Effektivität des Kollektivsystems war nicht zuletzt psychologisch bedingt. Dazu Rolf Reventlow :

    „Die wirtschaftliche Funktionsfähigkeit war zweifellos gegeben, einmal durch die, ich möchte sagen, die dynamische Kraft der spontanen Aktion der auf dem Lande lebenden Menschen, die das alles als eine Befreiung empfanden und das Ziel hatten, eine völlig neue und dynamische Ordnung herzustellen. Natürlich gab es Unterschiede, wesentliche Unterschiede, in der Betriebsführung und den Auffassungen der anarcho-syndikalistischen CNT, nicht zuletzt in Aragonien und der sozialistischen UGT. Die letztere – in verschiedenen Beschlüssen und Richtlinien – legte sich auf eine enge Verbindung der Genossenschaften mit dem Staate fest, während die Anarcho-Syndikalisten sehr viel lokalbegrenzter, gebietsbegrenzter arbeiteten.“

    Die Kollektivierung auf dem Lande kam einer integralen Revolution gleich. Sie befreite die Landbevölkerung von der jahrhundertlangen drückenden Herrschaft der Großgrundbesitzer, der Kirche und der lokalen Repräsentanten der Staatsmacht, leitete ihre Befreiung von Armut und Unwissenheit ein. Augustin Souchy schildert ein charakteristisches Erlebnis aus der Zeit vor 1936:

    „Andalusien, das war der rückständigste Teil von Spanien. Ich erinnere mich – ich war des öfteren, fast jedes Jahr in Spanien nach Proklamierung der Republik, und einmal, als ich in Andalusien auf der Eisenbahn von Cordoba nach Sevilla fuhr, immer vierte Klasse, da kamen die Bauern, setzten sich da in die Mitte – diese vierte Klasse hat ja keine Sitze -, und einer hatte eine Zeitung, und der konnte lesen und las den anderen vor; es war natürlich eine anarchistische Zeitung aus Barcelona. Er konnte lesen und las da nun vor, wie es gemacht werden sollte.“

    Die Kollektive schufen eigene Alters – und Krankenversicherungen, sie stellten ihren Mitgliedern eine
    eine gegenüber früher wesentlich verbesserte und kostenlose medizinisch-ärztliche Versorgung zur Verfügung; sie sorgten für den Bau von Schulen sowie für die Errichtung von Abendschulen und anderen Bildungseinrichtungen. Ein ungelöstes Problem freilich blieb Wohlstandsgefälle zwischen den verschiedenen örtlichen Kollektiven. Ihm entsprachen erhebliche Lohnunterschiede von Kollektiv zu Kollektiv. Die Kollektive brachten ihre Überschüsse in regionale Ausgleichskassen ein. Koordination und Kooperation waren von Region zu Region unterschiedlich.
    Souchy berichtet:

    „In der ganzen Levante hatten die Landkollektiven eine ausgezeichnete Organisation. Sie kamen zusammen in der ganzen Levante, hatten einen Kongreßbeschlossen: wir bauen eine Düngemittelfabrik, wir errichten eine Landwirtschaftsschule. Da bekamen sie auch einige Professoren aus Frankreich, die sie hinzuzogen; und sie organisierten alles aufs beste und gaben eine Zeitung heraus, Kulturpropaganda machten sie – also das war keineswegs etwas primitives, sondern es war hochorganisiert, wie man sich’s nicht besser denken konnte in einer kapitalistischen Gesellschaft, vom Organisationsstandpunkt aus gesehen. Und es war auch sogar viel ergiebiger, denn das war ja der Unterschied, und darauf möchte ich ganz besonders hinweisen: In Rußland, unter diesem System, wo der Staat die Wirtschaft organisiert, bis heute noch hat man immer Schwierigkeiten und da gibt es, wie sie wissen Kurzschlüsse. In Spanien hat dieses System, weil es von unten aufkam, jeder hatte Interesse, Initiative…, da gab es keine Schwierigkeiten: die Produktion fiel nicht, sondern sie ist gestiegen, weil gerade eben diese Personen selbst daran Interesse hatten und aus eigener Initiative aus Lust an dem Neuaufbau, arbeiteten, nicht wie in Rußland, wo Stalin die Bauern zur Kollektivierung gezwungen hat.“

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