Das Schaf als Basis der Kommune
„So lange es Pferche für Schafe gibt, wird es auch welche für Menschen geben!“ (Claude Lévy-Strauss)
Noch bis in die Fünfzigerjahre waren fast 80% der Bevölkerung Europas Bauern. Heute sind sie nur noch eine Randgruppe. Für Eric Hobsbawm ist diese Entwicklung das „wichtigste Phänomen im 20. Jahrhundert“. Seit diesem großen Umschwung hat man versucht, den sich entvölkernden ländlichen Raum auf dreierlei Weise zu „revitalisieren“: 1. durch Industrialisierung und Subventionierung der großen Landwirtschaftsbetriebe, 2. durch Attraktivierung der Landschaften zur Naherholung und für den Tourismus und 3. durch Umwandlung der Ländereien in Bauland, militärisches Übungsgelände, Golfplätze, Gewerbeparks etc. sowie zur Nutzung für nachwachsende Rohstoffe bzw. regenerative Energien. Dazwischen taten sich jedoch auch immer wieder Nischen auf, in denen sich neue Kleinlandwirtschaften, Selbstvermarktungsinitiativen, Agrarkollektive, Handwerksbetriebe und Utopisten aller Art ansiedeln konnten, wobei sie teilweise ihre Nähe zu den Städten ausnutzen. Infolge der elektronischen Vernetzung in den letzten zehn Jahren hat diese Gruppe (Agronauten) eine wachsende Bedeutung erlangt, da sie sich mit den aufs Land ziehenden Bildschirmarbeitern und „Kreativen“ vermischt, für die ihre Entfernung von den Städten keine Rolle mehr spielt. Unter den Agronauten ist das internationale Netzwerk Longo mai derzeit sicher eines der interessantesten.
Es ist ein Soziotop bzw. -rhizom par excellende, das zur Hochzeit der westeuropäischen Landkommunebewegung 1973 gegründet wurde. Longo mai (was „Es möge lange bleiben“ auf Provencalisch heißt) entstand damals in Österreich aus der unabhängigen Jugendsektion der KP – „Spartakus“, die sich zunächst mit Lehrlingsagitation und Heimkinderaktivitäten befaßte und bald von Staats wegen des Terrorismus verdächtigt wurde. Sie fand Aufnahme bei ihrer Schweizer Schwesternorganisation „Hydra“. Auf dem Gründungskongreß der „Europäischen Pioniersiedlungen“ in Basel 1972 wurde dann beschlossen, zusammen nach Südfrankreich auszuweichen, wo damals die Bevölkerung angefangen hatte, sich gegen den Bau eines riesigen Militärübungsplatzes auf dem Hochplateau Larzac zur Wehr zu setzen. „Wir wollten in diesen Gebieten etwas anfangen, aber nicht als ‚Rückzug in die Natur‘, sondern als selbstverwaltete und -gestaltete Orte, wo man überleben kann, nicht abhängig von einem Chef ist und sich seine eigene Lebensbasis schafft.“
Die Reaktion der Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Alle Ausländer wurden noch im selben Jahr ausgewiesen, wegen „Terrorismusverdacht“ und „Gefährdung der französischen Atomstreitmacht. Dank dieser unverhofften Propaganda erfuhr man auch in Frankreich von der Longo-mai-Siedlung. Der Ansturm derer, die mitmachen wollten, war so groß, daß in aller Eile weitere Projekte angefangen wurden.“
Inzwischen besteht Longo mai bereits in der zweiten Generation und in Europa aus neun landwirtschaftlichen sowie handwerklichen Kooperativen („300 Menschen und 1000 Schafe“, schreibt die WOZ). Und das „Netzwerk“ breitet sich weiter aus: „In den ukrainischen Karpaten arbeiten wir an einem Dorfprojekt auf der Grundlage von Verarbeitung und Handwerk, und auf der Flüchtlingskooperative von Longo mai, ‚Finca Sonador‘ in Costa Rica, fanden zuerst die vor dem Diktator Somoza geflüchteten nikaraguanischen Jugendlichen, dann salvadorianische Familien und einheimische landlose Bauern eine Existenzgrundlage. In Frankreich haben wir eine Kette von Kooperativen geschaffen, die sich gegenseitig aufgrund ihrer Lage entlang des Wasserlaufs der Durance – von ihrer Quelle in den Alpen quer durch die Provence bis hinunter in die Ausläufer der Camargue – ergänzen.“Anfänglich folgte gegenüber den maoistischen Gründervätern auf den Terrorismusvorwurf prompt der Sektenverdacht, der dann nach der deutschen Wiedervereinigung noch einmal bei einem neuen Longo mai-Pionierprojekt in Brandenburg wiederaufgewärmt wurde. Die Kommunarden wichen daraufhin nach Mecklenburg aus – auf den 80-Hektar-Hof Ulenkrug bei Stubbendorf:
„Auf diesem Hof leben heute ständig 14 Erwachsene und sieben Kinder. Die 42 ha Land nutzen wir als Weide für eine Pinzgauer Mutterkuhherde und eine Herde Pommersches Landschaf sowie sieben Hektar für Futter- und Kartoffelanbau. Auf einem halben Hektar wachsen Gemüse und Blumen. Vor einem Monat haben wir fünf Hektar Wald angepflanzt. Das alte Bauernhaus, ursprünglich geplant für eine Familie mit sechs bis acht Personen, nutzen wir als Wohnort für unsere Kinder und Aufenthaltsort für uns alle. Die meisten Erwachsenen leben seit mehreren Jahren in Bauwagen. Um die Situation für uns und unsere zahlreichen Gäste zu verbessern, haben wir begonnen, die Tenne eines nicht mehr als Stall genutzten Gebäudes auszubauen. Im Sommer 1999 haben wir hier auf dem Hof den 9. Kongreß des Europäischen Bürgerforums durchgeführt, zu dem rund 400 Menschen gekommen waren, viele aus unterschiedlichen osteuropäischen Ländern. Wir haben über das Ende der Arbeit, Gastfreundschaft, den Krieg in Jugoslawien und seine Auswirkungen, ländliche Entwicklung und Kultur geredet. Diese Diskussionen werden weitergeführt, in der Zeitschrift des Europäischen Bürgerforums ‚Archipel‘, in den verschiedenen Kooperativen sowie in den Veranstaltungen ‚Kultur im Kuhstall‘ hier auf dem Hof.“ Die dorthin eingeladenen Künstler, u.a. Wladimir Kaminer, werden mit Feldfrüchten bezahlt.
Longo mai ist politisch und internationalistisch geblieben. So siedelten sie sich z.B. in Kärnten auf dem Hof Stopar in Bad Eisenkappel ein, wo die deutschnationale Mehrheit der Bevölkerung immer wieder die slowenische Minderheit diskriminiert – und gerade dies war einer der Gründe für ihre Ortswahl, wie der Autor eines Features im Deutschlandfunk 2008 berichtete: „Alle Kooperativenmitglieder sprechen heute Slowenisch. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten sind sie mittlerweile eine feste Größe im Dorf. ‚Die Heike von Longo Mai und der Dorfpfarrer, denen hört man hier zu‘, meint die Bäuerin eines Nachbarhofes.“ Neben den Siedlungsprojekten initiieren die Longo Mai Leute auch immer wieder kurz- und langfristige Kampagnen – u.a. zur Unterstützung der verfolgten marokkanischen Gastarbeiter in Andalusien, zur Förderung des unabhängigen Mediennetzwerkes AIM im ehemaligen Jugoslawien, zur Ausweitung der Kämpfe der französischen Bauerngewerkschaft „Confédération Paysanne“ und zur Stärkung der europäischen Schafzüchter sowie Wollverarbeiter. Hierzu gründeten sie die „Association européenne de producteurs lainiers“ und erwarben in Chantemerle eine alte Spinnerei. Dort wird nun auch die Wolle aller Schafherden der Longo mai Kooperativen verarbeitet. Die Produkte – Kleidung und Decken – kann man u.a. auf dem Hof Ulenkrug kaufen. In Berlin fanden bereits mehrere Veranstaltungen statt, auf denen eine Kollektion selbstproduzierter Textilien vorgeführt wurde sowie ein Film über Wollverarbeitung. Dazu bemühte man sich – erfolgreich, in mehreren szenischen Lesungen die politische Dimension ihrer Bemühungen um den Erhalt von Schäfereien und deren oftmals grenzüberschreitenden Wanderwegen herauszustellen. Anschließend gab es eine Weinprobe, die von einem der südfranzösischen Longo mai Kooperativen stammte.
Dabei erfuhr man Details über den Longo-Mai-Hof Le Montois bei Undervelier im Jura. Dort werden Schafe der Rasse Roux de Berne gehalten. Vor allem aber kämpft diese Kooperative dafür, dass die Wolle in der Schweiz nicht zum Abfall wird:
„Der Wollmarkt ist schon lange liberalisiert“, erzählt Raymond Gétaz. „Es gab keine Zollschranken, aber die Schweiz hat die Wollproduzenten unterstützt, in den neunziger Jahren mit rund zwei Millionen Franken jährlich. Mit der Agrarpolitik 2002 beschlossen Bundesrat und Parlament, die Unterstützung schrittweise abzubauen und schliesslich ganz zu streichen. Die Inlandwollzentrale war bedroht. Dagegen haben wir uns gewehrt.“ Longo Mai nahm Kontakt auf mit der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB). Deren Präsident, der Bündner Bauer und CVP-Ständerat Theo Maissen, ist ein grosser Schaffreund. Im März 2002 reichte er das Postulat „Eine Zukunft für die Schweizer Schafwolle“ ein. Im gleichen Jahr sammelte Longo Mai über 20.000 Unterschriften für eine Petition gegen die Streichung der Bundesbeiträge. Im Oktober 2002 wurden sie in Bern eingereicht, begleitet von einer Schafherde. Mit Erfolg: in der Agrarpolitik 2007 bewilligte das Parlament 600.000 Franken für die Wollverwertung, zusätzlich 200.000 für innovative Wollprojekte.
im Sommer 2007 fand unweit der nördlichsten Longo mai-Kooperative, Hof Ulenkrug, das G8-Treffen von Heiligendamm statt. Dies wurde von den Kommunarden als ein „ausgesprochen lästiges Ereignis“ begriffen. In Rostock, der größten Stadt in der Nähe des Tagungsortes, trafen sich jedoch zahlreiche Gruppen, Kirchgemeinden, Initiativen und Einzelpersonen, um gegen das G8-Treffen zu protestieren, deswegen blieben auch die Longo-mai-Leute nicht untätig. In ihren „Nachrichten Nr.94“ heißt es dazu: „Wir im Ulenkrug, rund 50 km von Rostock entfernt, haben als selbstverwaltete Kooperative auf dem Land gewiss nicht die Sympathie der Sicherheitskräfte. Selbstversorgung, die Erhaltung von alten Kulturpflanzen, ökologische Bauweisen, aber auch Solidarität mit den Flüchtlingen und Gastfreundschaft könnten in Anbetracht des Gipfels als staatsfeindliche Umtriebe eingestuft werden. Deshalb haben wir zwei Beschlüsse gefasst:
1. Unsere Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft in eine öffentliche Diskussion einzubringen als Antwort auf die Resignation und Verzweiflung, welche die globalisierte Landwirtschaft bei vielen Betroffenen auslöst. Als Thema haben wir das Saatgut gewählt, weil es die Grundlage jeder von den Menschen selbstbestimmten Ernährung ist und mit einer über Jahrtausende gewachsenen Kultur verbunden ist. Eine Gesellschaft, die sich von dieser Kultur loslöst, beraubt ihre Kinder ihrer Vergangenheit und Zukunft. Wir laden zu diesem Thema zu einer internationalen Konferenz in Halle in Sachsen-Anhalt ein, die vom 19. bis 21. Mai stattfinden wird, bewusst vor dem Gipfel, in der Hoffnung, dass die Medien zu diesem Zeitpunkt noch offen sind für inhaltliche Fragen. Jetzt, da die sozialen Sicherheiten abgebaut sind und das Bauernlegen seinem Ende zugeht, stellen sich viele Menschen die Frage nach ihrer Ernährungsgrundlage. Eine neue Verständigung zwischen Städtern und kaum mehr vorhandenen Landwirten herzustellen, ist uns wichtig.
2. Die Freunde von Longo mai aufzufordern, für die Zeit des Gipfels eine Patenschaft für unser Projekt zu übernehmen, was im Klartext bedeutet, im Fall von Übergriffen und Verleumdungen gegen uns zu protestieren oder noch besser, in dieser Zeit auf unserem Hof anwesend zu sein. Der G8-Gipfel wird gehen, wir wollen bleiben – mit eurer Unterstützung.“ Neben solchen und ähnlichen Aktivitäten betreibt Longo mai im französischen Bergdorf Zinzine auch noch einen Radiosender, der regelmäßig Beiträge u.a. von „Le Monde Diplomatique“, dem „Netzwerk Friedenskoperative“ (Andreas Buro) und dem „Europäischen Bürgerforum“ ausstrahlt. Letzteres wird von Andreas Buro als „eine Art politische Dachorganisation der Longo mai Kooperativen“ bezeichnet.
Was die Besitzstruktur dieses ganzen Netzwerkes betrifft – so sind Die Kommunarden dabei, „eine Konstruktion zu finden, in der die Höfe nie ins Eigentum eines Einzelnen werden übergehen können: kompliziert, aber es wird gehen“, heißt es in einer Interneteintragung, die darauf hindeutet, dass die juristischen Konstruktionen vor Ort jeweils noch im Werden sind. Ohnehin wäre es falsch, Longo mai in Konsolidierung begreifen zu wollen, denn laufend kommen neue Projekte, Initiativen und – vor allem – junge Leute dazu, die kürzer oder länger bleiben und mitarbeiten. Allein auf dem mecklenburgischen Hof Ulenkrug rückten in dem Sommer, in dem ich sie besuchte, ein Dutzend Berliner Wohnwagenleute und noch mal so viele ostdeutsche Wanderzimmerleute an. Sie errichteten zusammen mit den dortigen Longo mai Leuten ein riesiges neues Fachwerkwohnhaus, ein Kinderhaus und eine neue Kläranlage.
Man sollte deswegen das gesamte Projekt vielleicht als eine halbnomadische Kleinkriegsmaschine ansehen, das an seinen neun oder mehr Schollen-Stützpunkten jedesmal den Charakter von Baugruben annimmt. Und diese können gar nicht tief genug gehen – d.h. selbständig sein. So helfen einige Longo mai Leute z.B. gerade einer Gruppe junger Spanier beim Ausbau des Wohnhauses ihrer landwirtschaftlichen Kooperative. Und diese (neue) Baugrube ist wiederum Anziehungspunkt von mehreren Wandergesellen geworden, die dort den Schafstall ausgebaut haben. So steht es in den „Nachrichten aus Longo mai“ Nummer 84. Daneben gibt es noch das „Bulletin Atelier“ (ihrer Textil-Association) und die Zeitung „Archipel“ des Bürgerforums sowie Webpages in mehreren Sprachen. Wenn man einen der sehr gastfreundlichen Lango mai Höfe besucht hat, kann man sagen: Überall wird was angefangen, aber nichts wird zu Ende geführt. Man kann jedoch auch zu dem Schluß kommen: Es wird ständig an allen Ecken und Enden gebaut. Als wir den Hof Ulenkrug besuchten, hatten wir den starken Eindruck, hier wird primär per Hand kommuniziert. Dazu trugen zum einen mehrere Bauern aus dem Oderbruch bei, die dort regelmäßig auftauchen, um mit zu arbeiten (ebenso auf dem Longo mai Weingut in Südfrankreich) und zum anderen ein fahrender Schauspieler aus Dresden, der mit einigen Longo mai Leuten an dem Wochenende gerade ein Stück in der Fußgängerzone von Rostock sowie auf der Mole in Warnemünde aufführte, wobei die Mitwirkenden in lauter unverständlichen Sprachen auf die Passanten einwirkten. Andere Kommunarden befanden sich zur gleichen Zeit auf dem Weg nach Berlin, wo sie die Fleischbestellungen an ihre Kunden auslieferten. Das auf dem Hof angebaute Obst und Gemüse sowie auch ihr selbstproduzierter Käse und das Brot dient einstweilen noch primär der Eigenversorgung. Auf der Fachmesse „Fruit logistica“ in Berlin, wo sich kürzlich alle großen Gemüseanbauer aus Spanien und Holland ein Stelldichein gaben, zeigten einige Longo mai-Leute ebenfalls Protest-Präsenz. Denn dort war auch der Bürgermeister des andalusischen Gemüseproduktionsortes El Ejido anwesend, der vor drei Jahren ein Pogrom gegen marokkanische Gastarbeiter anführte, die gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in seinem Dorf aufbegehrt hatten. Die Longo mai -Leute hatten kurz darauf eine Kommission dorthin geschickt, die anschließend eine Broschüre über die Situation in El Ejido zusammenstellte. Man kann sie bei ihnen über „ulenkrug@t-online.de“ bestellen.
Nicht alle Kommunarden hält es auf Dauer in den Longo-Mai-Kooperativen. Über einen erschien 2007 ein ganzes Buch von einem US-Autor: „Meine Österreich-Nummer,“ so nannte der junge New Yorker Journalist Sam Apple seine Recherche über einen kommunistischen Wanderschäfer in den Alpen, der jiddische Lieder singt, dazu Schafsdias zeigt und der Meinung ist, sein Gesang sei für die Schafe wichtig. Der Autor wollte darüberhinaus auch noch was über den Antisemitismus in Österreich erfahren, aber erst einmal steckte er „knieftief in der Schafscheiße“, nachdem er sich dem Schäfer – Hans Breuer – als „Lämmertreiber“ angedient hatte, während dieser mit seiner Herde über die Berge zog – in der einen Hand einen Hirtenstab in der anderen sein Handy: „Hans sagt, das Handy habe sein Leben völlig verändert, weil er sich so bereits von unterwegs mit Freunden kurzschließen und sich einen Platz zum Übernachten sichern kann.“
Der Schäfer Hans Breuer stammt aus einem kommunistischen Elternhaus, die Mutter wurde von der Gestapo verhaftet und gefoltert. Er meint: „In diesem Land aufzuwachsen war für mich immer, als lebte ich unter Feinden.“ 1968 schloß er sich dem „Kampfbund der Jugend – Spartakus“ an. 1972 war er in Basel, auf dem Gründungskongreß der „Europäischen Pioniersiedlungen“ dabei – und ging dann auch mit auf das fanzösische Hochplateau Larzac: „Wir wollten in diesen Gebieten etwas anfangen, aber nicht als ‚Rückzug in die Natur‘, sondern als selbstverwaltete und -gestaltete Orte, wo man überleben kann, nicht abhängig von einem Chef ist und sich seine eigene Lebensbasis schafft“. 1973 erwarben die Kommunarden dafür 300 Hektar in der Provence, auf denen sie eine Siedlung errichteten, die sie „Longo Mai“ nannten.
Hans Breuer geriet dort jedoch schon bald mit dem Oberkommunarden Remi aneinander, der nicht zuließ, dass Hans die Führung der Longo-Mai-Schafherde übernahm. Er verließ die Kommune – und machte sich, zurück in Österreich, als Wanderschäfer selbständig, nachdem er sich erst in der Allgäuer Landkommune Finkhof fortgebildet und dann eine Familie gegründet hatte, die ihm fortan beim Hüten half.
Rückblickend meint der ehemalige Longo-Mai-Hilfsschäfer Hans Breuer: „Alles was ich heute tue – alle meine Ideen sind dort entstanden. Heute muß ich mühsam nach Leuten suchen, die mit mir singen. Dort mußte ich einfach nur ein Lied anstimmen, und sofort sangen ein paar Leute mit.“ Er behauptet: „Unsere nationale Kultur wurde von den Nazis zerstört. Nicht nur in den Bergen, sondern überall. Nur die Erzkonservativen können die alten Lieder noch singen.“ Die Nichtaufarbeitung der Vergangenheit führte seiner Meinung nach dazu, dass in der heutigen dritten Generation fast jede Familie von den Nazigreuel betroffen ist: „Es ist genau wie mit der Huffäule. Erst wird ein Schaf krank, und schon hat sich die ganze Herde angesteckt.“ Hans Breuer vermarktet seine Lämmer und Schafe ähnlich wie der Hof Ulenkrug in Mecklenburg direkt: „Ich will, dass meine Kunden auch meine Freunde werden, dass wir Ideen austauschen, zusammen essen und vielleicht auch mal zusammen singen., Ich will mein Fleisch nicht an Faschisten verkaufen.“ Am „Schnittpunkt zwischen Schafehüten und Singen“ hat er darüberhinaus die Erfahrung gemacht, dass mit den Armen besser als mit den Reichen Kirschen essen ist: „Wenn ich mit den Schafen unterwegs bin, sind es oft gerade die armen Bauern, die mir helfen und mir etwas Gutes zu essen hinstellen.“
Sein jüdisch-amerikanischer Biograph Sam Apple unternimmt zwischendurch immer mal wieder Ausflüge in Landgasthäuser – auf der Suche nach dem in Österreich immer noch herrschenden Antisemitismus, dabei wird ihm jedoch irgendwann klar, 1. dass er „die Antisemiten genauso brauchte, wie sie ihn“ und 2., dass seine „Österreich-Nummer im Grunde planlos war“. Er fliegt erst einmal zurück nach New York, aber im Sommer darauf besucht er den Wanderschäfer, der sich gerade auf einer Alm befindet, erneut, um seine Recherche abzuschließen – außerdem will er Hans Breuer seine neue Freundin Jennifer vorstellen. Umgekehrt erfährt er von Hans, dass dieser die „emotionale Trennung“, die seine Frau Bea durchgesetzt hatte, immer besser verkraftet – die beiden hüten nach wie vor ihre Herde gemeinsam.
Wie Hans Breuer aus Wien verlassen immer mal wieder Einzelne oder Pärchen die Kollektivprojekte – und machen sich selbständig. Daneben hat sich inzwischen – ohne den Umweg – die Durchlauferhitzer Longo Mai oder Finkhof – eine neue, vordergründig eher unpolitische Landbewegung gebildet: u.a. in Spanien und Frankreich, im Länderdreieck Polen, Tschechien, Deutschland und in der Türkei. Der Bauernaktivist auf dem Hochplateau von Larzac – José Bové, mit dessen Agrargewerkschaft Longo Mai zusammenarbeitet, meint, dabei gehe es darum, den Bauernberuf neu zu definieren. Vor allem müsse der Zugang zu Land vom Eigentum abgekoppelt werden – z.B. so wie auf dem Larzac. Immer mehr Jugendliche aus der Stadt besuchen Landwirtschaftsschulen: „Die Klassen sind voll! Der wichtigste Beweggrund, warum sich heute Menschen auf dem Land niederlassen und Bauer werden, ist das Bedürfnis nach anderen sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen.“ Aber auch nach anderen zwischenartlichen Beziehungen: Der in Südfrankreich lebende Zoosystemiker Luis Bec hat die Biologie einmal definiert als den Versuch, transversale Beziehungen zu anderen Arten aufzunehmen. Dies muß auf Gegenseitigkeit beruhen. Die Schriftstellerin Leonie Schwann schildert so einen Fall – in ihrem Buch „Glennkill“: darin macht sich eine Gruppe irischer Schafe auf, den Mörder ihres Schäfers zu finden. In diesem Bestseller geht es daneben aber auch um unterschiedliche Hütemethoden – aus der Sicht der Schafe (nicht aus der Sicht der „Sheep-Manager“, wie die Schäfer im Amerikanischen heißen). Der Ermordete war ein guter Schäfer ( „Er mochte uns lieber als die Menschen“), das jedoch nicht zuletzt deswegen, weil er die Schafzucht nicht professionell betrieb (im Hinblick auf Fleisch und Wolle), er machte sein Geld damit, dass er die Tiere zum Haschischschmuggeln über die irisch-nordirische Grenze benutzte, was diese gar nicht richtig mitbekamen. Es handelt sich bei der Herde um eine altgälische Haustierrasse. In dem Schafskrimi von Leonie Swann führt die Handlung nicht selten auf Geruchsspuren weiter. Es ist ein Wackelritt, denn die schafliebende Autorin wollte ihre Protagonisten natürlich nicht völlig vermenschlichen, aber gar nicht ging auch nicht – noch nicht? In Jakob von Uexkülls Biographie fand ich eine interessante Bemerkung über „das Schaf denken“: In Estland, wo er aufwuchs, gab es in seiner Nachbarschaft einen Schäfer, der meinte: „In meiner Herde kann ich jedes Schaf auseinanderhalten, aber bei den Menschen will mir das nicht gelingen, die sehen für mich alle gleich aus.“
Ähnlich geht es auch der Künstlerin Stefanie Weiland, die ich dazu befragte: „Innerlich wollte ich nie als Grafikdesignerin arbeiten. Zuerst dachte ich, dass die anthroposophische Landwirtschaft interessant wäre, ich las Rudolf Steiner und wollte in der Natur leben, habe auch Bilder über die Natur gemalt. Eine Bekannte brachte mich zur Marienhöhe bei Bad Saarow – ein Anthroposophenhof, auf dem 20 Leute leben und arbeiten. Da war gerade ein ,Möhren-Wochenende‘: Wir haben alle mit der Hacke Unkraut gejätet. Danach habe ich auf einem Anthroposophenhof in Mecklenburg gearbeitet, wo es sehr hektisch und stressig zuging: Ständig kamen Besuchergruppen, die bekocht werden wollten. Dort bin ich darauf gekommen, dass Schäferin das Richtige für mich wäre. Wenn man sechs Jahre als Schäferin arbeitet, bekommt man das als Lehre anerkannt. So bin ich auf einen Hof in die Lüneburger Heide gekommen. Sie hatten dort 2.000 Schafe und vier Schäferinnen, ich habe als Praktikantin den ganzen Tag ohne Pause im Stall arbeiten müssen und Stroh, Wasser und Kraftfutter rangeschleppt. Es war gerade Ablammzeit. Die Schäferinnen waren sehr verschlossen und hatten Angst, dass ihre Autorität ins Wanken geriet, wir haben wenig geredet. Für drei Tage war ich bei einem anderen Schäfer beschäftigt. Der hat gesagt, die Schafe müssen im Winter einen Stall haben, das finde ich aber Quatsch, sie fühlen sich draußen in der Herde viel wohler. Danach habe ich in einer Schäferei in Röther bei Leipzig gearbeitet. Der Besitzer, seine Freundin, ein Lehrling und ich – wir haben 1.000 Schafe versorgt in ganzjähriger Hütehaltung ohne Stall, aber mit Zufütterung. Insbesondere die 400 Moorschnucken waren sehr nett. Ich bin sowieso meistens lieber mit Tieren als mit Menschen zusammen. Röther liegt in einem Naturschutzgebiet, aber in der Nähe ist eine Autobahn, die ständig Krach macht. Und wenn ich am Fluss gehütet habe, kamen ständig Spaziergänger oder Radfahrer vorbei, denen man Rede und Antwort stehen musste: ,Wie viel Schafe sind denn das?‘ Ich habe viel allein gelebt, eigentlich bin ich eine Peinlichkeit für Revolutionäre, weil ich gerne in meine Bilder abtauche und nie gelernt habe zu streiten. Longo mai wäre also auch nichts für mich. Die anthroposophische Landwirtschaft finde ich inzwischen zu sektenhaft, dafür kann ich mich immer noch für die utopische ,Phalanstère‘-Idee von Charles Fourier begeistern, wo man mal in dieser und mal in jener Kommune arbeitet. Ich befürchte jedoch, dass mein Wunsch, allein zu sein, dort zu kurz kommt. Ich möchte auch nebenbei weiter Kunst machen – fotografieren. Von der Schäferei in Röther habe ich zehn Filme mitgebracht. Geschlachtet habe ich auch, das gehört dazu. Kennst du den Schäferwitz Nummer neun?: Es war einmal ein Schäfer, der einsam seine Schafe hütete. Plötzlich hielt neben ihm ein Cherokee Jeep. Der Fahrer war ein junger Mann in Brioni-Anzug, Cherutti-Schuhen und Ray-Ban-Sonnenbrille, er stieg aus und sagte zum Schäfer: ,Wenn ich errate, wie viele Schafe Sie haben, bekomme ich dann eins?‘ Der Schäfer überlegte kurz und sagte: ,In Ordnung‘. Der junge Mann nahm sein Notebook aus dem Jeep, verkabelte es mit seinem Handy, ging im Internet auf eine Nasa-Seite, scannte die Gegend mit dem GPS-Satellitennavigationssystem ein und öffnete eine Datenbank mit 60 Excel-Tabellen. Dann spuckte sein Minidrucker einen langen Bericht aus, den er durchlas. ,Sie haben hier 1.586 Schafe!‘ sagte er. Der Schäfer antwortete: ,Das ist richtig, suchen Sie sich ein Schaf aus‘. Der junge Mann packte sich ein Tier und lud es in seinen Jeep. Als er sich verabschieden wollte, sagte der Schäfer zu ihm: ,Wenn ich Ihren Beruf errate, geben Sie mir dann das Schaf zurück?‘ ,Abgemacht‘, meinte der sportliche, junge Mann. Der Schäfer sagte: ,Sie sind ein Mc-Kinsey-Unternehmensberater !‘ – ,Das ist richtig, wie haben Sie das so schnell rausbekommen?‘ – ,Ganz einfach‘, erwiderte der Schäfer, ,erstens kommen Sie hierher, obwohl Sie niemand gerufen hat, zweitens wollen Sie ein Schaf als Bezahlung dafür, dass Sie mir etwas sagen, was ich ohnehin schon weiß, und drittens haben Sie keine Ahnung von dem, was ich mache, denn Sie haben sich meinen Hund geschnappt.“
Das genaue Gegenteil von dieser eher menschenscheuen Schäferin ist die etwa gleichaltrige Anja Flach: Sie schloß sich der Frauenguerilla der PKK in Kurdistan an. Statt bei den Kämpfern landete sie jedoch bei einer Versorgungseinheit – und hatte fortan meist mit Schafen zu tun. Sie führte darüber Tagebuch, Teile davon beschlagnahmte das LKA Nordrhein-Westfalen und stellte es ins Internet, um damit die Autorin der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu überführen. Im folgenden seien einige Pastoratszenen aus ihrer Veröffentlichung – „Jiyaneke din – ein anderes Leben“ zitiert:
„Wir holen Wasser, das sehr weit entfernt mit Kanistern herangeschafft werden muß, scheren und melken Schafe, deren Wolle in den Dörfern zu Winterstrümpfen für die Partisanen verarbeitet werden soll. Zu der Einheit gehörte eine große Schafherde, die von den Freunden in einem Dorfschützer-Dorf enteignet worden war. Die Kobra-Hubschrauber hatten die Schafe entdeckt und daraufhin ein Blutbad angerichtet. Mehr als 500 Schafe wurden getötet. Viele Tiere sind verletzt, haben Splitter in den Beinen, humpeln. Es sind noch einige hundert Schafe übrig, sie müssen zwei mal am Tag gemolken werden. Aus der Milch wird Käse gemacht, der für den Winter in großen Plastikkanistern eingelagert wird. Um die Milch zu Käse zu verarbeiten, wird sie mit einem Ferment versetzt, sie gerinnt dann und der Quark wird in saubere Tücher geschlagen, mit Steinen beschwert, damit die Flüssigkeit herausgepresst werden kann. Der fertige Käse wird dann am nächsten Tag mit Salzwasser eingelegt und in Kanister gefüllt. Die frische Schafsmilch wird gekocht, sie ist viel fetter als Kuhmilch und schmeckt köstlich. Nachts halten Mahabat und ich zusammen Wache, vor allem müssen wir aufpassen, dass die Schafherde sich nicht zu weit vom Stützpunkt entfernt oder ein Schaf von Wölfen gerissen wird. Zu unserer Herde gehört eine kleine Ziege, deren Mutter gestorben ist. Damit sie nicht verhungert, fangen wir Schafe ein, bei denen sie trinken kann, allerdings haben wir keine Ahnung, wie oft eine Babyziege trinken muß. Das Leben bei den Schafen ist geruhsam. Abends sitzen wir am Feuer und die Freunde erzählen. Unsere Hauptnahrung ist Fleisch, denn davon gibt es reichlich. Jeden Tag werden zwei Schafe geschlachtet. Inzwischen habe ich gelernt, sie zu zerlegen, die Knochen zu zerhacken. Meist wird dazu eine Daz benutzt, eine sichelförmige kleine Axt. Das Fleisch wird in Wasser gekocht und mit Brot gegessen. Ich gehe mit einer Freundin zu den Schafen, um Joghurt zu holen. Auf dem Weg sehen wir ein Schaf, das von Wölfen gerissen worden ist. Nur die Innereien sind aufgefressen, der Rest ist nicht angerührt. Es gibt eine Diskussion, ob das Fleisch noch genießbar ist. Als wir von den Schäfern wiederkommen, schmurgelt es schon im Kochtopf und schmeckt hervorragend. Mittags kommen zwei alte Frauen ins Lager. Ich bin erstaunt, sie müssen viele Stunden gelaufen sein. Sie bitten die Guerilla, Schafe aus einer Herde zurückzugeben, die vor einiger Zeit bei einer Aktion aus dem Dorf geholt worden sind. Von den etwa 1000 Schafen wollen sie jedoch nur einige Dutzend haben, vor allem die ihrer Familien. Sie jammern und klagen. Heval Resid bleibt sehr sachlich und argumentiert, dass es in dem Dorf Dorfschützer gäbe, dass das Dorf die Guerilla nicht unterstützte. Die Guerilla müßte hungern, wenn sie den Dorfschützern nicht Schafe wegnehmen würde…Zu guter letzt ist das Ergebnis, dass die Frauen 500 Schafe zurückbekommen. Allerdings ist die Rückgabe mit Auflagen verbunden, das Dorf soll sich der Guerilla nicht länger verschließen, FreundInnen werden kommen, um mit der Bevölkerung zu reden. Die nächsten Tage sammeln wir Nüsse, hunderte von Säcke kommen zusammen. Mehrere hundert Schafe sind aus einem (anderen) Dorfschützerdorf gekommen. Ich bin meistens in der „Fleischgruppe“. Jeden Tag schlachten wir an die 20 Schafe, was geradezu fließbandmäßig organisiert ist. Zuerst gibt es eine Arbeitsteilung: Während die Männer schlachten, zerschneiden die Frauen das Fleisch. Nach ein paar Durchgängen gibt es Proteste, da die Männer, nachdem sie das Tagessoll erreicht haben, einfach verschwinden, die Frauen dagegen noch bis in die späten Arbendstunden arbeiten, bis alles Fleisch verarbeitet ist. Daraufhin wird alles gemeinsam gemacht. In der traidtionellen kurdischen Gesellschaft dürfen Frauen keine Tiere schlachten, das Fleisch wäre „haram“ (unrein). Dieses Tabu zu brechen, macht den Freundinnen anscheinend besonderen Spaß. Wir sind mehr als 50 Frauen. Ein fröhlicher Haufen, obwohl wir von morgens bis abends sehr hart arbeiten. Das Wetter ist schöner geworden, ich werde jetzt öfter als Schäferin eingeteilt. Gestern gab es eine „Moral“ (Versammlung mit mehreren Theaterstücken). Eins hat mir sehr gefallen: Ein Walnussbaum und eine Traubenrebe haben panische Angst, wenn die Guerilla kommt, sie fürchten sie mehr als die Soldaten, ganz zerfleddert sehen sie aus. Ein Kommandant kommt und verbietet, die Bäume anzurühren – ja, langsam setzt sich so eine Haltung durch, Naturschutzguerilla.“
Um ein explizit politisches Pastorat ging es lange Zeit dem o.e. französischen Milchschafzüchter José Bové – in seinem Kampf gegen den Agrar-„Produktionismus“. Mehrmals mußte er deswegen bereits ins Gefängnis, nun will er ein politisches Mandat erringen: Der 1953 geborene Bové studierte Philosophie und engagierte sich ab 1972 auf dem Hochplateau Larzac – gegen den Staat, der dort Landwirtschaftsflächen in ein Militärübungsgelände umwandelte. Er lernte dabei seine spätere Frau Alice kennen, die beiden arbeiteten auf verschiedenen Bergbauernhöfen. Um der Einberufung zu entgehen, versteckte Bové sich ein Jahr lang als Landarbeiter auf einem Biohof. 1975 bekam Alice ihr erstes Kind. 1976 ließen Alice und José sich auf einem einsamen Hof in der Nähe des Larzac-Militärgeländes nieder, wo sie mit einer Schafmast begannen. Freunde spendeten ihnen einen Traktor. Wegen einer Aktion gegen das Militärgelände mußte José das erste Mal – für drei Wochen – ins Gefängnis. 1978 bekam Alice bei einer Hausgeburt ihr zweites Kind. 1979 gaben sie die Lämmermast auf und schafften sich eine Herde Milchschafe an. Die Milch verarbeiteten sie zu Käse, den sie auf Wochenmärkten verkauften – ein Novum auf dem Plateau, denn ihre Kampfgefährten verkauften die Milch alle an die Roquefort-Käsereien. Da der Hof ohne Elektrizitätsanschluß war, mußte für die Melkanlage und die Belüftung des Reifungskellers eine eigene Stromversorgung improvisiert werden. 1981 erfüllte Mitterand sein Wahlversprechen und stellte die Erweiterungspläne für das Militärgelände ein – 6300 Hektar blieben im Staatsbesitz, sie wurden von den Larzac-Kämpfern in kollektive Verwaltung übernommen: eine Idee von Bovés Vorbild Bernard Lambert ( „Power to the Bauer!“), der kurz darauf starb. 1983 wurde der Hof von Alice und José an das Stromnetz angeschlossen, 1984 folgte das Telefon, 1987 der Wasseranschluß. Alice hörte mit der Landwirtschaft auf und übernahm die Leitung eines „landwirtschaftlichen Initiativzentrums“. José legte seinen Hof mit einem benachbarten zu einer „Landwirtschaftskooperative“ zusammen, der 350 Milchschafe umfaßt und 220 Mastschafe, außerdem 12 Rinder und 30 Schweine. Das Fleisch wird über eine Erzeugergemeinschaft auf Wochenmärkten verkauft. Die zwei Bové-Töchter studieren mittlerweile in Bordeaux. Ihr Vater ist weiterhin in der Bauern-Vereinigung aktiv. Er jagt und angelt nicht, liest aber viel. Seit 1992 kritisieren er und andere die wachsende Kommerzialisierung der Kultur und der Agri-Kultur. In der „Confédération Paysanne“ werden 10 Grundsätze der „bäuerlichen Landwirtschaft“ aufgestellt. 1999 stört er mit anderen Aktivisten den Bau einer McDonald’s-Filiale in Millau und kommt für 19 Tage ins Gefängnis. Im selben Jahr tagt die WHO in Seattle, dort tritt José auf einem Gegenkongreß auf, der sich gegen die Globalisierung des Agrarhandels wendet. Zehntausende demonstrieren dort anschließend gegen die WHO-Politik. José kreiert wenig später das Wort „Malbouffe“ (schlechtes Essen) für das, was bei der industrialisierten Landwirtschaft und den Lebensmittelkonzernen herauskommt. Es geht darum, weg vom „Produktivismus“ zu kommen, d.h. die Landwirtschaftspolitik zu einem Umdenken zu bewegen, gleichzeitig die Bauern aus dem Würgegriff der Agrokonzerne zu befreien, für die sie inzwischen nur noch billige Heimarbeiter sind. Auch die Landwirtschaftspresse hängt über ihre Werbeeinnahmen von diesem Produktivismus ab. Ähnliches gilt für die Agrarwissenschaft. José fordert: „Forscher, kommt raus aus euren Labors! Nur verrückte Menschen machen die Rinder wahnsinnig.“ Es geht vor allem um eine Neudefinition des Bauernberufs. Außerdem muß der Zugang zu Land vom Eigentum abgekoppelt werden – z.B. so wie auf dem Larzac. „Dass ich zu den ehrenwerten Herrschaften überlaufe oder mich als Star prostituieren könnte, ist völlig ausgeschlossen“. In Millau demonstrieren mehr als 100.000 Menschen gegen die „Verwandlung der Welt in eine Ware“. Wenig später wird José Bové wegen der McDonald’s-Aktion zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Er meint: „Wir brauchen eine andere Art politischer Arbeit, die vom wechselseitigen Zusammenhang unserer gemeinsamen Interessen ausgeht. Die bäuerliche Gewerkschaftsbewegung hat diesen berufs- und bereichsübergreifenden Ansatz vorgeführt: die McDonald’s-Aktion hat ebenso viele Verbraucher wie Bauern mobilisiert und das große Buch des Gemeinwohls wieder aufgeschlagen. Jede produktive Handlung eines Bauern dient der Ernährung: der Bauer berührt seine Mitmenschen von innen“. 2002 wird José wegen Zerstörung von gentechnisch veränderten Pflanzen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Im Sommer 2003 verhaftet man ihn auf seinem Hof. Im „Linksnet“ heißt es über ihn 2005: „Schwung in die Wahldebatte der Linken könnte möglicherweise eine Idee bringen, die im Laufe des Sommers in den ehemaligen ‚Einheitskollektiven für das Nein‘ aus der Zeit vor dem Referendum heranreifte. Viele ihrer Mitglieder fordern eine gemeinsame Kandidatur der ‚anti-neoliberalen Linken‘ und jener progressiven Kräfte, die zum ‚Non‘ bei der Abstimmung aufgerufen haben. Dabei zirkuliert auch ein Name: Der internationalistische Bauerngewerkschafter José Bové soll dieses Spektrum repräsentieren. Er wurde einer breiteren Öffentlichkeit durch eine Serie von Prozessen – vor allem wegen Aktionen gegen genmanipulierte Pflanzen – bekannt und betreibt aktive Solidarität mit der Dritten Welt gegen EU- und US- Nahrungsmittelkonzerne. Der parteilose Bové selbst hat sich im August dazu auch prinzipiell bereit erklärt, aber unter der Bedingung, dass die politischen Parteien aus demselben Spektrum keine eigenen Kandidaten schicken. Konkret forderte Bové, dass die KP, die LCR und die Grünen seine Kandidatur unterstützen.“
Anfang 2006 verweigerten die USA ihm die Einreise. 2007 kündete Bové seine Kandidatur bei der französischen Präsidentschaftswahl an. Er bekam rund eine halbe Million Stimmen. Zuvor war von ihm und seiner Bauerngewerkschaft ein Buch – in zehn Sprachen gleichzeitig – erschienen: „Die Welt ist keine Ware“, das sich gegen den Monetarismus, d.h. gegen die Orientierung aller Lebensäußerungen ausschließlich auf Geld- und Kapitalvermehrung, richtet. Ihr Widerstand richtet sich insbesondere gegen die 1944 in Bretton Woods gegründeten Institutionen Internationaler Währungsfond (IWF) und Weltbank sowie die 1995 geschaffene World Trade Organisation (WTO), mit der erst in den Entwicklungsländern und dann auch im Ostblock die letzten Lokalökonomien an den Weltmarkt angeschlossen bzw. durch ihn vernichtet wurden und werden. Im Manifest der „Confédération Paysanne“ finden sich bereits Ideen dafür, wie die letzten Bauern und Schäfer überleben können: „Die Bäuerliche Landwirtschaft muß…wirtschaftlich effizient sein. Sie muß, gemessen an den eingesetzten Produktionsmitteln und im Hinblick auf die produzierten Mengen, eine hohe Wertschöpfung aufweisen. Nur unter dieser Bedingung können die Bauern mit relativ bescheidenen Produktionsmengen zurechtkommen, und nur unter dieser Bedingung kann die Landwirtschaft eine große Anzahl von Arbeitskräften beschäftigen. Eine in dieser Form effiziente Produktion ist Voraussetzung für die Produktion von Qualität“.
Der Nürnberger Marxist Robert Kurz hat sich in seinem Buch „Weltkapital“ u.a. auch mit dem französischen Schafzüchter und Globalisierungskritiker Bové angelegt. Er wirft ihm und seiner Bauerngewerkschaft vor: “ sie denken selber in den Katagorien der Ware und wollen sich gar keine Vorstellung über eine Welt jenseits davon machen…Was dann als vermeintliche Kritik einer Welt der Waren übrig bleibt, ist nichts als eine verkürzte und nebelhafte Denunziation von (subjektiver) ‚Profitgier‘ und ‚Geldgeilheit’…Das Geld ist aber nur die Erscheinungsform der universellen Warenproduktion, nicht deren Wesen, das in ‚abstrakter Arbeit‘ und Wertform gründet.“
Was aber kann man all jenen Schafzüchtern, -besitzern vorwerfen, die sich in „Schaf-Foren.de“ über die Macken und Besonderheiten ihrer einzelnen Tiere austauschen? Dort schreibt z.B. Astrid: „meine schafe sind alle nicht ganz echt- wie der herr so’s gescherr.“ Heidi berichtet: „Schaf Elke stößt bei Freude (Spaziergang, Stück Banane…) ein abgehacktes ‚Mäh‘ aus, schüttelt den Kopf und fängt an zu hüpfen wie ein bewolltes Känguruh.“ Christine erzählt: „Unser zweites Lamm überhaupt, das bei uns geboren wurde, Zwillingsmädchen, das nachdem der Bruder gelandet war, mit einem Fuss zurueck feststeckte, aber damals schon in der Position mit Kopf draussen laut gemaeht hat (kann das sein? Ich bin mir voellig sicher, zweifle aber manchmal doch an meiner Erinnerung), weshalb unter anderem sie den Namen „Callas“ bekam, hatte sich zusammen mit ihrem Bruder ein paar Stunden spaeter als Flaschenlamm herausgestellt (Mutter chronische Mastitis). Wie dem auch war, immer noch, nach 7 Jahren, will sie ihre persoenliche Portion Futter aus der Hand, und wenn ich da auf meinem Stein sitze, hat sie so eine nette sanfte Art, mich mit der Schnauze gegen die Backe zu stupsen, ist wie ein kleines Busserl, so analog denke ich wie die Laemmer erst das Euter (oder die Flasche) stossen, aber sie macht das wirklich ganz sanft. Und natuerlich hat sie Erfolg.“ Renata schreibt: „Wenn ich meine Schafe kraule grunzen einige wonniglich vor sich hin – hört sich an als ob sie schnarchen. Eines unserer Schafe grunzt zur Zeit viele Minuten lang, wenn sie besonders leckeres Heu zu fressen bekommt. Unser 1 Jahr alter Bock wackelt vor lauter Freude mit seinem nicht kupierten Schwanz, wenn er ein bißchen Kraftfutter oder Ähnliches bekommt. Manchmal hüpft er auch vor Freude. Nanni hat gleich alle ihre Tiere mit Macken aufgezählt: “ Und bei den Schafen haben wir eins dabei, vermutlich früher ein Flaschenlamm. Sie sucht die Nähe der Menschen. Und wenn man zu den Schafen geht, und sich hinkniet, legt sie einem den Kopf auf die Schulter und schläft ein.“ Krollo schreibt: „Ein Bocklamm von März 05 ist von Anfang an immer auf unsere Hütehündin zugelaufen, wenn sie auf die Weide kam. Das Böckchen hat ihr immer die Schnauze geleckt, wie es ein Welpe bei erwachsenen Hunden tut. Unsere Hündin hat ihn daraufhin auch wie einen Welpen behandelt. Mittlerweile muss er nun doch schon mal mit der Herde mitgehen wenn sie treibt (und darf nicht mehr hinter (!) Hund und Herde herlatschen) aber an der Begrüssung hat sich nichts verändert. Er war im Gegensatz zu seinem Bruder und Vater allerdings noch nie agressiv gegen den Hund. Bei unserer anderen Hündin kommen solche Vertraulichkeiten aber gar nicht gut an…Ist ihr wahrscheinlich peinlich von ’nem Schaf geknutscht zu werden.“ Und schließlich noch ein Bericht von Eva: „Ich hatte mal ein Flaschenlamm, das im Haus aufgewachsen ist. Einigen Forumsmitgliedern ist es noch als „Lämmsche“ bekannt. Obwohl ich es von Anfang an immer mit zu den Schafen genommen hab, war es wohl doch etwas fehlgeprägt und hielt sich eher für einen Hund. Es fand es später auch ganz übel, als es nicht mehr im Haus, sondern bei den anderen Schafen wohnen sollte. Wenn ich mit dem Hund zu den Schafen ging, lief es immer mit dem Hund mit. Man muß sich das vorstellen: Ein Border Collie läuft einen Outrun und ein Schaf galoppiert hinter ihm her. Der Hund fand das anfangs etwas verwirrend, hat es dann aber ignoriert. Die anderen Schafe hielten „Lämmsche“ wohl für einen Verräter und elenden Überläufer.“ Aus diesen Zitaten könnte man glatt herauslesen, dass ähnlich wie bei den Imkern die meisten Schäfer heute Frauen sind, wahrscheinlich spiegelt sich dabei jedoch erst mal nur das größere Interesse der Frauen am Internet und seinen Foren wieder. „Was die Schafe wohl schreiben würden, wenn sie PCs hätten?“ fragt sich und die Teilnehmer des Schafs-Forums „Quasseltante“ Yemania.
Um auch noch etwas über das politökonomische Pastorat in Erfahrung zu bringen, sprach ich mit dem Schäfer in der Landkommune Longo mai in Mecklenburg. Er enttäuschte mich nicht: Er zählte all die Schwierigkeiten auf, die einem Schäfer heute widerfahren können. Das geht von der Aufkündigung uralter Wegerechte durch die Gemeinden über den weltweiten Preisverfall bei Wolle und Fellen bis hin zu den immer wieder neuen Schlachtverordnungen, die es immer schwieriger werden lassen, das Fleich selbst zu vermarkten. Für alle übrigen Probleme empfahl er mir ein Schafslehrbuch, das die Sektion Landwirtschaft der Humboldt-Universität in den Achtzigerjahren herausgegeben hatte, es sei das Beste.
Selbstversorgung Longo Mai.- Ich habe alles gelese und findet gut. Meine Frage an Sie ist: gibt’s Longo Mai Gruppe, die Selbstversorger sind und wo?is jetzt ist mir in Internet noch nicht
gelungen, diese zu finden.
Danke und Gruss
J.Vega