vonHelmut Höge 04.09.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Früher hatte der Besitzer eines Scherzartikel-Ladens auf der Neuköllner Sonnenallee (nicht zu Verwechseln mit der aus Funk und Film bekannten “Sonnenallee” im Osten), dort einmal im Jahr ein Straßenfest organisiert. Heute gibt es auf der Karl-Marx-Strasse die Event-Rallye “48 Stunden Neukölln“. Hier ein etwas zurückliegender Bericht darüber:

Erst einmal gab es dort die Revue “Tanze niemals mit einem Eskimo Tango” und dann die Findeiß-Lesung “Heimat der Schneestürme”. Aber das war noch nicht alles: Schon etwas breit suchte ich Halt an der Theke des Thai-Treffs “New Home”, wo ich mit einer noch breiteren Päng Bekanntschaft machte. Die kleine Laotin war das Gegenteil von einer großen Chaotin: Sie fragte als erstes, ob ich verheiratet sei und Kinder habe. Als ich das verneinte, sagte sie: Ihr ginge es genauso, aber sie strebe beides an. Dann lieh sie sich zehn Mark von mir, kaufte eine Blumenkette für den Sänger, hängte sie ihm um den Hals und fing an zu tanzen. Anschließend erzählte sie mir, sie könne auch singen: “Vier laotische, zwei vietnamesische und ein chinesisches Lied.” Dann leerte sie ihr Glas und schickte mich mit ihrem Regenschirm raus – ich sollte an der Ecke warten – mit der Begründung: “Sonst denken die hier, ich bin ein Club-Mädchen, ich bin aber Putzfrau und wohne bei meiner Schwester.” Draußen wurde es bereits hell, ich begleitete Päng zum Hermannplatz. “Mit zu dir will ich nicht,” sagte sie: “Nicht weil ich Angst vorm Penis habe. Das kenne ich nämlich: Ich hatte zehn Jahre einen Mann, und einmal fing ich auch in einem Club an, weil ich kein Geld hatte. Aber ich war hinterher schweißgebadet und habe gezittert, das war nicht gut. Lieber putze ich oder sonst was, ich kann alles. Übrigens trage ich eine Perücke. Weiß du, warum? Ich war drei Monate Nonne in einem buddhistischen Kloster in Laos, auf dem Dorf, und da bekommt man den Kopf geschoren, das Haar muß jetzt erst wieder nachwachsen. Weil ich Buddhistin bin, rauche ich nicht, esse kein Fleisch und lebe ziemlich sauber, außer daß ich alle zwei Monate mal Wein trinke. Gib mir deine Telefonnummer, ich ruf dich an. Ich mache gerne Picknick im Grunewald in meiner Freizeit. Wenn ich nicht arbeitslos werde, fahre ich übernächstes Jahr wieder nach Laos, dann kannst du mitkommen …” Sagte sie, gab mir einen Kuß – und sprang husch in die U-Bahn.

Ich ging zurück – in den Jazzkeller “Atalante”, dort traf ich Uwe – mit einer großen Blonden. Sie arbeitete bei Mannesmann- Mobilfunk: “Das ist aber nur zum Geldverdienen”, meinte sie, “eigentlich interessiere ich mich für Meridiane und Therapien: Schakren, Bhagwan und so”. Später gesellte sich noch eine andere Blondine zu uns: Sie hatte lange als Kellnerin gearbeitet und dann mit ihrem Freund ein Kulturprojekt in Mitte organisiert. Als das Bezirksamt mit Auflagen kam, war Schluß. Sie bekommt nun Stütze, aber demnächst macht sie eine Marketing-Ausbildung. Uwe hatte Ähnliches hinter sich: “Das ist alles Quatsch, die Kulturprojekte sind das einzige, was hier läuft. Warum machen die denn ,48 Stunden Neukölln’? Weil ein Laden nach dem anderen pleite geht – und es hier bald nur noch Kulturprojekte gibt. Wo sind denn hier die Hauptveranstaltungen? In den drei Atelierhäusern, der Körnerparkgalerie, in der Frauenschmiede, im Heimat- und im Puppentheater-Museum, im Theaterhaus, im Britzer Schloß, in der Werkstatt der Kulturen, im Saalbau und in der Neuköllner Oper – alles genaugenommen ABM-Projekte.” Und was sind die Hauptattraktionen? fragte ich ihn. “Die jungen Kopftuch-Türkinnen”, kam es wie aus der Pistole geschossen: “Also, das ist ein richtiges Neuköllner Fräuleinwunder.” In Kreuzberg haben wir das auch, sagte ich. “Ach”, winkte Uwe ab. “Aber nicht so viele und tolle wie hier”, kam es wie aus einem Mund von der Mannesmann- und der Marketing-Blondine: “Wetten, in zwei Jahren wird das eine internationale Mode werden – Kopftuch und Hotpants!”

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Neuköllner Immortalisten e.V.

Neulich traf ich mich im “Blauen Affen” am Hermannplatz mit zwei älteren Neuköllner Immortalisten. Sie machen da weiter, wo ihre russischen Vordenker einst aufhören mussten. In der Regierungszeitung Iswestija hatten sie noch 1922 erklärt: “Wir stellen fest, dass die Frage der Verwirklichung persönlicher Unsterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesordnung gehört.” Und da ist sie auch noch heute, wobei das vor allem für die Reichen gilt, die ein großes Vermögen angehäuft haben – und nun möglichst lange was davon haben wollen.

Die Armen sind dagegen eher froh, wenn ihr Lebenskampf sich nicht ewig hinzieht. Für beide gilt jedoch das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate – insofern alle Organismen zwar dazu neigen, mit “Zinseszinsen” zu wachsen, weil das, was durch Wachstum gebildet wird, selbst zu weiterem Wachstum fähig ist, aber der “Zinssatz” fällt – weil der Organismus mit einem von Jahr zu Jahr niedrigeren Zinssatz akkumuliert.

Irgendwann wollte ich von den beiden Neuköllnern wissen, warum die Nazis uralt werden, die Linken dagegen wie die Fliegen umfallen. “In einer Welt, die nur die Jugend achtet, sind die Menschen nach und nach aufgezehrt”, meinte der eine, Hans, wobei er sich auf Houellebecq bezog. Das erinnerte den anderen, Dirk, an die Kamtschadalen, bei denen es früher so war, dass die Alten zuletzt noch einmal dem Gemeinwohl dienten, indem sie sich von den Jungen aufessen ließen. “Nein, aber im Ernst: Wahrscheinlich leben die Nazis hier einfach in einem optimalen Milieu.” Biologisch treffe jedoch für alle gleichermaßen zu, dass ihre Körperzellen – so wie auch die Einzeller, die sich durch Teilung reproduzieren – potentiell unsterblich sind. “Es kann also nur an ihrer nachlassenden Kommunikation und Koordination untereinander liegen,” fügte Hans hinzu, wobei er unsere Körperzellen und nicht die Nazis bzw. die Linken meinte.

Dirk fiel dazu ein: “Fische altern nicht, sie werden nur größer,” im übrigen gäbe es in der Natur eigentlich sowieso nicht das, was wir einen “natürlichen Tod” nennen, dieser sei quasi ein Haustierphänomen. “Senilität ist ein Kunsterzeugnis der Zähmung. Wie übrigens auch das Gegenteil: der kindliche Gesichtsausdruck bis ins hohe Alter. Die wilden Tiere werden dagegen früher oder später fast alle gefressen, wobei diese Gefahr mit wachsendem Alter steigt, obwohl sie zugleich auch schlauer werden. Der mittlere Lebensabschnitt ist aber auch für uns Menschen der beste…”

“Das sehen die Lebensversicherungsgesellschaften bestimmt genauso,” unterbrach ich ihn. Hans wollte daraufhin wissen, ob die Versicherungen auch prämienmäßig berücksichtigen, das es entgegen unserer Vorstellung, erst eine Periode der Entwicklung und dann eine des Verfalls durchmachen zu müssen, in Wirklichkeit so sei, dass wir “unser Leben mit einer Periode extrem schnellen Verfalls beginnen und es mit einem sehr langsamen und sehr geringen Verfall beenden”.

Darauf wusste ich keine Antwort. Wegen dieses “geringen Verfalls” seien sie, die Immortalisten, ja gerade so optimistisch – was die Fortschritte der Zellforschung und der Ersatzteil- bzw. Organimplantation betrifft, fügte er hinzu. “Vilem Flusser hat das mal so gesagt: Das Zeitalter der wahren Kunst beginnt erst mit der Herstellung selbstreproduktiver Werke. Und dort beginnt auch die Freiheit, wenn man Houllebecq glauben darf. Zumindest kann man bei geklonten Lebewesen, genauso wie bei eineiigen Zwillingen, problemlos jedes Gewebe transplantieren. Kein Tod ist ‘natürlich’, niemand stirbt lediglich an der Last der Jahre.”

Aber diese “wachsende Last”, wagte ich einzuwenden, sei doch gerade “natürlich”, wo könne man das besser als in Neukölln beobachten. Diese Bemerkung wurde von meinen Gesprächspartnern als der Sache “nicht besonders dienlich” abgetan – es war ihnen sehr ernst damit. Deswegen verkniff ich es mir auch, sie abschließend mit Matthäus zu fragen: “Wer aber unter Euch vermag dem Maß seines Lebens auch nur eine Elle hinzuzufügen?”

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Neuköllner Afrikaner

Der schwarze Kontinent gilt als Dritte Welt par excellence, wo nicht nur – laut Hegel – jedes gute Wort, sondern auch jede harte D-Mark spurlos verschwindet. Auf unserer “Ersten Messe über Geldbeschaffungsmaßnahmen” bot dazu der Berliner Verlag “Das Arabische Buch” ein Dutzend “Diskussionspapiere” an: “Die Verschuldungskrise in Afrika – Ansatzpunkte für eine Lösung”, “Der informelle Finanzsektor von Marktfrauen in Dakka”, “Die Last der Arbeit und der Traum vom Reichtum – Frauengruppen in Kenia zwischen gegenseitiger Hilfe und betriebswirtschaftlichem Kalkül”. Hinzu kam noch eine Untersuchung über verschiedene Formen von Dritte-Welt-Ökonomien in Berlin selbst. Dazu gehörte auch ein Text über meine kenianische Nachbarin Adischa, die mit ihrem Kind von Sozialhilfe lebt, sie hat ein schweres Hüftleiden, aber einmal im Jahr fült sie einen großen Container mit Sperrmüllmöbel, gebrauchter Elektronik und Billigtrödel, den sie dann nach Kenia verfrachtet, wo sie die Sachen reparieren bzw. renovieren läßt und dann verkauft. Dazu gehören jedesmal auch drei Zentner alte taz-Ausgaben, die ich ihr liefer. Diese braucht sie erst mal zum Ausstopfen des Containers und dann für ihre Freundinnen, die die Zeitungen auf dem Markt zum Einwickeln verwenden. Zwei FU-Politikstudentinnen hielten all diese Texte für Forschungs-“Fakes”. Dabei befand sich gleich daneben ein Stand von drei Ghanaerinnen, die Fleischtaschen, Chicken Soup und Kaffee anboten. Es waren Schwestern. Die eine – reich verheiratet – verkaufte auf eigene Rechnung, die andere – arm verheiratet – half ihrer dritten Schwester, die mit den Lebensmitteln ihren Flug nach Hause finanzieren wollte. Daneben arbeiteten beide noch in einem Bordell. Gleichzeitig erhofften sie sich noch eine größere Summe aus der Teilnahme am “On Bidong”. Bei diesem von ihnen “Merry-Go-Around” genannten Selbstfinanzierungssystem geht es darum, dass reihum jeder 100 Euro monatlich in einen Topf wirft, der dann an einen besonders Bedürftigen verteilt wird bzw. an jemanden mit einer Geschäftsidee, die die anderen überzeugt. Die Ausschüttung kann auch per Losverfahren entschieden werden. Die letzte diente allerdings dazu, einen in Berlin verstorbenen Ghanaesen in einem Sarg per Schiff zu seinen Angehörigen zu schicken, damit er in heimatlicher Erde bestattet werden konnte. Der Messe-Mitveranstalter Guillaume Paoli hatte ein solches “Merry-Go-Around-Banksystem” bereits in Paris kennengelernt und wollte unbedingt eine Diskussion darüber auf der Messe veranstalten, fand jedoch in der hiesigen afrikanischen Szene keine Teilnehmer. Nun wollte es der Zufall, dass eine der Schwestern dies quasi nebenbei erledigen konnte. Sie bekam 400 Mark für ihren Vortrag.

Off the records berichtete sie noch über weitere afrikanische Dritte-Welt-Ökonomien in Berlin. Diese haben ihre Basis in den diversen afrikanischen Privattreffen, Disco-Clubs, Restaurants, Bordellen, Afro-Shops und Cafés – die sich in Neukölln massieren. Dort kann man auch das Nachrichtenblatt für die afrikanische Gemeinde in Deutschland The African Courier (TAC) lesen. Eine Ausgabe hat den Aufmacher “Telephoning Becomes Cheaper As Deutsche Telekom Loses Monopoly”. Seitdem gibt es in Neukölln und Kreuzberg  immer mehr Läden, in denen man billig ins Ausland telefonieren kann – nach Ghana kostet die Minute etwa 25 Cent. Anders als die meisten anderen Ausländergruppen halten viele Afrikaner einen engen Kontakt sowohl zu ihren Angehörigen und Freunden daheim als auch zur afrikanischen Szene in Berlin und Westdeutschland. Nur ein individueller sozialer Aufstieg, wie etwa die Einheirat in die kulturelle oder wirtschaftlich obere Mittelschicht, wirkt hier entsolidarisierend. Die meisten können nicht nur keinerlei finanzielle Hilfe von zu Hause erwarten, sie müssen umgekehrt mindestens einen Teil ihrer Familie dort unterstützen. Ihre Ökonomie, die sie sich dafür aufbauen, ist äußerst prekär. Das Spektrum reicht von kleinen Import-Export-Geschäften und Container-Transporten von hier nahezu wertlosem Zeug bis zum Sex-Business. Aber selbst in den Bordellen werden die Afrikanerinnen arg diskriminiert – von den Puffmüttern und blonden Kolleginnen bis zu den Freiern halten sich alle für etwas Besseres: ein weiterer Grund, zusammenzuhalten. So wird das von Polizeirazzien oft heimgesuchte Lulu in Neukölln von Kenianerinnen dominiert und das Tutti im Prenzlauer Berg, das sich bester Polizeikontakte rühmen kann, von Ghanaerinnen, während in der Sauna-Bar hinterm Adenauerplatz am liebsten US-Afrikanerinnen arbeiten. Von einer Frau aus dem “Lulu” erfuhr ich: Alle Farbfilme der Welt (Konica, Fuji, Kodak, Agfa und seit 1992 auch Orwo) sind auf 12 Uhr mittags New Yorker Sommerzeit geeicht – und dort auf die Gesichter von Weißen: “Wenn die Sonne lacht, Blende acht!” Das hat zur Folge, dass die Gesichter der Afrikaner auf automatischen Farbfotos meist versacken, manchmal sind nur dunkle Flecken zu sehen. Da andererseits viele Weiße die Gesichter von Schwarzen sowieso nicht unterscheiden können, hat sich für diese in Europa die Möglichkeit ergeben, Pässe einfach untereinander auszuleihen. Im Schnitt besitzt jede achtköpfige Familie wenigstens drei anständige Pässe. In vielen afrikanischen Staaten müssen neben dem Beglaubigungsstempel inzwischen auch Dokumente, die die Echtheit des Beglaubigungsstempels zertifizieren, beigebracht werden. Das hat jedoch nicht verhindern können, dass viele Leute vom Passverleih leben können: Wenn zum Beispiel eine Afrikanerin ohne ordnungsgemäße Papiere als letzte Geldbeschaffungsmaßnahme in einem Bordell arbeiten muss, kann sie sich für 20 Mark am Tag – plus einmaliges Depositum von 200 Mark – den Pass einer hier legal mit Arbeitserlaubnis lebenden Afrikanerin leihen. Übrigens nehmen ihr die Bordelle noch einmal rund 50 Prozent ihrer Einnahmen ab. Die Folge dieser Passgeschäfte ist ein großes Durcheinander. Auch bei den Afrikanerinnen selbst, die etwa als Rosalinde einreisen, als Mary-Eve anschaffen gehen und als Yolande ausreisen, wobei sie keinen Hin- und Rückflug buchen können, weil sie danach mit einem Pass auf den Namen ihrer Schwester Hillary, die eigentlich gar nicht ihre richtige Schwester ist, wieder einreisen wollen. Später holen sie dann noch ihre Tochter Judith nach, die auch nicht ihre richtige Tochter ist. Die Afrikanerinnen sind die wahren Meister in jenem sozialen Netz – das das Leben selbst ist.

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Zwei Einrichtungen hat Neukölln, die immer wieder die Phantasie herausfordern: die schöne Moschee am Columbiadamm und das große Spaßbad “blub” – mit der Zwei-Klassensauna.

In der Blubb-Sauna saßen neulich einige dickbäuchige deutsche Männer und einige alternative dünne Frauen – nackt. Plötzlich kam ein schöner türkischer Jüngling in Badehose rein. Die Männer kuckten blöd, einer ging raus und sagte dem Bademeister bescheid. Der blaffte den Türken an: “Mit Badehose ist hier nicht erlaubt, das ist besonders für die Frauen unangenehm, wenn jemand nur zum Glotzen da sitzt”. Die deutschen Männer nickten, aber eine Rothaarige meinte schnippisch: “Das müssen sie uns schon überlassen, wenn uns was nicht paßt, dann helfen wir uns selbst. Die anderen Frauen nickten dazu. Der Bademeister war überrascht: “Das Badehosenverbot gilt hier generell!” Die Frauen wollten das nicht einsehen, die Männer solidarisierten sich mit dem Bademeister. Es ging hin und her und wurde immer lauter – fast wäre daraus eine Schlägerei entstanden.

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Neuköllner Aggro

“Im Leben findest du immer ein Plätzchen für eine Heldentat,” heißt es bei Maxim Gorkij beruhigend.
“Wir sind 16 Fäuste, / gegen dein ganzen Clan! / Das Ghetto kriegt fame, / wenn die Sekte, / Stress macht!” rappen Die Sekte auf ihrer “Ansage Nr. 3”. Das vielbesungene “Ghetto” – einst selbstverwaltetes Stadtviertel der Schwarzen als industrielle Reservearmee – hat sich, folgt man ihrem Erforscher Lois Wacquant, zu einem “Hyperghetto” – für die “Überflüssigen” – gewandelt und ist global geworden. Damit einher ging seine Islamisierung und der Aufstieg des Hiphop bzw. Gangsta-Raps. Für Wacquant sind die französischen “Banlieues” jedoch keine Hyperghettos, sondern Armenviertel, in denen Franzosen, Araber und Afrikaner leben.

Erst recht gilt dies für die Berliner Bezirke Kreuzberg, Neukölln, Wedding. Ausgehend von studentisch-parodistischen Kopien des pornographischen US-Gangsta-Rap in Hamburg und Stuttgart etablierte sich in Berlin ein “echter” – weil “authentisch orientalischer” – Gangsta-Rap, der bald alle anderen “Kunstformen” an die Wand spielte. Ihm vorausgegangen war eine Medienkampagne, die gegen die drohende “Ghettoisierung” in den o.e. Bezirken der neuen Hauptstadt berichterstattete. In ihren Songs nun präsentieren sich die Berliner Rapper, die inzwischen bei großen US-Musikkonzernen unter Vertrag stehen, als rauhe “Ghetto-Kids”, die die “Realität” kennen – und voll rüberbringen: Knasterfahrung, Gang-Bangs, Arschficken, Schwulen-Bashing, Koks und Kunz..

Unter den Berliner Rappern gibt es allerdings Auseinandersetzungen darüber, wer von ihnen “authentischer” ist, bzw. wer sich bloß “authentisch in Szene setzt”. Selbst der schwäbische Geschäftsführer ihres Kreuzberger Indenpendent-Labels besteht darauf, dass er nach einem Bruch in seinem Leben bzw. mit seinem Elternhaus nunmehr “authentisch lebt”. Dazu gehört auch das Prahlen mit vielen Sexualkontakten und großen Schwänzen, was feministisch gestimmte Musikkritiker regelmäßig als “spätpubertär” abtun – wenn nicht gar in ihren “versautesten” bzw. menschenverachtendsten Song-Varianten verbieten wollen. Andere Kritiker verweisen dagegen auf einen ulkigen Widerspruch: Einerseits singt z.B. der “Hardcore-Rapper” Bushido, der aus Tempelhof stammt und darauf besteht, aus der Unterschicht zu kommen, dass er derjenige sei, “der dich fickt, wenn die Sonne nicht mehr scheint, der pervers ist und Nutten vögelt…Und der euch alle tötet.” Andererseits trit er dann beim Bravo-Open-Air “Schau nicht weg – Gegen Gewalt in der Schule” auf. Seine Fans, die meist aus der “weißen Mittelschicht” stammen, mögen darüber irritiert sein, nicht so MdB Omid Nouripour: Der Sprecher der Grünen Bundesarbeitsgemeinschaft MigrantInnen und Flüchtlinge begrüßte es ausdrücklich, “dass die Zeitschrift ‘Bravo’ auf ihrem Antigewaltkonzert Bushido auftreten läßt, der in seinen Texten Gewalt verherrlicht.” Und das nicht etwa um der Dialektik willen, sondern weil der Sänger nur so “seine Reime vom Anspruch der ‘Realness’ entfremdet.”

Das sich selbst Entfremden als positiven Entwicklungsschritt, weil der aus der “Ghettorealität” rausführt – in sagen wir harmlosere mittelruopäische Mittelschichtvergnügungen rein! Bei Wikipedia gibt es für solch ein Fading-Away der “Realness” den Übergangs-Begriff der “authentischen Inauthentizität”. Demnach stünde der Berliner “Schwarzkopp-Macho-Hiphop” derzeit auf der Kippe: Schmiert sich da ein folgsames Räderwerk ein oder bereitet sich eine Höllenmaschine vor? Der Spiegel recherchierte dazu bereits auf dem “Ghaza-Streifen” – der Neuköllner Sonnenallee im Abschnitt zwischen Hermannplatz und Fuldastraße, die vor allem von Palästinensern bewirtschaftet und belebt wird. Dort wird nun “das Geschäft der Straße mit den Mittel der Straße geführt”. Der Spiegel-Reporter will sogar rausgefunden haben, dass der Gangsta-Rapper Bushido da seine Schutztruppe aus den Kreisen einer “Araber-Familie” rekrutiert, die mit einem anderen “Clan” verfeindet ist, der dem Gangsta-Rapper Massiv die Body-Guards stellt. Seine Plattenfirma Sony BMG ließ verlauten, Massivs Texte seien “authentischer als die von Bushido” . “Bei der letzten ‘Echo’-Verleihung trafen sie aufeinander. Beide eskortiert von ihren Clans,” schreibt der Spiegel.

Gehört auch das noch mit zum Sich Entfremden vom Anspruch der ‘Realness’? Oder passiert da umgekehrt das, was der taz-Kritiker Martin Reichert beobachtete: “Man wanzt sich habituell an die Umgangsformen der niederen Stände heran, um Authentizität vorzutäuschen”. Der Spiegel weiß jedoch: “Die Echo-Verleihung ging ausgesprochen friedlich ab, und doch ist die Veranstaltung in den Akten des LKA verzeichnet, als ein besonderes Vorkommnis.” Nicht nur die Polizei hat die “Schwarzköpfe” auf den “sozialen Brennpunkten”, ob sie nun rappen oder nicht, im Visier, auch die Presse diskutiert das “Phänomen” geradezu herbei: “Ganz verliebt ins Ghetto-Klischee”, nannte taz-Autor Murat Güngör diese geballte mediale, polizeiliche und politische Aufmerksamkeit, die seiner Meinung nach nur bewirke, dass die Armut, die Arbeitslosigkeit und die fehlenden Bildungschancen in den “Einwanderervierteln” ignoriert werden. Dem widerspricht der Spiegelreporter: Für ihn sind z.B. die “Hits” des Gangsta-Rappers Sido “schockierende Bulletins” aus der “Realität im Märkischen Viertel”. Und was ist “authentischer” als ein Bulletin?

Der taz gegenüber erklärte Sido, die Randale, die Spannungen im Kiez, das sei “kein Produkt von Hiphop, sondern Hiphop ist nur das Produkt der Verhältnisse”. Also gibt es im MV Elend und Unruhen? “In seinen Texten beschreibt Sido eine Welt aus Gewalt und Drogen, schnellem Sex und schnelleren Autos,” so faßt taz-Kritiker Thomas Winkler Sidos “Bulletins aus dem Märkischen Viertel” zusammen. Zwar meint er damit nicht, dass es dort wirklich so abgeht, aber er attestiert Sido und den anderen Berlinern, ihre “Kombination aus Straßen-Authentizität, Party-Raps und harten Reimen” komme den “originalen Vorstellungen” des sozialkritischen amerikanischen “Conscious-Rap” noch am nächsten. Die orientalischen Berliner Hiphopper kopieren den US-Rap also am perfektesten.

Ihr Kreuzberger Label “Aggro Berlin” legt demgegenüber jedoch Wert auf die Feststellung, dass ihre “Musik die Realität hier schildere”. Das sieht auch der Spiegel so: “Wer Sidos Songs hört, merkt schnell: Es sind weniger die schmutzigen Wörter, die iritieren, sondern es ist der Blick auf eine brutale Wirklichkeit”. So führt der maskierte Rapper in einem Stück auf dem Album “Maske” seine “Zuhörer wie ein Fremdenführer durch seinen ehemaligen Wohnblock im Märkischen Viertel, dem berüchtigten Trabantenviertel im Norden Berlins: Der Hausmeister im 1. Stock ist ein Ex-Sträfling und bessert sich sein Geld mit Pornofotos auf. Im Stockwerk 12 wird mit Falschgeld hantiert. Auf der 4. Etage lebt ein Drogenwrack. Und ganz oben riecht es streng – denn da hängt ein Toter.” Wers glaubt wird selig. Wir haben es hier eher mit einem gerappten Beitrag zur “Reformbühne ‘Heim & Welt'” in der Touri-Falle “Kaffee Burger” zu tun.

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Esther Röhrborn

Esther Röhrborn wurde 1965 geboren und wuchs in Gropiusstadt auf. Nach dem Abitur studierte sie Jura an der FU, dann Malerei an der HdK, nebenbei arbeitete sie noch im Krankenhaus. 1993 machte sie sich selbstständig, indem sie zusammen mit zwei anderen Frauen ein SM-Studio eröffnete. Ihr gemeinsames “Atelier Rheingold” existierte sieben Jahre.

1997 fing sie an zu boxen, zuerst im Neuköllner Verein “Allegria und Combat”, dann auch noch im Postsportverein, “um an Boxkämpfen teilnehmen zu können”. Zweimal, 1999 und 2000, wurde sie Berliner Meisterin im Leichtgewicht. Von fünf Kämpfen gewann sie vier. Nach ihrem letzten Kampf, den sie gegen die norddeutsche Meisterin verlor, hörte sie 2001 auf: “Man muss sich gut auf den Kampf vorbereiten – und gewinnen wollen; weil ich erst mit 32 angefangen hatte zu boxen, gab es aber keine Karriere mehr für mich.”

Dennoch gab Esther Röhrborn das Kämpfen nicht auf, ebensowenig die Dominanz als Dienstleistung. Zunächst tat sie sich mit ihren drei Künstlerkolleginnen Gudrun Herrbold, Tanja Knauf und Ursula Rogg zusammen, um aus ihren abgeschlossenen “Atelier Rheingold”-Erfahrungen eine Inszenierung und Dokumentation zu machen – unter dem kollektiven Pseudonym “Dorothy Vallens”. “Der Moment, im Ring zu stehen, hat auch etwas mit Kunst und vor allem Theater zu tun”. Ende 2001 war sie als Boxerin in der Rollenden Road-Show der Volksbühne zu sehen, für die ich eine Show über Be- und Erleuchtung organisiert hatte. Ihr Auftritt bestand darin, eine brennende Glühbirne auszuknocken und Boxtricks zu verraten. Später engagierte Christoph Schlingensief sie für seine Volksbühnen-Show “Love Pangs” – als “Wut-Expertin”.

Inzwischen hat sich Esther Röhrborn aufs Ringen verlegt, zuletzt bot sie Ringkämpfe im SM-Bereich an. In der Hamburger Kunstfabrik Kampnagel trat sie mit einer “Ring-Performance” auf. Im vergangenen Jahr zeigte “Dorothy Vallens” eine weitere Photo- und Videoarbeit im Berliner Kunstraum “plattform”, verbunden mit einer Performance: Erstere hieß “Drei Tage Madeleine”, letztere “Zwei Tage Greta sein”. Die Performance wurde gerade im Rahmen des Podiwil-Theaterfestivals “Reich&Berühmt” noch einmal aufgeführt – unter dem Titel “Königreich Die andere Welt”. Dies bezog sich auf das “Other World Kingdom” (OWK): ein kleines Königreich, das 1996 in einem tschechischen Dorf gegründet wurde und aus einem “Unternehmen in Form einer matriarchalischen Monarchie” besteht, mit dem “dominanten Frauen ein Lebensstil geboten wird, der ihren Veranlagungen gerecht wird. Zu den alljährlich veranstalteten Feierlichkeiten kommen internationale Dominas und ihre Kunden, aber auch nichtprofessionelle Frauen und Männer”. Anfang letzten Jahres war Esther Röhrborn bereits auf einer 10-Städte-Tour durch Deutschland, Italien und Spanien aufgetreten. Dabei traf sie sich mit Kunden in Hotels, um Ringkämpfe zu machen. Die Verabredungen dazu hatte sie zuvor übers Internet organisiert. Zwei Monate war sie mit dem Auto und einigen Gummimatten im Kofferraum unterwegs: “Es funktionierte – und es hat sich auch rentiert”, so ihr abschließender Kommentar. Derzeit wertet sie die dabei entstandenen Fotos und Notizen aus. Und am Ende entstand daraus ein neues Kunstprojekt – eine wunderbare Performance im Podiwil, zusammen mit ihrer Freundin.

Esther Röhrborn sagt von sich selbst: “Ich bin ein abenteuerliebender Mensch, auch die Phantasien im SM-Studio finde ich spannend, ebenso die im sportlichen Bereich: Man weiß nicht, was passiert. Und das treibt mich an. Dadurch habe ich viele Erfahrungen gesammelt. Früher habe ich Kunst, sexuelle Machtspiele und Sport eher getrennt gesehen – jetzt verbinden sich langsam diese unterschiedlichen Bereiche miteinander”.

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Ton Ton

Das Neuköllner Café “Ton Ton” in der Boddinstraße 10 Ecke Isarstraße – gehört Ergün Sen aus Izmir. Der Vierzigjährige arbeitete von 1969 bis 1979 bei Daimler-Benz in Marienfelde. Er war politisch aktiv und kritisierte gelegentlich den Betriebsrat: “Die haben vor allem ihren Arbeitsplatz gesichert und es nicht ehrlich gemeint.” Dann wurde er krank und mußte sich operieren lassen: “Gleich anschließend haben sie mich deswegen rausgeschmissen, aber der Hintergrund war politisch – der Betriebsrat wollte mich weghaben.” Als Arbeitsloser und nur noch Gelegenheitsarbeiter hatte er “irgendwann das Gefühl, kaputtzugehen: Ich mußte etwas tun, und da habe ich mir überlegt, ein Café zu eröffnen, obwohl ich keinerlei Gastronomieerfahrung besaß.” Ergün fuhr erst einmal nach Izmir und besorgte sich das dafür notwendige Geld von seiner Familie. Das Café in der Boddinstraße, das er dann am 1. Januar 1985 eröffnete, war zuvor eine traditionelle deutsch-proletarische Eckkneipe gewesen. Als erstes entfernte Ergün die Gardinen an den großen Fenstern, damit man rein- und rausschauen konnte: “Es ging und geht mir um das Miteinanderleben – offen und ehrlich.” Dann stellte er einen Billardtisch auf und kaufte ganz viele Pflanzen. An die Decke hängte er einige Fahrräder: “Eine alternative Kneipe braucht alternative Symbole – ohne Worte!” Der Name “Ton Ton” bedeutet “viele Tonnen – das ist politisch gemeint, kurz gesagt: Mehrere tausend Kilo kann niemand bewegen. Es ist jetzt eine linke Kneipe – keine Drogen, keine Spielautomaten, keine Schlägereien, viele Frauen kommen alleine her und fühlen sich hier wohl. Obwohl ich also völlig ahnungslos angefangen habe, hatte ich Erfolg.” Allerdings ging Ergün dabei die Ehe in die Brüche, sein Sohn wurde jedoch ihm zugesprochen. Wegen seiner Kneipe hat Ergün kein Privatleben mehr, er schläft sogar meistens dort. Und weil es gesamtwirtschaftlich und also auch in seiner kleinen Wirtschaft immer schlechter läuft, muß er alles alleine machen:

“Ich habe im Moment große Sorgen und kaum noch Zeit für die Außenwelt. Obwohl ein sehr aktiver Mensch, habe ich mich trotz meiner politischen Ideologie immer mehr abgekapselt. Und dann muß ich mich auch selber noch zunehmend einschränken: Meine Klamotten kaufe ich nur noch beim Trödler, und essen tu ich nur Kleinigkeiten – Porree mir Reis, Porree mit dies und Porree mit das. Aber ich versuche, das hier weiterzumachen, damit diese Kneipe hier im Kiez was bedeutet. Zwar unterstützen mich Freunde, aber bei einer persönlich aufgebauten Kneipe ist mit einer anderen Person hinter der Theke gleich eine ganz andere Atmosphäre, also darf ich nicht krank werden. Davor habe ich richtig Angst. Meine Rentenversicherung kann ich schon lange nicht mehr zahlen. Die Leute haben ja alle kein Geld mehr und auch keinen Mut. Wie lange kann das noch so weitergehen – bis es zum Knall kommt? 5.000 Mark muß ich für die Kneipe im Monat zahlen, ich habe schon versucht, mit meinem Vermieter zu reden. Und dann habe ich mir überlegt: Was kann ich noch wo einsparen? Ich habe die 75-Watt-Birnen bereits alle auf 15 Watt reduziert. Und die Getränke hole ich selber ab, um die Anlieferkosten zu sparen. Die Espresso-Maschine ist schon über ein Jahr kaputt, ein Ersatzteil fehlt, ich kann sie jedoch nicht reparieren lassen.” Trotz 16stündiger Arbeit kommt Ergün Sen also zunehmend schlechter über die Runden.

In dieser Situation überredete ihn seine Freundin aus Hamburg, zu ihr zu ziehen. Er willigte ein und gab das Lokal auf, seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört oder gesehen.

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Pressemitteilung aus dem Rathaus Neukölln:

Schon 1997 hatte sich das erste Turmfalken-Pärchen im Turm des Neuköllner Rathauses häuslich eingerichtet. Seitdem gab es regelmäßig Nachwuchs In diesem Frühjahr waren es fünf kleine Raubvögel, die nun allmählich unruhig werden und endlich ihre Flugkünste erproben wollen. Neuköllns Baustadträtin Stefanie Vogelsang: “Bei den dringend erforderlichen Reparaturen am Rathausdach im vergangenen Jahr waren wir natürlich so vorsichtig wie möglich. Dennoch hatten wir ein wenig Sorge, dass wir die Falken zu sehr gestört haben. Umso mehr freut es mich, dass sie in diesem Jahr wieder Nachwuchs haben. Tier- und Naturschutz ist gerade im dicht bebauten Neuköllner Norden wichtig – und wie man sieht, sind wir darin gar nicht schlecht. Den kleinen Falken wünsche ich jedenfalls, dass bei ihren ersten Flugversuchen alles gut geht.” Nach der Beringung durch die AG Greifvogelschutz sind die Turmfalken nun jederzeit als Neuköllner identifizierbar.

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Lydie Holinková über das kulturgeschichtliche Phänomen “Böhmisches Dorf”:

Die Entstehungsgeschichte des sgn. Böhmischen Dorfes (Böhmisch Rixdorf) im heutigen Berliner Stadtteil Neukölln reicht bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, als in Berlin und an anderen Orten des damaligen Preußischen Königreichs (z.B. in Herrnhut in der Oberlausitz oder in Potsdam-Babelsberg /Nowawes/) böhmische Emigranten – Protestanten der Brüderunität ansässig wurden, die der Einladung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. gefolgt sind. Vor den damaligen Stadttoren Berlins siedelten die Exulanten, von denen die Mehrheit aus einem Dorf in Nordostböhmen stammte (Böhmisch Rothwasser; Horní und Dolní ermná bei Ústí nad Orlicí), im Jahre 1737 im Dorf Rixdorf.

Die erste Gruppe der etwa 350 aus ihrer Heimat vertriebenen Glaubensflüchtlinge erhielt in Berlin Asyl und die Versicherung, dass sie ihre Religion ausüben dürfen. Sie emfanden sich als Nachkommen der 1457 gegründeten Kirche der Böhmischen Brüder (Jednota bratrská), die von den Ideen des Kirchenreformators Jan Hus hervorgeht und eng mit dem Werk des berühmtesten Bischofs der Kirche Johann Amos Comenius zusammenhängt. Im Jahre 1742 ermöglichte eine Generalkonzession des Sohnes von Friedrich Wilhelm I., Königs Friedrich II., der Brüdergemeinde “sich in den Königlichen Landen zu etablieren, anbei eine vollkommene Gewissensfreihet nebst der Erlaubnis, ihren Gottesdienst öffentlich auszuüben.”1 Vor Berlin entstand damals eine Kolonistensiedlung mit anfangs neun Doppelhäusern. Jede der ersten achtzehn Familien bekam ein ca. 600 Quadratmeter großes Grundstück, hinter den Wohnhäusern standen Ställe und Scheunen, in denen noch Kammern für Wirte eingebaut worden waren. Außerdem erhielt jede Kolonisten-Familie zwei Pferde und zwei Kühe und Wirtschaftsgeräte vom Staat. König Friedrich Wilhelm I. gewährte den Böhmen weitgehende Privilegien: Steuerfreihet, eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit und Befreiung vom Militärdienst.

Ein Teil der eingewanderten Böhmen ließ sich direkt in Berlin nieder, die meisten jedoch in Rixdorf, deswegen predigte der erste Pfarrer der Gemeinde Augustin Schultz in den ersten Jahren nach der Übersiedlung sowohl in der Bethlehemskirche in der Stadtmitte, als auch in der Rixdorfer Dorfkirche und sogar in einer Rixdorfer Scheune. Die Gemeinschaft teilte sich bald in drei religiöse Gemeinschaften: die lutherische, die reformierte Kirche und die eigentliche “Erneuerte Böhmisch-Mährische Brüder-Unität”, die 1727 im oberlausitzer Herrnhut unter der Leitung von Graf von Zinzendorf entstand und später unter dem Namen “Herrnhuter Brüdergemeinde” (im englischen Sprachbereich “Moravian Church”) vor allem wegen ihrer weltweiten Missionsarbeit bekannt wurde. Noch heute haben hier diese drei protestantischen Kirchen ihren Sitz – die Evangelische /Herrnhuter/ Brüdergemeinde, die Evangelisch-böhmisch-lutherische Bethlehemsgemeinde und die Evangelisch-reformierte Bethlehemsgemeinde. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. wuchs die Zuwanderung aus Böhmen und damit auch das Böhmische Dorf – 1751 wurde der “Böhmische Gottesacker”, der Friedhof der drei böhmischen Gemeinden eingeweiht, der bis heute als Begräbnisstätte dient (der älteste Grabstein hier stammt aus dem Jahre 1755 und ist selbstverständlich noch tschechisch beschriftet.2 Zwei Jahre später wurde das Schul- und Anstaltshaus der Brüdergemeinde in der Kirchgasse 5 eingeweiht…

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Die meisten Berliner, die heute von Neukölln sprechen, meinen eigentlich Rixdorf, ohne sich dessen bewusst zu sein. Denn einerseits denken sie meist nur an den Neuköllner Norden, und der steht andererseits auch heute noch für Probleme, die in unserem Bezirk Tradition haben. Vor bald einem Jahrhundert, im Jahre 1912, verschwand aus dem Namen der Stadt bei Berlin auch das Dorf: Rixdorf hieß von nun an Neukölln. Das sollte mehr nach Berlin klingen, das ja bekanndich zur Hälfte auch aus Cölln bestand. Denn ironischerweise war Rixdorf, das mittlerweile wieder nach guter alter vorstädtischer Tradition klingt, einst für viele nur noch das ,Symbol für veruchte Arbeiterslums. Dabei hatte Rixdorf sehr viel zu bieten. Schließlich war es in der wirtschafflichen Blütezeit der Industrialisierung auch ,,das größte Dorf der Monarchie”. Die Geschichte der langen Entwicklung vom Dorf zur Metropole begann im Mittelalter im Jahre 1360 mit einer Gründungsurkunde. Es dauerte nicht lange, da mussten die Johanniter, die am heutigen Richardplatz ,,Richardsdorp” gründeten, an das mächtigere Cölln verkaufen. Erstaunlicherweise wurde der erste Dorfkrug erst 1685 eröffnet – nach dem Bau einer Kirche (1400) und einer Schmiede (1626). 1729 folgte die erste Mühle in der 224 Einwohner zählenden Gemeinde.

Den ersten bedeutenden Einschnitt in ihrer Geschichte verdankten die Rixdorfer dem Soldatenkönig, der 1737 verfolgte Böhmen in Rixdorf ansiedelte. Seit dem war das Dorf in zwei Verwaltungen geteilt, Deutsch- und Böhmisch-Rixdorf. Bauernhäuser im märkischen Stil jeweils aus der Zeit um 1670 und 1830 dokumentieren in der Richardstraße 36 und 37 noch das bäuerliche Leben der Rixdorfer. Ein erhalten gebliebenes Büdnerhaus aus dem Jahr 1750 kann in der Kirchgasse 6 bestaunt werden, wo auch eine Statue den Soldatenkönig ehrt. Die Spuren böhmischen Lebens kennzeichnen bis heute den Richardplatz vom Gottesacker bis zum Comeniusgarten. Die Rixdorfer trotzten aber auch vielen Katastrophen. Was der Dreißigjährige Krieg nicht zerstörte, holte sich der ,,schwarze Tod”. Plünderungen durch die m Österreicher im Jahre 1757 überstanden sie genauso wie die Besetzung durch Napoleons Truppen er 1806 und die Zerstörung durch Brände 1803 sowie 1849. 170 Tote betrauerte man alleine nach einer Choleraepidemie 1866 in dem inzwischen 6.513 Einwohner zählenden Rixdorf. Die Zeit der großen Erfindungen, die einherging mit einer Bevölkerungsexplosion in dem größten Dorf des Kreises Teltow, zu dem Rixdorf gehörte, ließ sich nicht mehr aufhalten. Sei es die erste Omnibuslinie, eine eigene Postexpedition und ein Bahnhof- alles wurde getan, um näher an Berlin zu rücken.
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Neuköllner Gärten

Der Britzer Garten,

benannt nach dem Berliner Ortsteil Britz, wurde für die Bundesgartenschau 1985 angelegt, um der damals vom Umland abgeschnittenen Bevölkerung im Süden West-Berlins einen neuen Landschaftspark zu bieten. Der Britzer Garten wurde auf Ackerflächen und Kleingartenkolonien angelegt; weitestgehend wurden jedoch vorhandene Kleingartenkolonien erhalten. Der Britzer Garten hat 90 Hektar Fläche und bietet Natur und Gartenkunst (Rosengarten, Rhododendronhain), Spiellandschaften und ausgedehnte Liegewiesen, Architektur und Kunst (Karl-Foerster-Pavillon), Seen und Hügel sowie Blumenbeete. Neben dem Restaurant am Kalenderplatz steht außerdem die mit 99 Metern Durchmesser größte Sonnenuhr Europas. Probleme bereitete den Gartenbauarchitekten das Anpflanzen einiger älterer Weidenbäume am Rande eines Feuchtbiotops. Aber sie wuchsen an.

Das Gelände kann mit der Britzer Museumsbahn durchfahren werden. Einige Fahrzeuge wurden historischen Vorbildern nachempfunden. Organisatorisch gehört der Britzer Garten zur landeseigenen Grün Berlin Park und Garten GmbH, zu der auch die Britzer Mühle, der Erholungspark Marzahn (1987 als Berliner Gartenschau eröffnet) und der Natur-Park Schöneberger Südgelände (ehemaliges EXPO-2000-Projekt) gehören.

Der Comeniusgarten

1987 – 750jahrfeier der Stadt – Comeniusgarten eröffnet in Rixdorf. Es ist ein großes ABM-Projekt gewesen. Der Comenius-Garten liegt im Böhmischen Dorf. 1737 nahm König Friedrich Wilhelm I. 350 Glaubensflüchtlinge aus Böhmen in Brandenburg-Preußen auf. Einige von ihnen erhielten Berliner Bürgerrecht, andere Siedlerstellen in Brandenburg. Der König erwarb das Schulzengut Rixdorf und ließ neun Doppelgehöfte bauen, die von Flüchtlingen bewohnt und bewirtschaftet wurden.

Comenius lehrte ein Leben im Einklang mit der Natur als die Grundlage allen menschlichen Lernens. Dies Lernen forderte er für alle Menschen, reiche und arme, Jungen und Mädchen, Männer und Frauen aller Religionen. Wie es gelingen könne, ein neues Paradies zu pflanzen, fragte er sich. Hier gab es Antwort: “Durch Selbstsehen, Selbstsprechen und Selbsthandeln.” Schon 1987 entstand im Böhmischen Dorf die Idee, zum 400. Jahrestag des Gelehrten einen Philiosophie- und Schulgarten anzulegen, der seine Lehre des Lernens umsetzt und die historischen und modernen Stätten in Rixdorf miteinander verbindet. Den Entwurf zum Garten auf der Freifläche an der Richardstraße gestalteten die Garten- und Landschaftsarchitekten Cornelia Müller, Elmar Knippschild und Jan Wehberg. Im Comenius-Garten befinden sich drei der Stationen des Lebensweges, der am Walnussbaum, dem Baum des Lebens, am Karl-Marx-Platz steht. Über den Mutterschulbereich geht es in den Garten hinein. Hier befinden sich der Grundschul-, Lateinschul- und Akademiebereich. Veilchenbeet, Rosenhain, Irrgarten, Seelenparadies und Wiesenbeet, Comenius-Denkmal und Ausstellungsfläche sowie das Auge Gottes versinnbildlichen die drei Stationen im Garten. Außerhalb des Gartens liegen die Schule des Berufs, die Greisenschule und die Schule des Todes. Sie werden durch die Kolonistenhöfe in der Richardstraße, die Seniorentagesstätte und den Böhmischen Gottesacker verwirklicht.

Die UNO ehrt Comenius als geistigen Wegbereiter der demokratischen Zivilgesellschaft. In den Kreisen der Bevölkerung sind der tschechische Weltbürger und sein Werk fast vergessen. Zur Erinnerung an Johann Amos Comenius stiftete die tschechoslowakische Regierung 1992 ein Denkmal für die Gartenanlage in Rixdorf. Der Bildhauer Josef Vajce schuf es, Staatschef Alexander Dubek enthüllte das Werk 1992, als der Garten eröffnet wurde. 8.1.07 | Auf dem Weberplatz in Babelsberg steht ebenfalls ein Denkmal für Comenius. Der mährische Künstler Igor Kitzberger schuf es 1995. König Friedrich II. hatte Familien aus Böhmen in der Nähe von Potsdam angesiedelt. Ihr Dorf hieß Nowawes, wurde später – zusammengelegt mit dem älteren Neuendorf – umbenannt in Babelsberg. Um den Weberplatz stehen noch heute einhundert Weberhäuser aus dem 18. Jahrhundert. Die achteckige Kirche errichtete 1752/53 der Potsdamer Baumeister Jan Boumann.

Der Körnerpark

(Jonasstraße/Schierker Straße/Wittmannsdorfer Straße) stellt für den Bezirk Neukölln sowohl unter gartenkünstlerischen als auch stadtbildprägenden Aspekten eine kulturell und qualitativ herausragende Parkanlage dar. Der ca. 2,4 ha große Park entstand zwischen 1912 und 1916 auf dem Gelände einer ehemaligen Kiesgrube. Der Besitzer, Franz Körner, trat das Gelände 1912 an die Stadt ab. Die Aufteilung des Parks ist streng axial und um 5 bis 7 m tiefer gelegen als die umliegenden Wohnstraßen. Die Nord- und Südseite des Parks wird durch hohe Arkadenwände begrenzt. In der Hauptachse findet sich auf der Westseite eine Orangerie, der sowohl zur höher angrenzenden Straße als auch zur Parkseite eine Terrasse vorgelagert ist. Auf der Ostseite findet dieHauptachse ihren Abschluß in einer Kaskadenanlage mit einem Fontänenbecken. Monumentale Treppenanlagen bilden die Zugänge von den angrenzenden Straßen.

Im Zweiten Weltkrieg wurde der Park nur gering beschädigt und danach wieder instandgesetzt. In den 60er Jahren traten, bedingt durch die Lage in der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof, erste Verfallserscheinungen auf. Nach und nach mußten aus Sicherheitsgründen immer mehr Teile des Parks für die Öffentlichkeit gesperrt werden. 1977 wurden nach jahrelanger Diskussion die erforderlichen Mittel zur Rekonstruktion des Parks bereitgestellt. Die Rekonstruktion der Baulichkeiten (Orangerie, Kaskade, Umfassungsmauern) wurde vom Landeskonservator fachlich begleitet.

Die Hasenheide ist ein ca. 50 Hektar großer Park in Berlin-Neukölln an der Grenze zu Kreuzberg. Der Name des Parks geht auf die Nutzung des Geländes als Hasengehege ab 1678 zurück. Der Große Kurfürst ging hier zur Jagd. Am 19. Juni 1811 eröffnete Friedrich Ludwig Jahn hier den ersten Turnplatz Deutschlands. Noch heute erinnert ein Denkmal am nördlichen Eingang des Parks an den sogenannten “Turnvater” und daran, dass die deutsche Turnbewegung hier ihren Anfang nahm.

Der Park wurde zu den Olympischen Spielen 1936 von den Nationalsozialisten umgebaut. Während des Umbaus wurde die alte Schießbahn, die vorher Teil des Exerzierplatzes Tempelhofer Feld war, in den Park integriert. Heute finden dort die Neuköllner Maientage statt. Die höchste Erhebung ist ein 69 Meter hoher Trümmerberg namens Rixdorfer Höhe, bestehend aus etwa 700.000 m³ Trümmerschutt des Zweiten Weltkrieges. Das Denkmal für die Trümmerfrauen von Katharina Szelinski-Singer aus dem Jahr 1955 erinnert am Eingang Graefestraße an die Aufräumarbeiten, die überwiegend von Frauen geleistet wurden.

Im Park befinden sich ein Freiluftkino, ein Tiergehege, eine Minigolfanlage, ein Rosengarten, mehrere Spielplätze und eine Hundewiese. Im Jahr 2006 wurde gegenüber dem Sommerbad Columbiadamm eine Sportfläche eingeweiht, die einen Parcours mit verschiedenen Hindernissen für Skateboarder, einen Platz für Rollhockey und Übungskörbe für Basketball enthält. Beliebt ist die Hasenheide auch wegen der großen Freiflächen bei Freizeitkickern. Zahlreiche Fußballgruppen haben sich bereits etabliert, zum Beispiel das sogenannte “Little Africa Allstar Team”, eine für jeden offene Gruppe von Jugendlichen aus ganz Berlin, die sich schon seit Jahren regelmäßig zum gemeinsamen Fußballspielen trifft, oder Berlins ältestes Straßen- und Parkkicker-Team, die “Red Zombies Neukölln”, seit vielen Jahren Teilnehmer bei der “antirassistischen Weltmeisterschaft” in Norditalien. Zudem wird der Park in großem Umfang von Joggern genutzt. Die Hasenheide ist außerdem Veranstaltungsort des Volksfests Neuköllner Maientage.

Die Hasenheide

ist laut Wikipedia ein ca. 50 Hektar großer Park in Berlin-Neukölln an der Grenze zu Kreuzberg. Der Name des Parks geht auf die Nutzung des Geländes als Hasengehege ab 1678 zurück. Der Große Kurfürst ging hier zur Jagd. Am 19. Juni 1811 eröffnete Friedrich Ludwig Jahn hier den ersten Turnplatz Deutschlands. Noch heute erinnert ein Denkmal am nördlichen Eingang des Parks an den sogenannten „Turnvater“ und daran, dass die deutsche Turnbewegung hier ihren Anfang nahm.

Der Park wurde zu den Olympischen Spielen 1936 von den Nationalsozialisten umgebaut. Während des Umbaus wurde die alte Schießbahn, die vorher Teil des Exerzierplatzes Tempelhofer Feld war, in den Park integriert. Heute finden dort die Neuköllner Maientage statt.

Die höchste Erhebung ist ein 69 Meter hoher Trümmerberg namens Rixdorfer Höhe, bestehend aus etwa 700.000 m³ Trümmerschutt des Zweiten Weltkrieges. Das Denkmal für die Trümmerfrauen von Katharina Szelinski-Singer aus dem Jahr 1955 erinnert am Eingang Graefestraße an die Aufräumarbeiten, die überwiegend von Frauen geleistet wurden.

Im Park befinden sich ein Freiluftkino, ein Tiergehege, eine Minigolfanlage, ein Rosengarten, mehrere Spielplätze und eine Hundewiese. Im Jahr 2006 wurde gegenüber dem Sommerbad Columbiadamm eine Sportfläche eingeweiht, die einen Parcours mit verschiedenen Hindernissen für Skateboarder, einen Platz für Rollhockey und Übungskörbe für Basketball enthält. Beliebt ist die Hasenheide auch wegen der großen Freiflächen bei Freizeitkickern. Zahlreiche Fußballgruppen haben sich bereits etabliert, zum Beispiel das sogenannte „Little Africa Allstar Team“…

Am 4. November 2007 wurde in einer vierstündigen rituellen Feierlichkeit, durch den Trägerverein Sri Ganesha Hindu Tempel e.V., im Volkspark Hasenheide der Grundstein für den Sri-Ganesha-Hindu-Tempel Berlin gelegt, der als interkulturelle Begegnungsstätte dienen soll. Am Rande des Parks befindet sich bereits die Şehitlik-Moschee.

Der Carl-Weder-Park:

Der Carl-Weder-Park im untersten Neukölln wirkt wie eine ruppige, nicht ganz ernst gemeinte Entschuldigung. Als 1995 mitten durch Neubritz, ein ehemaliges Kleinbürger-Viertel mit niedrigen Wohnhäusern und Hinterhofwerkstätten, die Verlängerung der A100 gebaut wurde, sind fast alle Häuser entlang der Wederstraße abgerissen worden. Der Ort wurde zum Sanierungsgebiet erklärt und den Anwohnern ein Park hingepflanzt als Kompensation: Tut uns leid, dass wir euren Kiez zerstört haben, aber dafür gibt es jetzt ein paar Bäume auf dem Autobahntunnel. Neulich ging ein leerstehendes Haus in der Wederstraße in Flammen auf, und die Anwohner stürmten herbei. “Die dachten, das sei ein Special Effect und gehört zum Programm”, erzählt Seraphina Lenz. Sie ist die künstlerische Leiterin der “Werkstatt für Veränderung” – einem vom Bezirk finanzierten Kulturprojekt. Mit dem brennendem Haus hatte die 45-Jährige zwar nichts zu tun, doch der Verdacht der Anwohner zeigt: Wenn etwas passiert im Park, dann steckt fast immer Seraphina Lenz dahinter. Es hat viel Kritik gegeben an Kunst im öffentlichen Raum, lieblosen Installationen und vor sich hin rostenden Skulpturen. Doch Seraphina Lenz’ Projekt ist anders: Statt bloß ein Kunstwerk abzustellen, entwickelt Lenz temporäre Projekte im Dialog mit den Anwohnern. Das aktuelle Werkstatt-Thema lautet “Filmpark”: Die Grünfläche wird zum Filmstudio und alle, Kinder und Erwachsene, sind aufgerufen, am Dreh mitzuwirken. Sie können mit Hilfe des Werkstatt-Teams eigene Minifilme drehen und selbst vor der Kamera stehen. “Es gibt kein festes Skript”, erzählt die Künstlerin. Den Brand neulich hat sie auch gleich gefilmt: “Vielleicht können wir das noch in den Film einbauen.” Der Alltag ist das Material in der “Werkstatt für Veränderung”.

Ein Gespür für die Poesie des Nebensächlichen entwickelte die Künstlerin schon 1997, als sie von Münster nach Berlin kam. Für den kurzen Weg von ihrer Wohnung zum Atelier brauchte sie oft vier Stunden, und während dieses planlosen Umherwanderns lernte sie: “Mach draußen etwas Komisches und du bekommst ein Gespräch.” Seither beschäftigt sich die studierte Bildhauerin mit Kunstprojekten, die erst im Austausch mit anderen entstehen. Als das Kulturamt Neukölln 2002 den Wettbewerb “zur partizipatorischen Gestaltung des Carl-Weder-Parks” ausschrieb, bewarb sich Lenz mit ihrer “Werkstatt” – und gewann. Seither kommt sie jeden Sommer für drei Wochen mit ihrem Team nach Neubritz. Zum Auftakt im Jahr 2003 hat Seraphina Lenz 100 hellblaue Liegestühle mitgebracht, wie man sie aus jeder schicken Strandbar in Mitte kennt. “Platz nehmen” nannte die Künstlerin das Projekt. Ihr selbstbewusster Ton sprach die Neubritzer an. Sie nahmen sich die Liegestühle und stellten sie dort auf, wo es ihnen passte. Eine Werkstatt-Aktion zum Thema Licht im Jahr 2004 trug das Motto “Über uns die Sterne und unter uns die Autobahn”: Dutzende selbstgebastelte Glühwürmchen und Lampions verwandelten den Park in eine Lichtskulptur und ließen das Dauerrauschen des Verkehrs fast vergessen. Aus der Not eine Tugend macht auch die von Seraphina Lenz in diesem Jahr eingeladene Choreografin Jo Parkers. Sie studiert mit Kindern und Jugendlichen einen Tanz ein: “Skateboards ohne Boards” heißt die kurze Choreografie.

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Neulich erfuhr ich von einer bevorstehenden Razzia in einem Billigpuff in der Hermannstraße,

als ich reinkam, saß etwa 10 Frauen im ersten Raum und im zweiten vor einem Porno-Video rund 10 Männer – ein paar dünne türkische Arbeiter und ebensoviele dicke deutsche von der Müllabfuhr. Alle warteten geduldig. Anscheinend war gerade Pause. Dann kamen aber zwei unruhige junge Männer rein, die sofort die Frauen anpöbelten: “Wann geht es endlich los? Macht hin, wir wollen ficken!” Die Russinnen beruhigten sie: “Gleich, gleich!” Plötzlich stürmten 30 Polizisten den Puff, einige hatten so einen Schwung drauf, daß sie gleich zum Hinterausgang wieder rausstürmten. Fünf Russinnen wurden festgenommen. Von den deutschen Frauen erfuhr ich später, daß sie alle die Abendschule besuchten, um Abitur zu machen. Den zwei jungen Männern dauerte die Razzia zu lange, sie pöbelten die Polizisten an: “Äi du, der so aussieht wie ein Türke, du bist doch hier bestimmt der Einsatzleiter. Wann kriegen wir endlich unsere Ausweise wieder?” Später sah ich die beiden am Einsatzwagen stehen: Es waren Polizisten, und sie waren sehr stolz auf ihr Provokations-Schauspiel, wie ich dann von ihnen selbst erfuhr.

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Neuköllner Weltruhm

Schwimm-Star Britta Steffen ist nach ihrer Rückkehr von den Olympischen Spielen feierlich in Berlin empfangen worden. Rund 300 Fans, mehrere Dutzend Medienvertreter und etwa 20 Kamerateams begrüßten die zweimalige Goldmedaillengewinnerin über 100 und 50 Meter Freistil gestern im Schwimmbad ihres Heimatvereins SG Neukölln. “Es ist einfacher, in Peking zu schwimmen, als hier durchzukommen”, kommentierte die 24-Jährige den großen Andrang. Steffen waren rund zwölf Stunden nach ihrer Ankunft die Anstrengungen der letzten Wochen anzumerken. “Eigentlich bin ich nur wegen der Kinder hier”, sagte die gebürtige Schwedterin, nachdem sie über einen blauen Teppich und durch ein Spalier von Kindern in das Sportbad gelangt war. Sollte der Medienrummel so weitergehen, wolle sie sich ernsthafte Gedanken über die Fortsetzung ihrer Karriere machen, drohte die Olympionikin wohl nicht ganz ernst gemeint. “Wir haben solch einen Ansturm nicht erwartet”, erklärte ihre Managerin Regine Eichhorn. dpa

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Berühmt ist auch das riesige Hotel “Estrel”, Abkürzung für Ekki Streletzki, in der Sonnenallee, das ständig vergrößert wird und fast schon eine Kleinstadt für sich ist. Susanne Gannott schrieb in der taz:

Da taucht am Horizont, hinter dem S-Bahnhof Sonnenallee, ein gläsernes Schlachtschiff auf. Als sei das Hochhaus mit dem spitzen Bug zwischen Schrotthändlern, Döner-Fabriken und Kleinindustrien auf Grund gelaufen. Ein paar Schritte durch die Drehtür – und schon betritt man eine andere Welt, einen anderen Stern: das Estrel Berlin. Die Luft ist angenehm kühl, der Geräuschpegel niedrig, leise klimpert ein Klavier. Weich fällt das Sonnenlicht durch das Glasdach des Innenhofs, der im Presseheft “Piazza” genannt wird. Fünf Restaurants laden die Besucher zum Verweilen ein, von Thai bis gutbürgerlich. Das Hotel bietet außerdem drei Bars, einen Minimarkt, Autoverleih, Fitness-Bereich – aber vor allem: ein riesiges Tagungs- und Kongresszentrum sowie eine eigene Unterhaltungsshow im separaten “Festival Center”. Keine Frage: Im Hotel Estrel kann man problemlos einen ganzen Tag verbringen, ohne vor die Tür zu gehen.

Ein kleines Las Vegas, wenn auch ohne Spielhölle – mitten im Arme-Leute-Kiez. Im Ristorante Portofino, dem an der Piazza gelegenen Italiener, sind die meisten Tische besetzt. Eine Kellnerin flitzt hin und her, Zeit für eine Auskunft hat sie aber doch. Ja, sie liebe ihre Arbeit. “Kellnerin ist mein Ding, und hier ganz besonders.” Es folgt ein überzeugendes Bekenntnis zu den netten Kollegen sowie ein Loblied auf die Klugheit des Hotelgründers und -besitzers Ekkehard Streletzki. Das Estrel ausgerechnet in Neukölln zu bauen, sei einfach “genial” gewesen: “Draußen ist es nicht schön, da bleiben die Leute lieber hier drin.” Sie würde es auch so machen, wenn sie hier Gast wäre. Im Italiener auf der Piazza Was sie zweifelsohne gerne wäre. Denn die junge Frau arbeitet nicht nur gerne im Estrel, sie findet es auch “sehr schön hier”. Ihr begeisterter Blick schweift über die Piazza, wo Lichterketten an sieben Meter hohen Plastik-Ficus-Benjaminis blinken und die Gastronomien im Stile moderner Autobahnraststätten eingerichtet sind: in abenteuerlichen Farb- und Musterkombinationen, von denen Psychologen vermutlich einmal gesagt haben, sie förderten das Wohlbefinden. Ziemlich bunt ist auch der Keramik-Springbrunnen im Zentrum der Piazza. Den ankommenden Hotelgästen gefällt er offensichtlich: Mehrere Reisegruppen fotografieren sich gegenseitig vor dem Kunstwerk. Doch trotz des Rummels fühlt sich die Kellnerin offenbar bemüßigt, etwas zur Auslastung des 1.125-Zimmer-Hauses zu sagen. Es ist nämlich gerade “Sommerloch”, also gibt es keine Kongresse und Firmentreffen, die sonst einen Großteil des Geschäfts ausmachten.

Stattdessen kommen mehr Reisegruppen, und die buchten oft das Komplettprogramm: Halbpension, Show, vielleicht noch die Bootsfahrt vom hoteleigenen Schiffsanleger aus. Dass diese Gruppenreisen vor allem von älteren Menschen gemacht werden, findet die glückliche Kellnerin ebenfalls “schön. Ist doch nett, dass die mal rauskommen.” Genau das Richtige für die älteren Semester ist das Beatles-Musical am Abend im Festival Center. Die Cover-Band sieht den Beatles einigermaßen ähnlich, kann die Songs fehlerlos spielen und rasend schnell die Kostüme wechseln. Schon nach zwei, drei Liedern hat die Band die knapp 800 Zuschauer, darunter auch einige unter 50-Jährige, im Griff: Es wird mitgesungen und im Takt geklatscht, was das Zeug hält. Auch der Damenclub am runden Tisch links vom Mittelgang kommt in Schwung: Dauergewellte Haarsträhnen wippen, pralle Brüste wogen unter engen Spaghettiträger-Hemdchen zu “She loves you”, rot bemalte Lippen formen Liedzeilen. Die sechs Frauen zwischen 50 und 60 sind Teil einer 50-köpfigen Reisegruppe aus Israel und restlos begeistert – von der Musik, von Berlin, von Deutschland überhaupt. Eine Woche haben sie Zeit für ihre Städtetour, erzählt Anna Shayovich. Am besten gefällt ihr natürlich Berlin.

Auch der Showabend im Estrel ist eine “tolle Überraschung” ihres Reiseveranstalters, findet die 53-Jährige. Die Tochter ihres Mannes aus erster Ehe sei nämlich Sängerin und habe gerade in Tel Aviv bei einem Beatles-Musical mitgemacht – unter der Leitung von Beatles-Produzent George Martin. “George Martin!”, wiederholt Anna Shayovich mehrmals, als könne sie es selbst kaum glauben. Beatles-Fieber grassiert Sie wendet sich wieder Richtung Bühne. Und fügt nach einer Pause hinzu: “Wussten Sie, dass die echten Beatles nie in Israel spielen durften? Die Regierung hatte Angst um die Jugend.” Sie schüttelt verständnislos den Kopf. Ihre lackierten Nägel klopfen den Takt zu “Can’t buy me love”. Nach dem Ende der Show gegen 23 Uhr beginnt der gemütliche Teil der Nacht. Am Tresen der Atrium-Bar mitten auf der Piazza sitzt Georg Christian Muhs bei Pils und Birnenschnaps. Der 53-jährige Geschäftsmann ist Stammgast, übernachtet zweimal die Woche im Estrel, weil seine Berliner Niederlassung in der Nähe liegt. “Es ist ein nettes Hotel, vor allem wegen dem netten Bedienungspersonal.” Hier kann er sich wohl fühlen und entspannen nach einem langen Tag harter Arbeit.

Muhs findet aber auch: “Das Estrel ist eine Insel im Problemkiez.” Seine Mitarbeiter fühlten sich unwohl, wenn sie ihn hier besuchen müssten. “Für sie ist Neukölln ein Angstbezirk, und sie sind froh, wenn sie endlich drin sind im Hotel.” Zwischenbilanz vor dem Schlafengehen: In diesem Haus sind offenbar alle froh. Wer ins Estrel kommt, hat keine Probleme oder lässt sie draußen vor der Tür. Die erste Begegnung am nächsten Morgen bestätigt das: Nicht einmal die Putzfrau hat etwas zu meckern, die die 50-Quadratmeter-Suite der Reporterin putzen muss – Wohnzimmer, Schlafzimmer und ein Bad, das größer ist als bei manchen Leuten die Küche. 20 bis 30 Minuten braucht sie zur Reinigung eines Zimmers, erzählt sie. Dafür bekommt sie 2,56 Euro. Je mehr Dreck ein Gast hinterlässt, desto geringer ist also ihr Stundenlohn. “Aber ich mache das jetzt schon drei Jahre und ich bin sehr zufrieden”, sagt die mollige Endzwanzigerin mit Berliner Schnauze. Sehr zufrieden ist auch Mihaela Djuranovic. Die Pressesprecherin des Estrel führt den Besuch zum Abschluss durch die “Präsidentensuite” im 18. Stock, die mit den Antiquitäten des Hotelbesitzers Streletzki eingerichtet ist. Ein echter Staatspräsident hat hier bislang zwar nicht genächtigt, gibt sie zu. Denn leider erfülle das Hotel nicht die Top-Sicherheitsanforderungen für hohe Staatsgäste.

“Aber die Klinsmanns waren hier, mit Kindern, während der Fußball-WM.” Und natürlich viele Firmen-Präsidenten. Saubere Bilanz Dann schwärmt Djuranovic vom wirtschaftlichen Erfolg von Europas größtem “Convention-, Entertainment- und Hotelkomplex”. Der ist so überwältigend, dass das Kongresszentrum, nach nicht einmal zehn Jahren, ausgebaut werden soll. Djuranovic steht an einem der vielen Fenster der 250-Quadratmeter-Suite und zeigt auf ein leeres Grundstück auf der anderen Seite der Sonnenallee. Dort soll die neue Tagungsstätte hin. “Das Gelände hat Streletzki in weiser Voraussicht damals gleich mitgekauft”, erklärt sie. Doch bei allem Erfolg, fährt sie fort, hat er “die Bodenhaftung nie verloren”. Von Zeit zu Zeit besucht er sein Estrel “und spricht dann mit allen, vom Management bis zum Küchenpersonal”. Überhaupt scheint Streletzki ein famoser Kerl zu sein: Vor ein paar Jahren, erzählt Djuranovic, hat er 40 jungen russischen Künstlern ein Stipendium in Berlin spendiert. Jetzt hängen über 2.000 Kunstwerke im ganzen Hotel, in den Zimmern, auf den Gängen.

Und, fährt die Pressesprecherin fort, der Hotelbesitzer bedenkt auch immer wieder soziale Einrichtungen in Neukölln mit großzügigen Spenden. Nicht umsonst habe er 2005 das Verdienstkreuz am Bande verliehen bekommen. Dann ist es Zeit, die Trauminsel zu verlassen. Jenseits der Drehtür brennt die Sonne. Der Kran des Schrottverwerters neben dem Hotel-Biergarten zieht quietschend seine Bahnen. Vom Kanal weht der süßliche Geruch von Fäulnis herüber. Zurück im Leben.

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Neuköllner Kampftage

“Früher sind wir am 1. Mai immer durch Neukölln marschiert – mit der Gewerkschaft. Aber dann kamen die linken Studenten – und wurden immer mehr, und ihre Transparente und Fahnen immer größer. Da hat sich die Gewerkschaft zurückgezogen – in eine Halle. Ich bin dann mit den Chaoten weiter mitmarschiert. Einmal skandierten wir “Was wir wollen – Arbeiterkontrollen!” In Höhe Woolworth stand da son ein Haufen Arbeiter, einer schrie zurück “Wat, jetzt wolln se uns ooch noch kontrollieren!” Joseph Beuys hat hinterher die Karl-Marx-Strasse gefegt – als eine Kunstaktion, der von ihm zusammengefegte Müll kam in einen großen durchsichtigen Plastiksack. Und der ist dann als Kunstwerk von Beuys durch die ganze Welt gereist – auf alle möglichen Ausstellungen.

Ganz früher hat Modrow hier in Neukölln kandidiert – für die SED, die war damals noch in ganz Berlin vertreten, später hieß ihr Westberliner Ableger SEW. Die haben oft Exkursionen in die DDR organisiert für Schüler und Lehrlinge in Neukölln.”

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“Schul-Sheriffs in Neukölln” (BZ)

Der bundesweit einmalige private Wachschutz vor Neuköllner Schulen wird zu Beginn des neuen Schuljahres erweitert. Vom 1. September an werden in dem sozialen Brennpunktgebiet 16 statt bisher 13 Schulen beschützt. Das sagte am Donnerstag der Leiter des Schulamts, Jürgen Behrendt. Das Bielefelder Unternehmen Germania hat wie bisher den Zuschlag in der europaweiten Ausschreibung erhalten. Der politisch heftig umstrittene Wachschutz war im Dezember 2007 nach 53 schwerwiegenden Gewaltvorfällen an Neuköllner Schulen gestartet worden. Seitdem gab es laut Bezirk “nur noch 3 oder 4 Vorfälle”. Nur noch zweimal hätten die Sicherheitsleute die Polizei zu Hilfe rufen müssen. “Ansonsten ist es überwiegend nur um Kleinigkeiten gegangen, die gut geregelt werden konnten”, sagte Behrendt in seiner Bilanz. Enttäuscht äußerte sich Behrendt über die anhaltende Verweigerung des Senats, sich an den Kosten zu beteiligten. Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) hatte in einer Aufsehen erregenden Pressekonferenz im Juni 2007 den Senat zu einer Beteiligung an den zunächst entstandenen 200.000 Euro Kosten aufgefordert. “Wir haben nicht ein einziges Wort als Antwort zu hören bekommen”, so Behrendt.

Für das gesamte Schuljahr 2008/09, in dem der Wachschutz mit je zwei Sicherheitsleuten vor jeder der beteiligten Schulen aufrechterhalten werden soll, muss mit deutlich höheren Kosten im Bezirksetat gerechnet werden. Die Kalkulationen reichen bis etwa 500.000 Euro. Die genauen Kosten stehen allerdings erst später fest, da die Wachstunden Monat für Monat einzeln abgerechnet werden. Das Bezirksamt hatte im Sommer 2007 auf Initiative von Buschkowsky und seines zuständigen Bildungsstadtrats Wolfgang Schimmang (SPD) die Notbremse gezogen. Kurz zuvor war an der Röntgen-Oberschule ein Lehrer auf dem Schulhof von einem Fremden niedergeschlagen worden. “Wir können den Eltern die Sicherheit ihrer Schüler nicht mehr garantieren, wenn wir nicht handeln”, sagte Buschkowsky zu der drastisch Zunahme von Gewalttaten. Der Wachschutz kontrolliert vor allem den direkten Zugang zu Schulhöfen und Schulgebäuden. Der Senat hatte sich zu dem Projekt distanziert verhalten. Innensenator Ehrhart Körting (SPD) äußerte sich als strikter Gegner. Auch Schulsenator Jürgen Zöllner (SPD) blieb zurückhaltend, verwies aber darauf, dass die Maßnahme in Einzelfällen durchaus helfen könne. (dpa)

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“Die Rütli-Schule” (taz)

Als die Lehrer der Rütlischule vor zwei Jahren die weiße Fahne hissten und angesichts gewalttätiger Jugendlicher in einem Brandbrief das Aus für die eigene Anstalt forderten, war das für Wolfgang Schimmang kein “besonders beglückender Augenblick”. Plötzlich interessierte sich “ganz Deutschland für uns”, sagt der Schulstadtrat aus Berlin-Neukölln, “sogar ein Fernsehteam aus Schweden wollte wissen, wieso diese Rütlischule geschlossen werden will”. Heute weiß Schimmang, dass der Brandbrief der Rütli-Lehrer “in der Summe ein Signal dafür war, dass die Politik so nicht mehr weiterkommt mit den sozialen Brennpunkten”. Denn die todgeweihte Gettoschule, das Aschenputtel aus Neukölln, hat einen Prinzen geheiratet und verwandelt sich so gleichsam über Nacht in ein bundesweit strahlendes Modellprojekt, den “Rütli-Campus2”. Es soll das ganze Wohnquartier rund um um die Schule aus dem Schlamm ziehen.

Als am gestrigen Mittwoch wieder Fahnen gehisst wurden, da taten es nicht verzweifelte Lehrer, sondern Christina Rau. Die frühere Präsidentengattin steht als Schirmherrin für den totalen Imagewandel der Rütlischule. Niemand spricht hier mehr von Getto oder Chancenlosigkeit, sondern alle nur noch von Vision und Chancengleichheit. Denn die gesamte Rütlistraße, in der die berühmt gewordene Hauptschule liegt, soll gesperrt werden. Alle Schulen, Kitas und Jugendclubs rundherum fusionieren zu einem “Quadratkilometer Bildung”. “Wir wollen auf dem Rütli-Campus zeigen, dass uns jedes Kind wichtig ist – von Anfang an”, sagte Christina Rau. Konkret heißt das: Alle Schranken zwischen den Bildungseinrichtungen werden fallen. Die Kitas sollen eng mit der Franz-Schubert-Grundschule zusammenarbeiten, die von nebenan auf den Campus ziehen wird. Und die Rütlischule wird etwas anbieten können, was bislang unvorstellbar war für ihre Schüler: das Abitur. Aus der jetzigen Hauptschule wird eine Gemeinschaftsschule, die nebenan liegende Realschule wird geschluckt. Die beiden etatstärksten Berliner SenatorInnen für Stadtentwicklung sowie für Bildung und Wissenschaft kamen, um dem Projekt ihren Segen zu geben. Und der bärbeißige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), bundesweit berühmt für Law-and-Order-Sprüche, flötete: “Auf dem Rütli-Campus herrscht ein anderer Geist, hier wird kein Wachschutz mehr gebraucht.” Sagt er, der in Neukölln nicht nur die real existierende Rütlischule von muskelbepackten Privatbullen bewachen lässt. Dennoch kamen die Organisatoren mit den rosaroten Visionen kurzzeitig ins Schleudern, als berlinüblich gnadenlose Kiezbewohner wissen wollten, “wie viel Sozialarbeiter hier arbeiten werden und wie viele junge Lehrer Sie einstellen”. Die Frage ist eher, wie viele Kiezgettos man mit einen derartigen Aufwand veredeln könnte, der jetzt für das Kollaps-Symbol Rütlischule betrieben wird.

Auf dem Rütli-Campus werden Millionen investiert, bis 2012 rund 5,5 Mio Euro, von Staat und privaten Stiftungen. Die Heinz-und-Heide-Dürr-Stiftung wird “early excellence”-Kindergärten einrichten, die Freudenberg-Stiftung pumpt 1,5 Millionen Euro in das Projekt. Verdiente Rütli-SchülerInnen bekommen USA-Stipendien, die Bahn will Rütlischülern Lehrstellen geben und der Rotary Club schießt jedes Jahr 3.000 Euro in die Franz-Schubert-Grundschule. Eine Idee, die unter Stadtraumexperten lange bekannt ist, soll Wahrheit werden. Schule nicht mehr als lästiges Anhängsel eines heruntergekommenen Straßenzugs. Sondern als “gesellschaftliches Zentrum”, so Bürgermeister Buschkowsky.

Noch mal taz:

2007 wurden in dem Bezirk die meisten rechten Straftaten gezählt – ein Zeichen dafür, dass sich die Szene entwickelt. In einem sind sich beide Stellen aber einig: Neukölln ist einer der Bezirke, in denen das rechte Spektrum sich am dynamischsten entwickelt.

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“Im Bürgeramt Neukölln kracht’s” (dpa):

Zwei Wochen nach Beginn des unbefristeten Streiks in den Bürgerämtern eskaliert die Lage in Neukölln. Die Stadträtin für Bürgerdienste, Stefanie Vogelsang (CDU), sprach gestern von unhaltbaren Zuständen im Rathaus. “Da ist die Hölle los, die Bürger prügeln sich untereinander um die Wartenummern.” Gestern seien erneut mehr als doppelt so viele Bürger wie üblich in den einzigen Standort geströmt, der noch alle Dienste anbiete. Nachdem ein Sachbearbeiter von einem Bürger auf die Toilette verfolgt und niedergeschlagen wurde, engagierte der Bezirk sogar einen Wachschutz für das Bürgerbüro. “Die sorgen dafür, dass sich die Leute ordentlich anstellen”, sagte die stellvertretende Bezirksbürgermeisterin. “Die acht Mitarbeiter sind völlig erledigt.”

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Neukölln wird europäisch (von Ulrike Heitmüller):

Als einzige deutsche Kommune wird der berühmt-berüchtigte Bezirk für das Programm “Interkulturelle Städte” von Europarat und EU-Kommission ausgewählt. Die Projektteilnehmer sollen voneinander lernen, ihre kulturelle Vielfalt positiv zu nutzen.

as Naturkostgeschäft in der Neuköllner Herrfurthstraße hat einen ungewöhnlichen Namen: “TuNatur” heißt es, “das ist eine Kombination aus meinem Nachnamen und dem Wort Natur”, erklärt der Inhaber. Er heißt Cengiz Tuna, ist Türke und Moslem, und hat seine 40 Lebensjahre in Deutschland verbracht. Er spricht die Sprache besser als mancher Deutscher, und auch mit seinem Bioladen passt er nicht so recht ins Klischee. Typisch Neukölln – was heißt das eigentlich? Fest steht: Neben den Berichten über Armut und Gewalt, die den Kiez bundesweit immer wieder in die Schlagzeilen bringen, gibt es eine ethnisch-kulturelle Vielfalt, die von vielen Bewohnern durchaus geschätzt wird. Und das Zusammenleben wird mit einer ganzen Reihe von Projekten unterstützt. Es gibt zum Beispiel den interkulturellen Treff “Madonna” im Rollbergviertel, wo Mädchen in Ruhe reden oder auch Theater spielen können.

Viele Programme richten sich an Erwachsene, wie etwa die “Stadtteilmütter”: Migrantinnen werden dafür ausgebildet, andere Migrantinnen zu beraten. Dieses Engagement soll systematisiert werden: Als einzige deutsche Kommune wurde Neukölln für die Pilotphase des Programmes “Interkulturelle Städte” des Europarates und der EU-Kommission nominiert. Der Berliner Bezirk sowie voraussichtlich elf weitere europäische Kommunen – alle mit einem hohen Migrantenanteil – sollen in den kommenden Jahren mit Hilfe dieses Programms ein Städtenetzwerk bilden und gemeinsam herausfinden, wie sie ihre kulturelle Vielfalt so managen können, dass aus ihr ein Pluspunkt wird. Denn in all diesen Städten gibt es zwar viele Projekte, aber eben auch viele Probleme. Die Entscheidung für Neukölln fiel vor einigen Wochen nach dem Besuch einer Delegation aus Straßburg. Dorothea Kolland, Leiterin des Neuköllner Amtes für Kultur und Bibliotheken, hat das Team des Europarates zusammen mit dem Integrationsbeauftragten Arnold Mengelkoch und der Neuköllner Europabeauftragten Franziska Süllke betreut. Der Bezirk habe für die Straßburger Experten einiges zu bieten, sagt Kolland: Das Projekt habe nämlich nicht zum Ziel, dass Deutsche etwas für Ausländer täten, sondern dass Deutsche und Migranten gemeinsam Initiativen ergriffen. “Und gerade damit steht Neukölln gar nicht schlecht da.”

Das Programm von Europarat und Europäischer Kommission beinhaltet keine festen Vorgaben, viel Geld gibt es aber auch nicht: 800.000 Euro seien insgesamt vorgesehen, erklärt Süllke. Und was bedeutet das Programm genau? “Das ist alles noch sehr unbestimmt”, sagt die Europabeauftragte. Eines aber steht schon mal fest, das nächste Treffen: Im Mai findet in Liverpool die Konferenz “Intercultural Cities” statt, wo sich die ausgewählten europäischen Kommunen kennenlernen und untereinander Kontakte knüpfen sollen. Irgendwann in der Zukunft mag das Programm also womöglich dabei helfen, das Zusammenleben der Nationen zu verbesseren. Die Neuköllner Situation, wie sie derzeit ist, sieht Cengiz Tuna allerdings skeptisch: “Das Zusammenleben klappt nicht”, findet er. “Oder nur zum Teil. Was fehlt, ist Anerkennung.” Damit meint er vor allem die Anerkennung und Tolerierung der Unterschiede durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft. So führt er seit zehn Jahren sein Naturkostgeschäft, seit einem Jahr trägt seine Frau Kopftuch: “Seitdem sind unsere Umsätze um ein Drittel zurückgegangen.”

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“Deutsch-arabisches Zentrum für Bildung und Integration” (Pressebericht):

Betreuung von straffälligen Jugendlichen und ihren Familien, Förder- und Freizeitangebote für SchülerInnen, Beratung und Kurse für Eltern, berufliche Qualifizierungsangebote – es ist nicht wenig, was sich das geplante
Zentrum in Neukölln zutraut. Im Blick sind dabei vor allem Flüchtlingsfamilien, die unter besonders großen Belastungen stehen. Die Arbeit des Zentrums soll, auf mehrere Standorte verteilt, zunächst vor allem in Neukölln geleistet und später eventuell auf die Bezirke Mitte und Reinickendorf ausgeweitet werden. Das seien die “zentralen Wohngebiete” der arabischstämmigen Community in Berlin, erklärt Michael Piekara, Referent für Jugendhilfe beim Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk (EJF) Lazarus, der den Anstoß zur Zentrumsgründung gegeben hat. Der erfahrene evangelische Träger von Betreuungseinrichtungen und Sozialdiensten ist neben Berlin in fünf anderen Bundesländern tätig. Im brandenburgischen Frostenwalde betreibt Lazarus eine Jugendhilfeeinrichtung, die straffällig gewordenen Jugendlichen eine sozialpädagogisch betreute Alternative zur Aufbewahrung in der Untersuchungshaft bietet. Dass dort immer mehr Jugendliche arabischer Herkunft aus Neukölln landen, hat mit zur Idee für das Zentrum geführt.

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“Wildlife in Neukölln” (taz-lokal):

In Neukölln geht’s allemal tierisch zu. Neulich durften sich die dort ansässigen Exemplare der Spezies Mensch mal ganz wie im Zoo fühlen, als der große Wildnisbeobachter Franz Josef Wagner mit Justizministerin Brigitte Zypries auf Safari ging und sich für die Bild in “die gefährlichste U-Bahnlinie Deutschlands” wagte. Die U 8 also, wo im Moment ja auch nichts geht. Morgen am Sonntag aber wohl wieder doch, und dann kann man fürs richtige Wildlife raus bei der Schönleinstraße und dann in der Pflügerstraße rein in den gerade eröffneten Tannenbaum, wo einem mit Wolfgang Müller ein Experte für speziesübergreifende Absonderlichkeiten einmal den Vogel zeigt und sein Video “Hvad kostar fuglin?” (Was kostet die Meise?) präsentiert. Versprochen ist hier ein cosy Nachmittag mit food, mood und Musik. Für freundliche zwei Euro. Weitere Tierbeobachtungen dann noch tiefer im Neuköllner Dschungel, in der Thomasstraße im Kunstraum t27, wo man sich in tierischer Nächstenliebe übt und den Kollegen aus der Fauna einen Kunstfilmabend eingerichtet hat. Kröten gibt es da zu sehen, Katzen und auch die Kuh, die lacht. Und der Mensch darf sich im Gucken darüber freuen, dass er halt auch ein Kunsttier ist.

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Die letzte Pizzeria am Kottbusser Damm

Die kleine Pizzeria Da Flore am Kottbusser Damm 88 hat eine der besten italienischen Küchen in Berlin. Salvatore Flore stammt von Sardinien. In Algero, wo er herkommt, wird noch immer katalanisch gesprochen, so dass er vermutet, dass sein Name spanischen Ursprungs ist. Er ging 1959 als 17-Jähriger nach Deutschland. Zunächst bekam er einen Job als Bauhilfsarbeiter in Esslingen, dann war er Arbeiter in einer Metallfabrik in Bad Canstatt und schließlich bei Mercedes in Untertürkheim. “Ich musste Kurbelwellen bohren.” 1961 entdeckte er im Arbeitsamt ein Plakat: “Deine Zukunft in Berlin”. Zusammen mit vier Kumpeln stattete er zu Ostern der Frontstadt einen Besuch ab. In der Zehlendorfer Perlonfabrik “Spinne” freute man sich über ihren Besuch – die deutschen Arbeiter verließen scharenweise die Stadt: “Haben Sie auch keine Angst vor den Russen?”, fragte der Personalchef Salvatore Flore, der als Einziger in der Gruppe Deutsch sprach. Er glaubte zwar auch an den Einmarsch der Russen, hatte jedoch keine Angst davor: “Der Propaganda traute ich nicht, zu Hause war ich Mitglied der KP.” Wieder zurück bei Mercedes, bot man ihnen 20 Pfennig mehr pro Stunde, wenn sie nicht nach Berlin gingen. Einem wurden sogar 60 Pfennig geboten – der blieb dann auch bei Mercedes. Die anderen vier gingen nach Berlin. Bei der zum Hoechst-Konzern gehörenden Spinne in Zehlendorf kamen sie in einer neuen Abteilung unter, wo Trevira – für Auslegeware und anderes – hergestellt wurde. Erst einmal stellte man ihnen aber einen Dolmetscher zur Verfügung, der ihnen Berlin zeigte. Salvatore Flore blieb 15 Jahre dem Betrieb treu. Ein Freund von ihm besaß am Kudamm das italienische Restaurant “Villa Borghese”, später ein zweites in der Bismarckstraße. Dort arbeitete er nach Feierabend noch mit.

“Ich war mit einer Deutschen verheiratet. Wir hatten zwei Kinder. Es gab damals nur ein paar italienische Restaurants in der Stadt. Die Banken gaben keine Kredite an Gastarbeiter. Da sind dann italienische Firmen eingesprungen. Und schließlich haben sich auch die Banken geändert. Denn der Markt ist schier explodiert. In den Restaurantküchen wurden bald die ersten Araber und Albaner schwarzbeschäftigt, die haben da gelernt – und sich dann mit eigenen Pizzerien selbstständig gemacht. Ich habe aber meine Küchenhilfen immer zum Einkaufen weggeschickt, wenn ich Soßen gemacht habe oder den Pizzateig. Das ist ein Geheimnis, das ich nicht jedem verrate.” 1977 verlagerte Hoechst seine Trevira-Produktion nach Chile, dort bekamen die Arbeiter während der Pinochet-Diktatur 30 Pfennig pro Stunde. Salvatore Flores Abteilung wurde aufgelöst, er bekam eine Abfindung. Zwar wollte ihn dann die Spinne runtergestuft in einer anderen Abteilung weiterbeschäftigen, aber er kaufte sich 1978 die Pizzeria am Kottbusser Damm.

“Wenn ich Probleme hatte, half mir mein Freund, sogar mit Leuten aus seinem Restaurant in der Bismarckstraße. Renoviert habe ich größtenteils selbst. Das Geschäft lief gut. Ich kaufte mir in meinem Dorf Orosei ein Grundstück – und wollte bauen. Das habe ich dann aber sein lassen. Als die Kinder groß genug waren, haben sie im Geschäft mitgeholfen.” Der Sohn machte eine Lehre, die Tochter studierte Medizin. “Ich war sehr stolz auf sie, aber dann hat sie das Studium abgebrochen.” Salvatore Flore besaß damals eine Vespa 130 GS. Mit der fuhr er oft nach Ostberlin ins Tanzlokal “Melody”, wofür er vorher am Bahnhof Zoo Ostmark eintauschte, die er im Scheinwerfer der Vespa versteckte – “manchmal bis zu 6.000 Mark”. Die Italiener durften 48 Stunden in Ostberlin bleiben. Mit einem geliehenen chilenischen Pass besuchte er das Studentenwohnheim in Biesdorf, wo er eine Freundin hatte. Als diese schwanger war, bekam er eine Vorladung vom Jugendamt Spandau: “Trotz Kalten Kriegs arbeiteten die Jugendämter in Ost und West zusammen, ich musste Alimente zahlen.”

1980 zog er nach Kreuzberg in die Ritterstraße. Langsam lief sein Geschäft immer schlechter, der Kottbusser Damm veränderte sich und geriet mehr und mehr in türkische Hand. Salvatore Flore hat inzwischen das Vertrauen verloren, dass es mal wieder besser werden könnte. “Aber insgesamt hatte ich eine schöne Zeit, mein Geschäft war die einzige Pizzeria dort. Meine Frau hat das Lokal gemacht und ich die Küche. Heute spiele ich im Lotto. Meine Frau und ich sind geschieden. Als reguläre Bedienung arbeitet jetzt Margerita bei mir, eine Tschechin. Wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich billiger einkaufen, statt telefonisch oder elektronisch alles zu bestellen. Das Internet gefällt mir überhaupt nicht. Was für eine Ware bekomme ich da? Das ist alles Scheiße – zu unpersönlich.”

Kurz nach diesem Interview gab Salvatore Flore seine Pizzeria auf, sie hatte zuletzt nur noch drei Stammgäste, und ging in Rente.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/09/04/le_grand_magasinneukoelln_22/

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kommentare

  • MITDENKEN:

    “Auch Neukölln kann sich stabilisieren”

    Die Soziologin Bettina Reimann meint, dass zur Bewertung der Zukunft eines Quartiers auch die lokale und ethnische Ökonomie gehört. Dem Reuterviertel gibt sie gute Chancen. Eine Verdrängung durch Aufwertung befürchtet sie nicht taz: Frau Reimann, die jüngste Studie zur sozialen Stadtentwicklung hat zum Ergebnis, dass die Schere zwischen armen und reichen Quartieren auseinandergeht. Sind Sie überrascht? Bettina Reimann: Nein. Soziale Ungleichheiten bilden sich räumlich ab. Auch sehr kleinräumig, so dass sie in Stadtquartieren ablesbar sind. Die Rahmenbedingungen, die zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten beitragen, wie zum Beispiel die Situation auf dem Arbeitsmarkt, haben sich ja grundsätzlich nicht verbessert. Laut der Untersuchung sind auch neue Brennpunkte in Spandau und Reinickendorf dazugekommen. Das gute an kleinräumigen Untersuchungen ist, dass man sehr früh auf Entwicklungen aufmerksam wird. Es sind ja nicht immer die bekannten Gebiete wie Neukölln, in denen soziale Probleme auftauchen. In vielen Problemgebieten gibt es seit langem Quartiersmanager. Alleine in Neukölln sind es neun. Warum ist da kein Erfolg zu beobachten? Das Problem ist die Erwartungshaltung an das Quartiersmanagement. Die ist oft zu hoch. Das Quartiersmanagement ist ein Ansatz, der dafür sensibilisiert, dass Probleme in einem sozialen, städtebaulichen und ökonomischen Zusammenhang stehen, und dafür wirbt, dass Maßnahmen auf lokaler Ebene entwickelt und umgesetzt werden, die die Folgen dieser Probleme abmildern. Die Probleme selbst, beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt, können damit nicht gelöst werden. Gerade im Neuköllner Reuterkiez gab es über das Quartiersmanagement hinaus zahlreiche Maßnahmen, unter anderem die Nutzung leerstehender Läden für Künstler. Zudem sind auch zahlreiche Studierenden zugezogen. Dennoch gehört das Gebiet weiter zur letzten Kategorie. Müsste man nicht auch andere Indikatoren heranziehen, um solche positiven Entwicklungen messen zu können? Das ist richtig. Es müsste möglich sein, Indikatoren im Hinblick auf die lokale oder ethnische Ökonomie heranzuziehen, beispielsweise die Zahl der Existenzgründungen oder die Selbständigenquote bestimmter Bevölkerungsgruppen. Beides entwickelt sich in Neukölln sehr dynamisch. Auch die Nischen, die ein Stadtteil bietet, sind wichtig. In anderen Quartieren wie dem Kreuzberger Wrangelkiez hat sich die Situation stabilisiert. Was läuft da besser? Das Viertel ist in. Man trifft sich beim “Freischwimmer”, geht im Winter auf einem Boot an der Spree saunen, guckt über die Brücke am Schlesischen Tor und sieht MTV. Das sind neue Märkte, die funktionieren. Kann das auch ein Vorbild für den Reuterkiez sein? Das ist durchaus möglich, wenn sich die Funktionsmischung im Quartier verbessert. Wenn ich das richtig sehe, ist die Mischung aus Wohnen, Kleingewerbe und Kultur in Kreuzberg immer noch besser ausgeprägt als in Neukölln. Aber: Seit einiger Zeit gibt es in Neukölln das Label sowie die Adresse “Kreuzkölln”, und ich bin sicher: Das wird nachgefragt. Wo endet die Stabilisierung und wo beginnt die Aufwertung, die Gentrification? Die Angst davor ist im Reuterviertel ja durchaus vorhanden. Es gibt durchaus eine Aufwertung, die stabilisierend wirken kann. Dazu gehören auch die Studenten und Gewerbetreibenden, die ins Reuterviertel gezogen sind, weil dort die Mieten niedrig sind. Die Gentrification beginnt dann, wenn die soziale Verdrängung einsetzt; wenn Menschen wegziehen, weil sie sich Wohnen und Gewerbe im Kiez nicht mehr leisten können. Eine solche Entwicklung sehe ich in Neukölln derzeit aber nicht. Könnte die Schließung des Flughafens Tempelhof und eine Wohnbebauung an der Grenze zu Neukölln eine solche Entwicklung einleiten? Das glaube ich nicht. Es würde eher zur Stabilisierung auch im Süden von Neukölln beitragen. (Interview Uwe Rada)

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    MITSCHLAGEN

    Bei einer Massenschlägerei mit rund 120 Beteiligten sind am Freitag sechs Menschen verletzt worden. Die Schlägerei habe sich am Mittag im Tempelhofer Weg, an der Bezirksgrenze von Neukölln und Tempelhof, ereignet. Die Beteiligten stammten aus dem arabischen Raum, sagte ein Polizeisprecher. Nach Angaben der Feuerwehr soll es sich möglicherweise um einen Streit unter libanesischen Familien gehandelt haben. Es seien zahlreiche Steine auf und von dem Gelände eines Autohändlers geflogen. Ob, wie zunächst berichtet, Schusswaffen und Messer eingesetzt wurden, konnte der Polizeisprecher nicht bestätigen. Zahlreiche Teilnehmer der Schlägerei wurden festgenommen. dpa

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    MITGESTALTEN

    “Sonderangebote statt Almosen”

    Heute eröffnet der erste CARIsatt-Laden in Neukölln: Menschen mit wenig Geld können zu Niedrigpreisen einkaufen, wenn sie einen Sozialausweis vorlegen. In Güstrow gibt es das seit langem. Doch dem Projekt dort droht das Aus Bei den CARIsatt-Mitarbeitern herrscht Freude: Gerade sind Dutzende Paletten mit Schokoladenweihnachtsmännern angekommen. Zwar würde die Saison eher Osterhasen vorschreiben, aber im Laden in der Aronstraße gelten andere Regeln. “Wir nehmen hier, was wir bekommen”, sagt Bleyleven-Homann, die Projektinitiatorin. Das bedeute eben auch, dass man nie so genau weiß, was geliefert wird. Heute eine Kiste mit Obst, morgen dreißig Pakete Waschpulver. Der Kunde passt sich dem Warenangebot an, nicht umgekehrt – Regel Nummer eins. Regel Nummer zwei: Hier kann jeder einkaufen, der Anspruch auf Sozialhilfe hat oder Hartz-IV-Empfänger ist. Ein Ausweis, den das Sozialamt oder eine Beratungsstelle ausstellt, genügt. Nur ohne Einkaufsberechtigungsschein keine Ware. In den Räumen des Diakonischen Werks erinnert nur das Kreuz an der Wand an eine kirchliche Einrichtung, sonst sieht es aus wie in einem Tante-Emma-Laden: In den Regalen stehen angebeulte Tomatendosen, falsch etikettierte Müslis, leicht lädierte Bücher und Schreibwaren. Was sonst auf die Müllkippe wandern würde, wird hier an Bedürftige bis um die Hälfte billiger weiterverkauft. Ein halbes Kilo Nudeln kostet 50 Cent. Die Waren stammen aus Überproduktionen, Ankäufen zu Tiefstpreisen und Spenden. Fruchthof zum Beispiel spendet Obst und Gemüse. Einige Bäcker in der Nähe bringen Brot oder Kuchen vorbei. “Mit einem überregionalen Lebensmittelkonzern sind wir gerade am Verhandeln”, sagt Maria Streichert, die bei dem Projekt für die betriebswirtschaftlichen Fragen zuständig ist. Zwar habe man in der Übungsphase der letzten drei Monate die meisten Waren ankaufen müssen, aber in Zukunft soll sich das Projekt nur durch Spenden tragen. Jeder Fünfte arbeitslos Der CARIsatt-Laden Neukölln liegt in der “weißen Siedlung” , benannt nach den weißen Sozialbauten der 70er-Jahre. In den letzten Jahren haben viele Bewohner den Kiez verlassen. Gekommen sind Familien mit geringem Einkommen, Rentner und Menschen ausländischer Herkunft. Jeder Fünfte hier ist arbeitslos. Das Modellprojekt ist mehr als ein Discounter für die Ärmsten, es soll auch eine soziale Anlaufstelle im Kiez um die Sonnenallee werden. An der Ladentheke gibt es nicht nur Wechselgeld, sondern auch mal einen Tipp zu den Angeboten von Beratungsstellen in der Nähe. Neben ehrenamtlichen Helfern arbeiten auch ABM-Kräfte deutscher und nichtdeutscher Herkunft. Streichert hofft, dass sie betriebswirtschaftliche Handlungsabläufe kennenlernen und dadurch wieder den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Das Grundkonzept der CARIsatt-Läden wurde im schweizerischen Basel geboren und ist ganz einfach: Bedürftige Menschen wollen sich nicht als Almosenempfänger fühlen, sondern gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnehmen. Dazu gehört auch, mit dem wenigen Geld selber zu haushalten und sich nicht passiv bedienen zu lassen. 1996 wurde in Deutschland der erste CARIsatt-Laden im mecklenburgischen Güstrow eröffnet. Anfangs gab es noch Spenden, dann verbilligte Angebote. Obst und Gemüse liefert Lidl jeden Freitag für 50 Cent das Kilo. Dosenware, Kaffee und Toilettenpapier sind teurer. Ein paar Cent schlägt Projektleiterin Ursula van Elsleben auf ihre Preise drauf. Von dem Gewinn, den man eigentlich nicht so nennen darf, kauft sie weitere Produkte an. Aber seit die Molkerei Küstenland den Standort Rostock dichtgemacht hat, gibt es im CARIsatt-Laden keinen Joghurt und keinen Quark mehr, denn die anderen Anbieter für Milchprodukte sind zu teuer. “Als das mit Hartz IV im letzten Jahr kam”, erzählt van Elsleben, seien noch mehr Kunden in den Güstrower Laden gekommen. Und gleichzeitig wurde es immer schwieriger, den CARIsatt-Laden vor der Pleite zu bewahren. “Berlin hat andere Dimensionen”, sagt Betriebswirtin Streichert zuversichtlich, “hier gibt es viele Anbieter.” Und Ideen gebe es genug – Kochkurse anzubieten zum Beispiel, “damit die Leute lernen, wieder mit einfachen und billigen Grundnahrungsmitteln umzugehen”, sagt Bleyleven-Homann. Doch zuerst werden die CARIsatt-Mitarbeiter experimentieren, was in ihrem Laden angenommen wird. Vielleicht gehören ja Schokoladenweihnachtsmänner dazu. (Text: Anne Herzlieb)

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    MITMACHEN

    “Der Schönheit huldigen”

    Arm, aber sexy. Das ist Berlin. Neukölln ist mehr. Neukölln ist bettelarm, sexy und wunderschön. Zumindest am Samstag, als in den Gropius-Passagen Miss und Mister Berlin gewählt wurden. Und das sind die Sieger: Miss Berlin ist die 23-jährige Ivonne Beeskow, bisher Miss Neukölln. Der schönste Mann der Stadt heißt Andy Barkowski. Beide dürfen nun an der Miss und Mister Wahl für Germany teilnehmen. Ihre Chancen? Nicht schlecht. Auch die amtierenden schönsten Deutschen kommen aus Berlin. Arm, sexy, schön: Von Neukölln lernen, heißt siegen lernen.

    Leider hat sich das noch nicht zum Prenzlauer Berg durchgesprochen. Dabei ist das jammerschade, wäre doch der Kollwitzplatz die ideale Brutstätte für die Schönsten der Schönen. Doch Gebärtaumel alleine reicht da nicht. Es müssten auch andere Namen her. Sabrina zum Beispiel, Ronny – oder eben Ivonne und Andy. Am Prenzlberg heißen die Kinder aber noch immer Sahra, Elias, Bruno oder Solveig. Damit wird man zwar reich, aber nicht schön. Aber vielleicht wollen das die Eltern, die ebenfalls Sahra, Elias, Bruno oder Solveig heißen, gar nicht. Der Nachwuchs als Misse? Schlimmer kommt’s nimmer mit dem gesellschaftlichen Abstieg. Dann schon lieber reich und hässlich, so wie München.

    Zurück nach Neukölln. Dort wurde am Wochenende nicht nur die Misswahl entschieden. Auch ein Sonnenstudio wurde überfallen. Wahrscheinlich heißt der Besitzer Dennis. Wie der amtierende Mister Germany – aus Berlin.

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    MITVERLEGEN

    Der wohl bekannteste deutsche Anarchoverlag “Kramer” arbeitet in Neukölln – seit 35 Jahren bereits, lebt jedoch in Kreuzberg – in der Tagesbar Goldener Hahn.
    Seitdem das Ehepaar Kramer mit einer fiktiven Dagobert-Biographie fast pleite ging, weil der Verbrecher am Tag der Auslieferung des Buches verhaftet – und es somit Makulatur wurde, hat ihr Verlag sich mehr und mehr auch inhaltlich von Neukölln quasi verabschiedet. Stattdessen wird mehr und mehr Unverfängliches – Bakunin, Spanischer Bürgerkrieg, Satanismus, scharfe Konsumkritik, Antifaschismus, Feminismus und Ähnliches – veröffentlicht.

    Demnächst erscheint im Kramer-Verlag ein Buch über Piraten:

    “Überfälle sind unsere Landwirtschaft” – von Peter Lamborn Wilson.
    Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Gedanken von Arno Funke, das Gefährliche sei die Schnittstelle – wo die Polizei einem das Geld übergibt.

    Bei den Piraten gibt es sogar zwei Schnittstellen: Einmal eine beim Kapern – zwischen dem eigenen und dem fremden Boot, und dann anschließend beim Umrubeln der Kaperware – was man auch ursprüngliche Akkumulation nennt. Dabei gilt es, den Übergang vom gewalttätigen zum ehrenwerten Verbrecher und sodann zum unbescholtenen hinzukriegen.
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    MITKÄMPFEN

    In der Neuköllner Galerie “Olga Benario” stehen immer wieder Partisaninnen im Mittelpunkt, also mehr oder weniger berühmte Frauen, Kämpferinnen aus der Arbeiterbewegung. Dazu zählt natürlich auch immer mal wieder die Namensgeberin der Galerie Olga Benario. Derzeit findet jedoch gerade eine Ausstellung über Egon Erwin Kisch statt.
    Die Galerie wird von einem Förderverein betrieben. Die Vereinsmitglieder, jedenfalls die, ich dort traf, sehen aus wie Veterane der Arbeiterbewegung. Bei den Partisaninnen, aber auch bei den Partisanen gibt es im übrigen auch eine kritische Schnittstelle, das ist der Übergang vom bewaffneten Partisanen zum demobilisierten und möglicherweise sogar frühberenteten Zivilisten/Bürger. Immer wieder reagierten die Partisanen darauf – und an dieser Schnittstelle – mit der sogenannten “Partisanenkrankheit”, die kurz gesagt darin besteht, nicht mit dem Kämpfen aufhören zu können/zu wollen. Dies äußert sich in wiederholten “Kampfanfällen”, wobei Verletzungsgefahr besteht. Die Partisanenkrankheit ist – so gesehen – das genaue Gegenteil von einer Kriegsneurose, die darin besteht, dass sie den davon befallenen Soldaten vor einem weiteren Fronteinsatz schützt. Ich würde sagen, die Galerie “Olga Benario” changiert in ihren Ausstellungen und (Film-)Veranstaltungen zwischen Bewegungspartisanentum und Partisoldateska. Insofern ist es eine altehrwürdige Neuköllner Institution, die gewissermaßen die Welt (-Revolution) ins Haus holt.

  • DIE NEUKÖLLNER TÖNE

    Der Geräuscheforscher Yukio van Maren King versucht mit seinem Projekt “Klang im Kiez” den Richardplatz in Neukölln wiederzubeleben

    Aus einem taz-Interview von Inga Helfrich:

    Lärm ist ein kulturelles Phänomen und kann nicht wirklich physikalisch definiert werden. Warum ist Lärm mehr als ein physikalisches Phänomen? Es kommen viele Faktoren ins Spiel, die die Wahrnehmung des Menschen beeinflussen – wie das allgemeine Befinden oder auch die Toleranz. Wir befinden uns hier an der Sonnenallee. Was uns hier normal vorkommt, würden wir in Zehlendorf als üblen Lärm wahrnehmen. Ist für Sie Lärm also nicht grundsätzlich etwas Negatives? Stadtklang kann etwas Interessantes, Identitätsstiftendes sein. Geräusch wird zu sehr in den Kategorien laut und leise wahrgenommen.

    In der Stadtplanung sollte Geräusch als gestalterisches Element genutzt werden. Wie denn das? Man kann zum Beispiel versuchen, positive Klänge in einen Kiez einzubringen. Durch den Klang kann man den Raum formen. Der Richardplatz in Neukölln zum Beispiel klingt relativ tot. Auf dem Platz passiert fast gar nichts. Wie kann man diesen Platz beleben? Klang hat sehr viel mit Wohlfühlen zu tun. Man könnte zum Beispiel einen Wochenmarkt auf dem Platz schaffen oder den Kiosk am Platz zu einem richtigen Straßencafé ausbauen. Dadurch verändert sich die ganze Atmosphäre eines Platzes. Was kann man denn noch tun? Ein Brunnen etwa schafft selbst in lauter Umgebung einen eigenen akustischen Raum, ein Gefühl von Ruhe. An Orten, die sonst unbelebt und unattraktiv sind, scharen sich die Menschen stets um den Brunnen. Etwa auf dem Neuköllner Rathausplatz.

    Das alles findet unbewusst statt. Ich gehe ja nicht bewusst an einen bestimmten Ort, weil es dort so gut klingt, man hat halt dort ein gutes Gefühl. Der Klang wird also zu wenig in der Stadtplanung berücksichtigt, weil die Wahrnehmung von Geräuschen unbewusst stattfindet? Ja, aber es gibt erste Ansätze. Für mein Projekt “Klang im Kiez” bin ich auf das Quartiersmanagement in Neukölln zugegangen. Zuerst war man dort skeptisch, aber mittlerweile haben wir ein sehr gutes Verhältnis. Wir wollen beide soziale Ziele erreichen. Inwiefern? Wir wollen eine bessere Form von Zusammenleben im Kiez erreichen. Mit einem belebten Platz, wo man sich begegnet und ein soziales Gefüge entwickelt, eine gemeinsame Identität. Dort begegnen sich unter anderem türkische, arabische und deutsche Nachbarn.

    Man lebt nicht mehr ganz aneinander vorbei und das ist schon eine ganze Menge. Gibt Klang auch einer ganzen Stadt eine Identität? Auf jeden Fall gibt es Klänge, die man total mit Berlin identifiziert. Die Geräuschkulisse am Ostkreuz zum Beispiel, das brachiale Durcheinander ist wahnsinnig. Das Hämmern der Züge, die vielen Menschen. Die schlechte Tonqualität der Ansagen. Das ist schon etwas Besonderes.

  • DER GERUCH VON NEUKÖLLN

    Taz-Interview von Nina Apin mit der Geruchsexpertin Sissel Tolaas: “Neukölln hat den radikalsten Duft”

    Die 46-Jährige ist als Duftforscherin, Künstlerin und Linguistin dem Zusammenhang von Geruch und Kommunikation auf der Spur.
    Dabei scheut die gebürtige Norwegerin, die in Schöneberg lebt, auch nicht vor drastischen Methoden zurück: Sie sprüht sich mit Angstschweiß ein, macht Ausstellungsbesucher mit dem konzentrierten Duft von Geld verrückt und stellt in ihrem hauseigenen Labor Hundekacke- und Schlachthausaromen her. Die in der Wohnung umherwabernden Gerüche stören weder sie noch ihre zehnjährige Tochter.

    Wie kamen Sie auf den Geruch?

    Über das Wetter. Ich bin in Norwegen und Island aufgewachsen, wo das Wetter Hauptgesprächsthema ist. In Island gibt es zum Beispiel viele Wörter für Regen. Doch für das Wetter gibt es die Kategorien gut oder schlecht. Ich fand das seltsam und fragte mich, ob da noch mehr ist. Ich begann Chemie zu studieren, erzeugte künstliche Unwetter, ich war fasziniert davon, durch Luft sichtbare Reaktionen hervorzurufen. Dabei entdeckte ich die Gerüche in der Luft. Sie waren für mich eine Objektwerdung des Unsichtbaren: etwas im Nichts.

    Mit 16 beschlossen Sie, zur Großmutter zu ziehen. Zum Studium gingen Sie nach Leningrad und Warschau – mitten im Kalten Krieg. Woher kommt dieser Impuls?

    Keine Ahnung, ich bin behütet als älteste von sechs Töchtern aufgewachsen. Aber ich wollte schon immer an scheinbaren Gewissheiten rütteln. Wenn ich heute erzähle, dass ich Duftforscherin bin, kommt jeder mit einer Kindheitserinnerung. Auch so ein Klischee. Als Kinder waren die Menschen offen für Gerüche. Aber die von gestern haben sie verdrängt. Das möchte ich ändern. Können Sie sich selbst noch an Gerüche aus Ihrer Kindheit erinnern? Klar, mein erstes Dreirad. Gleich am ersten Tag hatte ich damit einen Unfall, und das Rad fiel in den Kanal am Straßenrand. Keiner wollte es herausholen wegen des Gestanks. An den erinnere ich mich genau, zusammen mit dem Bild vom roten Rad in der braunen Kloake. Dann gab es den Laden, wo ich jeden Morgen Milch holte. Es roch nach alter Milch, und ich hasste Milch! Die Frau im Laden hieß Olga, noch heute mag ich den Namen nicht.

    Bei der Berlinbiennale 2004 stellten Sie das Parfum North South East West vor, das nach vier Berliner Bezirken roch. Zu welchem Zweck?

    Die Gerüche aus Charlottenburg, Mitte, Neukölln und Reinickendorf konnte man einzeln riechen. Oder alle zusammen. Meine Botschaft war: Ihr riecht alle die gleiche Luft. Alles zusammen ist der Himmel über Berlin. Und wie riecht der? Die Stadt riecht jeden Tag anders, es gibt niemals die gleiche Konstellation von Molekülen in zwei verschiedenen Momenten. Aber man kann sagen, dass Neukölln den radikalsten, vielschichtigsten Duft hat: Kebab, Alkohol, Import-Export, Hundekacke, Polyester. Charlottenburg dagegen riecht nach Geld, Luxus und Langeweile. Ziemlich unterkomplex. In Reinickendorf riecht man Sonnenstudios und Hochhausbeton. Und Mitte? Wollen Sie mal riechen?

    Gerne. – Riecht nach Tabak, Kaffee, Leder, Abgasen. Ganz gut eigentlich.

    Der Duft ist schon etwas alt. Mittlerweile riecht es bestimmt anders. Aber ein Geruchsfundament bleibt immer. Als ich North East South West bei der Biennale zeigte, bestellte eine Frau bei mir ein Fläschchen Mitte. Sie hatte dort in den Zwanzigerjahren gelebt und erkannte manches wieder.

    Sie wohnen seit 1987 in Berlin. Hat sich der Geruch der Stadt seitdem verändert?

    Ja, damals roch es viel statischer, nach Kohleofen und Beton. Heute sind mehr Dimensionen zu riechen, besonders in der U-Bahn hat man die ganze Welt in der Nase. Nur an der Jannowitzbrücke hängt noch dieser Mauergeruch in der Luft, der hat irgendwie überdauert im Beton. Zumindest rieche ich ihn noch.

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