vonHelmut Höge 07.01.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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…So hießen en bloc die Kommunen und Kollektive, die sich ab Anfang des 19. Jahrhunderts in Amerika gründeten. Es war darüber schon an anderer Stelle die Rede.

Mit der Beatnik-, Hippie- und Studentenbewegung ab den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstanden erneut viele Kollektive, Cooperatives und (Land-)Kommunen. In den Achtzigerjahren formierten sich die Reste davon zur „New Age-“ und „Ökologie-Bewegung“ um, es stießen neue Intellektuelle dazu.

Was ist daraus inzwischen geworden? Das wollten Barbara und Gunter Hamburger-Langer aus Konstanz wissen. Die Diplompsychologin leitet seit 20 Jahren „Visionssuchegruppen“ und ihr Mann, Geschäftsführer des Diakonischen Werks in Konstanz, mindestens ebenso lange „Open Space Konferenzen“. Knapp ein Jahr waren die beiden unterwegs. Anschließend veröffentlichten sie ihre „Weltreise auf der Suche nach Samen für die Zukunft“ als Buch: „Ein Stern sei mein Wagenlenker – Eine Weltreise auf der Suche nach Samen für die Zukunft“, Edition Octopus, Münster 2008.

Als erstes besuchten sie ein Camp von Regenwaldaktivisten (forest defenders) und die Hippiestadt Nimbim in Australien. Jedes ihrer Reise-Kapitel schließt mit einem Interview ab. Hier ist es eins mit John Seed vom „Rainforest Information Center“. Er hat eine typische New Age-„Karriere“  hinter sich: Tune-In – erst Studium, dann Job bei IBM; Turn-On – mit LSD „die Augen öffnen“, sich für Buddhismus interessieren; Drop-Out – „Meditationsretreats in Indien und Nepal“, sich mit „Ökologie“ befassen, in eine Landkommune ziehen und Biogemüse anbauen.

Als Baumschützer begeistert er sich derzeit für die Gaia-Hypothese. Er nennt das „Hitch your wagon on a star“ – andere Visionen brauche er nicht. Die Gaia-Hypothese des Geophysiologen James Lovelock besagt, dass die Erde und ihre Atmosphäre ein einziger Organismus ist. Anfang November  führte darüber die amerikanische Mikrobiologin und Symbioseforscherin Lynn Margulis im Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Näheres aus. Das Ehepaar Hamburger-Langer nahm bereits bei Brisbane an einem Gaia-Workshop teil. Außerdem  besuchte es ein  Uni-Seminar von Ureinwohnern Australiens über „Aboriginal Studies“. Das anschließende Interview mit einem der Dozenten drehte sich um die „Bedeutung des Wissens der First People“ und um deren „Zukunftsvisionen“.  Dann ging es weiter nach Perth in Westaustralien, wo sie Jo Vallentine interviewten. Von Petra Kelly agitiert hatte diese in Westaustralien eine Grüne Partei gegründet, 1992 beendete sie jedoch ihre Parlamentsarbeit und ist nun wieder als Umweltaktivistin unterwegs. „Mein Engagement kommt direkt aus meinem Herzen,“ sagt sie. So reden „New Age-People“. Es klingt immer ein bißchen wie schwäbischer Protestantismus. Und tatsächlich macht das Ehepaar Hamburger-Langer auch keinen großen Unterschied: zwischen religiösen (Quäker-)Aktivitäten, Friedensgruppen, Öko-Aktivisten, Indigenem Culturalism, Vegetarismus, Universitätsseminaren, Meditationsübungen, Riten des Übergangs für Trauernde und semiöffentlichem „Breast-Feeding“, das sich in Australien als ein „unter jungen Frauen verbreitetes Thema“ erwies.

Auf Hawaii besuchten sie ein „Bildungszentrum für gewaltlosen Widerstand“. Dort organisiert man seit dem 11.9. „Friedensmahnwachen“, an denen sich auch Ureinwohner und Mitglieder einer Bibelrunde beteiligen.

In Kanada traf das Ehepaar sich dann mit einem Psychologen am „Yukon Hospice Center“: Er ist Sterbebegleiter für an unheilbaren Krankheiten leidende Ureinwohner. Anschließend besuchte das Ehepaar das „Yukon College“, eine Ausbildungsstätte für die Ureinwohner und fragten  eine als Bibliothekarin tätige Angehörige des „Raven“-Clan der Nacho Nyak Dun First Nations People über die „Mythologie des Yukon“ aus. Daneben nahmen sie an einem Seminar über die schädlichen Folgen von Alkoholgenuss bei schwangeren Müttern teil, das besonders die Ureinwohner aufklären soll.

Weiter ging es nach Kalifornien. Dort trafen sie eine Dozentin, die Seminare über „offene Systeme“ abhält und „Schritte zum holonischen Wandel“ entwirft. In ihrer Arbeit, so sagte diese, gehe es um die „Veränderung vom Ego-Selbst zum Öko-Selbst“. Ansonsten sieht sie seit der Verabschiedung des „Patriot Acts“ die USA langsam faschistisch werden. In Oakland besuchte das Ehepaar die private „Universität für Schöpfungsspiritualität“ von Matthew Fox, wo der anglikanische  Bischof ebenso wie der Botaniker Rupert Sheldrake lehren. Letzterer versucht seit 1973  die vom russischen Biologen Alexander Gurwitsch aufgestellte Hypothese der morphischen Felder mit  Medienexperimenten zu verifizieren. Laut Sheldrake bestehen die formbildenden Kräfte nicht aus Chromosomen oder Genen, sondern aus einem masselosen Feld – in das wir uns einem Radio ähnlich eintunen, damit ein Mensch, und nicht z.B. ein Esel  aus unserem Keim wird. Sheldrake gehört zum Kern der kalifornischen New Age-Scene, die sich in den Achtzigerjahren u.a. in Esalen und in der Ojai-Foundation  versammelte.

In San Rafael trafen Hamburger-Langer auf Ralph Gunter Metzner, dessen Bücher der taz-blogwart Mathias Broeckers ins Deutsche übersetzt. Der Harvard-Psychologe unternahm einst mit Timothy Leary und Richard Alpert LSD-Experimente – bis man sie von der Uni schmiß. Heute ist er Dozent am „California Institute for Integral Studies“ (CIIS). Als Gründer der „Green Earth Foundation“ will er „die Beziehungen zwischen Mensch und Natur heilen.“ Die Amis müssen immer gleich die ganze Welt retten – unter dem tun sie es nicht! Dabei ist Metzner z.B. in seinem demnächst auf Deutsch erscheinenden Buch über „Krieg und Herrschaft“ alles andere als optimistisch. In seiner US-anthropologischen Sichtweise zieht er Hoffnung allenfalls noch aus gewissen Affenforschungen: z.B. die des Kaliforniers Robert Zapolsky, der in Uganda Paviane erforschte, die nach dem plötzlichen Tod des ranghöchsten Männchens diesen Rang in ihrer Horde einfach nicht mehr besetzten – und fortan quasi führerlos, dafür aber um so fröhlicher weiterlebten. Als das Naturschutzgebiet und mit ihm die autonome Pavianhorde zerstört wurde, gab er seine Affenforschung auf. Statt weiter positiv zu denken beschäftigt er sich nun u.a. mit Depressionen. In seinem Buch „Warum Zebras keine Magengeschwüre bekommen“ schreibt er: „Vereinfacht dargestellt können Sie sich das Auftreten einer Depression wie folgt vorstellen: Ihr Stammhirn entwickelt einen abstrakten negativen Gedanken und schafft es, den Rest des Gehirns davon zu überzeugen, dass er wirklich ist wie ein realer Stressfaktor.“ Dass es der Zustand der Welt ist, der uns deprimiert, darauf will er sich in seinem Amimaterialismus nicht einlassen.  Über nicht von einem ranghöchsten Männchen dominierte Pavianhorden forschte im übrigen auch jahrzehntelang der Zürcher Biologe Hans Kummer – in Äthiopien. Über eine andere Variante herrschaftsfreier Affenhorden referierte 1992 ein US-Biologe auf dem internationalen Primatenkongreß in Torremolinos: Er hatte den Kot einer  Gruppe Kapuzineraffen genetisch untersucht – und dabei festgestellt, dass kein einziges Junges vom ranghöchsten Männchen abstammte –  obwohl dieser quasi die alleinige Vaterschaft in der Gruppe beanspruchte.

Neben solchen Affenforschungen kann sich Metzner auch noch an einem Radiosender in San Francisco erfreuen, „der jeden Morgen nur gute Nachrichten verbreitet“. Ansonsten hat er jedoch das Gefühl, in einer Zeit „wachsenden Faschismus und Imperialismus“ zu leben. Nach Metzner interviewte das Ehepaar den Afrikaner Mutombo Mpanya, den es bereits 1996 in einem Seminar am „Institute for Deep Ecology“ in Seattle kennenlernte. Er meint, „Afrika ist vollkommen im Privatbesitz der westlichen Welt“ und „die Bekehrung der Menschen zum Christentum in den sogenannten ‚primitiven Gesellschaften‘ schuf ein isoliertes und individualistisches Bewußtsein.“ Dieses macht Mpanya für die meisten, wenn nicht alle Übel der Welt verantwortlich.

In Oakland sprach das Ehepaar mit Marshall Rosenberg, den Gründer des „International Center for Non-violent Communication“. Die im Center gelehrte „mitfühlende Sprache“ lasse sich auch mißbrauchen, meint Rosenberg – und erwähnte einen seiner Studenten, der später sehr erfolgreich selber „gewaltlose Kommunikation“ lehrte – und zwar in einem Unternehmen, das die Mitarbeiter daran hindern wollte, Gewerkschaften zu gründen. Für Visionssuche-Gruppenleiter wie die Hamburger-Langers war ein Besuch im kalifornischen „Vision Valley“ natürlich Pflicht. Anschließend besuchten sie den im Sterben liegenden Weltverbesserer Steven Foster. Mit ihm führten sie ein Interview an der „School of Lost Borders“, wo u.a. „Vision Fast“-Kurse stattfinden. Für Foster ist „eine Vision kein Luftschloss, keine Täuschung – sie ist eher etwas ganz Praktisches – das getan wird.“ Zwischendurch besuchte das Ehepaar noch jemanden, der kirchliche Messen mit Technomusik veranstaltet und Exstacy zu therapeutischen Zwecken verwendet.

Ich fragte mich nach dieser langen Visionssuche, warum die Autoren unbedingt und ständig von „Visionen“ sprechen (müssen) – von Halluzinationen also? Wo wir doch seit Platon, Morus und Fourier das schöne Wort „Utopie“ haben – für einen Ort, den es (noch) nicht gibt. Wobei uns seit Foucault die „Atopie“ sogar noch lieber ist – also etwas, das keinen Ort hat. Und da soll es auch bleiben. Besteht nicht das ganze Elend der Welt derzeit vor allem darin, dass hier permanent irgendwelche US-Super-Visionen in die Wirklichkeit eingebildet werden?

Der Schluß des Buches von Barbara Langer und Gunter Hamburger versöhnte mich wieder etwas mit ihrem dicken Buch: „Ursprünglich hatten wir geplant, zwei Wochen länger im Suskwa Valley zu bleiben, aber der bevorstehende Tod unserer Hündin Ora läßt uns früher abreisen. Der Abschied von liebgewonnenen Freunden fällt schwer. Gemeinsam tanzen wir noch einmal den Ulmentanz – auch für Ora.“

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kommentare

  • Und noch was Antiamerikanisches:

    Jetzt zum Darwinjahr werden wir geradezu überschüttet mit Darwinbücher aus England, aber vor allem auch aus den USA. Und eines ist dämlicher, reaktionärer, bescheuerter und kindischer als das andere!

    Wann werden wir endlich anfangen, wirklich wissenschaftliche Bücher – aus Kenia, Ägypten, Brasilien, Namibia usw. – ins Deutsche zu übersetzen? So wie es mit den Franzosen, mit den französischen Theoretikern geschah. Aber seit der reaktionären Wende und dem Tod der meisten Franzmänner wird fast nur noch diese Ami-Bioscheiße auf den hiesigen Markt geworfen!

    Leider ist dieser Mist längst imperialistisch geworden. Die BRD, Island, überhaupt Skandinavien, die Philipinen – all diese Länder sind längst amerikanischer als die USA geworden – und kauen bloß deren Dreck wieder. Auf den Philipinen ändert sich das jedoch langsam: Nicht nur finden sich täglich in den englischsprachigen Zeitungen immer neue Wörter in Tagalog, es gibt dort an den Uni auch eine „kulturalistische Bewegung“, der all die aufgezwungenen Amibegriffe nun umdeutet. So wurde z.B. aus US-„Korruption und Vetternwirtschaft“ ein philipinisches „Fürsorgeverhältnis“ – in der dortigen Wirtschafts- und Kulturwissenschaft. Wenn z.B. ein Abteilungsleiter befördert wird, dann ist er nach philipinischem Verständnis verpflichtet, seine ganze Abteilung ebenfalls irgendwie zu befördern, denn die hat ja wesentlich zu seiner Beförderung beigetragen. Für die Amis und die deutsche Korruptionsforschung, allen voran die lächerliche Organisation „Transparency International“ ist das jedoch kontraproduktive Vetternwirtschaft. Ähnlich sehen diese imperialistischen „Wirtschaftsexperten“ in Afrika überall die Korruption am Werk, die dort doch nur Ausdruck von gelebter Sippen-Verantwortung ist. Neulich hielt ich ein Buch in der Hand – über Korruption: Ergebnisse einer Konferenz in Österreich, in dem gleich der erste Beitrag, mit allerlei Ami-Zitaten garniert, beweisen wollte, dass die Korruption in unseren Genen verankert ist. Das wird man bestimmt in den reaktionären Siemens-Chefetagen und im Siemens-Stiftungs-Vorstand mit Freude zur Kenntnis genommen haben.

  • Ich ärger mich immer über Bücher, die unter 500 Seiten haben. Z.B. sind die von Volker Braun viel zu dünn. Und Zeitungsartikel unter ein, zwei Seiten empfinde ich auch als eine Beleidigung der Intelligenz. Die Welt wird immer komplizierter, aber die Texte darüber immer kürzer. Das ist doch falsch!

    Ähnlich ist es im Internet, in den ganzen blogs – mit ihren kurzen Texten. Und erst recht mit den Kommentaren dazu. Völlig blödsinnig sind solche, die aus einem Satz bestehen: „fand ich scheiße“ oder „fand ich prima“. Was soll das?

    Ist das auch antiamerikanisch von mir gedacht?

  • Starbuck’s Coffee

    Das erste Berliner Starbuck’s Coffee am Hackeschen Markt eröffnete mit einer Prominentenparty. Seitdem machten in Berlin weitere Filialen auf, und sie laufen sich langsam ein, wie man so sagt.

    Ein gescheiterter Dotcom-Unternehmer, der dann in Mitte ins Café-Geschäft einstieg, meint: „Man glaubt gar nicht, wie viel Geld mit Kaffee zu machen ist.“ Immobilienmakler gehen jedoch eher davon aus, dass es der Standort ist, der die Musik macht, insbesondere die „Eins-a-Lagen“ in den Groß- und Hauptstädten, die „dynamisch“ gehalten werden können. Die Starbuck’s-Kette arbeitet dabei – ähnlich wie die Hard-Rock-Café- und Planet-Hollywood-Kette – mit internationalen Immobilienmaklern zusammen, die sich auf Objekte in Toplagen spezialisiert haben.

    Gleiches gilt auch für Nike und McDonald’s. Letztere setzen bei ihrer permanenten Standortsuche ausgefeilteste Rasterfahndungsmittel ein – bis hin zu Satellitenaufnahmen. Bei ihrer Globalexpansion können sie sich daneben auch noch auf den US-Patriotismus verlassen: Während die dortigen neoliberalen Politiker und Banker in Eurasien für die Zerschlagung der großen Wirtschaftseinheiten plädieren – und zum Beispiel der Ukraine rieten, ihre Kolchosen komplett zu zerschlagen (mit der Folge, dass man dort jetzt trotz der besten Schwarzerdeböden der Welt Grundnahrungsmittel aus Polen bezieht) -, setzen dieselben Globalisierungsakteure wie etwa die US-Landwirtschaftsministerin Ann Veneman bei sich zu Hause eine genau entgegengesetzte Politik durch. Hier können ihnen nämlich die industrialisierten landwirtschaftlichen Betriebe gar nicht groß genug sein – inzwischen produzieren nur noch vier Agrarunternehmen 80 Prozent des amerikanischen Rindfleischs. Im Heimatland also Konzentration des Kapitals, aber draußen Zersplitterung der Kräfte, damit sich diese Bereiche umso leichter kapitalisieren lassen.

    Zurück zur Starbuck’s-Filiale und dem Umfeld Hackescher Markt: Es ist ein Touristen-Hotspot geworden – mit denselben Läden und Waren wie in Prag, Krakau, Madrid etc., zudem überteuert und aufdringlich. Trotzdem gibt es auch für diese Multis noch ein Restrisiko: Das Berliner Planet Hollywood machte wieder dicht, und auch die vielen Hard Rock Cafés dümpeln hierzulande vor sich hin. Während McDonald’s in Europa und USA eher Billig-Fastfood verkauft, zählen dieselben Läden in Russland und Asien zu den teuren Restaurants. Hier werden die Planet Hollywoods und Hard Rock Cafés von jungen Facharbeitern aufgesucht, in Indonesien und auf den Philippinen sind sie dagegen Künstler- und Studentenclubs.

    Auch der mit über einer Million Beschäftigten allein in den USA größte private Arbeitgeber der Welt, die antigewerkschaftliche Wal-Mart-Kette, hat bisweilen noch mit den Tücken des Objekts zu kämpfen. Obwohl sie es geschafft hat, Amerika in weiten Teilen fast konkurrenzlos flächendeckend zu verschandeln, gibt es immer noch Flecken, wo man die Wal-Mart-Billigkäufhäuser links liegen lässt: im Berliner „Problembezirk“ Neukölln etwa. Und obwohl Starbuck’s fast ganz London problemlos mit einem dichten Filialnetz überziehen konnte, gelang es dort neulich einer Bürgerinitiative, im gemütlichen Intellektuellenviertel Stoke Newington bereits die erste Filialeröffnung zu verhindern.

    Die am Berliner Touristenparcours in Mitte platzierten Starbuck’s-Filialen passen dagegen in das dortige „internationale Flair“ wie die Faust aufs Auge. Die amüsierwütigen Besucher aus Nah und Fern verlangen geradezu nach überall gleichen Angeboten und Atmos, um sich auch in scheinbar fremder Umgebung sofort orientieren zu können. Deswegen sehen alle großen Hotellobbys und Flughäfen der Welt gleich aus. Vor der Wende gab es hier zum Beispiel eine große Gruppe von regelmäßig mehrtägig nach Westberlin reisenden Westdeutschen, die nichts anderes taten, als sich im und am Europa-Center aufzuhalten. Im Kleinen galt das auch für den Neuköllner Hermannplatz, den die Bewohner von Britz, Buckow und Rudow ansteuerten, wenn sie in die „Stadt“ wollten, um was zu erleben. Dort hing schrilles Volk herum. Viele Hermannplatz-Geschäftsleute meinten, die Punker, Fixer und Jugendgangs würden ihnen die Kunden vergraulen. Das Gegenteil bewies die Stadtplanungsforscherin Toni Sachs-Pfeiffer: „Die alten Leute kamen von weither, um sie sich einmal aus der Nähe anzugucken, dabei haben sie dann auch was eingekauft.“ Diese Erkenntnis hat sich bis nach Bremen herumgesprochen, wo die vor den Supermärkten herumlungernden Punker fast alle von der Stadt auf ABM-Basis angestellt wurden.

    To cut a long capitalistic shitstory short: An den Hackeschen Markt und was dazugehört geht man als Einheimischer eigentlich nur noch, um Touristen anzugucken. Es ist entseeltes Terrain, aber nur dieses Niemandsland ermöglicht optimale Renditen. Und den Touristen garantieren die Starbuck’s-Filialen dort eine gewisse Qualitätsnorm – bis hin zu den Toiletten, die den überall auf der Welt gleichen Duft des internationalen Kammerjägerkonzerns Rentokill ausströmen.

  • Über den Antiamerikanismus
    Beim Umschlag von Quantität in Qualität

    Was in der ab 1961 abgeriegelten DDR die regelmäßig Westberlin besuchenden Rentner, das waren in Westdeutschland schon in den Fünfzigerjahren die jungen Stewards und Krankenschwestern der Passagierschiffe, die regelmäßig New York ansteuerten: Tonnenweise schleppten sie auf Bestellung Jeans, Bücher, Platten und hippen Schnickschnack an. Für den Rest an angesagten Konsumgütern aus Amiland sorgten die in der BRD und in Westberlin stationierten Soldaten, denen dafür spezielle Supermärkte (PX) zur Verfügung standen: mit Währungsrestriktionen und Ausweispflicht wie bei den Intershops im Osten. Bald waren ganz London und Amsterdam PX-Land, wobei jedoch die Produkte der amerikanischen „Counterculture“ immer attraktiver wurden. Amischlitten fuhren in Alt-Europa vor allem Zuhälter – eine Identifikation mit dem Aggressor, der seine „Kriegsbräute“ zu tausenden aus dem „Fräuleinwunder“ abzog, jedenfalls so lange das Währungsgefälle (4 Mark gleich ein Dollar) anhielt.

    Auch die linken europäischen Filmemacher wurden immer wieder – von Hollywood – angezogen: die der jugoslawischen „schwarzen Welle“ ebenso wie die des italienischen Neorealismus. In „Zabriski Point“ hat Antonioni das thematisiert. Mit dem Nachkriegsamerikanismus wurde unterschiedslos the good, the bad and the ugly geschluckt. Oder wie im Falle der „Hollywoodschaukel“ einfach nachgebaut.

    Aber schon gleich nach Beginn der Reaganomics ergab eine weltweit durchgeführte US-Studie, dass der „amerikanische Traum“ eigentlich nur noch in der Sowjetunion wirklich existiert. Nur dort wünschte sich z. B. ein Automobilarbeiter, einmal mit einem Fordarbeiter zusammen am Band zu stehen, und ein anderer träumte von einer Fahrt in einem Greyhoundbus durch den Mittleren Westen.

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das alles möglich – und für immer mehr sowjetische Armutsmigranten auch nötig. Während aus dem Westen reiche Steuerflüchtlinge und Showmaster sich in Kalifornien bzw. Florida niederließen. Die hiesigen Feuilletons aus Amerika befassten sich dann auch oft und gerne mit Swimmingpool-Problemen, die Wirtschaftsseiten dagegen mit Shareholdervalue-Sorgen. Die Künstler träumten von New York.

    Ansonsten verbreitete sich das amerikanische Weltstadtgefühl bald in jedem Kaff – bis in die eurasische Steppe hinein: Hamburger, Cola, Soapoperas, Basecaps, Internetmails, Starbucks Coffee, Anwalts- und Unternehmensberater. Das inspirierte allerhand einheimische „Think-Tanks“: So besteht heute z. B. das „Vogelsberger Ski-Menü“ ebenfalls aus einem Hamburger mit Cola, andere Amerikanismen drangen bis in die letzte Oral History vor. Selbst Lenin wird nun noch einmal – diesmal mit einem „Good Bye“ – verabschiedet. Mit ihm war seinerzeit Hegel von Berlin nach Moskau „ausgewandert“ (E. Bloch). Zuletzt diskutierten aber sogar Habermas und Derrida ihre „Kontroversen“ auf Amerikanisch.

    Itzo scheint jedoch die Dialektik darauf hinauszulaufen, dass das kritische Potenzial sich in Plattdeutsch artikuliert. Oder jedenfalls meinte kürzlich der Manager eines American Coffeshops in Mitte zu seiner Kaffeemaschinenbedienung: „Der wachsende Antiamerikanismus wirkt sich langsam geschäftsschädigend aus!“ „Ach wat“, entgegnete die Angesprochene, „dat is bloß wegen unsrer Nichtraucher-Totalzone!“ „Mein ich doch“, erwiderte ihr junger Chef, „das Rauchenwollen ist aber nur Ausdruck der um sich greifenden Intoleranz – und Amerikafeindschaft.“

    Da war die Bedienung baff. Dennoch ließ sie es sich dann nicht nehmen, vor der Tür eine zu rauchen. Ich gesellte mich auf zwei Zigarettenlängen zu ihr. Dabei verriet sie mir, dass sie gar nicht aus Norddeutschland stamme: „Ich job aber abends noch in einer Seniorenbetreuung und da hab ich eine Rentnerin aus Brunsbüttel, von der lern ich gerade Plattdeutsch. An der Uni hab ich mal Russisch angefangen – aber das war nichts für mich.“

  • Die neuen No-Go-Areas sind da!

    Auch für Oskar Lafontaine ist Amerika nun Vorbild: „Ich sage nur 7% Wachstum!“ verkündete er in „Deutschlands wichtigster Talkshow“ (Die Welt). Der Berliner Stadtentwicklungssenator Strieder hat die Amerikanisierung bereits persönlich gepusht – und die nun fast fertig aufgemotzten Ratshauspassagen an die nach Einschätzung der Gewerkschaften „schlimmsten Arbeitgeber der Welt“ verscherbelt: an Wal Mart inklusive McDonald’s. Dass es rundherum bereits viele Billigkaufhäuser und Malbouffe-Ketten gibt, ficht die beiden Amikonzerne nicht an – im Gegenteil: die „Marketing-by-Saturating-Tactics“ ist ihre Spezialität. Daneben sind die beiden Weltmeister unter den Ausbeutern auch noch berühmt dafür, dass sie in Europa gerne ihre Betriebsräte mobben.

    In den USA gibt es keinen einzigen gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter in den 15.000 McDonald’s-Filialen – sie wurden diesbezüglich von den Managern sogar mithilfe von Lügendetektoren eingeschüchtert. Über Wal Mart schreibt die US-Journalistin Barbara Ehrenreich, die dort selbst arbeitete: Zwar blieb mir die „finale Demütigung“ erspart, beim allmorgendlichen Wal-Mart-Sprechchor mitzumachen, aber irgendwann sagte ich zu einer Kollegin – obwohl dort das Fluchen verboten war: „Wir brauchen eine Gewerkschaft! Endlich war das Wort heraus“. Zwar schafften Ehrenreich und ihre Kolleginnen es nicht, sich wirklich gewerkschaftlich zu organisieren, aber „das Wort“ überhaupt laut zu sagen, kam ihnen schon wie ein kleiner Sieg vor. Im Nachhinein urteilt die Autorin, sie hätte dort tatsächlich „etwas bewegen können“, aber sie konnte es sich finanziell nicht leisten, noch länger bei Wal Mart zu arbeiten: Sie verdiente dort so wenig und ihre Unterkunft kostete andererseits so viel, dass sie täglich 50 Dollar drauf zahlte – und eine billigere Bleibe fand sie in Boomtown Portland nicht. Als legal Beschäftigte kam sie dem Wal Mart Management dennoch zu teuer, so daß das Unternehmen in den letzten Jahren zunehmend Illegale einstellte, die noch billiger sind. Der Riesenkonzern ging dabei kaum ein Risiko ein, denn keine lokale Behörde wagte es, gegen ihn vor zu gehen. Erst neuerdings – mit dem schrecklichen Home Security Act – hat sich das geändert: Kürzlich wurden in 150 Wal-Mart-Filialen Razzien veranstaltet, wobei die Polizei 250 Illegale Putzkräfte (meist aus Osteuropa) verhaftete. Die Geschäftsführung erklärte: Es sei ihr schleierhaft, wie die dort hingekommen seien. Auch US-Umweltschützer und Stadtplaner bekämpfen Wal Mart: Vor allem deswegen, weil deren riesige Filialen landauf landab die Gegenden verschandeln und tausende von Kleinstädte veröden lassen. Und die US-Linke agitiert gegen Wal Mart, weil der Konzern seinen Billigschrott aus Asien mit einem ekelhaften US-Patriotismus vermarktet. In Deutschland sind Wal Marts bisher 95 Filialen dabei, sich unbeliebt zu machen: Ver-di wirft dem Konzern vor, „Sozialdumping“ zu betreiben und ein Gericht verurteilte Wal Mart kürzlich unter Androhung einer hohen Geldstrafe dazu, endlich seine Bilanzen offen zu legen. Zwar wird Wal Mart-McDonald’s am Rathaus etliche Arbeitsplätze schaffen – und die werden wohl auch, im Falle sie Langzeitarbeitslose nehmen und qualifizieren, staatlich bezuschußt, aber 1. erfordert z.B. die McDonald’s-Maschinerie keine Kenntnisse mehr: „Je einfacher die Benutzung für den Mitarbeiter, desto weniger müssen wir ihn schulen,“ lautet das Credo des Chefingenieurs für technische Ausstattung im Konzern; und 2. liegt die Fluktuationsrate in den US-Fastfoodlfilialen zwischen 300 und 400%, d.h. die Beschäftigten halten sich dort nur 3-4 Monate. Dafür kommen viele jedoch später wieder – um ihre ehemalige Arbeitsstelle voller Haß auszurauben: „1998 kamen in den USA mehr Fastfoodmitarbeiter bei der Arbeit ums Leben als Polizisten,“ fand Eric Schlosser bei Recherchen für sein Buch über „Die dunkle Seite von McFood & Co.“ heraus. Der Berliner Senatsbaudirektor Stimmann hatte schon zwei Jahre vor der Eröffnung gegenüber zwei Wal Mart-Managern gemeint: „Jemand müsste auf die Rathauspassagen eine Bombe schmeißen!“

    P.S.: Wal Mart zog dann doch nicht in die Rathauspassagen und verkaufte sogar seine Filiale in Neukölln. Und dann auch 84 Filialen in Deutschland – an den Metro-Konzern. Kurz danach zog sich Wal Mart auch aus Südkorea zurück.

  • Der Amerikanische Individualanarchismus

    Zur Lage der Detonation – ein Explosé

    „Lupus lupi homo est“ (alte Rudelweisheit)

    1. Die Pornografie des Todes

    Über die Opferschau der Druiden: „….sie weihen einen Menschen und stoßen ihn mit einem Schwertstrich oberhalb des Zwerchfells nieder, und während des Zusammenbruchs des Opfers, aus der Art des Falles und der Zuckungen der Glieder, und dazu aus dem Strömen des Blutes wollen sie die Zukunft erkennen, im Vertrauen auf die alte und vielgepflogene Beobachtung dieser Vorzeichen.“ Poseidonios von Apameia (135-51/50 v. Chr.)

    Die Angst vor dem Volkszorn und Ahnungen von einer öffentlichen Hinrichtung gingen McVeigh bereits durch den Kopf, als man ihn vor dem Gerichtsgebäude in Oklahoma erstmalig einer erregten Menschenmenge vorführte. Dem „Time-Magazine“ erzählte er später: „Ich bemerkte, dass die Menge zu weit abgedrängt war, um mich mit einem Pistolenschuss bedrohen zu können. Also nahm ich sofort die Bäume und die umliegenden Gebäuden in Augenschein. Und unwillkürlich schaltete ich einen starren Panoramablick an, mit dem man einen 1000-Meter-Sicherheitsbereich überblicken kann. Das einzige, was ich bei Gefahr hätte tun können, war ein kleiner Sprung zur Seite. Im Grunde genommen wirft man Dich den Löwen vor“. „Dem Löwen vorgeworfen zu werden“ erscheint als eher archaisches Bild, da die öffentlichen Torturen der Vormoderne doch längst durch humanistische Methoden der Beweisführung und Bestrafung ersetzt wurden. Schon die Einführung der Guillotine zielte darauf ab, unter den Zuschauern keine Sympathie mehr für die Verurteilten aufkommen zu lassen. Denn die Königsmörder des Ancien Regime wurden stundenlang gestreckt und gevierteilt und litten oft noch zusätzlich unter der Überforderung von Henkern und Zugpferden. Die Justiz des 19. Jahrhunderts wandte sich daher von der körperlichen Bestrafung ab und widmete sich der Disziplinierung und Überwachung der Gefangenen. Mit der Übertragung des Todes des rechtsextremen Terroristen McVeigh für die Angehörige enstand mitten im blassen bürokratischen Akt wieder ein Moment von Märtyrertum. Schließlich ist McVeigh ebenfalls ein Königsmörder, nämlich der Mörder des demokratischen Souveräns in Gestalt der Bundesbeamten von Oklahoma. Das Volk als Souverän, zumindest wie es durch die Opfer des Bomben-Attentats von Oklahoma repräsentiert wird, ist allerdings schwer zu befriedigen. Das Zuschauen befriedigt nur im Ansatz die Sehnsucht nach der Selbstjustiz des letzten Jahrhunderts. Besonders in einem Staat wie Oklahoma, im Westen der USA, wo weiße Männer ihre strittigen Ansprüche auf indianisches Land noch lange unter sich austragen mussten. Diese Rückkehr zum archaischen Schauspiel der Hinrichtung entlastet die heutigen Gefangenen im Todestrakt jedoch nicht von der Bürde einer allgegenwärtigen hochmodernen Überwachungsmaschinerie. In dem Supermax Gefängnis in Colorado wurde McVeigh 24 Stunden täglich überwacht, davon 20 mit einer Videokamera. Wenn er schlief, war die Kamera kaum einen Meter von ihm entfernt. Damit sie funktionierte, musste immer eine Lampe brennen. Die Internetfirma, die das Spektakel seines Tod für das Internetpublikum verkaufen wollte, besitzt die Website „voyeur.com“, auf der man über 55 Webcams rund um die Uhr eine Studentinnen-WG beobachten kann. McVeigh hat zugegeben, sich jeden Monat auf die ihm erlaubte Lieferung von Playboy und Hustler zu freuen. Die Nacktfotos hingegen, die fremde Frauen ihm aus Orten wie Tennessee zuschicken, bekommt er nicht ausgehändigt.

    2. Pieta eines Milizen

    McVeigh war selbst einmal – zusammen mit der ganzen amerikanischen Rechten – Zeuge einer Opferschau gewesen: Nämlich der von Rosemary Weaver – mit einem Baby im Arm und einer Kugel im Kopf. Im April dieses Jahres verkaufte der Mann von Rosemary Weaver, der weisse Separatist Randy Weaver, ein Buch über seine Lebensgeschichte auf einer Waffenmesse in Lincoln, Nebraska. Das Weaver- Martyrium wollte Timothy McVeigh mit seinem Attentat im April 1995 in Oklahoma-City rächen. Weaver hatte einige Jahre zuvor seine Familie nach Idaho, in eine Gebirgsgegend namens Ruby Ridge, evakuiert und sich dort mit einem ganzen Waffenarsenal verschanzt. Als das FBI kam, um ihn wegen illegalem Waffenhandel festzunehmen, starben seine Frau und sein Sohn im Schußwechsel. Weaver wurde dadurch zu einem Volkshelden der Rechten. Auf der Waffenmesse überreichte ein Indianer ihm zeremonielle Geschenke. Der Indianer war der einzige Nicht-Weisse im Saal, er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: „Der Geist von Crazy Horse lebt.“ Weaver sagte zu ihm: „Ich schätze, wenn man ähnlich wie ich von den Stiefeln der Bundesregierung getreten wurde, weiß man eben, wie sich das anfühlt.“ Auch Weavers Rächer Timothy McVeigh hätte dieses Prädikat „Unter dem Stiefel der Bundesregierung gelitten zu haben“ gerne für sich in Anspruch genommen. Doch obwohl die amerikanische Öffentlichkeit über die Belagerung von Ruby Ridge schockiert war, zeigte sie wenig Bereitschaft, für die Argumente McVeighs in seinem eigenen Fall ein ähnliches Verständnis aufzubringen. Das Vorgehen des FBI, seit dem Attentat in Oklahoma solche gewalttätigen Erstürmungen von Waffenburgen wie die bei Ruby Ridge und Waco, Texas zu vermeiden, hatte die Öffentlichkeit beschwichtigt. In einem Punkt aber gab es immer eine seltsame Einigkeit zwischen McVeigh und der US Regierung. Sowohl der Angeklagte, als auch die Staatsanwaltschaft bestanden darauf, dass das Attentat von einer einzigen Person ausgeführt wurde: McVeigh war der Kopf der Aktion, wobei er seine zwei Komplizen unter massiven Druck setzte. Doch verschiedene Prozeßbeobachter, von den Verteidigern bis hin zu Angehörigen der Opfer, haben mehr als genug Anhaltspunkte dafür gefunden, daß hinter diesem Einzeltäter, der so offensichtlich ein Martyrium für sich sucht, noch ganz andere an der Tat beteiligte Kreise existieren. War es blosser Zufall, dass ein gewisser Richard Snell, der selber einst angeklagt war, das Gebäude in Oklahoma City 1982 in die Luft jagen zu wollen, genau am Tag des Attentats von Mc Veigh in Arkansas wegen Mordes hingerichtet wurde? Hatte der Rechtsextremist Snell nur geprahlt, als er Racheaktionen am Tag seiner Hinrichtung ankündigte? War McVeigh wirklich immer nur ein „einsamer Wolf“ gewesen?

    Je mehr man über die amerikanische rechte Bewegung weiß, desto weniger kann man zwischen einem Einsamer Wolf-Szenario und Verschwörungsszenarien unterscheiden. Die weißen Rassisten haben es im multiethnischen Amerika aufgegeben, Wählerschichten für sich gewinnen zu wollen oder öffentliche Ämter anzustreben. Weil sie sich damit von allen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen haben, so behauptet wenigstens Thomas Grumke in seiner sehr gründlichen Studie über den „Rechtsextremismus in den USA,“ bleiben ihnen fast nur terroristische Gewaltakte als Handlungsmöglichkeit. Einer der Hauptstrategen der extremen US-Rechten, das ehemalige Ku-Klux-Klan-Mitglied Louis Beam, hat dazu eine Strategie entwickelt, die eine Adaptation und Zuspitzung klandestiner kommunistischer Organisationsmodelle – eine Reihe untereinander isolierter Zellen unter einem Zentralkommando – darstellt. Beam sieht für seine Bewegung die Schaffung von lauter „Phantomzellen“ vor, die aus nur einem Mann, ohne eine lenkende Zentralinstanz bestehen und so aktiv werden sollen. In diesem Konzept eines „führungslosen Widerstands“ nimmt die Rechte zwar ideologischen Einfluss auf gewaltbereite Männer wie McVeigh, doch beteiligt sie sich nicht direkt an deren Taten. Auf einer Waffenmesse in Tulsa Oklahoma hatte McVeigh 1994 erstmalig ein Mitglied aus der rechtsradikalen Gruppe „Elohim City“ getroffen. In den Monaten vor dem Attentat besuchte mehrmals McVeigh diese separatistische Gemeinschaft, mit der auch Richard Snell kurz vor seinem Tod in Verbindung stand. Amerikas Waffenmessen sind für die extreme Rechte ungefähr dass, was Grosstadt Busdepots für die Prostitution ist: Hier verwirrte, von zu Hause weggelaufene Mädchen, die zu einer leichten Beute für Zuhälter werden, dort vereinsamte Menschen wie McVeigh, die sich nur mit Waffen sicher fühlen. Die Liebe zu Waffen gehört auf intimste Weise zur amerikanischen Tradition. Für viele weisse Männer, die in den dahinsiechenden agrarischen und industriellen Regionen der USA leben, besitzen Waffen eine eigene Magie. Sie erweitern die Macht und Potenz eines Menschen fast ebenso wie das Geld, das die meisten dieser Männer nicht haben. Timothy McVeigh, zum Beispiel, ist Enkel eines Bauern aus dem Norden des Bundesstaates New York, der seinen Hof aufgeben musste. Sein Vater war Arbeiter in einer Autofabrik bei Buffalo, die ab den frühen neunzigerjahren keine Leute mehr einstellte. McVeighs Helfer bei der Vorbereitung des Attentats, Terry Nichols, war ebenfalls ein Bauer, der in den Achtzigerjahren seinen Hof in Michigan verlor. In diesen Milieus ist die Waffe statt der Farm, das einzige, was von den Pioniertagen übrig blieb – das letzte, zudem immer mehr symbolischer werdende Mittel zur Verteidigung und Selbstversorgung.

    In der Person von McVeigh vereinigen sich für die extreme Rechte mehrere positive Eigenschaften: Er war ein hochdekorierter Soldat, den seine Kampferfahrungen im Golfkrieg jedoch enttäuscht, wenn nicht traumatisiert hatten und der anschließend nur noch eine Anstellung als unterbezahlter Wachmann bei verschiedenen Firmen in Buffalo fand. Wie ein gefangener Wolf im Zoo drehte er fortan seine nächtlichen Runden auf Betriebsgeländen – zu deren Sicherheit. Dazu gehörte auch der Zoo von Buffalo, wo er sich während seiner Arbeit mit einem der Raubtiere näher anfreundete. Als er anfing, regelmäßig Waffenmessen zu besuchen, war er schon mit rechtsradikalem Gedankengut vertraut. Besonders beeinflußt hat ihn der Roman „Die Turner Tagebücher“, den er sich über die Waffen- und Militärzeitschrift „Soldiers of Fortune“ bestellte. Der Autor ist ein amerikanische Nationalsozialist namens William Pierce. Seinen 1976 veröffentlichten Text betrachtete später das FBI als direkte Handlungsanleitung für McVeighs Oklahoma-Attentat. Der Roman beginnt halbwegs realistisch – mit einer Razzia bei Waffenbesitzern. Die Handlung spielt in der Zukunft: Waffen in Privatbesitz sind inzwischen streng verboten. Der Romanheld Turner sieht sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gezwungen, in den Untergrund zu gehen, wo er sich einer rechten, gegen die Regierung kämpfenden Organisation anschließt. Diese finanziert sich zunächst durch einen tödlichen Überfall auf einen jüdischen Lebensmittelhändler. Trotz verschiedener Rückschläge gelingt es ihren autonom agierenden Kampfzellen, sich auszubreiten – konkret: innerhalb sechs Jahren, erst Los Angeles, dann Washington und schließlich die ganze Welt zu beherrschen. Ein schwindelerregendes Szenario für einen jungen Waffennarren wie McVeigh. Als Kind flüchtete er sich vor der unglücklichen Ehe seiner Eltern in Comic-Geschichten von Superhelden. Mit 20 ging er zur Armee, ihm gefielen besonders ihre Werbeslogans: „Lerne die Welt kennen“ und „Leiste schon vor 9 Uhr morgens mehr als die meisten Menschen den ganzen Tag“. Die „Turner Tagebücher“ bieten gerade für solch gute amerikanische Patrioten wie McVeigh eine Perspektive: Mit Einsatzfreude und technischer Versiertheit können sie selbst „Caesar und Napoleon“ überflügeln. Der Autor, Pierce, will damit sagen, daß die moralische und rassische „Degeneration“ des ursprünglichen Weißen Amerikas immer noch rückgängig zu machen ist. Seine Vorstellung von einer weißen Vorherrschaft ist zugleich ein paranoischer Widerhall der Hoffnungen amerikanischer Indianer im später 19.Jahrhundert, deren Erweckungsbewegung vom Verschwinden aller Weißen und der Rückkehr der Bisonherden ausging. Diese Heilslehre breitete sich wie ein Feuer über die trockenen Ebenen der ihnen noch verbliebenen Territorien aus. Die indianische Euphorie drückte sich in sogenannten Geister-Tänzen aus, die Männer und Frauen bis zur Erschöpfung veranstalteten. Eine solche Tanz-Zeremonie – auf dem Pine Ridge, South Dakota- war es dann auch, aus der sich 1890 die Schlacht am Wounded Knee entwickelte, die den Endsieg der Weißen über die Indianer bedeutete. Bei ihren Tänzen trugen die Siuox Baumwollhemden, die sie mit Symbolen der Erweckungsbewegung bemalt und deren Ränder sie ausgefranst hatten, damit sie ihrer traditionellen Lederkleidung ähnelte, die sie nicht mehr besaßen. Auch Timothy McVeigh trug ein Baumwollhemd, als ihn die Polizei von Oklahoma bereits wenige Stunden nach dem Attentat in seinem Auto – wegen fehlender KFZ-Kennzeichen und illegalem Waffenbesitz – verhaftete. Bei der Vernehmung, so wunderte sich einer der Polizisten im Nachhinein, wirkte McVeigh merkwürdig ruhig, obwohl es seine erste Verhaftung war. Der Beamte bemerkte auch sofort das merkwürdige T-Sirt: vorne war ein Porträt des ermordeten Abraham Lincolns und hinten ein Baum draufgedruckt. Ihm entging jedoch der Revolutions-Spruch unter den Graphiken: „Der Baum der Freiheit muß immer wieder mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen getränkt werden“. Deswegen kam der Polizist, der immerhin wie alle seine Kollegen an dem Tag bei der Fahdnung nach den Beteiligten am Bombenüberfall eingesetzt war, auch nicht darauf, daß er den politischen Attentäter bereits gefaßt hatte. McVeighs politische Ideen über die Beziehungen zwischen dem Individuum und dem Staat, die er mit praktischen, aus den alten Pionierzeiten überkommenen Überlebens-Techniken, verband, waren einerseits zu intellektualistisch und andererseits zu asketisch, um vom Durchschnittsamerikaner ernst genommen zu werden. Randy Weaver, der Märtyrer von Ruby Ridge, der weniger zu Einsamkeit und politischer Reflexion neigt, ist aus seinem Idaho-Versteck in die amerikanische Zivilisation zurückgekehrt – mit einer neuen Frau und einer Harley-Davidson in der Garage. Die meisten Leute, die auf Waffenmessen sein Buch über seinen bewaffneten Zusammenstoß mit der Staatsgewalt kaufen, „wollen eher mit mir reden als ich mit ihnen“, erklärte er der Washington Post. Manchmal denkt Weaver noch an die Jahre auf Ruby Ridge zurück, wo seine dann erschossene und zur Opferikone gewordene Ehefrau im Sommer mit den Kindern eimerweise Blaubeeren gesammelte und für den Winter Lebensmittel eingekocht hatte. Aber ansonsten hat er all das hinter sich gelassen, behauptet er. Dennoch spielt Weaver gelegentlich wieder mit dem Gedanken, ein Stück Land in den Bergen von Arkansas zu kaufen, mit einem kleinen Haus an einem kalten Bach – „aber wer zum Teufel würde noch so leben wollen…“ sagt er zu niemandem bestimmten.

    3. zwei amerikanische Terroristen

    Unter der ständigen Überwachung im Gefängnis „Supermax“ in Colorado, entwickelte sich ein Freundschaft zwischen Timothy McVeigh und Theodore Kaczynski, dem sogenannten UNA-Bomber: ein Mathematiker und Ökoterrorist, der über 20 Jahre lang von seinem Versteck in der Montanawildnis Briefbomben an Personen schickte, die er als verantwortlich für die Zerstörung der Natur durch die fortschreitende Technik erklärte. Die beiden Häftlinge lernten sich während der täglichen Freistunde, die sie außerhalb ihrer Einzelzelle verbringen dürfen, kennen. McVeigh meint: „Ich bin sehr rechts, während er sehr weit links steht, aber sonst sind wir uns ziemlich ähnlich. Alles, was wir jemals wollten, was wir von diesem Leben wollten, war die Freiheit, unser Leben genau so zu leben, wie es uns vorschwebte“. Kaczynski erzählt: „Er war sicherlich kein gemeiner oder feindseliger Mensch, und nichts deutete darauf hin, daß er solch ein Superpatriot war. Ich vermute, er ist eigentlich ein Abenteurer, aber seit dem Ende der Pionierzeit hat Amerika wenig Platz für Abenteurer“. Sowohl McVeigh als auch Kaczinski, wenn man ihren Spuren folgt, die sie ins Supermax führten, wirken weniger wie zwei Terroristen mit unterschiedlichen Ideologien, sondern wie zwei amerikanische Trapper mit umgekehrten Vorstellungen. Man kann sagen, daß beide eine Hochachtung für die Natur haben und beiden eine hohe Wertschätzung von Waffen eigen ist. Doch für den UNA-Bomber stellt die Natur die Große Ordnung dar, in der man am Besten mit einem Jagdgewehr klar kommt. Für den Oklahoma-Bomber sind dagegen die Waffen vor allem ein rhetorisches Werkzeug des Bürgers, sie haben nur zufällig ihre wahre Bestimmung im Wald. Kaczynski Weg in den Terrorismus begann, als er sich – wie viele Intellektuelle in den Siebzigerjahren – entschied, seine bürgerliche Existenz aufzugeben und in den Bergen zu leben. Doch was als Interesse am Erlernen der Techniken, die ein autonomes Leben im Wald ermöglichen, begann, wandelte sich eines Tages, als er aus seiner Hütte in der Nähe von Lincoln Montana, flüchtete, um den Sommertouristen zu entkommen. Er trekkte zwei Tage, um zu seinem Lieblingsort zu gelangen: ein uralter Tafelberg, der wie eine Festung von Felsen und Wasserfällen geschützt war. Doch als er ankam, hatte man dort eine Autostraße quer durchs Gebirge gebaut. McVeigh wurde Terrorist, als er endgültig davon überzeugt war, daß die Regierung den Bürgern das Grundrecht streitig macht, Waffen zu tragen. Ausschlaggebend dafür waren seine Erfahrungen im Golfkrieg, wo er als MG-Schütze auf einem Aufklärungspanzer eingesetzt war. Noch auf Distanzen von über 1000 Meter- das entspricht ungefähr zwei Fußballfeldern – verwandelte ein Schuß aus seiner Waffe irakische Soldaten in eine Art roten Nebel. Die hoffnungslose Unterlegenheit der mit „normalen Waffen“ ausgerüsteten Gegner sah er dann erneut bei der Belagerung von Waco, Texas, wo die Verteidiger in einem Feuersturm untergingen.

    Einige Jahre vor der Amerikanischen Revolution schlug das reale Vorbild für „Lederstrumpf“, Daniel Boone, einen Trapperpfad quer durch die Wildnis der Apalachen, der später zur Hauptstraße in den Westen wurde. Indem Boone dies tat, wurde er zum ersten Vertreter einer neuen Klasse von professionellen Indianer-Bekämpfern. Aber eigentlich ging es ihm dabei um die Jagdgründe der Blue-Grass-Ebenen von Kentucky, deren saftige Weiden Herden von Hirschen, Bisons und Elchen anlockte, so wie sie schon in uralten Zeiten Mastodons und Mammuts angelockt hatten. In den Augen des Trappers Boone kamen die Ebenen von Kentucky dem Paradies gleich, die aristokratischen Jäger Europas konnten sich Derartiges nicht einmal vorstellen: „Diese Vielfalt an Blumen und Früchten, alle in wunderbaren Farben, wohl gestaltet und verführerisch im Geschmack. Immerwährend wurden wir jedoch von ihnen abgelenkt, weil vor uns unzählige Tiere auftauchten“.

    Amerika wurde aufgebaut mit einer optimistischen Idee, mit der Idee der Aufklärung: Wenn eine Mehrheit in der Gesellschaft ihre Geschicke selbst bestimmt, wird daraus eine bessere Gesellschaft als jemals zuvor werden. Die ideale Bürgergesellschaft ist sozusagen das komplement zu Amerikas paradiesischer Natur. Es kam dabei jedoch auch eine eher pessimistische Idee zum Tragen: Demnach hatten die europäischen Zivilisationen und Monarchien alles Gesellschaftliche derart mißgestaltet, daß es geboten war, in der Wildnis, in einer unbekannten Natur, einen Neuanfang zu machen – völlig unabhängig von der Zivilisation. Dies ist die dunkle, puritanische Seite des Amerikanischen Traums, wie sie von D.H.Lawrence in einer kleinen, meisterhaften Skizze über den amerikanischen Geist beschrieben wurde. Was Lawrence darin als „Anti-Humanismus“ begreift, findet sich wieder in dem Wunsch von McVeigh und Kaczynski, fernab von der optimistischen Gesellschaft der Mehrheit ihr Leben führen zu wollen. Bis jetzt gab es immer reichlich Raum auf dem Kontinent, um die meisten Versionen des amerikanischen Traums auszuleben: Die Freiheiten in Utah oder Arizona waren andere als die in Washington D.C. oder New York. Gewährleistet wurden sie einmal durch die Größe des Raumesund zum anderen durch die Verfassung, deren erste zehn Grundrechte dem Bürger, zumindestens den weißen Männern, ein für Nationalstaaten ungewöhnliches Maß an Widerstand gegen die staatliche Ordnung einräumten. Natürlich kam es dabei immer wieder zu Einschränkungen: Zuerst verlor der Süden gewaltsam das Recht, Sklaven zu halten. Dann verloren die Bauern im Mittleren Westen, die sich bis dahin für das Herz der Nation gehalten hatten, ihr Freiheitsgefühl – und fanden sich trotz ihres organisierten Widerstands in den Fängen der Gesetze wieder, die Banken, Eisenbahnen und Handel begünstigten. Die Angst vor dem schrumpfenden Raum und dem Verschwinden der Rechte oder vielmehr der Bedeutungsverlust dieser beiden Faktoren wird von McVeigh und Kaczinsky ausgedrückt, die von sich behaupten, daß sie eigentlich nur friedliche Bürger sein wollten und zutiefst unpolitisch sind. Sie sprechen von der „Omnipräsenz“ der Macht, und meinen, daß die Überwachung der Bürger schlimmer geworden sei als alle altstaatlichen Repressionen. Alles in allem ist es eine Klage über den Verlust des Westens, über einen vor allem seelischen Verlust. Wenn es heute ein gesellschaftliches Gegenstück zur paradiesischen Fülle der Kentucky Blue-Grass-Ebenen gibt, dann könnten dies die Wal-Mart-Billigkaufhäuser sein. Diese Kette ist inzwischen der weltgrößte Privatarbeitgeber, und rangiert in Amerika gleich hinter der Bundesregierung. Dabei entwickelte der Konzern sich zum einem wahren Leibhaftigen – für Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten, u.a. wegen seiner Hyper-Überwachung der Beschäftigten, für Stadtplaner und Bürgerinitiativen, weil Wal-Mart mit seinen Filialen, die mitunter die Größe von vier Fußballfeldern einehmen, das kommerzielle und gesellige Leben in ländlichen und kleinstädtischen Gebieten buchstäblich ausradiert.

    Nebenbeibemerkt weigerte sich Wal-Mart, wo fast nur die unteren Schichten einkaufen, als einzige große Verkaufskette, McVeighs Biographie „American Terrorist“ zu verkaufen. Für McVeigh, der sich für die Überlebenstechniken der Pioniere begeisterte, war es aber sicher weitaus bitterer, daß so vielen seiner Landsleute im wesentlichen nur dieser schäbige Konsumismus geblieben ist. Während für Kaczinski dabei eher die Vernichtung der Natur zu Schleuderpreisen das Tragische ist. Beide sind jedoch gegen die Omnipräsenz von Wal-Mart und FBI nicht im sozialistischen Sinne, sondern aus Mißtrauen gegenüber der Mehrheit. Ihre Terrorakte verstehen sie auch als „Gnadenakte“ – in dem pessimistischen Bewußtsein, daß die meisten Amerikaner weder begreifen, was in ihrem Land vor sich geht, noch Widerstand dagegen leisten wollen. Deswegen ist beider amerikanisches Ziel, unabhängig zu leben, geprägt von puritanischer Misanthropie. Schon die alten Trapper in Kentucky hatten viele Feinde: schwer zu überwindende Berge, die Bären, die britische Krone, die Regierung in Washington, wilde Indianer. – Allerhand Feinde bei der Verteidigung des Paradieses.

    4. Ist Timothy McVeigh ein rechter und Theodore Kaczynski ein linker Terrorist – wie das ihre jeweiligen Sympathisantenkreise nahelegen? Und lohnt sich die Unterscheidung überhaupt noch?

    Vor einiger Zeit fand in Graz ein Symposion über Kriminelle statt, dort war man sich bald einig, z.B. in dem rechtsradikalen Österreicher Franz Fuchs, der im Namen einer „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ Briefbomben an linksliberale Prominente verschickte, einen bösen – und in dem Berliner Kaufhauserpresser Arno Funke, dessen Rohrbomben nie einen Menschen gefährdeten, einen guten Verbrecher zu sehen. McVeigh und Kaczynski diskutierten im Gefängnis eine ähnliche Differenz zwischen ihren Taten: Der UNA-Bomber warf dabei dem Oklahoma-Bomber vor, daß er Unschuldige (Kinder) tötete, während Kaczynski gezielt die seiner Meinung nach Schuldigen (Verantwortlichen) angriff.

    Der demokratische Staat fühlt sich von Links- und Rechtsradikalen gleichermaßen herausgefordert, deren Bedrohungspotential u.a. der Verfassungsschutz alle Jahre wieder einschätzt. Hier hat sich dennoch die Ansicht erhalten, daß die Linke sich auf die Organisierung des Widerstands bis zum Aufstand konzentriert, während die Rechte eher zum Staatsstreich neigt. „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift,“ so sagte es Karl Marx – und seitdem ist der unblutige Generalstreik gewissermaßen das Meisterstück für die Linke. Von Adolf Hitler stammt dagegen die Überzeugung: „Männer machen Geschichte, nicht die Massen!“ In diesen unterschiedlichen Machtübernahme-Konzepten geht es auf der einen Seite um die Verschärfung der sozialen Kämpfe und auf der anderen um die Eroberung von Schlüsselpositionen, wobei dem Attentat eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Die Rechte neigt darüberhinaus aufgrund ihres Krieger-Ideals generell zu waffentechnischen „Lösungen“, während die Linke zunächst die Überredungskunst forciert – bis hin zu den schönen Künsten. Wer den Aufstand, mindestens einen Massenprotest, nicht organisieren kann, dem bleibt nur das Attentat – als Fanal mit einem möglichst hohen Symbolwert. Daneben kann man ganz allgemein bei den heutigen Partisanen einen starken Hang zu nichtsozialistischen oder sogar antikommunistischen Ideen feststellen. Auch bei den Einzelkämpfern McVeigh und Kaczynski: Dieser, insofern er einen vorindustriellen Zustand anstrebte und jener wegen seiner Neigung zum Herrenmenschentum.

    Bereits 1930 verfaßte der italienische Schriftsteller Curzius Malaparte eine „Technik“ des Staatsstreichs und des Aufstands, wobei beides für ihn identisch war. Leo Trotzki hat ihn deswegen als einen „faschistischen Theoretiker – so etwas gibt es“ angegriffen, der uns Märchen über die Macht erzählen will – es geht dabei um ihr „Ergreifen“, das bei den Kommunisten wesentlich ein Schüren und Kanalisieren des Unmuts ist. Für Malaparte ist dagegen die Machtübernahme ein Problem planerischer Putsch- „Intelligenz“. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion avancierte er schon fast zu einem Vordenker der bürgerlichen Widerstandsforschung. So unterscheidet z.B. der Jerusalemer Kriegsforscher Martin van Creveld, dessen Schriften hierzulande von einem Versicherungskonzern verlegt werden, nicht mehr zwischen linken, kommunistischen und rechten, nationalistischen Partisanen- bzw. Guerillabewegungen. Er sieht überall nur noch „low intensity conflicts“, die jedoch für die davon betroffenen Staaten gefährlicher als reguläre Kriege seien.

    An dieser Malaparteschen Differenz – zwischen den Staaten und ihren Herausforderern – hakt auch der Berliner Politologe Herfried Münkler an – in einer Studie über die neuen „privatisierten Kriege“. Er meint darin, daß der Bürgerkrieg nunmehr die Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln ist. Van Creveld begreift den Krieg dagegen eher als Fortsetzung des Sports. Konkret könnte er dabei an die jüngste Verwandlung des Fanclubs von Roter Stern Belgrad in eine Tschetnik-Einheit gedacht haben. Direkt auf Malapartes Machtübernahme-„Analyse“ beruft sich ein französisches Autorenkollektiv, das sich mit der „Ökonomie in Bürgerkriegen“ befaßt hat, wobei Widerstandsbewegungen rund um den Globus analysiert wurden: Egal ob rechte oder linke – seit dem Ende des Kalten Krieges sind sie alle mehr oder weniger korrupt geworden und statt dem Volke zu dienen, wirtschaften sie nur noch in die eigene Tasche: Das ist der Tenor ihres gesamten Buches. Einige der Autoren arbeiten im französischen Verteidigungsministerium, andere in NGOs oder an Universitäten.

    In Deutschland gibt es eine Theorie und Philosophie gebliebene Entfaltung des Partisanenkriegs – angefangen von Stein, Gneisenau, Clausewitz und Fichte, darüberhinaus jedoch vor allem eine lange Tradition der Vernichtung von Partisanen – als Verbrecher. Die Verfasser zweier berühmt gewordener Partisanen-Schriften – Ernst Jünger und Rolf Schroers – sahen ihren Widerstand nach dem verlorenen Krieg denn auch höchstens noch im „Privatpartisan“ – im einsamen „Wolf“ – aufgehoben, der sich u.a. gegen die Popkultur stemmt – als eine Art intellektueller Maschinenstürmer. In der westlichen Studentenbewegung orientierte man sich zunächst an existentialistischen Individualrevolten – wie die der Beatniks, dann an den siegreichen algerischen, kubanischen und vietnamesischen Partisanen-Konzepten. Einigkeit bestand außerdem darüber, daß die Linke sich stets gegen die da oben organisiert, während die Rechten eher nach unten treten. Neuerdings wird jedoch wieder der vergrübelte Einzelkämpfer favorisiert. Für Alexander Kluge ist die intellektuelle Tätigkeit schon fast automatisch Partisanentum und Paul Parin sowie Jacques Derrida sehen ihn heute in den Computer-Hackern verkörpert. Tatsächlich riefen neulich schon zwei große rotchinesische Hacker-Verbände landesweit dazu auf, den US-Imperialismus anzugreifen und in München trafen sich Vertreter aus Industrie, Politik und Militär, um Strategien gegen den „Cyberterrorismus“ zu diskutieren. In Jerusalem diskutierte jetzt der selbe Kreis das selbe Problem mit israelischen Experten. Dort wird inzwischen jedoch auch schon praktisch via Internet gekämpft. Die palästinensischen Hacker-Gruppen haben in ihrem Cyberwar, „E-Jihad“ genannt, bereits mehr als 80 Internet-Attentate durchgeführt, sie werden unterstützt vom „Pakistan Hackerz-Club“ sowie von Hackern im Libanon, in Ägypten, Großbritanien, Brasilien und den USA. Außerdem bahnt sich ein „ideologisches Zusammenrücken von Islamisten und Neonazis“ an, wobei letztere ihre „Cyber-Attentate“ ebenfalls forcieren wollen. Auf der anderen Seite gelang den israelischen Hackern jedoch ebenfalls schon die eine oder andere Attacke gegen Websites der Palästinenser. Hilfe bekommen sie vom „Institute for Counter-Terrorism“, das von den israelischen Geheimdiensten Mossad und Schabak geleitet wird. Und nun eben auch von offiziellen deutschen Stellen – die damit zwar ihren überwundenen Antisemitismus beweisen, aber nach wie vor ihre Tradition der Partisanen-Vernichtung unterstreichen.

    Desungeachtet nehmen weltweit die Internet-unabhängigen Partisanen-Verbände zu und immer mehr Staaten geraten nicht nur von oben durch das internationale Kapital, sondern zusätzlich auch von unten infolge ihrer Bürgerkriege in die Krise. Für die o.e. französischen Kriegsökonomie-Forscher besteht das Beunruhigende vor allem darin, daß die heutigen Partisanenformationen, egal ob rechts, links, religiös oder ethnisch identifiziert, oftmals so lange kämpfen, bis alle wirtschaftlichen Mittel in ihren „befreiten Gebieten“ erschöpft sind, einschließlich der humanitären Hilfslieferungen. Und daß sie sich – nicht zuletzt über ihre Sympathisanten im Ausland – „in der Diaspora„ – zu multinationalen Banden-Geflechten, wenn nicht gar Konzernen, entwickeln – seitdem die Unterstützung ihrer Kämpfe aus dem Osten oder aus dem Westen weggefallen ist.

    Zur Begründung ihrer Staatsgefährdung führt Martin van Creveld eine weitere Unterscheidung an: Auf der einen Seite die Irregulären, die wirklich kämpfen wollen – bis zum Tod, und auf der anderen Seite die regulären Soldaten, die zunehmend weniger motiviert sind: „Entweder ist man stark oder man hat das Recht, beides geht nicht,“ meint er. Diese Unterscheidung kann man noch einmal bei den Befreiungsbewegungen selbst treffen. Der Frankfurter Widerstandsforscher Hans Grünberger sagt deswegen „Der Partisan ist eine Kippfigur“: Scheitert der Aufstand – wird er zum Kriminellen, gelingt der Aufstand wird er Offizier oder Staatsbeamter. Die Partisanen sind also nicht nur beweglich im Raum, sondern auch flüchtig in der Zeit. Die Psychologie attestiert ihnen gerne mangelnde Reife – bis hin zu Neurosen und Psychosen, während die Politikforschung ihren Hang zu Fanatismus und Despotismus herausstreicht. Der Psychoanalytiker Paul Parin entdeckte 1945 in Jugoslawien sogar eine regelrechte „Partisanenkrankheit“. Sie besteht kurz gesagt darin, nicht mehr mit dem Kämpfen aufhören zu können. Und ist somit das genaue Gegenteil von einer „Kriegsneurose“, mit der Soldaten sich vor weiteren Fronteinsätzen schützen.

    „Es ist eine schwierige Klientel,“ so charakterisierte gerade ein kolumbianischer Rechtsanwalt die Partisanen. Die deutsche Terroristin Inge Viett äußerte sich in ihrer Biographie ganz ähnlich – über einige ihrer ehemaligen männlichen Mitkämpfer. In einer Diskussion bestritt sie neulich jedoch, daß es so etwas wie rechte Partisanen überhaupt geben könne: Weil das Partisanentum die Form einer Volkserhebung ist – während die Rechte diese genau (technisch) verhindern will. Exakt andersherum argumentieren dagegen der Widerstandsforscher und Mitbegründer der Künstlersozialkasse Rolf Schroers sowie der faschistische Staatstheoretiker Carl Schmitt: Für sie kämpfen Partisanen immer und überall für die Wiederherstellung eines alten Rechts- und Autonomie-Raumes, wohingegen alle die, die für etwas noch nie Dagewesenes Partei ergreifen, bloß Revolutionäre sind. So gesehen wären die beiden US-Terroristen wenn schon nicht die letzten so doch echte Partisanen. Für uns deuten sie damit eher, auch ohne es zu wollen, auf echten sozialen Sprengstoff hin, d.h. auf einen fortschreitenden Zerfall von Gesellschaft.

    (Dieser Text stammt bis auf den letzten Teil von der amerikanischen Journalistin Anjana Shrivastava)

  • Auch der inzwischen verstorbene Wolfgang Neuss unternahm einmal eine Reise nach Amerika:

    Darüber berichtete er im Zusammenhang „dreier Reisen ins Leben“:

    Der Berliner Kabarettist, Schauspieler und taz-Einflüsterer erzählte Ende der Achtzigerjahre dem Rundfunkjournalisten Thomas Hackenberg drei Reisegeschichten, die kürzlich von Professor Volker Neuhaus als CD veröffentlicht wurden.

    Seine erste Reise trat Wolfgang Neuss als Kind Ende der Zwanzigerjahre zusammen mit seinem Vater an: Die beiden fuhren mit dem Zug von Breslau ins Rheinland, um dort Verwandte zu besuchen. Der Vater hatte als ehemaliger Offizier zunächst ein hochstaplerisches Leben geführt, war dann aber immer mehr heruntergekommen – bis er zuletzt mit einer Vorstadt-Kneipe pleite ging, sich ständig betrank, seine Familie tyrannisierte und insbesondere seinen Sohn Wolfgang oft verprügelte. Im Rheinland wurde er jedoch plötzlich wieder „nüchtern und vornehm“, wie Neuss sich ausdrückte, der auf dieser Reise seine erste spirituelle Erfahrung machte: Sein Vater mußte in der Familie, in die er eingeheiratet hatte, den Geist des im Ersten Weltkrieg gefallenen Bruders seiner Mutter verkörpern – das wurde dem Sohn unterwegs plötzlich klar.

    So etwas Ähnliches ist auch mir einmal passiert – als ich im „Deutschen Herbst“ 1977 mit einem Pferd in Richtung Süden aufbrach, um aus diesem Land raus zu kommen und dabei in verschiedenen Landwirtschaften arbeiten wollte. Nicht nur hatte meine Mutter mich nach ihrem Bruder benannt, der im Zweiten Weltkrieg auf dem Ukraine-Feldzug der deutschen Wehrmacht gefallen war, er war auch noch bei der Kavallerie gewesen. Und das einzige, was die Familie später von ihm besaß, war sein Pferdestriegel, den ich dann unterwegs auch dabei hatte – für mein Pferd. Diese komischen Zusammenhänge fielen mir jedoch erst später ein und auf. Wolfgang Neuss hätte dazu gesagt, was nicht bewältigt ist, muß immer wieder aufs Neue durchgespielt werden.

    Seine zweite Reisegeschichte, die er Thomas Hackenberg erzählte, ereignete sich ebenfalls in den Siebzigerjahren, als er noch Kabarettist war. Da wurde er von dem SDS-Aktivisten Gaston Salvatore, der ein Buch über Neuss – „Der Mann mit der Pauke“ – geschrieben hatte, überredet, nach Chile zu fahren. Neuss, seine Freundin Gisela und ihr Hund Tallo nahmen ein Schiff, das von Genua nach Santiago fuhr, während Salvatore direkt dort hinflog. Die lateinamerikanischen Hafenstädte unterwegs begeisterten Neuss sehr, aber in Chile, wo er einfach nur Urlaub machen wollte, – „Ich dachte, Du bist doch berühmt, hab auch mal was davon!“ – geriet er sogleich in den selben „Polittouristen-Schickimicki“-Rummel wie in Berlin – und gab zum Beispiel ein Interview nach dem anderen: „Ich brauchte sofort wieder Schlaftabletten“.

    Dazu flog er kurz zurück nach Westberlin. Als er wieder in Santiago ankam, wurden Gisela und er als mutmaßliche Sympathisanten der revolutionären Organisation MIR verhaftet. Das Gerücht, sie wollten sich dem chilenischen Widerstand anschließen, war zuvor auch schon in Westberlin rumerzählt worden. Nach einigen Tagen Gefängnishaft schob man die beiden jedoch mitsamt ihrem Hund nach Deutschland ab.

    Neuss geht – als „Reisespezialist“ – davon aus, dass man nie einfach irgendwohin reist, um sich touristisch dies und das anzukucken, denn immer ist da „ein alter Geist“, der über einen kommt. Als spirituelles Erlebnis seiner ersten Lateinamerikareise blieb ihm im wesentlichen nur ein Besuch des Denkmals von Simon Bolivar – in Carracas, vor dem er – obwohl Protestant – automatisch-katholisch den Hände faltete und eine Weile verstummte.

    Seine dritte Reisegeschichte spielt während des Krieges in Russland. Die Front ist – „bei 44 Grad unter Null“ – erstarrt. Neuss, als der mit 17 Jüngste der Kompanie, muß ausgerechnet an Heiligabend Wache schieben. Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Milchausgabestelle am anderen Ufer der Wolga, desertiert er. Er leiht sich Zivilklamotten und ein Pferd, mit dem er 300 Kilometer weit bis nach Smolensk kommt. Seine Kompanie wird inzwischen überrannt und vollständig vernichtet. Was Jaroslav Haseks „Schwejk“ im Ersten Weltkrieg ist Wolfgang Neuss im Zweiten – sogar fast an der selben Stelle wieder: an der Mittleren Wolga. Und dieses Wiedergängertum setzt sich in Smolensk fort, wo man ihn erneut an die Front schickt.

    Die Rote Armee greift die von den Deutschen besetzte Stadt an, Neuss überlebt als einer von wenigen. Als der Gefechtslärm nachläßt und er den Kopf aus dem Schützengraben hebt, sieht er einen Russenvor sich – keinen toten, sondern einen lebenden. Erneut duckt er sich weg, als er nach einer Ewigkeit wieder hochkommt, ist der Russe verschwunden. Neuss beschließt, sich auf dem schnellsten Wege ins Lazarett zu begeben: „Dazu habe ich mir mit meinem Karabiner den Finger weggeschossen. Und bin dadurch Kabarettist geworden. Im Lazarett habe ich Witze erzählt – kam gut an.“ Das gilt auch für seine ersten öffentlichen Auftritte dort.

    Damit hat er nach einer Zeit als Landwirt, Fleischer, Soldat und Deserteur seine Lebensaufgabe gefunden. Es brauchte dazu jedoch ebenfalls noch eines spirituellen Erlebnisses. Dieses bestand darin, dass Neuss – als er elf Jahre zuvor mit seinem Vater aus dem Rheinland zurückgekehrt war – zu Hause in Breslau einen Antikriegs-Artikel vorfand, den sein Onkel Willi, der zweite Bruder seiner Mutter, der nach Amerika ausgewandert und Sheriff in Winnipeg geworden war, in einer – wahrscheinlich deutschsprachigen – Zeitung veröffentlicht hatte, um sich ein paar Dollar dazu zu verdienen. Ein kleines pazifistisches Kitschfeuilleton und schlechtes Schwejk-Plagiat:

    Zwei feindliche Soldaten liegen sich an der Front gegenüber – und erkennen sich dabei jäh als Brüder. Neuss war, als er das las, kein Pazifist, aber nun, da ihm soeben bei Smolensk nahezu das selbe passiert war, wollte er was daraus machen. Der Drogenexperimentierer, der er später wurde, spricht von einer „Opiumgeschichte – zwei Soldaten stehen sich gegenüber und sehen gleich aus. Ohne mir den Finger abzuschießen, wäre ich aus dieser Opiumgeschichte nicht rausgekommen!“ Das mußte also sein. So etwas Ähnliches hatte er auch gleich nach seiner Heimkehr aus dem Krieg schon seiner Mutter gesagt, nachdem die gemeint hatte: „Das wäre doch nicht nötig gewesen“ – sein Fingeropfer nämlich.

    Dem taz-Redakteur Mathias Broeckers erklärte er später: „Ich bin vielleicht für die Mehrheit der Leser verkommen, aber man darf nicht vergessen: ich bin eine Hoffnung für jeden idiotischen Krüppel. Was ist wichtig am Neuss? Man erwartet etwas, wenn man den Namen hört: Lärm oder Neues. Das Wichtigste ist meine linke Hand. Die ist immer bei mir und erinnert mich brutal an den Moment 1943, als Albert Hofmann in der Schweiz seinen ersten LSD-Trip inhalierte. Da schoß ich mir in meine linke Hand. Symbol für Kunst statt Krieg. Selbstverstümmelung empfehle ich allen, die ohne Schießen nicht leben können. Das war und ist eine gute Friedensbewegung.“ (Abgedruckt in: „Der gesunde Menschenverstand ist reines Gift“, 1985).

    Neuss war mit dieser Selbstverstümmelung bei Smolensk gleichzeitig über die tschechischen WK-Eins-Satiren und -Charaden des Schwejk-Autors hinausgegangen und befand sich damit auf der Höhe des jugoslawischen WK-Zwo-Satirikers Miodrag Bulatovic, der mit seinem Kriegsroman „Die Daumenlosen“ berühmt wurde.

    Zur Daumenlosigkeit kam bei Neuss später – im Kalten Krieg – noch die Zahnlosigkeit dazu, die ihm zuletzt – er starb 1989 – das Aussehen einer indianischen Hexe verlieh. Einem Charlottenburger Zahnarzt, der sich anbot, ihm kostenlos ein Gebiß zu verpassen, beschied er: „Laß gut sein. Mit meinem einen Zahn bin ich immer noch bissiger als alle anderen.“ Auf der CD mit den drei Reisegeschichten erzählt er jedoch eher gutgelaunt und aufgeräumt, wie es dazu kommen konnte.

    „Drei Reisen ins Leben – von Wolfgang Neuss“, im Interview von Thomas Hackenberg, Delta Music Audio-CD 2007

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