1.
Im taz-Konferenzsaal haben die Topfpflanzen die Winterruhe offiziell beendet und vorsichtig angefangen, neue Blätter hervorsprießen zu lassen. Der Rhododendron ist erneut vorneweg: mit schon dem dritten Blatt. Insgesamt handelt es sich um sieben Pflanzen – in der Obhut des Aushilfshausmeisters: den e.e. Rhododendron, zwei Birkenfeigen (Ficus benjamini), ein Drachenbaum (Dracaena draco), zwei Yucca-Palmen und ein Weihnachtsstern (Euphorbia pulcherrima). Letzteren hielt ich lange für Russischen Wein – bis ich wegen ihrer Artbestimmung eine Wette einging: mit Tine aus der Geno-Abteilung, und zwar um ein Tortenstück. Ich verlor, sie hat mal Biologie studiert. Dafür tröstete ich mich mit Darwin: Er hat mit dem Begriff der „natürlichen Auslese“ aus dem Sein (der Arten) ein permanentes Werden gemacht. Und das kommt meiner Namensmerkschwäche entgegen. „Der Ausdruck Art wird dadurch (nämlich) zu einer nutzlosen Abstraktion,“ schreibt Philip Sarazin in seinem neuen Buch „Darwin und Foucault“. Über das ich an anderer Stelle ausführlich berichten werde. Es stand fast ohne erwähnt zu werden am Montag, den 2.2. schon im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung über „Darwin-Anti-Darwin“, die Guillaume Paoli, Philosoph am Centraltheater in Leipzig, dort veranstaltete – mit Cord Riechelmann (D) und mir (A-D). Zwar war es im Vorfeld des „Ereignisses“ zu einem etwas erbitterten Mailaustausch zwischen uns beiden und dem Roten Korsen gekommen, aber auf der Veranstaltung selbst ging es dann fast zu einvernehmlich zu.
2.
„Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde.“ (Karl Marx)
„Berlin wird wieder hart, denn wir verkloppen jede Schwuchtel!“ verspricht Bushido. „Isch mach die urban!“ verspricht ein Antifa-Genclik den Neonazis. Und „Dich mach ich rund!“ droht umgekehrt eine Glatze. Anfang der Achtzigerjahre zerbrach die Solidarität zwischen US-Juden und -Schwarzen, als Drogen und Verbrechen den wohlhabenden Vierteln der linksliberalen New Yorker Juden immer näher rückten, so dass auch sie dann die neoliberale „Zero Tolerance“-Politik unterstützten. Es gab schon einmal eine solche Politik: zu Beginn des alten Liberalismus, als in England das Gemeindeeigentum privatisiert und eingehegt wurde und die vom Land Vertriebenen zu zigtausenden gehängt, in Zuchthäuser gesperrt oder zusammen mit Sklaven in die Kolonien deportiert wurden. Später hat man die „Überflüssigen“ meist in Kriegen verheizt. Vielleicht ist es bald wieder so weit. Schon jetzt wird es immer ungemütlicher:
Zwei Spekulanten kaufen das Haus, in dem ich wohne – und schicken mir als erstes eine fette Mieterhöhung, wobei sie sich auf den Mietspiegel berufen. Als ich ablehne, verklagen sie mich. Nachdem ich bzw. eine Mietrechtsexpertin mühsam ausgerechnet hat, dass sie bloß Anspruch auf 2 Euro 74 mehr haben, ziehen sie die Klage zurück.
Als nächstes bekomme ich beim Einkauf einen falschen Fuzziger als Wechselgeld. Ich stecke ihn unkontrolliert ein. Als ich damit einen Leihwagen zahlen will, wird er entdeckt. Ich muß einige Stunden warten, bis das BKA kommt und werde verhört. Irgendwann teilt man mir mit, dass das Verfahren eingestellt wurde.
An einem Sonntag stecke ich zwei Überweisungen in den dafür vorgesehenen Briefkasten der Sparkasse. Der war neu, weil irgendwelche Gangster aus dem alten wiederholt die Überweisungen rausgefischt hatten. Sie veränderten die Kontonummer das Empfängers und leiteten das Geld auf ihr Konto um. Nun hängt da schon wieder ein anderer Briefkasten. Und er ist schlechter als der letzte, weil die Überweisungen nicht nach unten fallen: Ich kann sie durch den Schlitz sehen. Beunruhigt gehe ich am nächsten Tag zum Filialleiter. Der ist erst baff, weil er nichts von einem schon wieder neuen Briefkasten weiß. Dann entdecken wir Klebestreifen auf dem alten: Da haben diese Gauner also einfach ihren Briefkasten vor den der Sparkasse angebracht – und alle Überweisungen vom Wochenende eingesackt. Ich muß mein Konto sperren lassen. Die Polizei kommt und nimmt Fingerabdrücke.
Spätabends gehe ich am Mariannenplatz vorbei. Drei Männer lösen sich aus dem Schatten der Kirche, sie unterhalten sich lachend auf Albanisch. Ein Geräusch läßt mich umdrehen. Einer der drei holt gerade mit einem Totschläger aus, um mir den Schädel einzuschlagen. Ich springe zur Seite und laufe weg, aber einer der Verbrecher ist schneller. Ich werde meine Brieftasche los. Für fünf Euro hätten diese Herzchen mich glatt umgebracht. Die Polizei kurvt fünf Minuten um den Mariannenplatz und gibt dann auf. Später erfahre ich, dass schon eine ganze Reihe von Leuten dort sowie am Görlitzer Park von (den?) drei Männern überfallen wurde. Ich muß mein Konto sperren und neue Ausweise beantragen. Das kostet mich 200 Euro. Auf der Damentoilette des Kudamm-Karrés entdecke ich später an der linken Wand in Rot den Spruch: „Albaner sind süß!“, rechts steht – in schwarzer Schrift: „Vorsicht Schwestern, Albaner können tödlich sein!“
Das BKA bestellt mich zu sich, damit ich einen Blick in seine Verbrecherkartei werfe. Diese wird von einer stattlichen Blondine geführt. Ihr Büro sieht mit neun behördengrauen Bildschirm-Abteils aus wie ein Internet-Café oder Pornoshop. Aber die bis in die Fingerspitzen äußerst gepflegt aussehende BKA-Angestellte hat diesem Eindruck entschieden gegengearbeitet, indem sie überall blauweiße Griechenland-Urlaubsplakate hingehängt hat, hinter ihrem Schreibtisch Dutzende von Griechenland-Photos und vor sich jede Menge Griechenland-Souvenirs. Die Angestellte scheint sich zu freuen, wenn ein „Kunde“ bei ihr aufkreuzt. An einem der Monitore soll ich 426 Porträtphotos von Verbrechern durchkucken, um die Täter zu identifizieren. Bei Nummer 112 angekommen registriere ich, dass die BKA-Angestellte hinter mir eines ihrer Griechenlandposter, das sich von der Wand gelöst hat, mit einem Stück Tesafilm wieder anklebt. Ich drehe mich um und schaue ihr verstohlen dabei zu: Wieviel angenehmer ist doch ihre Erscheinung – als die bisher 112 Verbrechergesichter…Mein Blick fällt auf ein himmelblaues Meer, ein Fischerboot und eine weiße berankte Hauswand, die von der Sonne beschienen wird…Schließlich wende ich mich wieder dem grauen Monitor mit den finster blickenden Männern zu. Nachdem ich alle 426 Photos zügig durchgesehen habe, stellt sich Erleichterung ein. Ich ziehe meinen Mantel an und verabschiede mich von der freundlichen, aber wie abwesend wirkenden Angestellten – mit einem schlechten Gewissen: so als sei ich für nichts und wieder nichts in ihre griechische Privatsphäre eingedrungen – selber fast ein Verbrecher.
3.
In Vorbereitung einer Diskussions-Veranstaltung in der NGBK Mitte Januar über „Projekte/Projektemacher“ nahmen Antonia Herrscher und ich uns vor, einen Aspekt dabei nicht zu vergessen:
Die heutigen Projektemacher befinden sich massenhaft in der Situation der ersten „lächerlichen Projectanten“ – zu Zeiten als Daniel Defoe seinen „Essay upon Projects“ schrieb, d.h. zu Beginn der englischen Protoglobalisierung Ende des 17. Jhds. Mit dem Unterschied, dass man dem opportunistischen, nomadisch lebenden und den Geldgebern nicht selten völlig haltlose Versprechungen machenden Projektemacher damals noch den seriösen und vielfältig sozial eingebundenen Unternehmer entgegenstellte.
Wenn der Sohn eines Bergarbeiters ebenfalls Bergarbeiter wird, wird er dabei nie von einem Projekt reden, auch nicht, wenn er stattdessen KFZ-Mechaniker lernt. Dem Familienschicksal, dem Pfarrer und dem Lehrherrn entkommen, werden die Beziehungen immer freier, das Individuum aber auch isolierter – und neuerdings zumeist ohne Berufsperspektive mehr und mehr auf sich allein gestellt. Höchstens findet es heute noch (befristete) „Jobs“. Dabei muß sich eine früher über Herkunft, Erziehung etc. verinnerlichte Haltung dem Leben gegenüber gänzlich umorientieren, also sich statt von innen gewissermaßen von außenlenken lassen. Und dabei ständig auf dem Quivive sein. Gilles Deleuze spricht davon, dass all die alten „geschlossenen Milieus“ aufgebrochen werden – zugunsten einer „schrecklichen permanenten Fortbildung“ (Lifelonglearning): „In dem neuen Kontroll-Regime“, dass die alten Disziplinar-Gesellschaften ablöst, hat man laut Deleuze „nie mit irgend etwas abgeschlossen“.
Der amerikanische Soziologe David Riesman sprach in seiner Untersuchung über „Die einsame Masse“ bereits 1952 von einer „außengeleiteten Gesellschaft“. Seitdem ist dieses Umpolungs-Projekt weit fortgeschritten.
Die europäischen Ständestaaten haben dem lange Widerstand entgegengesetzt, z.B. indem sie gegen die Gewerbefreiheit, gegen die Emanzipation der Juden und Frauen, gegen Genossenschaftsgründungen von Arbeitern usw. eingestellt waren. Erst Napoleon hat einen Gutteil dieser Hemmnisse bei der Entfaltung der wirtschaftlichen Persönlichkeit sogenannter freier Individuen beseitigt, weswegen Goethe, Hegel und Marx ihn als Fortschrittsbringer begrüßten (als „Weltgeist zu Pferde“), die preußischen Reformer bekämpften seine europäische Neuordnung dagegen – mit partisanischem Eifer. Auf ihre halbe Revolution folgte jedoch eine doppelte Reaktion. In Deutschland hat es dann auch erst die Arbeiterbewegung 1918 geschafft, alle bürgerlichen Rechte durchzusetzen. Heute sind sogar die letzten Bauern außengeleitete Projektemacher. Man könnte auch von Agrarmanagern sprechen. Geert Mat schreibt in seiner Studie über den „Untergang des Dorfes in Europa“: „Früher hatte ein Kuh immer recht“. Jetzt ist sie ein Produktionsfaktor, so wie auch das Land, für das immer mehr „Naturpläne“ aufgestellt werden: „Manche Grundstücke wurden zu Biosphärenreservaten erklärt – und der Bauer erhielt eine Kompensation“. Es wurden sogar Planierraupen eingesetzt, um den fruchtbaren Ackerboden zu entfernen und das Terrain wieder künstlich karg zu machen. „Immer mehr Menschen erwarben sich ihren Reichtum durch Worte, durch Papier und abstrakte Geschäfte“. Dabei schien die Stabilität in der Provinz einer „heimlichen Panik“ zu weichen. Früher wurde man hier umgekehrt wie in der Stadt ausgelacht, wenn man einer Mode folgte. Heute wird auch auf dem Land „ein Projekt nach dem anderen konzipiert – ausgereift und unausgegoren, brauchbar und wahnwitzig, alles durcheinander“. Feriendörfer, Yachthafen, Transrapid – es wimmelt von Masterplänen. So wird jedes Dorf zu einem „Global Village“. Während die letzten Bauern ständig auf der Suche nach neuen Einkommens- und Vermarktungsmöglichkeiten sind.
4.
Bei den Diskussionen über eine mögliche Privatisierung der deutschen Opel-Werke – falls General Motors pleite gehen würde, kam nie das Opel-Werk in Gliwice zur Sprache. Mehrmals versuchte ich deswegen die taz-korrespondentin Gabriele Lesser in Warschau anzurufen, die in der Vergangenheit sehr oft über dieses neue Opel-Werk berichtet hatte. Allein, ich erreichte sie nie. Immerhin las ich dann eine wunderbare Reportage über das Werk von Wlodzimierz Nowak (Gazeta Wyborcza), die soeben auf Deutsch im Berliner Eichborn-Verlag erschien – in seinem Sammelband „Die Nacht von Wildenhagen – zwölf deutsch-polnische Schicksale“. Ich berichtete unterdes in der JW über die „Automobilkrise“:
Die Angst vor Kollektivismus und Gewerkschaften grenzt in Amerika an Paranoia. Henry Ford, der 1913 bei der Produktion seines „T-Modells“ die weltweit erste Fließbandproduktion eines Konsumgutes „gewagt“ hatte, führte dazu den „5-Dollar-Tag“ ein, was damals einer Hochlohnpolitik gleichkam. Die kapitalistische Produktion ist von Anfang an eine Überschußproduktion, er schuf damit jedoch gleichzeitig eine neue Käuferschicht, die sich seine Autos leisten konnte. Berühmt wurde sein Ausspruch: „Autos kaufen keine Autos!“ Seine „Hochlohnpolitik“ diente auch dazu, dass die ihm verhaßten Gewerkschaften keinen Fuß in seine Betriebe bekamen – bis 1941.
Auf die jetzige Krise, die erst eine Finanz- und dann eine Automobilkrise war und ist, reagieren die amerikanischen Arbeiter und nicht nur sie widersprüchlich: Die Gläubigen unter ihnen beten, dass Gott die großen Drei Automobilkonzerne der USA – Ford, General Motors und Chrysler – erhalte. Kurzfristig zeigte sich immerhin der US-Präsident einsichtig – und überwies ihnen einige Milliarden. In Deutschland – bei Opel in Rüsselsheim, einer General Motors-Tochter – versuchten Gewerkschaft und Betriebsrat, aber auch Geschäftsführung gleich in Kontakt mit Politikern zu kommen, um zur Not ebenfalls vom Staat „aufgefangen“ zu werden.
Die zweite Reaktion auf die Wirtschaftskrise besteht aus einem massenhaften Autokauf-Boykott, auch in Deutschland. Dummerweise schließen sich diese Konsumenten- und jene Produzenten-Politik gegenseitig aus. Es ist sicher kein Zufall, dass genau da, wo 1914 mittels einer „Hochlohnpolitik“ der Arbeiter als Konsument entstand, in Detroit, nun – knapp 100 Jahren später – ebendort der erste durchschlagende Konsumboykott seinen Anfang nahm. Hintergrund ist der Neoliberalismus, der in seiner globalisierten Fassung zu einer gewaltigen Umverteilung von links unten nach rechts oben geführt hat. Derart, dass die Konsumenten sich massiv einschränken mußten. Nur in Wladiwostok fanden die Massen einen dritten Weg: Sie demonstrierten gegen das Importverbot für PKWs, das der Staat verhängt hatte, um die einheimische Automobilindustrie, vor allem Lada, quasi kostenfrei zu „retten“.
Zu sozialistischen Zeiten gab es im Ostblock fast durchgehend einen gewaltigen Kaufkraftüberhang. Auch hier stand man schon als Konsument in Widerspruch zum Produzenten („Jeder liefert jeden Qualität!“), aber anders herum als jetzt im Kapitalismus, wo das Geld immer weniger, die Warenmasse dagegen immer üppiger wird. Im Sozialismus wurde das Geld dagegen immer mehr, man behalf sich damit, dass die Waren immer schlechter wurden, indem ganze Produktionsschritte ausgelassen oder immer schlechteres Material verwendet wurde. Zuletzt verschlissen die Konsumprodukte zunehmend schneller. Dies war eigentlich antisozialistisch, insofern Pfusch und „geplanter Verschleiß“ (gV) eigentlich als ein nur dem Monopolkapitalismus eignendes Prinzip galt. Als Konsument möchte man überall, dass die Produzenten Tag und Nacht wie Sklaven springen, als Produzent wünscht man den Konsumenten die Pest an den Hals und betrügt sie, wo man kann. Bremsend wirkte dabei lange Zeit höchstens ein gewisses Handwerksstolz, bzw. das bei Solschenizyn sogar im GULag noch registrierte Bedürfnis, gute Arbeit zu leisten. Der Neoliberalismus hat die Produktion hinter den Horizont (bis nach China) verbannt und alle Macht dem Konsumenten verliehen. Diese auch als „Politik im Supermarkt“ oder „Abstimmung an der Kasse“ bezeichnete Endverbraucher-Bewegung trat nun erstmalig ebenso unorganisiert wie machtvoll als Verursacher der Automobilkrise in Erscheinung. Die deutschen Politiker versprachen daraufhin dem Konsumenten eilig eine einmalige Konsumzulage – und verabschiedeten dann einen Autokaufabschlag von 2500 Euro für jeden, egal ob er einen Führerschein hat oder sogar ein noch ungeborener Deutscher ist. Ich befürchte für die neoliberale, nun finanzkeynsianische Politik, dass die internationalistischen Autokauf-Boykotteure sich davon nicht beeindrucken lassen werden. Das Auto ist nicht mehr das höchste Hightechspielzeug, dass ein Proletarier sich jemals leisten kann. Man wird heute auch nicht mehr KFZ-Mechaniker, weil das totsicher ist. Man befaßt sich mit Elektronik und Informatik, hat Handy und Computerspiele, die Mobilität ist zu einem Zwang geworden, und man kriegt die Mädchen nicht mehr auf Rücksitzen rum, sondern die wollen umgekehrt mit den Jungs vögeln, notfalls im Freien. Das ist die Automobilkrise!
5.
Auf der letzten Veranstaltung des „Modellkaufhauses für Waren aus genossenschaftlicher Produktion“ (Le Grand Magasin) am 29. 1. in der Neuköllner Galerie im Saalbau ging es um „Alternativbetriebe“. Hans-Gerd Nottenbohm, Gründer der Genossenschaft zur Förderung von Genossenschaften „innova“, meinte, dass die Alternativbetriebe zwar in gewisser Weise Vorläufer der Genossenschaften waren, jedoch mit ihrem autonom-antiautoritären Anspruch viel eher dem selbstbestimmten Unternehmertum ähnelten als die auf „gegenseitige Hilfe“ und Arbeitsteilung gründenden Genossenschaften. Zwischen diesen beiden Formen kollektiver Organisation oszillierte dann die Diskussion, wie sie seit nunmehr fast 30 Jahren auch in der „Zeitschrift für Selbstorganisation – ‚Contraste'“ geführt wird, die einst vom Kassler „Alternativpapst“ Rolf Schwendter angestoßen wurde. Die dortige „university press“ widmete ihm deswegen 2005 eine dicke „Festschrift“. Bevor die Diskussion in Neukölln zu einem Erfahrungsaustausch unter Alternativbetriebs- bzw. Genossenschafts-Veteranen ausartete, meldete sich Holm Friebe von der „Zentralen Intelligenzagentur“ zu Wort, dessen Autoren-IT-Netzwerk sich immer noch ausdehnt und Ableger schafft – ohne dafür bereits einen organisatorisch-juristischen Rahmen gefunden zu haben. Dieser hauptstädtische „Schleimpilz“ (lat. Eumycetozoa – von denen man noch immer nicht weiß, ob es sich dabei um Ein- oder Vielzeller, und um Tiere, Pflanzen oder Pilze handelt) ist also noch ganz unbestimmt: Schmiert sich da ein folgsames Räderwerk ein oder bereitet sich eine Höllenmaschine vor?
Vielleicht kann der Aachener Historiker Rüdiger Haude hier Hilfestellung leisten: Er veröffentlichte kürzlich in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft einen Text über die „Freibeuter“: „Charakter und Herkunft piratischer Demokratie im frühen achtzehnten Jahrhundert“. Die Piraten hatten bereits ein genossenschaftliches Statut, das alle unterschreiben mußte: Jeder hatte eine Stimme, gleichen Zugang zu Lebensmitteln und Spirituosen, von denen er jederzeit nehmen und sie zu seinem Vergnügen nutzen konnte, es sei denn, eine Verknappung machte zum Wohle aller Rationierung erforderlich. Es gab ein Rotationsprinzip beim Enterns, das mit dem Privileg verbunden war, sich neu einzukleiden; weitere Artikel betrafen die Bestrafung bei Desertion im Kampf; die Bestimmung, innere Konflikte nur an Land auszutragen; die Einrichtung einer Invalidenrente für im Einsatz verkrüppelte Genossen; die Aufteilung der Beute, wonach der Kapitän zwei Beuteanteile, Funktionsträger zwischen eineinviertel und zwei, jedes sonstige Mitglied der Mannschaft einen Anteil erhielten . Verboten war es, heimlich Beute an sich zu nehmen, „Knaben oder Frauen“ an Bord zu bringen sowie Glücksspiel zu betreiben. Die FAZ schreibt: „Demokratie und Egalität bildeten den Kern der Bestimmungen. Die Kapitäne der Seeräuber wurden aus der Mitte der Mannschaft per Mehrheitsentscheid gewählt. Die Funktion des Kapitäns war vor allem der Abkürzung von Entscheidungen im Krisenfall geschuldet, seine Machtstellung blieb jedoch prekär. Schließlich konnte ein Motiv der Kapitänswahl sein, ein Individuum an prominenter Stelle unter Kontrolle zu haben, so dass gerade der Herrschaftsort dafür instrumentalisiert wurde, Herrschaft zu verhindern. Die größten Machtressourcen waren nicht in der dualen Funktionärsstruktur gebunden, sondern blieben im „Rat“. Diese Versammlung aller Besatzungsmitglieder führte Wahlen durch und traf alle wichtigen Entscheidungen, insbesondere, welcher Kurs zu steuern oder wie mit Prisen und Gefangenen umzugehen war. Dabei ist das Mehrheitsprinzip, das die Piraten bei ihrer Entscheidungsfindung anwandten, ungewöhnlich für herrschaftsfreie Vergesellschaftungen, wo meist eine Konsensdemokratie institutionalisiert ist. Das Mehrheitsverfahren bot den Vorteil, rasch Entscheidungen fällen zu können, hatte aber den Nachteil, anfällig für Cliquenbildungen zu sein. Diese Gefahr einer Zerstörung der politischen Struktur wurde jedoch in der Regel dadurch vermieden, dass dauerhaft uneinige Mannschaften sich bei erster Gelegenheit aufteilten – meist bei Kaperung eines dazu tauglichen Schiffs.“ Die FAZ empfiehlt scheints nach dem gescheiterten Heuschrecken/Manager-Prinzip nun das Piraten-Recht bei geschäftlichen Transaktionen. Von den Somaliern Demokratie lernen! Mal sehen, was die von ihnen gerade gekaperte deutsche Mannschaft dazu sagt. Früher herrschte in der christlichen Seefahrt noch Quasi-Sklaverei, weswegen sich die meisten von Piraten gefangen genommenen Seeleute diesen sofort anschlossen – und deren „Statuten“ unterschrieben.
6.
An der obigen Veranstaltung nahm u.a. Elisabeth Voß, Redakteurin bei der Zeitschrift „contraste“ teil. Sie verteilte dort einige Exemplare der letzten zwei Ausgaben. Eine hatte den Schwerpunkt „Peer-Ökonomie“:
„Das kapitalistische System setzt die radikale Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus…Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses,“ schrieb Karl Marx im Zusammenhang der in Russland damals noch fast flächendeckend existierenden „Obschtschina“ – des dörflichen Gemeineigentums, auch Allmende genannt. In Europa sei diese weitgehend verschwunden, bis auf „einige verstreute Exemplare dieses Typus, die alle Wechselfälle des Mittelalters überlebt und sich bis auf unsere Tage erhalten haben, z.B. in meiner Heimat, der Gegend von Trier.“ In England begann die Zerstörung der Allmende (Commons dort genannt) bereits um 1100 – durch „Einhegungen“, mit denen das Gemeindeland mit Gewalt in Privateigentum überführt wurde. Durch eine Reihe von „Enclosure Acts“ in den darauffolgenden Jahrhunderten und der Umwandlung von Acker- in Weideland, wurden zigtausende von Bauern zu Bettler. In Deutschland wurde dieses „Bauernlegen“ mit den großen Sumpftrockenlegungsprojekten (Meliorationen) zwischen 1830 und 1880 forciert. Laut der Historikerin Rita Gudermann schuf die gewaltsame Zerschlagung des Gemeindeeigentums einen Binnenmarkt, der die Bevölkerung in Konsumenten und Produzenten aufspaltete – auch auf dem Land, d.h. es entstanden dort wenige reiche Bauern und viele landlose Arme. 1906 kam der Agrarforscher Franz Christoph in einer Studie über die letzten ländlichen Allmenden in Preussen zu dem Resultat: „Äußerste Armut ist in Ländern mit Gemeingut weniger bekannt, auch der ärmste Tagelöhne hat wenigstens sein Land für Gemüse und Kartoffeln. Ein Proletariat ist in Gegenden mit größerem Allmendebesitz kaum anzutreffen. Und die Gemeinden sind reicher.“
Inzwischen richtet sich die Überführung von Allmenden in Privateigentum nicht mehr nur auf Agrarland, sondern – u.a. von IWF und Weltbank erzwungen – auch auf Brunnen, Flüsse, Meere, Wälder, Pflanzen und Tiere. Während in der Dritten Welt der Widerstand gegen die letzten Formen von Gemeindeeigentum zunimmt, entstanden in der Ersten Welt mit dem Internet neue Allmenden (Creative Commons): Freie Software (Linux) und Wikipedia z.B.. Die sich dafür begeisternden Linken basteln nun an einer nicht mehr nur virtuellen Allmendisierung – „Peer-Ökonomie“ oder „PublicPrivateProperty“ genannt. Man könnte auch von einer Wiedervergesellschaftung der Ressourcen sprechen. Dazu veröffentlichte die AG SPAK ein Buch von Christian Siefkes: „Beitragen statt Tauschen“ und es fand eine Peer-Ökonomie-Konferenz in Hiddinghausen statt. Die Ergebnisse veröffentlichte gerade die „Monatszeitung für Selbstorganisation – Contraste“. An einer Stelle heißt es dort: „Es geht darum, die Grenze zwischen gemeingüterbasiertem Wirtschaften und marktvermittelter Produktion zugunsten der Commons zu verschieben,“ wobei zwischen Besitznahme und Eigentum unterschieden, und die „Trennung von Arbeitskräften und Produktionsmittelbesitz“ (wieder) beseitigt wird. Die Begrifflichkeit dafür findet man vor allem im Internet, wo auch ihre Diskussion stattfindet. Das macht die „Peer-Ökonomie“, das Wirtschaften unter Gleichen, noch primär zu einer Angelegenheit von Computerfreaks – auf immer mehr „Blogosphären“-Ebenen. „Gelebte Praxis“ auch genannt. Aber da ist wenig Zupackendes. Wie Mao einmal richtig sagte: „Je schmutziger die Hände, desto reiner die Seele.“ Aber darum geht es gar nicht (nur), eher noch trifft hier die Marxsche Kritik am Gothaer Programm, worin die Förderung der Gründung von immer mehr Genossenschaften gefordert wurde: „Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, daß man mit Staatsanleihen ebensogut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn!“ Desungeachtet wurden damals dann etliche Arbeiter-Commons „ins Werk gesetzt – dabei jedoch vergessen,“ wie Engels rückblickend schreibt, „daß es sich vor allem darum handelte, durch politische Siege sich erst das Gebiet zu erobern, worauf allein solche Dinge auf die Dauer durchführbar waren.“ Bei der „Peer-Ökonomie“ scheint man vergessen zu haben, dass es sich bei der De- und Re-Allmendisierung um „Kräfteverhältnisse“ (Macht) handelt, die dabei zum Ausdruck kommen (d.h. ihren „Willen“ durchsetzen). Ihre Fürsprecher setzen nun Intelligenz (IT) gegen Interessen (Gewalt). Möge Gott Ihrer armen Seele gnädig sein: „www.commonsblog.de“.
7.
Am vorigen Freitag verkündeten 30 Initiativen und Verbände (unter anderem der Paritätische Wohlfahrtsverband) in Potsdam: „Wir werden der Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche nicht mehr länger tatenlos zusehen.“ Zu diesem Zweck verteilten sie nicht etwa kleine Geldsäcke an die märkischen Armen. Nein: Sie gründeten eine „Landesarmutskonferenz“.
Zur selben Zeit widmeten sich auch drei Berliner Künstler (Abée, Allex und Wieczorek) im Haus der Demokratie dem Thema Arm und Reich. Zuvörderst hatten sie jede Menge Leute angeschrieben, sich dazu im Rahmen eines „Mail Art Projekts“ brieflich zu äußern. Deren Rückmeldungen hingen oder standen nun im „Robert-Havemann-Saal“, während sich drei Referenten über „Gemein und Gut“ aussprachen. Die erste Künstlerin, Eva Willig, sah eine Möglichkeit, die „Spaltung in Arme und Reiche“ aufzuheben in der Landnahme und -bearbeitung. Sie begann bei Karl dem Großen, der ein Regelwerk erließ, mit dem festgelegt wurde, wie und womit Lehensgüter zu bestellen waren, unter anderem mit 73 Pflanzen und 16 Gehölzen, die zum Wohle der Bevölkerung angepflanzt werden sollten. Daraus zog sie für „Heute“ den Schluss: „Wir nehmen die öffentlichen Flächen in unseren Besitz, wir vergesellschaften sie und säen und pflanzen das, was uns versorgt.“ Diesem Rat ließ sie sogleich eine Tat folgen, indem sie „Samenbomben“ verteilte: Säckchen mit Wildblumen-, Kräuter- und Gemüsesamen. Damit sollten aus uns, Zuhörern, allesamt „Gartenpiraten“ werden: eine Art Radikalisierung der „Stadtgärten“-Propaganda von Maria Mies.
Der nächste Referent, Winfried Schiffer, empfahl Ähnliches: Ausgehend von seinem „Wriezener Freiraum Labor“, wo man ebenfalls mit „Samenbomben“ nur so um sich schmeißen darf, warb er für ein weiteres Freiraumprojekt im Friedrichshainer Park an der Helsingforser Straße: ein vom Bezirk gefördertes „Kunstprojekt im öffentlichen Raum“, an dem sich jeder mit eigenen „Seedballs“ beteiligen kann. Der Künstler will dabei als „Feldmoderator vor Ort“ fungieren. Und beweisen will er damit nicht zuletzt, dass eine Durchschnittsfamilie bereits von einer 1.000 Quadratmeter großen Fläche leben kann. Schiffer beruft sich dabei auf die Lehre von der „natürlichen Landwirtschaft“ des japanischen Mikrobiologen und Bauern Masanobu Fukuoka, wie ebenso auf den „Agrarrebellen“ Sepp Holzer, der dies seit Jahren zur Verblüffung der Wissenschaft mit „Perma- und Aquakulturen“ 1.500 Meter hoch in den Alpen beweist.
Die Schweizer Biologin Florianne Koechlin hat ihn dazu in ihrem neuen Buch „Pflanzenpalaver“ interviewt. „Es gibt keinen schlechten Boden“, meint Holzer, „es gibt für mich auch kein Unkraut und kein Ungeziefer, sondern es gibt nur unfähige Leute, die sich ihr eigenes Paradies zerstören“ – und deswegen permanent nach mehr als 1.000 Quadratmeter gieren (müssen). Fukuokas Prinzipien lauten: „Nicht fragen, was man tun sollte, sondern sich fragen, was man unterlassen kann. Es gibt wenig landwirtschaftliche Praktiken, die wirklich nötig sind. Keine Maschinen, keine Chemikalien, keine Kompostierung, keine Bodenbearbeitung! Dauerbegrünung!“
Der dritte Referent, Archibald Kuhnke, führte uns direkt zur Kunst zurück: Ausgehend von Joseph Beuys Diktum „Jeder Mensch ist ein Künstler“ und Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ entwarf der IG-Metall-Aktivist eine Art widerständische Ästhetik. „Nur in der Kunst hat man den Zusammenbruch des DDR-Regimes vorausgesehen bzw. geahnt“, meinte er, der deswegen zur Überwindung des Kapitalismus auf „Ateliers des Kommunismus“ setzt.
8.
„Der Skilift zeigt im Januar, wo früher das Bauernland war“ (Allgäuer Spruchsammlung)
Die Berliner Agrarmesse Grüne Woche, die es seit 1926 gibt, ist ein Spiegel bäuerlicher Trends und landwirtschaftlicher Diskurse. Man müßte sie alle mal aufarbeiten. Das erste Mal besuchte ich die Grüne Woche 1969, um mich dort, wie die meisten Westberliner, kostenlos satt zu essen. Die von der BRD subventionierten Länderpräsentationen, etwa von Marokko, Israel, Argentinien, protzten mit riesigen Stapeln leckerer Früchte, Schinken und anderer Lebensmittel, weswegen man auch von einer „Fressmesse“ sprach. Einige Jahre später kam es ob der Auswüchse der chemisch-industriellen Landwirtschaft zu Protestständen – außerhalb der Messe. Agrarkritiker sprachen von der „Giftgrünen Woche“.
Aber dann wurden der SPD-Mann und Agrarkrimi-Autor Hans-Jürgen Petersen und der grüne Agronom Ulli Frohnmeyer Leiter der Messe, und immer mehr Bio- und Ökostände füllten die Hallen. Frohnmeyer bespielt heute die Halle der Ministerin für Landwirtschaft, Petersen ging in Rente. Zum Abschied bekam er eine Ehrenplakette des Deutschen Bauernverbands, weil „er die Marke Grüne Woche stets mit aktuellen landwirtschaftlichen Themen bestückt“ hat, wie es in der Laudatio hieß. Tatsächlich bemühte er sich zum Beispiel bereits 1989 erfolgreich um eine erneute Teilnahme der ostdeutschen Landwirtschaftsbetriebe. Eine der 1991 umgewandelten LPG-Betriebe, die Agrar GmbH Schmachtenhagen, mietete dann sogar eine ganze Halle.
Heute geht es statt ums Fressen und Saufen immer mehr um Wissen und Aufklärung. So schnibbeln Achtjährige Obst und Gemüse klein, um in Reagenzgläsern die verschiedenen Vitamine zu isolieren. Und am Stand des „BUND – Freunde der Erde“ wird vorgeführt, wie man aus Mais Plastiklöffel herstellt. Außerdem kann man anhand von zwei nahezu identisch aussehenden Mittagsgerichten raten, wie viele Kilometer die Bestandteile – Fleisch, Kartoffeln, Gemüse, Nachtisch und Rotwein – zurückgelegt haben. Das eine Gericht wurde im Umland Berlins zusammengekauft, das andere in einem Supermarkt. Ersteres summierte sich auf 400 Kilometer, letzteres auf 35.000.
Neuerdings macht die Grüne Woche zunehmend der Tourismusbörse Konkurrenz, weil sich dort immer mehr Regionen vermarkten, zusammen mit „Ferien auf dem Bauernhof“, „Dorf-Events“ und den Ökobauern als Landschaftspfleger. Beim Rundgang durch die Hallen bemerkte ich aber auch: Wir bewegen uns rasant auf eine „intelligente Landwirtschaft“ zu. Zum einen lohnen sich die wenigen EU-Bauern für die agrochemischen Konzerne bald nicht mehr als Kunden. Zum anderen ist diese immer größere und Hightech-aufgemotzte Agrartechnik einfach zu blöd geworden. Das ganze unselige deutsche Ingenieurdenken ist an ein Ende gekommen.
Stattdessen geht es in der Landwirtschaft um immer subtilere Anbau- und Züchtungsmethoden. Der Avantgarde geht es um Permakulturen, Klein- und Stadtgärten, Diversifizierung, Mischwälder, Wiederversumpfung, kurz: um Re- statt Denaturierung. Bald werden wir auch den dämlich-utilitaristischen Darwinismus und mit ihm die ganze Gentechnik als Grobschmiede des Kreatürlichen überwunden haben. Klasse statt Masse! Zu dumm, dass ich fast mein ganzes Leben in dieser scheußlichen Phase der industriellen Landwirtschaft verbringen musste.
9.
Die neuen Bauernkalender sind da:
„Farmgirls“ – dazu findet man fast sechs Millionen Einträge im Internet. Die Angebote reichen von Biogemüse, das Jungbäuerinnen in Montana anbauen, über einfühlsame journalistische Porträts von Teenagern auf dem Land bis zum Geschlechtsverkehr mit Nutztieren – für „Animal Sex Lovers“.
Für deutsche Liebhaber des Bukolischen gibt es seit sieben Jahren den „Bäuerinnenkalender“, in dem jedes Mal ein Dutzend halbnackter Landmädchen posieren – und dabei für die Jahreszeit typische bäuerliche Tätigkeiten medienbewusst nachstellen. Der Kalender wird von der Bayrischen und Österreichischen Jungbauernschaft herausgegeben. Ihre erste „Girls Edition“ löste noch einen kleinen Skandal im Alpenraum aus. Die sechste wurde in der taz zusammen mit der „Men-Edition“ rezensiert. Und der Siebte hat nun bereits Konkurrenz bekommen – durch den „Oberschwäbischen Bäuerinnenkalender“.
Für beide gilt: „Alle Models müssen vom Land sein – mit einem Landwirt verlobt oder verheiratet oder noch im Einsatz auf dem elterlichen Hof bzw. in einer landwirtschaftlichen Ausbildung.“ Während die oberschwäbischen Jungfrauen im Heu, auf dem Mähdrescher, beim Hühnerfüttern oder im Schuppen beim Holzhacken Modell standen, wurden die Aufnahmen für den bayrisch-österreichischen Bäuerinnenkalender nun erstmalig in einem Studio und in „Schwarz-Weiß-Optik mit farblichen Applikationen“ (wie Äpfel, Birnen, Strohblumen, Weinreben) gemacht. Hier haben sich die Models also bereits vom bäuerlichen Alltag emanzipiert, während sie ihn im schwäbischen Kalender noch gleichsam zitieren.
Es gibt dazu einen schönen Kontrast – ebenfalls in Schwarz-Weiß: Das sind die „Bäuerinnen-Bilder“, die der Landwirtschaftsverlag in Münster aus dem Nachlass des Agrarjournalisten Wolfgang Schiffer zusammengestellt hat. Schiffer suchte und fand seine Motive über mehrere Jahrzehnte auf westdeutschen Bauernhöfen.
Auch in diesem ausführlich kommentierten Bildband posieren die Frauen vor landwirtschaftlicher Kulisse bzw. neuer Technik, wie in der gezeigten Aufnahme einer Bäuerin, die ihren Kindern die neue „Rohrmelkanlage“ vorführt. Aber eigentlich betonen sie nur bäuerliche Tätigkeiten, die sie sowieso rund um das Jahr erledigen. Der Fotograf und seine Modelle haben dabei höchstens den Moment etwas geschönt. So sind die Kinder zum Beispiel alle wie zum Kirchgang fein gemacht worden. Herausgekommen sind dabei Sonntagsfotos vom bäuerlichen Alltag, sie umfassen die Zeit von den Fünfzigerjahren bis heute.
Dazu passt eine Serie von Interviews, die eine noch größere Zeitspanne thematisiert. Sie wurde ebenfalls im Landwirtschaftsverlag veröffentlicht; zusammengestellt hat sie die Agrarwissenschaftlerin Ulrike Siegel: In den ersten zwei Bänden erzählen in den Sechzigerjahren geborene „Bauerntöchter“ ihre Geschichte. Viele haben inzwischen intellektuelle Berufe gefunden. Im dritten Band „Wolltest du Bäuerin werden?“ haben die Töchter dann ihre Mütter interviewt, die zeit ihres Lebens in der Landwirtschaft gearbeitet haben.
Die Erzählungen wollen zusammengenommen ein für ganz Deutschland geltendes realistisches Bild von den Landfrauen vermitteln. Dabei kommt heraus, dass es für die Mütter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum Alternativen zum Leben als Bäuerin gab, während den Töchtern langsam sozusagen die Welt offenstand. Das führte nicht in jedem Fall dazu, dass sie aus der Landwirtschaft flüchteten: Aus dem fast zwangsläufigen Schicksal wurde jedoch eine freie Entscheidung.
In einem anderen Projekt, das sich mit der Landwirtschaft beschäftigt, kommt dies schon im Titel zum Ausdruck: „Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben.“ So heißt eine Dokumentation von drei Künstlern (Antje Schiffers, Thomas Sprenger und Veronika Olbrich), die seit geraumer Zeit als „Hofmaler“ durch die EU-Länder reisen. Ihre Ölbilder tauschten sie vor Ort mit den Landwirten gegen ein von diesen selbst gedrehtes Videoporträt. Im Frühjahr 2009 veröffentlichen sie darüber ein Buch, außerdem stellt der Kunstverein Langenhagen (bei Hannover) ihre Arbeiten aus. Das Ganze wurde von der Kulturstiftung des Bundes finanziert – aus dem Fonds „Arbeit in Zukunft“.
Der Titel „Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben“ klingt trotzig – gegen eine Zukunft gerichtet, die der bäuerlichen Landwirtschaft langsam, aber sicher die Existenzgrundlage entzieht – wenn nicht die kapitalistische „Krise“ sich 2009 derart verschärft, dass erneut die alte, überwunden geglaubte Subsistenzwirtschaft ins Blickfeld gerät. Im November 2008 schien es für die FAZ-Redakteurin Ingeborg Harms bereits wieder so weit zu sein. Rückblickend über die vergangenen letzten Modejahre meinte sie: „Man übte sich darin zu blenden. Alles reimte sich auf Sport und Sexappeal. Aber nun ist diese Ästhetik auf den Laufstegen genauso abgemeldet wie auf den Straßen. Fantasien von Aufbruch, Flucht und Rückzug auf das Essenzielle liegen in der Luft: zum Beispiel Landleben und Selbstversorgung.“ Das war aber wohl allzu voreilig, hysterisch geradezu gedacht.
Einstweilen bleibt es noch dabei: Der Bauer und die Bäuerin sind eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Sie sind in Europa schon beinahe so selten wie ihre Gegenspieler, die herumziehenden Zigeuner, geworden. Und ihre Dörfer sind bereits „untergegangen“, wie der holländische Sozialforscher Geert Mak in seinem Buch „Wie Gott verschwand aus Jorwerd“ 1996 befand.
Ob die Kalender mit den attraktiven Jungbäuerinnen, die sich großer Beliebtheit nicht nur auf dem Land erfreuen, auch die Landwirtschaft wieder attraktiv machen, darf deswegen bezweifelt werden. Selbst von den 550.000 Landfrauen, die sich in 12.000 Ortsverbänden organisiert haben, sind nur noch die wenigsten Bäuerinnen. In Hessen sind es lediglich zehn Prozent.
10.
Die Schweizer Biologin Florianne Koechlin hat erneut einige neuere Pflanzenforschungsergebnisse in einem Buch zusammengetragen. Dazu interviewte sie – wie auch schon in ihrem vorangegangenen Buch „Zellgeflüster“ Botaniker, Mikrobiologen, Bauern, Gärtner, Neurobiologen und Künstler. „Pflanzenpalaver“ heißt der neue Reader, den sie am 22.1. in den Berliner Räumen der anthroposophischen GLS-Bank vorstellte, zusammen mit dem Genmais-Bekämpfer Benny Härlin von der anthroposophischen „Zukunftsstiftung Landwirtschaft“. Er hatte kürzlich u.a. mit ihr die „Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen“ zusammengestellt. Sie sind nun Grundlage dafür, dass der Schweizer Ethikrat beschließen möge, Pflanzen sind nicht länger eine „Sache“ – ein seelenloser Gegenstand. Mehr über das schöne Buch „Pflanzenpalaver“ an anderer Stelle später. Hier will ich nur noch eine kleine Begebenheit mit einem Pflanzenforscher erwähnen – und zwar mit Doktor Zepernick vom Botanischen Garten Berlin, als ich ihm während eines Interviews eine Zigarette anbot, lehnte er diese ab – mit der Bemerkung: „Nein, also Pflanzen verbrennen, das kann ich nicht, können wir alle nicht – bis auf eine Kollegin sind alle Wissenschaftler hier Nichtraucher, eigentlich merkwürdig.“
Näheres über das „Pflanzen verbrennen“, um den dabei entstehenden Rauch zu inhallieren, erfährt man in einer Ausstellung des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität, die am kommenden Dienstag eröffnet wird. Sie heißt „The Last Cigarette – zur Symbolik des Rauchens im 20. Jahrhundert“. Und Professor Rolf Lindner, der eigentlich ein Urlaubssemester in seiner schwedischen Sommerresidenz genießen sollte, schrieb einen Einführungstext dazu, der auch auf dem Werbeplakat für die Ausstellung zu finden ist. U.a. heißt es dort: „Das Rauchen von Frauen galt als sexuell anzüglich. Mitte der Zwanziger Jahre aber war das Zigarettenrauchen unter College-Studentinnen bereits ein allgemein verbreiteter modischer Spleen, ein ‚must‘, um zur peer-group-society dazuzugehören.“ Da haben wir noch einmal die oben bereits erwähnte „Peer Group“ – diesmal jedoch nicht mit ihrer Ökonomie, sondern mit ihrer Ökologie. Rolf Lindner schreibt am Schluß seines Textes: Figuren wie der „Intellektuelle, die femme fatale, der Rebell, das flapper girl, der Existentialist“ (Exi)… „haben die Zigarette zur Stilisierung be- und genutzt…Für sie alle war die Zigarette ein unverzichtbares Mittel der Performanz.“ Die anderen jedoch, ihre reaktionären Gegner – haben jetzt das Rauchverbot durchgesetzt! Übrigens gibt es noch eine sozusagen laufende Ausstellung über das Rauchen – in der Jungen Welt: dort im Feuilleton stellt der Autor Peer Schmidt eben laufend kleine Texte zum Thema vor.
Zur Piratendemokratie schrieb mir der Französischübersetzer und Piratenexperte Ronald Voullié:
Diese sogenannte „Piraten-Verfassung“ geht auf ein einziges Fundstück
zurück. War es unter Barthelew Roberts? Was bei Tausenden von Piraten nicht gerade repräsentativ ist.
Ein anderer Faktor ist jedenfalls auch noch im Spiel: ein größeres Schiff in der damaligen Zeit brauchte jede Menge „Fachleute“: Segeltuchmeister, Spleißer, Zimmerleute, Kanoniere… Diese waren in der Regel recht privilegiert gegenüber den einfachen Leicht- und Vollmatrosen, und daher neigten sie nur wenig dazu, freiwillig zu den Piraten überzugehen, sie wurden zumeist „gepreßt“.
(Haben sie jedenfalls in späteren Prozessen immer behauptet, und kamen deshalb hier und da mit einem blauen Auge davon).
All diesen steht voran der Bootsmann oder Maat, der für die Disziplin
zuständig ist. Diese allein konnten jedoch nicht mehr als 10 Meilen irgendwo hinfahren. Dazu wurden unbedingt Steuermänner und
oder Navigatoren benötigt, die sicherlich eine höhere Bildung hatten und vielleicht auch lesen konnten.
Allein aus diesen Rängen dürften die Kapitäne gewählt worden sein. Damit schränkt sich die basisdemokratische Wahlfreiheit ziemlich ein.
Insgesamt dürften die völlig „freien Piraten“ nur einem ganz geringen Anteil des Piratenwesens ausgemacht haben. In 80% der Fälle wurden in aller Heimlchkeit Schiffe ausgerüstete von kleinen Gruppen von
Geldgeberen in England, Frankreich, Spanien, Amerika etc., die sich einen Kapitän suchten, der widerum seine Mannschaft zusammenstellte – da war nix mit Demokratie. Die Kaperschiffahrt wurde als legitimes
Mittel der Kriegführung betrachtet (bis hin zu deutschen Marine in WK I u. II). Alle sehr schön beschrieben in dem Roman „Les Messiers de St. Malo“. So ist ein Piratenschiff eigentlich nur ein Kaperschiff ohne gültigen Kaperbrief.
Die romantische Begeisterung für das „freie Piratentum nebst
Baisidemokratie“ ist vielleicht vergleichbar mit dem Führungsanspruch der Bolschewiki, die ja auch allesamt basisdemokratisch gewählt wurden, nachdem sie sich selbst zu Kapitänen ernannt haben.
Wer übermittelt eigentlich die Forderung von 4,7 Millionen Euro für den
jüngst „gekaperten“ Gas-Tanker? Über welche Konten kann sowas abgewickelt werden? Da muß es doch reihenweise
„Mittelsmänner“ in den eigenen Reihen geben…
Viele Grüße
Ronald