In der neuen Ausgabe des Schweizer Edelmagazins „Du“, das der „Herrin der Schöpfung“ gewidmet ist, findet sich ein Interview mit Bruno Latour über seinen akteurnetzwerktheoretischen Ansatz einer neuen politischen Ökologie – mit dem Titel „Die Bäume haben das Wort“.
Zum selben Thema hatte ihn zuvor bereits „Die Zeit“ interviewt – hier hieß der Titel: „Die Kühe haben das Wort“. Dieses Interview findet sich in Teilen auch in meinem blog-eintrag: „Power to the Bauer! Und seinen Kühen?“
In der neuen Ausgabe der Zeitschrift „polar“ – mit dem Heftschwerpunkt „Wie leben“ plädieren Bruno Latour und Émilie Hache in einem leider viel zu kurzen Beitrag ebenfalls dafür, auch mit nicht-menschlichen Wesen zu verhandeln, d.h. ihnen in Ausweitung der Errungenschaften der Französischen Revolution endlich Sitz und Stimme am Runden Tisch einzuräumen. Dies setzt allerdings eine Suspendierung der Dichotomie von Subjekt und Objekt, Natur und Kultur sowie von Faken und Fetische voraus, d.h. in gewisser Weise eine Rückkehr zur Vormoderne, was aber laut Latour auch nicht weiter schlimm ist, denn „wir sind nie modern gewesen“ – und nun gehe es sowieso nicht mehr um „Modernisierung“, sondern nur noch um „Ökologisierung“… Das ist im Kern der Inhalt der „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT).
Die sich damit auseinandersetzenden Kulturwissenschaftler (in Deutschland und Österreich), Soziologen und Philosophen (in Frankreich) und Primatenforscher sowie Anthropologen und Naturschützer (in den USA) bilden inzwischen selbst ein solides „Netzwerk“. Der polar-Text hat den Titel „Die Natur ruft. Wem gegenüber sind wir verantwortlich?“
Im Frühsommer hatten die Genfer Soziologen und die verfaßte Studentenschaft der dortigen Uni bereits einen Vortrag von Latour zum selben Thema angekündigt – und zwar wie folgt:
„Der Soziologe, der zu fragen wagte, ob wir denn jemals modern waren, der Maschinen oder Bäume als Akteure betrachtet und somit dem Menschen seine einzigartige Stellung in der sozialen Welt abspricht, ist diese Woche in der Schweiz. Bruno Latour, bekannt für seine Akteur-Netzwerk-Theorie und seine Arbeiten in der Wissenschaftssoziologie, spricht in Genf. Der Titel seines Vortrags, ‚L’empirisme est-il un effet de l’histoire de l’art?‘, verspricht Überlegungen zu Wissenschaftsgeschichte und -theorie. Nähere Infos zum Inhalt des Vortrags gibt’s leider nicht, aber hier lohnt sich das Wagnis sicher.“
Ebenfalls im Frühsommer fand an der Bauhaus-Uni Weimar ein dreitägiger Kongreß „Die Macht der Dinge“ statt, auf dem es u.a. auch um Latours Akteur-Netzwerk-Theorie ging. Anfang 2010 ist Latour erneut in der Schweiz: auf der „Biennale zu Wissenschaft, Technik + Ästhetik“ der „Neuen Galerie Luzern“. Dort wird er noch einmal über das ANT-Konzept seiner politischen Ökologie sprechen, zusammen mit der Brüssler Philosophin Isabelle Stengers, die sich – ebenso wie die feministische US-Biologin Donna Haraway – als Latours Bündnispartner begreift.
2008 erschien im Suhrkamp-Verlag Latours neuestes Buch: „Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“. Der Verlag schrieb dazu:
„‚Man muß die Gesellschaft verändern – diese Parole aus alter Zeit ist nach wie vor aktuell, denn die Gesellschaft, in der wir leben, ist voller Härte und Zumutungen. Aber um dies Veränderung zu ermöglichen, sollte man vielleicht erst einmal versuchen, den Begriff ‚Gesellschaft‘ zu verändern. Heute läßt sich ein immer größeres Auseinanderklaffen der Praxis der Soziologie, der Theorie der Politik und des Glaubens an die Idee der Gesellschaft beobachten. Um einen Ausweg aus dieser Krise zu finden, sollte, so die provokative These dieses Buchs, diese Spannung bis zum äußersten ausgereizt werden. Bruno Latour, der die etablierten Grenzen zwischen Wissenschaft, Kultur, Technik und Natur eingerissen hat, schlägt vor, zwei unterschiedliche Konzepte von Gesellschaft zu unterscheiden. Der einen Auffassung zufolge ist ‚Gesellschaft‘ eine unveränderliche abstrakte Entität, die ihren Schatten auf andere Bereiche wirft: auf die Wirtschaft, das Recht, die Wissenschaft etc..
Nach der anderen hingegen ist ‚Gesellschaft“‚ notwendig instabil: eine Verbindung überraschender Akteure, die die einlullende Gewißheit, einer gemeinsamen Welt anzugehören, in Frage stellen. Die Analyse dieser unerwarteten Verknüpfungen höchst unterschiedlicher Bereiche, wie etwa zwischen Viren, Wissenschaftlern, Leidenschaften, Naturkatastrophen oder Erfindungen, ist nach Bruno Latour Aufgabe der Soziologie. Wenn man die Gesellschaft verändern will, muß man wählen, und zwar zwischen der Gesellschaft und der Soziologie. Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft – das ist die Aufgabe, der sich dieses Buch stellt.
Kürzlich erschien im Suhrkamp-Verlag auch noch eine Aufsatzsammlung „Bios und Zoe – Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer tehnischen Reproduzierbarkeit“, in der Bruno Latour sich in seinem Beitrag über Fakt und Fetisch ausläßt, daneben gibt es darin auch noch einen Text von Karin Knorr Cetina, eine Konstanzer Bündnispartnerin von Latour, sie schreibt hier über „Die Entstehung der Kultur des Lebens“.
Nun hat der Naturschutzbund Deutschland e.V. (NABU) – ob wissentlich oder unwissentlich (das ist egal, denn sie liegt gewissermaßen in der Luft) – die Idee von Latour zur Revolutionierung der politischen Ökologie aufgegriffen – und auch gleich sehr gekonnt plakativ umgesetzt (siehe unten). Diese Umsetzung dient dem NABU als Werbemaßnahme für seine „Liste pro Natur“, dazu heißt es in einer Pressemitteilung:
Der NABU schickt Feldhamster, Laubfrosch, Gänsegeier und Wolf in den Bundestagswahlkampf. Die vier Kandidaten der „Liste Pro Natur“ stellten sich am Freitag erstmals mit einer Aktion in Berlin der Öffentlichkeit vor. Mit Parolen wie „Standort sichern – Abwanderung stoppen”, „Schluss mit Schönwetterpolitik beim Klimaschutz!“ oder „Gegen Ausgrenzung – für Integration“ wollen sich die tierischen Spitzenkandidaten und der NABU in den kommenden Wochen in den Wahlkampf einmischen und für eine zukunftsfähige Umwelt- und Naturschutzpolitik werben.
„Bedrohte Tiere sind ebenso wie die Wähler von politischen Entscheidungen betroffen. Doch sie können nicht wählen gehen. Der NABU will mit dieser Kampagne darauf aufmerksam machen, dass Natur und Umwelt jede Stimme brauchen“, sagte NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller.
Der Feldhamster ist nach wie vor der Buhmann der Asphaltlobby und werde immer gern genannt, wenn es darum gehe, gegen den Naturschutz zu polemisieren. Wölfe, die nach Deutschland zurückkehrten, werden auch nach zehn Jahren erfolgreicher Zuwanderung illegal verfolgt und getötet. Der Laubfrosch verliert seinen Lebensraum, weil wir mit unserer Agrar-, Energie- und Verkehrspolitik Moore und Feuchtgebiete zerstören.
„Bis zu 40 Prozent der in Deutschland heimischen Tier- und Pflanzenarten sind bedroht, und das nur, weil Tiere und Pflanzen in einer bis zum Anschlag genutzten Natur kaum Möglichkeiten zur Anpassung haben. Konsequenter Natur- und Klimaschutz müssen daher Hand in Hand gehen“, so NABU-Fachbereichsleiter Umweltpolitik, Jörg-Andreas Krüger. Eine zentrale NABU-Forderung zur Bundestagswahl sei daher die Verabschiedung eines Bundesprogramms Biologische Vielfalt. In den kommenden vier Jahren müssten jährlich 300 Millionen Euro in den Naturschutz fließen, davon zehn Prozent der Gelder aus dem Emissionshandel.
Die Kandidaten präsentieren sich ab sofort auf Wahlplakaten an Gebäude- und Bauzäunen in Berlin und im Internet sowie auf Postkarten, Stickern und Buttons. Ferner rollen mobile Fahrräder mit den Wahlkampf-Botschaften durch Berlins Bezirke:
Auf der Internetseite der „Liste pro Natur“ kommt der Wolf ganz im Sinne der ANT selbst zu Wort, in seinem Forderungskatalog heißt es u.a.: „Setzen Sie sich konsequent für den Schutz unserer Familien ein.“
„Wir Gänsegeier sind ja miese Presse gewöhnt. Lange haben wir geschwiegen. Jetzt reicht es!“
„Wir Feldhamster haben vielleicht ein dickes Fell, aber es ist nicht dick genug, ständig der Buhmann der Asphalt-Lobby zu sein. Wir können es nicht mehr hören: ‚Wegen ein paar Feldhamstern werden wir nicht auf diese supertolle Straße verzichten.“
„Auch wir Laubfrösche fordern ein globales Konjunkturprogramm – beschließen Sie im Dezember in Kopenhagen ein neues Weltklimaabkommen, das die Zukunft für uns und unsere Nachbarn dauerhaft sichert.“
Die taz schrieb dazu am Samstag:
Mit dieser schickt der Naturschutzbund Deutschland (NABU) die Tiere als Kandidaten für die kommende Bundestagswahl in den Wahlkampf. Feldhamster, Laubfrosch, Wolf und Gänsegeier stellten sich letzte Woche in Berlin mit ihren Zielen vor. Standortsicherung für Tiere und Integration derselben wollen sie durchsetzen sowie eine konsequente Klimapolitik.
„Bedrohte Tiere sind ebenso wie die Wähler von politischen Entscheidungen betroffen. Doch sie können nicht wählen gehen“, sagte Leif Miller, Bundesgeschäftsführer des Nabu. Deshalb sollten die Wahlberechtigten endlich „Partei ergreifen“ für die Natur. Die Umweltorganisation fordert außerdem die Verabschiedung eines „Bundesprogramms Biologische Vielfalt“ in der nächsten Legislaturperiode. Das soll ein speziell eingerichteter Haushalt für die Umsetzung des Ziels sein, das Artensterben in Deutschland zu stoppen. Vorbild für die „Liste Pro Natur“ des NABU scheint die Schweizer Organisation „Pro Natura“ zu sein, offen bleibt indes, wie man die vier Tiere als Kandidaten wählen kann/soll, zumal sie anonym bleiben – d.h. der NABU führt sie nur als bloße Repräsentanten ihrer Art – ohne Namen und Wohnsitz (Lebensraum) – vor. Und ihre Forderungen betreffen auch alle das Überleben ihrer Art. Das wäre ungefähr so – nach den alten auf Menschen beschränkten „Rechten“ der Französischen Rvolution, als müßten wir nun bei der Bundestagswahl uns zwischen einem Schwarzafrikaner, einem Südeuropäer, einem Nordeuropäer und einem Asiaten entscheiden, ohne dass wir mehr als das über sie wüßten.Und als würden diese stets nur für ihre Kultur als Ganzes sprechen. Dabei wird ein Feldhamster in Niedersachsen bestimmt ganz andere Probleme als ein Feldhamster in sagen wir Weißrussland haben. Latour plädiert in diesem Zusammenhang erst einmal für einen Multinaturalismus.
Die neue taz-chefredakteurin meint, die NABU-„Liste“ sei keine neue Partei, da soll nichts gewählt werden, die Plakataktion der NABU richte sich vielmehr im Zusammenhang der kommenden Bundestagswahl an die Parteien und ihre Wähler, diese Forderungen mitzubedenken, sie sei somit Teil der NABU-Anstrengungen überhaupt, für seine Naturschutz-Ziele zu werben.Das bestätigte wenig später auch die Referentin für Öffentlichkeitsarbeit beim Naturschutzbund.
Der NABU will also Mehrheiten für die Forderungen von Feldhamster, Wolf, Gänsegeier und Laubfrosch gewinnen – und das im Zusammenhang der Parteienwahl am 27.September. Bei dem Politevent geht es ebenfalls darum, dass die Parteien und ihre (nichtanonymen) Kandidaten Mehrheiten, mindestens eine respektable Anzahl an Wählerstimmen auf sich ziehen. Nun weiß man aber inzwischen: Nur Minderheiten sind produktiv – nie Mehrheiten, deswegen ja auch die Idee, statt einer Parteienlandschaft ein „Patchwork der Minderheiten“ (Lyotard) zu schaffen. Und dazu eine Vielzahl „Kollektive“ (Latour) – Runde Tische, an denen nicht nur die Tiere, Pilze, Pflanzen, Bakterien und Protoctisten (die „Fünf Reiche“), sondern auch sämtliche in frage kommenden Artefakte Sitz und Stimme haben. Ob dann z.B. ein Laubfrosch für alle Laubfrösche sprechen kann, das wird sich zeigen – wahrscheinlich wird das nicht der Fall sein. Während sie in Norddeutschland primär Klimaprobleme haben und überdies mehr Heckenschutz fordern würden, hadern sie z.B. in Mittelitalien eher mit Pestiziden, Herbiziden und ähnlichen Giften. Es reicht nicht einmal – darwinistisch statt von Arten von Populationen auszugehen, da kommt nur so ein Hochrechnungs-Statistik-Zeug bei raus wie bei den demokratischen Wahlen, deren Ergebnisse ja auch schon mehr und mehr von Volksbefragungen flankiert bzw. korrigiert werden – für die sich im übrigen auch der NABU schon seit längerem einsetzt.
Neben dem Naturschutzbund Deutschland e.V. (NABU) gibt es ja auch noch den Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland (BUND genannt). Der BUND hat sich Folgendes zur Bundestagswahl ausgedacht:
Der erste deutschlandweite Kandidatencheck zur Bundestagswahl 2009 ist online. Der BUND stellte rund 1.500 Direktkandidaten insgesamt drei Fragen zu Atomreaktoren, zum Neubau von Kohlekraftwerken und zum Einsatz der Gentechnik in der Landwirtschaft. Wählerinnen und Wähler erfahren so mehr über das umweltpolitische Profil der Kandidatinnen und Kandidaten…
Ich weiß noch nicht, wie der NABU entstanden ist, wohl aber ein bißchen über die Geschichte des BUND: Es begann mit den ersten Bürgerinitiativen (BI) gegen Atomkraft. Die Whyler BI war hierbei nicht nur der Anfang der Anti-AKW-Bewegung, sondern auch einer allgemeineren Umwelt- und Naturschutz-Bewegung. Um sich zu „effektivieren“ wurden in der BRD zunächst die verschiedenen Stränge des bürgerlichen Naturschutzes und des administrativ-technischen Umweltschutzes mit den Bürgerinitiativen, also der Ökologiebewegung als „neuer sozialer Bewegung“, koordiniert. Mit der Gründung des „Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschlands“ (BUND) 1975 gelang auf Initiative von Horst Stern, Hubert Weinzierl, Konrad Lorenz, Robert Jungk und Bernhard Grzimek die Zusammenführung von Natur- und Umweltschutz. Die Bürgerinitiativen hatten sich zuvor bereits zum „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz“ (BBU) zusammengeschlossen. Und von der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) weiß ich, dass sie nicht die Arbeit der Ökologie-Bewegung bzw. der diversen -Initiativen verbessern oder kritisieren will, sondern nur ihre immer noch moderne Theorie auf die Höhe ihrer postmodernen Praxis bringen möchte.
Die Konsumentenstrategien, auch Loha-Politiken genannt, bleiben dabei ganz außen vor. Weil diese in der taz aber eine große Rolle spielen, in Umdrehung der früheren Produzentenpolitik um 180 Grad, seien sie hier abschließend auch noch thematisiert:
Vielleicht liegt es ja an dem Enthobensein von Wirtschaftskämpfen dank der reichen Spender aus dem Süden, die die taz-Konsumgenossenschaft bilden, dass die darin eingewickelte taz-Produktivgenossenschaft ebenfalls zunehmend Konsum- statt Produktions-Strategien verfolgt. Stefann Kuzmany und Peter Unfried haben sogar ganze Bücher darüber verfaßt, mit ihren eigenen Konsumstrategien im Mittelpunkt bzw. als Ausgangspunkt. Selbst das da ein bißchen Abhilfe schaffende taz-„bewegung.de“ erwähnt auf seinem Plakat zwar alle Loha-Topics (Klima, Gentechnologie, Stadtentwicklung, Bio, Antifa, Demokratie, Erneuertbare Energie…), aber nichts, was auf eine „bewegung“ im Produktonsbereich hindeuten könnte (Streiks, Sabotage, Managerentführungen, Wanderarbeiter, Migrationsströme, Studentenunruhen etc.).
Heute druckt die Süddeutsche Zeitung in ihrem Kommentar auf der Wirtschaftsseite eine Kritik an der Loha- bzw. Konsumentenpolitik, den ich hier reinstelle: Grün kaufen reicht nicht:
Konsumieren und die Welt verbessern – nach diesem Motto handeln immer mehr Verbraucher. Sie achten darauf, ob die Hersteller die Baumwollbauern fair entlohnen oder ob sie Gemüse verkaufen, das giftfrei angebaut worden ist. Sie halten dabei viel von kleinen, überlegten Schritten, jedoch wenig von Verzicht. Schätzungsweise 12,5 Millionen Menschen gehören in Deutschland schon zu den Anhängern eines solchen Lebensstils. Für die Wirtschaft ist diese Kundschaft wesentlich interessanter als die erste Generation der grünen Konsumenten, die häufiger von Verzicht sprachen, beim Auto, Fleisch oder gar der Fernreise. Ein grüner Genießer legt sich dagegen lieber den Toyota Prius mit Hybridantrieb zu, erwirbt sein Schnitzel auf dem Ökomarkt und erkauft sich bei der Fernreise ein gutes Gewissen, indem er Geld dafür spendet, dass Bäume angepflanzt werden, die dann CO2 absorbieren. Aber geht das Kalkül dieser strategischen Konsumenten auf? Sicher verändern deswegen viele Unternehmen ihre Produktionsverfahren. Dafür sorgt in einer funktionierenden Marktwirtschaft schon der Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Deswegen gibt es fair hergestellte Schokolade nicht mehr nur im Eine-Welt-Laden, sondern auch beim Aldi. Und deswegen kann man beim Versandhandel ein T-Shirt aus rein ökologischer Baumwolle bestellen oder für die private Altersvorsorge in eine Windkraftanlage investieren. Es ist jedoch eine Illusion zu glauben, der Ressourcenverbrauch der Bürger könnte auf diesem Weg auf das notwendige Maß schrumpfen.
Um einen Konsumenten in der Europäischen Union mit Nahrung, Gütern und Energie zu versorgen, braucht man jährlich sechs Hektar Land und produziert zehn Tonnen klimaschädliches Kohlendioxid. Würde jeder Erdbewohner die gleiche Ressourcenmenge beanspruchen, dann bräuchte man drei neue Planeten. Neue Konsumgewohnheiten reichen nicht aus, und Bekenntnis und Tat klaffen häufig auch auseinander. Außerdem überschätzen viele Konsumenten ihren Umweltbeitrag. Am tugendhaftesten dürften sich ohnehin diejenigen verhalten, die gar nicht anders können, weil sie wenig Geld haben – etwa die Rentnerin, die auf kleinem Raum lebt und nur zu Fuß unterwegs ist. Verglichen mit ihr dürfte die Umweltbilanz eines gut verdienenden, strategischen Konsumenten beschämend schlecht ausfallen. Außerdem ist die Konsumwelt viel zu komplex, um als einzelner immer die richtige Entscheidung zu treffen, was folgende Beispiele zeigen: Wer Strom spart sorgt dafür, dass weniger Kohlendioxid entsteht. Leider nicht! Wenn die Haushalte in der EU weniger Strom brauchen, dann ändert sich nämlich an der Gesamtzahl der Zertifikate für Emissionen nichts. Der Schadstoffausstoß verlagert sich lediglich. Davon profitieren insbesondere energieintensive Industrien wie die Stahl- oder Aluminiumindustrie. Daran dürfte kaum ein Verbraucher denken, wenn er sich eine klimaschonendere Waschmaschine kauft.
Und wer würde erwarten, dass die ökologische Rinderzucht genauso umweltschädlich ist wie die konventionelle? Tatsächlich stößt jede Kuh täglich bis zu 400 Gramm des hochwirksamen Treibhausgases Methan aus, egal, wie sie aufgezogen wird. Der individuelle Konsum taugt eben nicht als Ersatz für eine sinnvolle Regulierung. Nur die Politik kann die Anreize so verändern, dass sich alle Unternehmen und alle Konsumenten nachhaltig verhalten, so wie bei der Glühbirne. Das ineffiziente Leuchtmittel wird schon in wenigen Jahren in Europa verschwunden sein, dank der Politik. Und schon bald dürften die Unternehmen dafür sorgen, dass die Lichtqualität der handelsüblichen Energiesparlampen deutlich besser wird. Ehrgeizige Ziele für eine nachhaltige und gerechtere Wirtschaft lassen sich nur erreichen, wenn Gesellschaften über wirksame und gemeinwohlorientierte Steuerungsinstanzen verfügen. Deswegen sollte sich niemand auf seine Rolle als Konsument beschränken, sondern sich als politisch interessierter Bürger in der Demokratie einbringen. (SZ vom 17.08.2009)
Stefan Kuzmany antwortete mir eben darauf:
Lieber Aushilfshausmeister, mein Buch beschäftigt sich zwar durchaus mit meinem Konsum, aber gerade nicht mit der These, dass der die Welt retten könnte. Nein, es kommt am Ende zu demselben Schluss wie der von Dir zitierte SZ- Kommentar – den ich, wohl auch deshalb, zwar für einleuchtend, aber wenig überraschend halte. Und dabei ziemlich diffus (ein Vorwurf, den sich mein Buch allerdings auch gefallen lassen muss): „sich in der Demokratie einbringen“, kraftloser formuliert geht’s ja wohl kaum. Aber Managerentführungen! Das wäre mal eine krachende Forderung in einem SZ-Wirtschaftskommentar gewesen! Oder zumindest in meinem Buch. Aber leider, hast ja Recht: dafür war ich nicht radikal genug. In der taz wird sowas ja ständig gefordert. Oder erinnere ich mich da falsch?
Beste Urlaubsgrüße von Stefan
Von einer ungenannt bleiben wollenden Leserin kam noch folgende Bemerkung zu dem „bemerkenswerten SZ-Kommentar“:
In Fritz Mieraus Aufsatzband „Konzepte“ (1979 im Westen erschienen) kommt er im Kapitel über Wladimir Majakowski auf dessen Begriffe „Verbraucher“ (potrebitel) und „Produzent“ (proiswoditel) zu sprechen. Majakowski hatte sie in seinem Nachwort auf Chlenikow benutzt, in der fünfbändigen Majakowski-Ausgabe wurde das dann so erklärt: Majakowski wollte damit sagen, Chlenikow sei ein Dichter für Produzenten und nicht für Verbraucher gewesen. Nun ist aber der Produzent, wenn er ein Gedicht liest auch ein Verbraucher, und einen Nur-Verbraucher gibt es – zumindestens im couponschneiderlosen Ostblock – sowieso nicht. Wohl gibt es jedoch – laut Mierau – beide sowohl unter den Dichtern als auch unter den Lesern: Der „Produzent“ ist der Leser und Dichter, der sich schöpferisch, verändernd zur Wirklichkeit, zur Sprache zum Wort verhält. Der „Verbraucher“ ist der Leser und Dichter, der Fertiges benützt. Eine dritte Variante zum Verständnis wäre die, dass Chlebnikows Dichtung eher zur „Produktion“ anregt als zum „Verbrauch“ – im Sinne von Entspannung, Zerstreuung, Ablenkung.
Erwähnt sei abschließend noch ein neues Buch zur Kritik an Konsumenten-Politik:
„Ende der Märchenstunden – Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt“ – von Kathrin Hartmann. Die Autorin hat dazu auch einen „blog“ im „Zusatzmedium“ (J.Habermas) Internet eingerichtet:
www.ende-der-maerchenstunde.de/index.php?/autorin.html.
Ihre Eintragungen bestehen vor allem aus einer Auflistung der Reaktionen auf ihr Buch, wozu auch Einladungen an die Autorin in Talk-Shows, Kultursendungen usw. gehören. Ist das nicht auch wieder ziemlich Lohas-Like – wenigstens Arbeit an der Sustainibility (Nachhaltigkeit/Nachdrücklichkeit)? Egal, Kathrin Hartmanns Buch ist sehr brauchbar.
Die taz berichtete übrigens seit 1979 30 mal über Kohlmeisen und 39 mal über Blaumeisen.
Telepolis druckte unlängst ein Gespräch mit dem Blaumeisenforscher Bart Kempenaers, Direktor der Abteilung Verhaltensökologie und Evolutionaire Genetik des Max-Planck-Institutes für Ornithologie in Seewiesen, ab.
Mit seinem Team hat er die Gelege von Blaumeisen untersucht und herausgefunden, dass die Brut eine recht bunt gemischte Gesellschaft sein kann – weil auch „Mutti“ den Blick über den Nestrand wagt:
„Früher dachte man, dass Vögel eher monogam leben“, so Ornithologe Bart Kempenaers:
Dass die Männchen im Tierreich bestrebt sind, sich so oft als möglich zu paaren, um viel Nachwuchs zu zeugen und die eigenen Gene durchzusetzen ist altbekannt. Doch auch die Weibchen wollen hohen Reproduktionserfolg, sie setzen dabei jedoch statt auf Masse auf Klasse. Weil sie nicht plötzlich die doppelte Menge Eier legen können, suchen sie möglichst gutes Spermamaterial zu erhalten und das gelingt nur durch zusätzliche Partner. „Die Untersuchungen bei unseren [extern] Blaumeisen (Parus caeruleus) haben eindeutig erbracht“, erklärt Kempenaers, „dass Weibchen, die fremdgehen, einen höheren Reproduktionserfolg aufweisen: Ihr Nachwuchs ist von ‚besserer Qualität‘, d. h. es überleben mehr und sie besitzen ein besseres Immunsystem. Die Weibchen legten größere Gelege und lebten länger, die Männchen waren erfolgreicher bei der Aufzucht der Jungen und produzierten mehr überlebende Nachkommen. So wie ich es sehe, bietet die Promiskuität den Weibchen die Möglichkeit, genetisch den besseren Partner bzw. die besseren Spermien zu bekommen. Sie bedeutet eine Optimierung der Partnerwahl.“
Promiskuität biete sich demnach als unkomplizierte Lösung für Vogelfrauen an, die den optimalen Partner nicht gefunden haben.
Was ist das wieder für ein darwinistischer Max-Planck-Unsinn: Die Weibchen „suchen möglichst gutes Spermamaterial zu erhalten“. Das sind doch reine Seewiesen-Ehefrauen-Sekundärrationalisierungen, um ihre sie deterritorialisierende Abenteuerlust ehemäßig zu reterritorialisien…bevor es noch in ihren oberbayrischen Swinger-Clubs zum Äußersten kommt.
Blaumeisen haben so einen Quatsch gar nicht nötig! (Übrigens auch die Kohlmeisen nicht)