vonHelmut Höge 12.10.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Der schwarze Schwan „Petra“. Photo: WN, Matthias Ahlke

Schwanforschung

Fünf Biologen machen Picknick an einem See. Plötzlich erhebt sich vor ihnen ein Schwan und fliegt laut Flügel schlagend übers Wasser davon. Er beschreibt eine Kurve und landet daraufhin wieder in der Mitte des Sees. Die Männer fangen an zu diskutieren, wie der Schwan das gemacht hat und warum. Der Erste, ein Physiologe, beschreibt die starken Flügelmuskeln, ihre besondere Verankerung am Skelett und das Nervensystem des Schwans. Er flog auf, weil Impulse von der Retina ins Gehirn und von dort weiter über die motorischen Nerven an die Flügelmuskeln geleitet wurden. Der Zweite, ein Biochemiker, verweist darauf, dass die Muskeln des Schwans u.a. aus den Proteinen Aktin und Myosin bestehen. Der Schwan kann aufgrund der Beschaffenheit dieser Faserproteine fliegen, die unter Verbrauch von Energie (aus ATP – Adenosintriphosphat, der universellen Form verfügbarer Energie in den Zellen) eine Gleitbewegung vollführen und so den Muskel kontrahieren lassen. Der Dritte, ein Entwicklungsbiologe, beschreibt die ontogenetischen Prozesse, die zunächst ein befruchtetes Ei zur Teilung veranlassen und dann zur rechten Zeit für die Ausbildung von Nervensystem und Muskulatur sorgen. Der Vierte, ein Verhaltensforscher, zeigt auf einen im See schwimmenden Mann: Er hat vielleicht unabsichtlich den in Ufernähe gründelnden Schwan verscheucht, weil er ihm zu nahe gekommen war. Schwäne sind wegen ihrer kurzen weit hinten am Körper angesetzten Beine an Land sehr schwerfällig – und verlassen deswegen das Wasser nur ungerne, wo sie mit ihrem langen Hals die Pflanzen vom Grund abfressen. Der Fünfte, ein Evolutionsbiologe, erklärt die Prozesse der natürlichen Selektion, die sicher stellen, dass nur jene Schwanvorfahren eine Chance hatten, zu überleben und sich fortzupflanzen, die sowohl imstande waren, eine mögliche Gefahr rechtzeitig zu erkennen, als auch schnell genug, sich in die Luft zu erheben. (1)

Fünf Biologen, fünf verschiedene Arten von Erklärung. Der Physiker Steven Rose spricht von einem „epistemologischen Pluralismus“ – den wir aushalten müssen. Der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour fragt sich dagegen: „Wann können wir endlich aufhören, die nicht-menschlichen Wesen zu objektivieren, indem wir sie ganz einfach verweltlichen und laizistisch betrachten?“ An anderer Stelle meint er jedoch: „Wer der Faszination für die Natur zu erliegen droht, sollte zur Ernüchterung jedesmal das Netz der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplin hinzufügen, durch die wir sie kennenlernen.“ Demnach sind die Wissenschaften für ihn so etwas wie Ausnüchterungszellen für trunkene Seelen.

In diesem Fall wäre das eine Schwanforschung als spezialisierte Ornithologie. Sie ist jedoch anscheinend nicht besonders üppig, obwohl einige Arten ähnlich wie die Störche geradezu „Zivilisationsfolger“ sind – und sich so den entsprechenden Wissenschaftlern fast schon aufdrängen. Die Schwäne (Cygnini) gehören mit den Gänsen zu den Entenvögeln (Anatidae), und die meisten Biologen bzw. Ornithologen konzentrieren sich, wenn nicht auf Enten, dann auf eine oder mehrere Gänsearten – denen sie u.U. bis in den Hohen Norden nachfolgen. Davon erzählt z.B. das Buch der schwedischen Ornithologin Ulla-Lene Lundberg: „Sibirien. Porträt mit Flügeln“. Auf solche Weise wurde z.B. die Ringelgans das Wappentier des Nationalparks Wattenmeer. Ihretwegen war es dort jahrelang zu erbitterten Auseinandersetzungen – zwischen den Gänseforschern bzw. Naturschützern einerseits und den friesischen Bauern andererseits gekommen. Letztere hatten das Land einst dem Meer abgerungen. Im Ergebnis wird die dortige Grenze zwischen Natur und Kultur heute durch eine rotweiße Schranke markiert.

Von Donna Haraway stammt die diesbezüglich schöne Formulierung, dass es zwar keine Natur und keine Kultur gibt, aber viel Verkehr zwischen diesen beiden Größen. Einzelheiten dazu finden sich in dem Aufsatz des Ethnologen Werner Krauss: „Die ‚Goldene Ringelgansfeder‘. Dingpolitik an der Nordseeküste“.

Zur Schwanenforschung im engeren Sinne bekam ich nur einen Tipp: das Buch des Münchner Stadtnaturforschers Josef Reichholf: „Das Comeback der Biber“. Es geht darin u.a. um das kämpferische „Revierverhalten“ der zur Schwarmbildung eher wenig neigenden  Schwäne, die dafür gerne lebenslange Paarbindungen eingehen. Das gilt für alle 8 Schwanarten, von denen eine jedoch, die neuseeländische, seit 300 Jahren ausgestorben ist.

Während der sogenannten Vogelgrippe vor drei Jahren starben hunderte von Höckerschwäne – erst an der Ostsee und dann auch am Bodensee. Das Gesundheitsamt Rügen antwortete auf die Fragen besorgter Touristen stereotyp: „Ja ja, das Virus, das man in den Schwänen nachgewiesen hat, ist hochpathogen.“ Die Angst vor Ansteckung trieb einige Leute dazu, u.a. am Urbanhafen in Kreuzberg, nächtens einige Schwäne zu erschlagen. Früher tötete man alljährlich tausende dieser Tiere – ihrer Daunen wegen. Die Ornithologen versuchten nun gegen zu steuern, indem sie der Öffentlichkeit versicherten: Der Vogelgrippevirus H5N1 sei für Menschen nahezu ungefährlich und die Sterblichkeitsrate bei den Schwänen, auf Rügen z.B., nicht höher als in anderen Wintern auch! Im übrigen handele es sich bei den im Fernsehen gezeigten toten Schwänen um lange vor dieser „Medienkampagne“ gestorbene und bereits verweste Vögel.

Wie weit die „Panik“ reichte, erfuhr ich von einem Freund, der auf dem Land lebt und unbeabsichtigt den halben Staatsapparat darüber mobilisiert hatte. Ihm waren vier seiner sechs Gänse von einem Hund totgebissen worden. Traurig packte er sie in sein Auto, als er am nächsten Tag in die Kreisstadt fahren mußte. Unterwegs stieg ihm aber der Gestank der toten Gänse neben sich auf dem Boden unangenehm in die Nase und ihn packte die Wut. Kurzentschlossen hielt er an und schmiß die vier Kadaver in den Straßengraben. Als er Stunden später wieder zurückfuhr, war die Stelle großräumig von der Polizei mit rotweißen Plastikbändern abgesperrt, Seuchenexperten in weißen Kitteln untersuchten den Fundort und alle Autos mußten durch Desinfektionswannen fahren – sein ganzes Dorf hatte man mittlerweile unter Quarantäne gestellt. Mein Freund freute sich: Jahre, ach, jahrzehntelang hatte er versucht, alles Mögliche „anzuschieben“ – betrieblich, sozial, ökologisch, politisch, den Erhalt seiner Firma, die Begrünung seines Mietshauses in der Stadt, die Einrichtung eines Spielplatzes usw.. Aber nie hatte er dabei die Behörden derart schnell und so massiv mobilisieren können – wie mit dieser kleinen, unbeabsichtigten „Panikmache“.

Von meiner Mutter habe ich großen Respekt vor Schwänen eingeflößt bekommen. Sie hatte ihren Arbeitsdienst als BDM-Mädchen auf einem Bauernhof abgeleistet, wo sie die ganze Zeit von einem Ganter verfolgt und gebissen worden war. Seitdem fürchtete sie sich vor allen Gänseartigen. Ich überwand meine Furcht vor Schwäne 1967, mehr noch, aus einer Phobie machte ich damals eine Philie. Und das kam so:

1966 hatte der indische Großtierhändler George Munro in Bremen einen Zoo eröffnet, der gleichzeitig eine Tier-Handelsstation war, daneben besaß er noch eine kleine Station in Kalkutta. Ich fing als Übersetzer bei ihm an – für seine Frau, die Büroleiterin war und nur Englisch und Hindi sprach. Da die beiden jedoch nicht genug Tierpfleger hatten, war ich die meiste Zeit mehr draußen als drinnen beschäftigt. Dadurch konnte ich mich auf den Schwan gewissermaßen vorbereiten. Das begann schon morgens: Als erstes hatte ich vier kleine Kragenbären in ihr Freigehege zu tragen – jeweils zwei auf einmal, die ich am Nackenfell gepackt von mir weghielt, weil sie die ganze Zeit versuchten, in meine Hand zu beißen.

Dann kamen zwei halbwüchsige Orang-Utans dran, die ich mit dem Schlauchboot auf eine kleine Affeninsel in einem See zu bringen hatte. Auf dem Weg zum Boot nahm ich sie an die Hand. Auf der Insel mußte ich erst einmal die Tür eines kleines Häuschens aufsperren, damit sie bei Regen einen trockenen Platz hatten. Einmal sprangen mir währenddessen die beiden Orangs wieder zurück in das Schlauchboot – und ich befand mich allein auf der Insel, während die Affen über den See abtrieben und sich halb totlachten: Vor Freude hüpften sie wie wild auf die Wülste des Bootes und kreischten. Je entsetzter ich kuckte, desto lustiger fanden sie das Ganze. Zum Glück kam gerade Buddha, der kleine Sohn meines Chefs, am See vorbei. Er krempelte sich die Hose hoch, stieg ins kalte Wasser und bekam nach kurzer Zeit das Schlauchboot zu fassen.

Meistens half mir seine Schwester, Jenny – nach der Schule. Sie war mit allen möglichen Tieren groß geworden und kannte sich gut mit ihnen aus, während ich mit vielen zum ersten Mal zu tun hatte. So flößten mir z.B. in den Volieren zunächst die riesigen Schnäbel der Doppelnashornvögel den allergrößten Respekt ein: Sie saßen auf Ästen und man mußte gebückt unter ihnen durchgehen, um einen Eimer voll Obstsalat in ihren Futternäpfe zu verteilen: Was, wenn sie einem dabei in den Kopf hackten? Jenny zeigte mir, wie harmlos sie waren und wie vorsichtig sie ihre Schnäbel einsetzten – man konnte sie mit der Hand füttern. Ähnliches galt für die Flughunde, die trotz ihrer scharfen Zähnen ebenfalls kindlich-freundliche Obstesser waren.

Schwieriger war es mit dem Einfangen von Tieren, was oft vorkam, da der Zoo zugleich wie erwähnt als Handelsplatz diente. Auch hierbei half mir Jenny, mit der ich mich bald immer mehr anfreundete. Am Unangenehmsten war es, Kraniche oder Reiher einfangen zu müssen: Sie wehrten sich mit ihren langen spitzen Schnäbeln sowie mit ihren Flügeln und den scharfen Sporen am Bein – auf all diese fünf Waffen zugleich konnte man unmöglich achten. Mehrmals gelang es diesen Vögeln, mich zu verletzen, mindestens mir die Hosenbeine aufzuschlitzen. Beim Ährenträgerpfau war es schon gefährlich, ihn nur füttern zu wollen. Einmal sprang er dem Pfleger dabei auf den Kopf und brachte ihm eine tiefe Wunde bei, die genäht werden mußte. Ich scheuchte danach den Pfau immer mit einem Besen in seinen Stall, bevor ich mich in seinem Außengehege zu schaffen machte. Einmal flüchtete er vor dem Besen in meine Richtung, ich sprang erschrocken zur Seite, woraufhin er durch die Tür nach draußen ins Freie flog. Obwohl es ein herber Verlust war, etwa 1000 DM, trauerte niemand ihm nach. Am Angenehmsten war es mit einem Elefanten, den sein indischer Tierpfleger und ich im Güterwaggon nach Ostberlin in den dortigen Tierpark bringen sollten. Er machte alles bereitwillig mit. Für den Elefanten hatten wir genug Heu und anderes Futter dabei, aber für uns nur einige Schokoriegel, weil wir davon ausgegangen waren, dass die Zugfahrt höchstens 12 Stunden dauern würde – wir brauchten jedoch drei volle Tage, weil die Waggons alle nasenlang umrangiert wurden und jeder Personenzug Vorrang hatte. Bei jedem Halt stieg ich aus, um für den Elefanten Wasser zu holen. Auf dem Rückweg mußte ich jedesmal unseren Waggon suchen, der inzwischen umrangiert worden war. Der indische Tierpfleger und ich, wir wurden immer nervöser und hungriger, aber der Elefant blieb gelassen. Er vermittelte uns geradezu das Gefühl, dass wir es schon schaffen würden, ihn sicher ans Ziel zu bringen. Anschließend durften wir uns im Gästehaus des Ostberliner Tierparks drei Tage lang erholen, bevor wir wieder, diesmal mit einem Personenzug, nach Hause fuhren.

Als nächstes sollte ich elf Schwäne, die vorübergehend im leeren Freigehege für Geparden untergebracht waren, einfangen und umsetzen. Dieser Auftrag machte mich vollends ratlos. Die elf Schwäne schwammen im Wassergraben des Geheges: Mit dem Schlauchboot trieb ich sie erst einmal an Land und dann in einer Ecke des Geheges zusammen. Weil ich mich nicht traute, mir einfach blitzschnell einen zu packen, gelang es den Vögeln immer wieder, zurück in den Wassergraben zu flüchten, von wo aus ich sie dann wieder mit dem Schlauchbott an Land und in eine Ecke des Geheges scheuchte…Hin und her – bis der Sohn des Chefs, Buddha, kam und mir half: Wir drängten die Schwäne zu zweit erneut in eine Ecke des Geheges – und Buddha schmiß sich einfach auf den erstbesten, packte ihn, nahm ihn hoch und trug ihn über das halbe Zoogelände in das gerade fertiggestellte neue Gehege für Teichvögel, wo er den Schwan ins Wasser gleiten ließ. Es sah ganz einfach aus. Ich tat es ihm nach. Sogleich gelang es mir, einen Schwan zu umfassen, so daß er nicht mehr mit seinen Flügeln um sich schlagen konnte, seine kurzen Beine hielt er von selber still und seinen Schnabel hielt ich mit einer Hand fest. Die andere Hand presste ich an seinen Bauch.  Nach ein paar Schritten merkte ich, wie weich dort die Federn waren und wie schön es sich anfasste. Ich ließ seinen Schnabel los und griff mit meiner anderen Hand an seine Brust – die war sogar noch weicher. Und weder versuchte der Schwan mir mit seinem Schnabel ins Gesicht zu hacken oder zu beißen, noch fing er an zu schreien, im Gegenteil: Er kuschelte seinen Kopf leicht an meinen Körper und fiepte nur leise. Ich streichelte ihm den Hals und ging glücklich zum neuen Teich der Wasservögel, wo ich ihn am Rand ins Gras setzte. Mit einem Satz und einem kleinen Schrei sprang er ins Wasser, um sich schnell in der Mitte des Sees in Sicherheit zu bringen.

Ich ging zurück, um den nächsten Schwan zu holen. Alle reagierten ähnlich friedfertig – sobald wir sie erst einmal fest umfaßt hielten.  Leider war Buddha so schnell, dass wir schon bald zehn Schwäne gefangen hatten, den letzten, elften, schnappte ich mir – trug ihn aber nicht gleich in sein neues Freigehege, sondern ging mit ihm auf dem Arm noch eine Weile spazieren: Er war nicht schwer und fühlte sich ebenfalls wunderbar an, außerdem roch er gut. Tagelang hätte ich mit ihm so herumlaufen mögen. Ich wanderte mit ihm durch den ganzen Zoo. Als ich mit dem Schwan am Käfig des sibirischen Tigers vorbeikam, sprang dieser auf und fauchte, wobei er sich mit den Vorderpfoten am Gitter aufrichtete. Das tat er auch, wenn ich – was mehrmals täglich geschah – mit dem VW-Bus bei ihm vorbeifuhr. Der schwarze Panther im Käfig nebenan, der einer alten Dame gehört hatte, die in ein Altersheim gekommen war, blieb jedoch ganz ruhig: Er kuckte uns nur traurig oder gelangweilt hinterher. Dahinter arbeiteten unter der Aufsicht eines Wärters 14 Gefangene aus dem Gefängnis Oslebshausen an der Gestaltung eines Bison-Freigeheges. Ich hatte diesen Arbeitseinsatz organisiert und mich anfänglich auch noch darum gekümmert, aber nach und nach war ich dabei zum Laufburschen der Gefangenen geworden, indem ich ihre Briefe zu Verwandten und Freunden austrug bzw. umgekehrt von denen Botschaften an sie übermittelte und ihnen Zigaretten sowie andere Kleinigkeiten besorgte, was jedoch immer mehr wurde. So dass es mich irgendwann überforderte. Ich zog mich zurück und überließ dem uniformierten Wächter die Baustelle, was der mit Genugtuung registrierte: „Hätte ich Ihnen gleich sagen können!“

All das zeigte bzw. erzählte ich nun quasi dem Schwan, während ich ihn herumtrug. Schließlich setzte ich ihn am Wasservogel-Teich ins Gras. Bevor er sich dort ebenfalls ins Wasser flüchtete, schüttelte er noch kurz sein Gefieder aus. Dabei kuckte er mich irgendwie erstaunt an.

„Wenn ich einmal erwachsen werde, oder (wie wir zu sagen pflegten), nach der Revolution,“ schreibt die feministische US-Biologin Donna Haraway, „weiß ich, was ich tun möchte. Ich möchte für die Tiergeschichten in ‚Reader’s Digest‘ zuständig sein. die jeden Monat in über zwölfe Sprachen an die zwanzig Millionen Menschen erreichen. Ich möchte die Geschichten über moralisch versierte Hunde, gefährdete Völker, lehrreiche Käfer, wundersame Mikroben und gemeinsam zu bewohnende Häuser der Differenz schreiben. Mit meinen Freundinnen möchte ich am Ende des zweiten christlichen Jahrtausends Naturgeschichte schreiben, um zu sehen, ob andere Geschichten möglich sind, solche, die nicht auf dem Riß zwischen Natur und Kultur, bewaffneten Cherubim und heroischen Suchaktionen nach den Geheimnissen des Lebens beruhen.“

Zu Zeiten der Vogelgrippen-Hysterie 2006 wurde ein schwarzer Schwan berühmt, der sich im Aassee von Münster zu einem weißen Tretboot in Schwanengestalt gesellt hatte – und ihm nicht von der Seite wich, es sogar mutig gegen jeden Versuch der Wiederinbesitznahme durch die Menschen verteidigte. In Münster machte man aus dieser ungewöhnlichen „Liaison“ mit Hilfe einer Marketingfirma eine Art Wahrzeichen der Stadt.  Ich vermutete, dass die weißen Schwäne den schwarzen verscheucht hatten, so wie es bei Schafen vorkommt, die kein schwarzes Schaf in ihren Reihen dulden. Eine „Expertin“ von der Biologischen Station „Rieselfelder Münster“ verneinte dies jedoch: Die weißen Schwäne hätten keine Probleme mit schwarzen Schwänen; es handele sich bei seiner Liebe zum Tretboot mithin nicht um eine Objektverschiebung aus Kommunikationsnot, wie man es von Affenwaisen kennt, sondern um eine „Fehlprägung“. Eine solche kennt man spätestens seit den Aufzucht-Experimenten des Gänseforschers Konrad Lorenz, der sich einst selbst zum Objekt einer solchen „Fehlprägung“ machte, indem er den neugeborenen Gänschen die Mutter ersetzte. (2)

Der schwarze Schwan vom Aasee muß aber doch wohl eine Schwänin zur Mutter gehabt haben, die ihn demzufolge auch sozusagen ganz normal geprägt hat. Jedenfalls tauchte er erst im Yachthafen und bei den Tretbooten im Aasee auf, als er seinen Flaum schon verloren – und ein schwarzes Gefieder bekommen hatte. Und dann schwamm er auch nicht hinter jedem weißen, schwanenförmigen Tretboot hinterher, sondern nur hinter einem bestimmten, das man dann auch – ihm zuliebe – aus dem Verkehr zog. Statt auf eine „Fehlprägung“ tippte Peter Berz deswegen auf einen Fall von „Feteschismus“, als ich ihm davon erzählte.

Im Winter 2006 wurde der schwarze Schwan zusammen mit seinem Tretboot in den dortigen „Allwetterzoo“ umgesetzt. Bei der laut Münstersche Zeitung „mehrtägigen Aktion“ wurde das Boot etappenweise über den Asee und durch einen Kanal immer weiter in Richtung Zoo gezogen. Die Berliner Netzeitung berichtete: In den vergangenen Wochen war der Trauerschwan bereits von einem Teich im Zoo ins Pelikan-Haus gezogen. Im neuen Stall soll der Schwan eine Fußverletzung endgültig auskurieren. „Das Tretboot im Wasserbecken soll den Schwan zum Schwimmen animieren, damit der Fuß entlastet wird‘, erklärte dazu der Zoo-Chef Jörg Adler. Die neue Unterkunft wird durch ein großes Aasee-Bild geschmückt. Zudem hängen im Pelikan-Haus Kopfhörer, mit denen sich Zoo-Besucher eine «Schwanenballade» anhören können.  Später versuchte ein Verhaltensbiologe des Zoos den Schwan beziehungsmäßig wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Dazu berichtete der WDR: Im Zoo machte man sich Hoffnung, der Trauerschwan könnte einen lebendigen Artgenossen kennen und lieben lernen. Vor rund zwei Wochen wurde der Versuch der diskreten Kontaktaufnahme gestartet – und vorzeitig abgebrochen. Die im Zoo lebenden Trauerschwäne und die ‚Schwarze Petra‘ hätten sich nicht anfreunden können, hieß es. Keiner der Junggesellen verstand es, das Weibchen für sich zu begeistern. Die „Schwarze Petra“ blieb ihrem Tretboot treu. Petra lebt bereits seit mehr als einer Woche wieder mit ihrem Liebsten allein zusammen. Nach Ansicht des zooeigenen Verhaltensbiologen ist nicht davon auszugehen, dass sich das Tier jemals von seinem Tretboot trennen wird.“

Die Münsteraner hatten den Schwan zunächst „schwarze Petra“ genannt, der Zoodirektor bestand dann jedoch darauf, wahrscheinlich nach Prüfung der Kloake, in der sich beim Männchen der Penis befindet, ihn „Peter“ zu nennen.  Wenn er nicht auch noch an einer geschlechtlichen „Fehlprägung“ litt, mußte das Tretboot demzufolge ein weibliches sein: „Wenn man sieht, wie der Peter das Schwanenboot umkreist, ist gar nichts anderes vorstellbar: Das ist sein absoluter Bezugspunkt,“ teilte der Zoo-Direktor der Presse mit. Für hunderte von Münsteraner und Besucher der Stadt war wiederum dieses seltsame Schwanenpärchen ein absoluter Anziehungspunkt. Es wurde von Neugierigen geradezu umlagert.

Ende 2007 war in der Presse jedoch erneut von der schwarzen Petra die Rede: Diese hatte sich plötzlich von ihrem Tretboot ab und einem jungen weißen männlichen Höckerschwan zugewandt. Der Zoodirektor Jörg Adler erklärte daraufhin der Presse: „Er ist Petra wohl vom Aasee gefolgt, tauchte plötzlich auf dem tierparknahen Seitenkanal und kurz darauf an ihrer Seite auf“. Die Ahnungen einiger Jogger am Aasee und vom Tretbootbesitzer und Yachtschulbetreiber Peter Overschmidt schienen sich zu bewahrheiten: Petra war zuletzt immer mal wieder für einige Stunden aus der Nähe des Tretboots verschwunden. Das hartnäckige und intensive Werben des jungen Höckerschwans um die Trauerschwänin hatte also Erfolg – „und das Tretboot ist nun wohl der dumme Dritte“, stellte Zoo-Chef Adler nüchtern fest und fügte hinzu: „Das kann einem fast leid tun.“

Im Frühjahr 2008 fing die schwarze Petra an, im Zooteich ein Nest zu bauen, doch plötzlich verließ der weiße Höckerschwan sie. Petra hörte auf mit dem Nestbau und schwamm unruhig hin und her. Im Zoo wußte man sich schließlich nicht anders zu helfen, als sie wieder auf den Aasee zurückzubringen, wo ihr weißes Trettboot vor Anker lag. „Petra wurde sehr aufmerksam, als sie das Boot erblickte. Sie hat wohl eingesehen, dass nur das Tretboot ihr die Treue hält“, erklärte der Zoo-Direktor anschließend auf einer Pressekonferenz – und fügte erklärend hinzu: Die Beziehung zu ihrem weißen Schwan sei sowieso sehr ungewöhnlich gewesen, da sich Trauer- und Höckerschwäne in der Natur eigentlich nicht begegnen. Auch die vielen an ihrem Leben interessierten Neugierigen aus Münster und Umgebung fanden, dass die inzwischen weltberühmt gewordene schwarze Schwänin bei ihrem Tretboot bleiben sollte, wie eine Umfrage ergab.

In einem Internet-Forum namens „ariva.de“, in dem ihre Beziehungsprobleme ebenfalls diskutiert wurden, bemühte man zum Verständnis eine Standorttheorie. So schrieb z.B. ein gewisser D.B.: „Ich glaube wenn ich dazu verdammt wäre, in Münster zu leben, würde ich auch Tretbooten hinterherschwimmen.“ Ein gewisser A.N. gab daraufhin zu bedenken: „Weiss nicht, was daran schlimm ist. Ich hatte bisher 3 Tretboote in meinem Leben und sooo schlecht ist das nicht. OK – es gibt nur eine Stellung und man muss ständig an der Beziehung arbeiten, aber man kommt als Pärchen auch vorwärts. Einer holt den anderen immer irgendwo ab und nimmt ihn mit.“

Anfang 2009 verteilte der Münsteraner „Freundeskreis ‚Schwarze Petra'“ Flugblätter und hängte Steckbriefe an die Bäume: „Gesucht wird…“ Seit dem 1. Januar war die schwarze Schwänin verschwunden. Es kamen Meldungen aus Lindau am Bodensee und aus Carolinensiel an der Nordsee, wo sie angeblich aufgetaucht war. Eine mit Photographien erhärtete Spur führte nach Xanten an einen Baggersee. Die FAZ schrieb: „Am Aussehen kann man Petra nicht erkennen, nur am Verhalten.“ Mit einer Ausnahme: Rita Thieme. „Die gelernte Tierpflegerin, eines von 58 Mitgliedern des Freundeskreises, hat Petra auf dem Aasee seit zwei Jahren gefüttert, mit Spezialkörnern und Blattsalat. Bloß nicht Brot und Brötchen, denn da ist Salz drin, und Salz können Trauerschwäne – anders als andere Schwäne und Wasservögel – nicht abbauen.“ Wenn Rita Thieme pfeift kommt Petra angeflogen – aus bis zu zwei Kilometern Entfernung. „Wenn wir demnächst feststellen, dass Petra in Xanten ist, dann lassen wir sie da“, sagte ein Sprecher des Freundeskreises. „Rita Thieme könnte sie zwar einfangen, weil sie bei ihr handzahm ist, aber es ist doch ein wildlebendes Tier, so gerne wir sie hier in Münster wieder auf dem Aasee hätten.“ Die FAZ tröstete die Münsteraner: „Für Petra ist Xanten am Niederrhein auch ein treffender Ort. Siegfried! Nibelungen! Parzival! Lohengrin! Elsa! Der Schwan hat eine sagenhafte Wahl getroffen.“

Das Tier wird sich auch hier am Niederrhein wohl fühlen, versicherten daraufhin sofort einige „Experten“ – u.a. vom Naturschutzzentrum im Kreis Kleeve. „Die Region hier bietet ideale Voraussetzungen. Durch seine zahlreichen Gewässer ist sie sehr attraktiv für Wasservögel“, teilte z.B. der Biologe Martin Brühne dem Lokalfernsehen mit. Schon zweimal hatte er in den vergangenen Jahren schwarze Schwäne am Altrhein beobachtet. Einer der prächtigen Vogel war sogar mal im Wasser festgefroren und musste befreit werden.

Weil dies anscheinend trotz Klimaerwärmung immer öfter passiert, werden neuerdings für die Feuerwehren Fortbildungskurse im „Wildvogel-Fangen“ angeboten. Ein Reporter der WAZ war dabei: „Ein fester Griff. Ein kurzes Schnattern. Und bloß nicht die Flügel aus den Augen verlieren. Schon hält der Profi den Schwan auf dem Arm. Thorsten Kestner weiß: ‚Die können einem Erwachsenen durchaus mit ihren kräftigen Flügeln den Oberschenkel brechen.‘ Kursleiter Kestner, der sich schon seit 20 Jahren um verletzte Wildtiere kümmert, fordert die Feuerwehrmänner zum Vormachen auf. Lars Kaluza und Daniel Weir sollen zwei Schwäne fangen. Im strömenden Regen und voller Feuerwehr-Montur stapfen die beiden über die matschige Wiese. Die Schwäne haben das Vorhaben der beiden längst erkannt und traben davon, die Blauröcke hinterher. Schwan eins ist geschickt und schlägt den Weg aufs offene Feld ein. Da kommt niemand mehr hinterher. Schwan zwei flattert am Zaun entlang. Das ist die Gelegenheit für Daniel Weir. Er greift von hinten zu, natürlich ohne die Flügel aus den Augen zu verlieren. Jetzt hat er den Schwan fest im Arm. Und dann? Thorsten Kestner rät, die gefangenen Wildvögel in blaue Müllsäcke zu stecken. Ob die denn darin noch Luft bekommen, fragen die Vogelfang-Lehrlinge. Kestner lacht: ‚Der Kopf muss natürlich rausschauen‘. Der Ausbilder lobt seine Schüler für den Einsatz am Zaun. Jedes Wildtier brauche aber seine eigene Behandlung. ‚Die Reiher hacken nach dem Auge‘, sagt Kaluza. Er hat da schon seine Erfahrungen gemacht. Bei Greifvögeln sollen die Feuerwehrleute besonders vorsichtig sein. Nicht nur wegen der Krallen und Schnäbel. Kestner: ‚Wenn sich ein Bussard im Zaun verfangen hat, schneidet den Zaun mit raus. Sonst bekommen wir später den Flügel nicht mehr hin‘.“

Der Schwanenrettung durch die Feuerwehr  sind jedoch Grenzen gesetzt: Als neulich im Berliner Humboldthafen ein älterer Höckerschwan einen jungen, der seiner nestbauenden Schwänin zu nahe gekommen war, am Stauwehr in die Enge getrieben hatte und dort heftig attackierte, holte ein Spaziergänger die Feuerwehr, die ihn dann jedoch nur bat, weiter auf die beiden kämpfenden Schwäne aufzupassen: „Wenn wir den jungen fangen, dann wird der noch mehr verletzt und wir auch – und in der Schwanenstation geben ihm die Tierärzte sofort eine Todesspritze. Die wissen dort vor Schwänen nicht mehr ein und aus. Ständig kommen irgendwelche Leute, die ihnen verletzte Tiere bringen: Schwäne, die von Hunden gebissen wurden, Schwäne, die gegen eine elektrische Leitung flogen usw..“

Solch eine Zurückhaltung bei staatlichen Organe kann jedoch u.U. auch ihre Gutes haben: So beobachteten die DDR-Grenzschützer  einmal – ohne einzugreifen, wie eine Gruppe Schwäne auf der Spree unweit vom Osthafen einen einzelnen Schwan angriffen. Dieser wehrte sich nicht, sondern versuchte weiter Kurs zu halten – auf das Westufer zu, was ihm, wenn auch mühsam, gelang. Normalerweise bringen sich Schwäne nicht an Land in Sicherheit, aber hierbei handelte es sich um einen DDR-Bürger, der sich einen hohlen Schwan aus Holz und Plastikmasse gebaut und übergestülpt hatte, um damit in den Westen zu flüchten. Die aufgebrachten  Schwäne um ihn herum machten seine etwas steife „Verkleidung“ sogar noch authentischer. Sie gaben ihm gewissermaßen sicheres Geleit. Diese Fluchtgeschichte aus den Siebzigerjahren ist schon oft erzählt worden. Zuletzt  erwähnte sie die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, die in Westberlin lebte, aber in Ostberlin, am Theater, arbeitete. Sie schrieb: „Die echten Schwäne kamen zu ihm, pickten an seinem künstlichen Schwanenkopf und schwammen mit ihm in den Westen. So hat man es mir erzählt.“

Ende April meldeten die überregionalen Zeitungen: Der in Xanten lebende schwarze Schwan ist nicht die „schwarze Petra“. Ihr Münsteraner „Freundeskreis“ erklärte dazu: Sie ist am Fuß zu erkennen, weil sie dort operiert und ihr ein Teil des Knochens entfernt wurde.“ Für den Freundkreis begann daraufhin die Suche nach dem vermissten Trauerschwan wieder von vorne. Er glaubte jedoch selber nicht mehr an einen Erfolg.

Aber dann tat sich doch wieder was – in Münster selbst. Ende Mai berichtete die Münstersche Zeitung: „In Uganda war gestern Morgen ein Handy im Dauereinsatz. „Ständig klingelt mein Telefon. Was ist denn in Münster los?“ Jörg Adler, Zoodirektor und derzeit in Afrika, gilt als Schwanenexperte Nummer eins in der Stadt. Als gestern ein schwarzer Schwan auf dem Aasee entdeckt wurde, war er ein gefragter Mann.“ Die Aufregung war groß in Münster. „Mit dem roten Motorboot sind wir sofort rausgefahren“, erzählte Segelschulleiter Peter Overschmidt, doch er wurde enttäuscht: „Der Schwan hat sich unserem Boot nicht genähert. Petra kam meistens sofort angeschwommen.“ Außerdem wirkte Petra „körperlich dominanter; dieser Schwan war schlanker. Ich würde sagen, dass es ein jüngerer Schwan ist.“ Vorsichtshalber trieb man dennoch „Petras Geliebten“ – das weiße Schwanentretboot – auf den Aasee. Nichts passierte. Am Abend erklärte Reinhold Wiens vom „Freundeskreis Petra“ der Presse: „Das ist leider nur ein schlechtes Double. Der Schwan ist zu schlank und verhält sich ganz anders. Es handelt sich definitiv nicht um unsere Petra.“ Am darauffolgenden Tag war dann auch ihr „schlechtes Double“ verschwunden.

In der Stadtverwaltung scheint man davon auszugehen, dass Petra nie wiederkehren wird, denn man plant nun, der Verschollenen ein Denkmal am Aasee zu setzen. (3)  Gleichzeitig betet  man für die „schwarze Petra“, dass sie  nicht bis in die Schweiz fliegt, denn dort würde sie „das Schicksal vieler illegaler Einwanderer teilen,“ schrieb „Die Zeit“ Anfang Juni 2009: Die eidgenössischen Behörden wollen die schwarzen Schwäne auf ihren Seen nicht länger dulden – und sie im Notfall sogar abschießen. Nach Meinung der Schweizer Umweltbehörden  bedrohen die australischen Schwarzschwäne die Bestände der weißen Schwäne. Große Teile der Bevölkerung sind gegen die Vertreibung der schwarzen. „Die Zeit“ vermutet, dass es in diesem Fall gar nicht um die Ökologie geht. Dahinter stecke vielmehr eine „große Verschwörung: Spätestens seit dem Bestseller ‚The Black Swan‘ steht der Schwarze Schwan in der Wirtschaft für unvorhergesehene Ereignisse, mit denen auf Grundlage bisheriger Erfahrungen niemand gerechnet hat. Sehr wahrscheinlich trachten also gar nicht die Ökologen dem Schwarzen Schwan nach dem Leben, sondern die frustrierten Schweizer Ökonomen. Immerhin ist er  das lebende Symbol der Finanzkrise.“

Das Buch des libanesischen Mathematikers Nassim Nicholas Taleb: „Der schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“, so der deutsche Titel, wird auch hierzulande breit diskutiert. Der einstige Gründer der „Glücklichen Arbeitslosen“ und nunmehrige Philosoph des Leipziger Zentral-Theaters Guillaume Paoli empfiehlt es ebenso wie „financebooks.de“. Dort heißt es: „In seinem Bestseller zeigt Nassim Taleb: Extrem unwahrscheinliche Ereignisse – ‚Schwarze Schwäne‘ – gibt es viel häufiger, als wir denken. Und wir unterschätzen systematisch ihre gewaltigen Folgen. Der erstaunliche Erfolg von Google ist ein Schwarzer Schwan, die Terrorattacken vom 11. September 2001 und globale Finanzkrisen ebenso.“ Weil er die Krise mit seiner Schwarzer-Schwan-Theorie quasi vorausgesagt hatte, ist der Autor derzeit ein weltweit gefragter Referent – beim CIA und der NASA ebenso wie bei Bankern, Unternehmern und Wirtschaftswissenschaftlern.  Die „Welt“ schreibt: „Philosophisch betrachtet, nimmt Taleb das uralte Problem der Induktion wieder auf. Der Mensch macht systematisch Fehler, wenn er von der Vergangenheit auf die Zukunft schließt. Angenommen, Sie sind eine Weihnachtsgans, so Taleb. Tag für Tag, über Monate, werden Sie gefüttert. Sie müssen nichts dafür tun, nur fressen, und für Sie ist es offensichtlich, dass die Menschen Ihnen wohl gesonnen sind. Mit jedem Tag festigt sich diese Erkenntnis. Schließlich kommt der Weihnachtsabend, und Sie werden geschlachtet. Aus der Sicht der Gans ist Weihnachten ein „Black Swan“ – ein Ausreißer des normalen Ablaufs mit verheerenden Konsequenzen, der unmöglich aus der Vergangenheit abgeleitet werden konnte.“

Mit dieser Theorie, so mutmaßte ich beim Lesen dieses Artikels, läßt sich vielleicht sogar die Angewohnheit der kommunistischen Partei der Sowjetunion erklären, bei jedem Trauerfall, wenn z.B. einer ihrer Generalsekretäre gestorben war, das Fernseh- und Radioprogramm zu unterbrechen und tagelang nur noch „Schwanensee“ von Peter Tschaikowsky spielen zu lassen.  Als „Schwanenlied“ wurden in Russland bereits vor der Revolution die jeweiligen Höhepunkte einer Entwicklung, einer Epoche oder eines Schaffens bezeichnet.

Im Mittelalter galt die Schwanenhaltung auf offenen Gewässern als Hoheitsrecht. In England gehören noch heute alle Schwäne der Krone. Alljährlich findet dort ein „Swan-upping“ genanntes Ritual statt: Der königliche Schwanenaufseher und seine Mannschaft fahren mit Booten herum, um eine Woche lang die Schnäbel der jungen Schwäne zu kennzeichnen, die kraft eines besonderen Vertrages nicht Eigentum des Souveräns, sondern bestimmter Berufsgruppen der City sind. Selbstverständlich werden die Schwäne der Königin niemals gekennzeichnet. Dafür begegnet einem das Schwan-Wappen der Krone überall, auf Gebäuden, Laternenpfosten, Telefonhäuschen und hunderterlei Dingen, vom Kupferschild an einem Pferdezügel bis zum Waffenrock eines Beefeater und eines Wachmanns im Londoner Tower.“

Die selbstbewußten Hamburger Bürger halten es ähnlich: Schon 1664 stellten sie die Belästigung der „Alsterschwäne“ unter Strafe. Sie gehören der Stadt – und es gibt noch heute einen „Schwanenvater“. Der derzeitige heißt Olaf Nieß. Er ist vor allem dafür verantwortlich, die etwa 120 Hamburger Höckerschwäne bei Winterbeginn in den Eppendorfer Mühlenteich umzusetzen, dieses Gewässer für sie eisfrei zu halten und sie dort zu füttern.  Die der Krone gehörenden englischen Schwäne wurden früher gerne von Studenten aus Oxford und Cambridge heimlich gefangen, getötet und gegessen. Im Internet-Forum „chefkoch.de“ werden heute wieder Rezepte für die Zubereitung eines Schwans gesucht. In den Sechzigerjahren haben wir einmal, als Pfadfinder unterwegs im Sauerland, einen Schwan geschossen und anschließend versucht zu essen – sein Fleisch war jedoch nahezu ungenießbar.

Dies ist kein schöner Schluß für einen Vortrag über Schwäne. Ich wollte es dennoch damit genug sein lassen, aber dann bekam ich ein Plakat, mit dem eine „Internationale Konferenz“ der Kulturwissenschaftler an der Universität Weimar angekündigt wurde: „Die Macht der Dinge“ – und darauf war ein Photo mit 14 Tretbooten in Schwanengestalt abgebildet. Weiße – so wie das, in den sich die „schwarze Petra“ aus Münster verliebt hatte. Auf der Konferenz, die Ende April in Weimar stattfand, ging es um die „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) von Bruno Latour, John Law, Michel Callon u.a.. Man könnte auch noch Isabelle Stengers, Karin Knorr-Cetina, Shirley Strum, Judith Butler, Lynn Margulis, Donna Haraway und Sandra Harding dazuzählen.

Hierzulande wird die ANT vor allem von Umweltsoziologen und Wissenschaftshistorikern diskutiert, in den USA u.a. von feministischen Anthropologinnen und Biologinnen. Es geht diesen Wissenschaftlerinnen darum, mit Hilfe der „Akteur-Netzwerk-Theorie“ die moderne Dichotomie von Natur und Kultur bzw. Gesellschaft, Objekt und Subjekt, Fakt und Fetisch zu überwinden – indem man Menschen und nicht-menschliche Wesen sowie auch sämtliche Artefakte (Dinge) an einem Runden Tisch gewissermaßen versammelt. Ein „Parlament der Dinge!“

Der Schwan im Arm – das war schon mal ein Anfang dahin. Und die Benamung des Münsteraner Trauerschwans als „schwarze Petra“ zusammen mit der Assoziation ihres „Freundeskreises“ ein weiterer Schritt. Auf diese Weise wird auch aus der Schwanenforschung einmal eine historische Wissenschaft werden. Und, wer weiß? Vielleicht bekommen wir von den Schwänen sogar einmal eine Geschichte der ihnen namentlich bekannten Schwanforscher zurück.

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(1) Dazu führte kürzlich eine weitere Gruppe von Biologen – der University of Washington aus: „Einmal im Jahr verliert jeder Höckerschwan all seine Schwungfedern. Bis zu acht Wochen dauert es, bis sie wieder vollständig nachgewachsen sind. In dieser Zeit der Mauser können die Tiere nicht fliegen. Der Höckerschwan flüchtet sich während der Mauser schwimmend auf die Mitte seines Sees.  Offenbar begrenzt gerade diese Zeitdauer die Körpergröße flugfähiger Vögel. Die Höckerschwäne mit einem Gewicht von bis zu 15 Kilogramm gehören zu den schwersten Tieren, die sich auf ihren Schwingen in die Luft erheben können. Eine Amselfeder braucht drei Wochen, um nachzuwachsen. Dagegen dauert die vollständige Mauser eines Albatrosses bis zu drei Jahre. Große Seevögel sind auf absolut funktionsfähige Flügel angewiesen. Daher fällt bei ihnen stets nur eine Feder zur Zeit aus. Die Reihenfolge, in der sich das Gefieder nach und nach erneuert ist stets die gleiche. Schon eine fehlende Feder beeinträchtigt den Flug. Der Vogel muss demnach genau wissen, wie er seinen Flug während der Mauser anzupassen hat. Je größer und damit schwerer ein Vogel ist, desto länger müssen seine Federn sein, um ihn zu tragen; beim Schwan bis zu 40 Zentimeter. Dennoch wachsen lange Federn pro Zentimeter kaum schneller als kurze. Die Wachstumsrate der Federn kann irgendwann nicht mehr mit deren Länge mithalten. Dies hätte zur Folge, dass Federn kaputt gingen, bevor sie ersetzt werden könnten. Weil Vögel aber ein intaktes Gefieder brauchen, hört der Körper vorher auf zu wachsen.“ So die Vermutung der Schwanforscher aus Washington.

(2) In seinem Provinzlexikon „Am Abend mancher Tage“ erzählt der Theologe  Joachim Krause von einem unbeabsichtigten Schwan-Experiment: Er hatte mit seinem Sohn an einem See ein kleines Schiff gebastelt, als sie es mit einem weißen Stück Papier als Segel ausstatteten kam von der anderen Seeseite ein Schwan angerauscht, der dort seine brütende Schwänin bewacht hatte. Er hielt das Papier für einen Nebenbuhler. Erst kurz vor dem kleinen Boot erkannte er seinen Irrtum und schwamm beruhigt zurück zum Nest. Joachim Krause wollte es nicht glauben, dass Schwäne derart auf einen weißen Fleck reagieren – und wiederholte das Experiment am nächsten Tag. Prompt kam der Schwan erneut zum Kampf bereit angerauscht.

(3) Letzte Meldung – aus Münster (v. 12.10.09): Seit Anfang 2009 ist Münsters berühmtester Vogel, der Trauerschwan Petra, nun schon verschwunden. Mögliche Hinweise über ihr Schicksal hat es in den vergangenen Monaten viele gegeben, aber der Vogel bleibt verschwunden. Darum hat der Freundeskreis “Schwarze Petra” jetzt beschlossen, sich wieder aufzulösen.

Aus ganz Deutschland haben sich Leute bei dem seit einem Jahr bestehenden Verein gemeldet, die angeblich díe schwarze Petra gesehen haben – allerdings war jeder dieser Tipps falsch. Eigene Nachforschungen liefen ins Leere.

Die kleine Hütte vor der Gaststätte “Zum Himmelreich” soll vorerst stehen bleiben, das für Petra gekaufte Futter im Winter an die Enten und Schwäne auf dem Aasee verfüttert werden. Die noch nicht verwendeteten Mitgliedsbeiträge von 414 Euro spendet der Verein dem Tierheim.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/10/12/die_schwarm-_und_schwanforschungder_stand_der_dinge/

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kommentare

  • Dass die „Schwarmforschung“ ein Wurmfortsatz des „New Age-Thinking“ ist, erkennt man daran, dass sie jetzt Eingang in den Wissenschaftsbetrieb gefunden hat – als „Soziophysik“. Etwas ganz Reaktionäres.

    Statt mit Tarde die ganze Physik, ebenso wie die Chemie, die Astrologie und die Biologie in Soziologie aufgehen zu lassen, machen diese US-Computeridioten genau das Gegenteil: Sie rücken allem Sozialen mit ihren bescheuerten Naturwissenschaften zu Leibe.

    Bei Wikipedia und im „Harvard Business Manager“ (sic!) wird bereits lang und breit, d.h. ganz seriös erklärt, was es mit der „Soziophysik“ auf sich hat.

  • Nebenbeibemerkt:

    Neben der Schwan- gibt es auch noch eine Schwarmforschung, für die in den letzten Jahren eine Menge Karrieristen schwärmten:

    2004 kam ein Bestseller auf den Markt: „Der Schwarm“ von Frank Schätzing. Er wird demnächst verfilmt – mit Uma Thurman in der Hauptrolle. Seitdem ist immer häufiger von einer „swarm intelligence“ die Rede – von „Kollektiven ohne Zentrum, die traditionelle Modelle der Vergesellschaftung in Frage stellen“. Sie gelten als neue „Modelle des Sozialen“ – und sind damit das rechte Gegenstück zum linksfeministischen „Kollektiv“-Modell der Wissenschaftssoziologen: „Akteur-Netzwerk-Theorie“ genannt. Hinter ersteren steht die unselige US-Neurobiologie, die alle unsere Lebensäußerungen auf physikalisch-chemische Vorgänge im Gehirn, auf nervös trommelnde Neurotransmitter und japsende Synapsen zurückführt. Eine Steigerung dieser amerikanischen Scheiße ist neuerdings die „Soziophysik“.

    Die Schwarmbildungen – von den Ameisen über die Fische und Vögel bis zu den „Vegetables“: den aufgescheuchten Menschen – „Schnäppchenjägern“, die Media-Märkte und Sonderangebotsstände oder Urlaubsstrände stürmen – sie alle handeln gewissermaßen ohne Sinn und Verstand, aber doch äußerst „kunstvoll“ – und „kollektiv“. Nun hat die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn, die zufällig auch so aussieht wie Uma Thurman, einen Reader dazu herausgegeben: „Schwärme haben Konjunktur. Ihr Versprechen liegt in einer Organisation, die eine radikale Alternative zu den traditionellen Formen des Politischen, des Denkens und Rechnens darstellt. Sie sind Modelle alternativer Steuerungslogiken. Als Kollektive ohne Zentrum sind sie freier, kreativer und effizienter…“

    Die Marxisten schäumen natürlich – ob solcher „Ameisenstrategien“ von „Digital-Ideologen“, die für sie bloß ein Auswuchs der uns schon länger verblödenden Loha-Konsumentenpolitik sind. In der Zeitschrift „Exit“ (Okt.2008) der Nürnberger Marxisten kritisierten Robert Kurz und Knut Hüller dieses antiaufklärerische neue US-Phänomen. Es half wenig, immer mehr Studenten kamen ins „Schwärmen“ – und die Springerpresse begeistert sich für jeden noch so juvenilen handy-sms-organisierten „Flash-Mop“ bis hin nach Melbourne oder Montreal. Auf dem taz-Jubiläumskongreß Anfang 2009 brachte es die Attac-Jugendvertreterin Julia Lingenfelder bereits auf den Punkt: Wegen der gestiegenen Anforderungen und dem Bachelor-, Master-Mist, klagte sie, hätten die Studenten kaum noch Zeit und Kraft für tiefergehende politische Arbeit! Das war noch ein Echo der sozusagen alten linken Intellektuellen, wie sie sich gerade zum 50.Geburtstag ihrer Zeitschrift „Das Argument“ artikulierte – und dabei allerdings auch schon ihre Daseinsberechtigung „hinterfragt“- hatte. Aber, so fuhr „die Julia“ frohgemut fort, bei ihren letzten Attac-„Events“ – hätten „die jungen Menschen sich doch voll verstanden gefühlt“. Dabei ging es darum, „Aktivismus mit Spaß“ zu verbinden und ihnen „projektbezogene Aktivitäten“ anzubieten: „online-foren, flash-mobs und politclown-konzepte.“ Schwarmbildung statt Marxschulung. Der taz-Moderator fragte die Attac-Jugendsprecherin daraufhin: „Kann man denn die Studis nach einem flashmob irgendwie andocken?“ Er wollte also – Altes mit Neuem verbindend – doch noch einmal auf die alten Organisationsformen der Arbeiterbewegung zurückkommen, die auf Dauer, Bildung und Disziplin basierten – und den flash-mob quasi nur zum Aufwischen (d.h. zur Mitgliederwerbung) gebrauchen. „Man muß die Menschen da mitnehmen wo sie sind!“ (Ständige Sat1-Rede). Und da sie nun mal in ihrer Freizeit aktuell zu immer mehr Schwarmformationen neigen, braucht es dieser „Konjunktur“ zuliebe laut Eva Horn auch eine vernünftige Theoriebildung. Angeblich läßt sich damit sogar erklären, warum die marxistische Arbeiterschulung out – und die „Schwarmgeisterei“ (R.Kurz) gerade in ist: in seinem Buch „Das Echo der Erinnerung“ fragte sich der den Wissenssoziologen der „Akteur-Netzwerk-Theorie“ um Bruno Latour nahestehende Romanschreiber Richard Powers ob dieses abrupten „Paradigmenwechsels“ bereits: „Wie gelang es der Öffentlichkeit, in so vollkommener Eintracht, wie auf ein Signal, umzuschwenken und die Richtung zu ändern?“ Der Autor meint, es sei ihr unersättlicher „Hunger nach Neuem“. Die einen (die Konsumenten) hungern so – und die anderen (die Produzenten) eben so. Eine konstruktive Schwarm-Theorie und -Praxis ist ohne die Ausbreitung der Bio-Supermärkte wahrscheinlich gar nicht denkbar! Dafür spricht die letzte diesbezügliche Schwarmaktion im Juni 2009 in Berlin: Sie nannte sich „Carrotmob“ und stammt aus Kalifornien. Es geht darum, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Geschäft zu verabreden, dessen Besitzer verspricht, einen Teil des Umsatzes in Energiesparmaßnahmen zu investieren – und ihm daraufhin seine Regale leer zu kaufen. In Berlin geschah dies bei einem Spätkaufladen in Kreuzberg, in den plötzlich 500 Kunden einfielen. Der Besitzer, Cengiz Kimyeci, war anschließend zwar erschöpft aber hochzufrieden. Etwa zur gleichen Zeit fiel ein „Flashmob“ über die Neureicheinsel Sylt her. Um seinen Liebeskummer zu überwinden, hatte ein junger Mann aus Flensburg auf einem Internetforum zu einer Party in den Syltdünen aufgerufen. Es kamen über 5000 Amüsierentschlossene – und 300 Polizisten, um sie in Schach zu halten, was aber nur zum Teil gelang. „Im Großen und Ganzen sind wir jedoch noch glimpflich davongekommen,“ meinte die Sylter Bürgermeisterin Petra Reiber hernach. All diese „Mops“ (Abkürzung von „mobile people“) setzen technische „Netzwerke“ voraus – nämlich das Internet und das Funknetz für Mobiltelefone. Ursprünglich waren mit dem „Netzwerk“ Infrastrukturen wie die Strom- und Wasserversorgung gemeint – und es ging mit dem Begriff u.a. darum, die diesbezügliche Technik zu standardisieren: Von 1900 bis etwa 1930 „ist das makrotechnologische ‚Netzwerk‘ nichts als ein materielles ‚Objekt‘ der Organisation, das entsprechende ‚Subjekt‘ sind große Firmen, Institutionen und vor allem der Betrieb durch ‚Systeme‘. Das Eisenbahnnetzwerk etwa, das waren die Schienen, Weichen, Gleise, Bahnhöfe und Signalapparate, aber nicht die Eisenbahngesellschaften,“ schreibt der Siegener Wissenschaftshistoriker Erhard Schüttpelz. Etwa seit dem Zweiten Weltkrieg wird mit dem Begriff „Netzwerk“ aber auch noch versucht, „die Subjektivität der informellen Sozialbeziehungen zu erfassen. Eigentlich handelt es sich im mikrosoziologischen „Netzwerk“ bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts um einen schwachen Terminus.“ Man spricht dabei heute auch von „Networking“. Mein Sachbearbeiter beim Arbeitsamt nannte das in den Achtzigerjahren noch „Vitamin B“ („B“ wie Beziehungen). Aber schon in den frühen Neunzigerjahren begriffen z.B. amerikanische Studenten ihr Studium eher als Chance zum „Networking“ denn zur Wissensübermittlung, wie die Künstlerin Maria Eichhorn klagte, die damals als Dozentin in den USA arbeitete: Ihre Studenten waren weniger an ihrer Kunst als an ihren Verbindungen und Adressen – von Galerien, Kuratoren, Kunstzeitschriften, Stiftungen etc. – interessiert. Die Berliner Hochschulen haben dazu neuerdings sogar ein ganzes – feministisches – Programm aufgelegt. Es nennt sich „ProFil – Professionalisierung für Frauen in Forschung und Lehre“ und bietet „Mentoring – Training – Networking“ an – zur „Entwicklung der strategischen Kompetenzen und besseres ‚Self-Marketing'“. Daneben gibt es in Berlin auch noch den politischen Förderfonds „Netzwerk“, der gerade eine Broschüre mit Adressen von 230 Stiftungen und Förderquellen für Projekte und Initiativen veröffentlichte. In der Soziologie und Kriminalistik bezeichnete man anfänglich mit dem Begriff „Netzwerk“ vor allem mafiaähnliche Strukturen bzw. Verschwörungen. Schüttpelz schreibt: „Wenn die Sozialform der ‚Netzwerke‘ früher einmal ‚Korruption‘ und ‚Klientelismus‘ genannt wurde, und wenn man in den legalisierten ‚Netzwerken‘ der Gegenwart durchaus alle Züge eines klassischen ‚Klientelismus‘ ausmachen kann, dann muss man davon ausgehen, dass diese Sozialformen heute sehr viel stärker legalisiert worden sind als vor dreißig Jahren.“ Bereits der Begründer der Nationalökonomie Adam Smith war sich sicher: „Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten zusammen, ohne dass das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann.“ Sicher nicht zufällig gründeten die ersten „System Builder“ Edison und Rathenau bereits kurz nach Installierung der ersten Stromnetze auch noch eine kriminelle Verschwörung, das die Preise bestimmte und u.a. die Brenndauer aller Glühbirnen weltweit kontrollierte, um sie zu reduzieren: Ihr Kartell hieß zunächst „Phoebus S.A.“ (Thomas Pynchon hat es in seinem Roman „Die Enden der Parabel“ beschrieben) und zuletzt, d.h. bis 1989: „International Electrical Association“ (IEA). Nach dem Ausscheiden des Schweizer Konzerns BBC und seiner Fusion mit der schwedischen ASEA wurden die korrupten Praktiken den einzelnen Kartellmitgliedern anheimgestellt – was in Deutschland zu dem „System Siemens“ führte: mit „schwarzen Kassen, Konten und riesigen Bestechungssummen. In „The Final Problem“ ließ Arthur Conan Doyle seinen Detektiv Sherlock Holmes über den Verbrecherkönig Moriarty urteilen: „Er sitzt bewegungslos, wie eine Spinne im Zentrum des Netzes, doch dieses Netz hat tausend Ausläufer, und er kennt das Zittern eines jeden.“ Der moderne Großverbrecher kontrolliert sein soziales Netz mit Hilfe von technischen Netzen: Sehr schön zeigt das der US-Thriller von Martin Scorsese „Unter Feinden“, in dem ein irischer Mafiaboß veranlaßt, den Polizeiapparat zu unterwandern. Im Wesentlichen und ununterbrochen wird dabei mit Handys telefoniert. Beim Ausheben des „System Siemens“ ließen die Staatsanwälte und Richter die wichtigsten Vorstandsvorsitzenden des Konzerns unangetastet, sie mußten bisher nicht einmal als Zeugen aussagen. Wahrscheinlich deswegen, weil es im Fall Siemens besonders große Überlappungen bei den wirtschaftlichen, politischen und juristischen „Netzwerken“ gibt. Dieser Konzern verkauft keine Konsumartikel (mehr), sondern Infrastruktur-Technologie – und zwar vorwiegend an Regierungen. „Ein Lieblingsbeispiel des sozialen ‚Netzwerks‘ ist und bleibt die freundschaftliche, klienteläre, korrupte oder kriminelle ‚Clique‘ von Außenseitern oder von Eliten,“ schreibt Erhard Schüttpelz. Er bezeichnet das eine Netzwerk als „makrotechnologisch“ und das andere als „mikrosoziologisch“. Darüberhinaus gibt es neuerdings eine „politische Ökologie“, die mit dem Begriff beide Bereiche zusammenführen will (an einem „Runden Tisch“ quasi): die aus den englischen Science Studies hervorgegangene französische „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT). Sie geht davon aus: „Wir müssen die Art und Weise ändern, wie wir die Welt verändern“ – und rät dazu „Follow the Actors!“ Wo sie dies selbst versuchte, hat sie auch bereits die schönsten Ergebnisse hervorgebracht. Die ANT kommt inzwischen auf weit über eine Million Eintragungen – im „Netz“. Wir leben ja bereits in einer „Netzwerkgesellschaft,“ behauptet Manuel Castells. Besteht vielleicht „das Soziale“ bald nur noch aus „Datenpflege“? In den letzten 50 Jahren hat der Begriff des „Netzwerks“ laut Schüttpelz eine „Umwertung“ durchgemacht: „Die schwächere Seite ist zur stärkeren geworden“ – aus einem Objekt wurde ein Subjekt, „bis zum Subjekt einer infrastrukturell begründeten ‚Weltgesellschaft‘.“ Man könne aber jetzt schon erkennen, „dass die drei neuen dominanten Gebrauchsweisen des Wortes ‚Netzwerk‘ und vor allem ihre Kopplungen dazu neigen werden, dem öffentlichen Wort ‚Netzwerk‘ jede Brisanz und im Grunde auch jede Prägnanz zu rauben. Der Sieg des absoluten Begriffs ‚Netzwerk‘ fällt mit seiner zunehmenden Blindheit zusammen, er bedeutet eine empfindliche Niederlage aller theoretischen Anstrengungen, die zu diesem Sieg geführt haben. Die betreffende Blindheit lässt sich insbesondere in der Vorstellung vom All des Alles zusammenfassen: ‚alles ist mit allem vernetzt‘.“ Die Wahrheit über das Netzwerk bleibt für Schüttpelz das Artefakt „Netz“ und seine Geschichte. Zu dessen Definition führt er sieben Punkte an: 1. Netze sind keine menschliche Erfindung. (Menschliche Netze bleiben Artefakte, die vermutlich zuerst tierischen Netzen abgeschaut wurden.) 2. Ein Netz ist eine Form der Falle, genauer: eine Serie von Kulturtechniken, aus den Techniken des Fallenstellens. 3. Der Ausgang des Wortes, seiner Metapher und seines Begriffs bleibt „Beutemachen“ einerseits, und „Macht“ über das, was sich im Netz verfangen soll, andererseits. 4. Alle menschlichen und soziotechnischen Netze und ihre Praktiker bleiben auf Beutezug (auch und gerade „im Netz“). 5. Auch eine Netzwerktheorie oder Netzwerkmethode bleibt ein Netz, das seine Beute einfangen soll. 6. Eine Netzwerktheorie ist meist ein Netz, das andere Netze fangen soll – oder die Beute anderer Netze dazu. Netzwerktheoretiker sind Fallensteller von Fallenstellern. 7. Eine Form dieser theoretischen Netze ist das Diagramm – der Theoretiker oder Wissenschaftler will sein Netz vor sich sehen, und er will sehen, was er im Netz gefangen hat.“ Vom Begriff des Netzwerks und seinem aktionistischen Ausdruck im „Schwarm“ komme ich nun zum „Schwan“. Wobei es mir ebenfalls um die „Akteur-Netzwerk-Theorie“ geht, der an einer „politischen Ökologie“ gelegen ist. In Berlin haben wir inzwischen nicht nur eine Schwanenstation sondern auch eine Kranichbeauftrage und gleich mehrere Falkenwarte sowie auch jede Menge halbehrenamtliche Baum- und Krötenschützer, im Umland gibt es ferner gleich mehrere Wolfs-Managerinnen. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs – an Umweltbetreuern, -forschern, -soziologen und -politikern. Die Zahl ihrer Arbeitsplätze übertrifft schon fast die Zahl derjenigen, die sich mit eingeborenen Neonazis und Problemjugendlichen mit migrantischem Hintergrund befasst. Obwohl oder gerade weil diese immer mehr werden – während die anderen dagegen tendenziell am Aussterben sind. Die ANT-inspirierten Umweltforscher schlagen deswegen bereits ein „Parlament der (letzten) Dinge“ vor. Auch dem kann man etwas abgewinnen, ich versuchte es zumindest…

  • Gestern bekam ich von dem Kunsthistoriker Hannsdieter Erbsmehl ein kleines Insel-Buch geschenkt – mit „Schwanmärchen“ (1987). Dabei handelt es sich durchgehend – von Puschkin bis Hans Christian Andersen – um Adelsabenteuer mit Schwänen oder umgekehrt, einige schwarze Schwäne sind auch darunter.

    Erbmehl überreichte mir das Buch auf der Einweihungsparty seiner Freundin Kaska Hass, die im Gebäudekomplex der Genossenschaft „Weiberwirtschaft eG“, Anklamer Straße 38, von vorne nach hinten gezogen war – mit ihrem Mode-Atelier und Showroom. Die Relaunch-Reception-Party hatte sie „traut euch“ genannt, und tatsächlich hingen dort auch etliche Hochzeitskleider von ihr. Ich sprach dort mit ihrem Drucker, einem irakischen Akademiker, der jedoch nicht selber druckt. Er erzählte mir von einem türkischen Geschäftsmann, dem inzwischen fast alle Hochzeitsmode-Läden in der Stadt gehören. Außerdem erfuhr ich von ihm: „Für die türkischen Bräute muß es immer in Weiß sein.“ Hannsdieter Erbsmehl meinte daraufhin, dass auch Kaska ihre weißen Kollektionen inzwischen erweitert hat.

    Später traf ich im Kreuzberger „Club 39“ noch den Besitzer des Bettengeschäfts in der Wiener Straße 16: „Futomania“. Er erzählte mir, dass er sich einmal mit Kaska Hass an einer Hochzeitsmesse beteiligt hätte, die in einer Berliner Kirche stattfand. Er hätte dort ein oder mehrere Betten ausgestellt und Saskia Hass einige Hochzeitskleider.

    So viel zu den Schwänen noch.

  • Ausgehend von dem Schweizer Internet-Portal „schwarzeschwaene.ch“ kam der Kunsthistoriker Hansdieter Erbsmehl neulich im „Club 39“ auf Schwarze Schwäne in der Kunst und im Schwulenmilieu zu sprechen.

    Später schickte er mir dazu noch ein paar nähere Hinweise:

    Jonas Hafner, dessen figürliches Werk an Zeichnungen und Drucken zu einem Großteil aus (wohl bramahnisch inspiriertem) Darstellungen von Schwänen besteht. In meiner Erinnerung waren diese schwarz, weil es sich teils um Holzschnitte handelt. (www.schwangeist.de)

    Das Logo der von Jan Hoet ausgerichteten documenta IX von 1992 zeigte ein schwarz-weißes Schwanenpaar (http://kassellexikon.hna.de/images/9/9b/JPEG077d2897-1-.jpg). Damals gab es viel Gerede über den schwarzen Trauerschwan und sein weißes Spiegelbild, wohl auch im kunstforum international (www.kunstforum.de/aktion_10aus24.asp?detail=0)
    .

    Den Hinweis auf Pamelas Korts Frankfurter Schirn-Ausstellung „Darwin
    und die Folgen“ vom Frühjahr inkl. Katalog hattest Du ja notiert.

  • P.S.: mit der Übernahme dieses Demo-Aufrufs der engagierten Prostituiertenorganisation haben wir fast schon elegant den Bogen über die Schwäne wieder zum Schwarm gezogen.

    Wobei uns jedoch klar ist, dass es auch noch andere, ebenso schöne Textformen wie die Ründe gibt.

  • Die oben mehrmals anvisierte Individualisierung der „Anderen“ – hier der Schwäne, verbunden mit dem Wunsch, die Art-Erforschung damit zu überwinden, scheint mir nicht zuletzt auch deswegen geboten, weil man es in der von der Akteur-Netzwerk-Theorie eingeforderten „politischen Ökologie“, die das Mitsprachrecht auch auf die nicht-menschlichen Wesen ausweiten will, immer mit bestimmten Gruppen oder einzelnen – Schwänen in diesem Fall – zu tun bekommt. Für den Anfang mag das Art-Wissen ausreichen, zumal es dabei schon mehr und mehr um „Populationen“ geht, bzw. um eine Art an einem konkreten „Standort“ (die sich von der selben an einem anderen Standort unterscheidet).

    Aber wenn es zum Konflikt kommt, sagen wir zwischen Ökonomie und Ökologie oder zwischen zwei verschiedenen ökologischen Einschätzungen (wie derzeit mit einigen Populationen von Schwarzen Schwänen in der Schweiz), dann muß man sozusagen jeden einzelnen Schwan befragen…

    Das haben etliche Bürgerinitiativen, zum Schutz von Kröten, von Reihern usw. bereits bitter feststellen müssen: Dass die von ihnen geforderten und dann auch durchgesetzten Schutzmaßnahmen an den Bedürfnissen und Interessen der Tiere vorbeigingen.

    Zuletzt hat das auch eine PDS-Abgeordnete in Berlin-Marzahn erfahren, die sich um die frierenden Prostituierten eines Straßenstrichs in ihrem Bezirk kümmerte – und sich in diesem Zusammenhang schließlich für den Bau eines größeren Bordells stark machte. Die Prostituierten waren entsetzt – sie derart quasi kasernieren zu wollen, und dafür sollten sie auch noch selbst zahlen – nämlich täglich Miete. Zum Glück machte die PDS-Politikerin schnell einen Rückzug. Andere Prostituierte hätten ihr Projekt sicher begrüßt…

    Apropos: Auch Thilo Sarrazin „kümmerte“ sich neulich um „Migranten“ (wozu auch die Mehrzahl der Prostituierten hierzulande gehört). Gegen seine schweinösen Bekümmernisse ruft die Prostituiertenorganisation Donna Carmen aus Frankfurt/Main jetzt zu einer Demonstration in Berlin auf:

    Es reicht! Schluss mit der Diskriminierung und dem Rassismus!

    19.Okt., Mo, 16:00, vor der SPD-Zentrale,
    Willy-Brandt-Haus, Wilhelmstraße 140 / Stresemannstraße 28

    Schluss mit der rassistischen Hetze!
    Sarrazin & Co strapazieren unsere Geduld!
    Rassistische Sprüche dürfen nicht unbestraft bleiben!

    Vorstandsmitglied der Bundesbank und Ex-Finanzsenator (SPD) beleidigt und diffamiert Migrant_innen, die jahrzehnte lang in diesem Land geschuftet haben, mit folgenden rassistischen Aussagen in einem Interview mit der Zeitschrift “lettre international: “Türken und Araber haben außer Obst- und Gemüsehandel keine produktive Bedeutung, erobern Deutschland mit einer hohen Geburtenrate, widmen der Bildung keine Bedeutung, setzen kleine Mädchen mit Kopftuch auf die Welt, sind integrationsunfähig und leben von Sozialleistungen”. Sarrazin, der zu seinen Aussagen steht, sitzt immer noch auf seinem Posten bei der Bundesbank und besitzt immer noch das SPD-Parteibuch. Institutionen, die sich als demokratisch und antifaschistisch bezeichnen, müssen rassistisch denkende Menschen ausschließen. Der deutsche Staat, der sich als demokratisch definiert, angeblich für Respekt und Toleranz steht und die Würde des Menschen per Grundgesetz verteidigt, muss dafür sorgen, dass Worte und Handlungen, die die MigrantInnen verachten, diskriminieren und als Zielscheibe darstellen, als ein Verbrechen auffasst und mit effektiveren Gesetzen strafrechtlich geahndet werden.
    Wir als Migrant_innen, die in allen Lebensbereichen der Diskriminierung ausgesetzt sind, wollen mit unserer Protestkundgebung zum Ausdruck bringen, dass wir der rassistischen Hetze gegenüber nicht schweigen.

    Verteidigen wir unsere Menschenwürde!
    Seien wir wachsam gegenüber rassistischer Hetze!
    Sarrazin & Co müssen abgesetzt und bestraft werden!

    Veranstalter: Allmende e.V.:

  • Zu diesem Thema sehr passend entsteht gerade ein performatives Theaterstück. Während des SPIELART Festivals im November 09 wird der öffentliche Raum in München von „Urbanen Schwärmen“ bevölkert werden. . Dabei wird das Prinzip des flash mobs weiter entwickelt denn mithilfe von SMS-Nachrichten können sich die Teilnehmer der Urbanen Schwärme viel flexibler koordinieren und etwaige Probleme spontan umgehen. Bei „Moment of Starlings >>> Sende SMS an 11832“ werden die Teilnehmer also zu schwärmenden Starlings….. infos und vorangeschaltete Debatte auf dem offeen Blog: http://www.blog.urbanaut.org

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