vonHelmut Höge 03.11.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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…Das ist natürlich etwas größenwahnsinnig – zumal wenn man selber keinen Weltbegriff hat – und höchstenfalls erst auf dem Weg ist, ein Weltbürger (im trotzkischen Sinne) zu werden. Ich habe es 1976 dennoch – naßforsch – versucht. Und bin mir bis heute nicht sicher, ob ich als Verlierer oder Gewinner da wieder rausgekommen bin – nur um auf diesen dämlichen taz-schreibtisch jetzt in der Rady-Datschky-Strasse, wie die Amis die Kochstraße neuerdings nennen, zu landen.

Gezeigt habe ich die Welt damals einer jungen Hannoveraner-Stute namens „Leinchen“ – ein etwas lächerlicher Name, den meine Freundin Heidi dem Fohlen gegeben hatte – ihrer Tochter zuliebe. „Kleines“ sollte das heißen, weil es anfänglich im Gegensatz zu zwei anderen riesengroßen Pferden, die wir in (Winter-)Pflege genommen hatten, noch winzig war. Das Vorbuchpferdchen „Leinchen“ hatte ich mir für 5000 DM von einem Pferdehändler zu Weihnachten selbst geschenkt. Es war das krankeste und scheueste in seinem gerade zusammengekauften Fohlenpulk  gewesen – und ich wollte es – wie selbstverständlich – retten. Das gelang mir auch, aber was nun? Die alte trotzkische Frage. Da ich kein Reiter war, das Pferd andererseits auch nicht sein Leben lang auf einem öden grasbewachsenen Geviert halten wollte, beschloß ich , ihm die Welt zu zeigen. Dazu muß ich hier etwas ausholen.

Da ist die Welt – immer geradeaus in Richtung Südsüdwest.

Vorbemerkung:

Wir waren 1974/75 quasi von der Universität weg aufs Land gezogen, in unserem Fall von Bremen in die Wesermarsch, wo es damals schon in beinahe jedem Dorf eine Landkommune oder -wohngemeinschaft gab, die sich alle mehr oder weniger in die Landwirtschaft oder ins das, was sie dafür hielten, einarbeiteten. Auch wir reparierten die Ställe und schafften uns nach und nach einige Gänse, Hühner, Schafe und Ziegen an und bucken bald unser Brot selbst. Auch die Wolle der Schafe wurde versuchsweise selbst verarbeitet. Schön waren die Subotniks, wenn wir z.B. mit fast hundert Personen auf dem Hof von Freunden anrückten, um mit ihnen an einem Wochenende alles in Ordnung zu bringen: vom Dach der Scheune bis zum Fußboden ihrer Werkstatt.

Darüberhinaus mehrten sich aber auch die gemeinsamen Unternehmungen mit den sozusagen normalen Nachbarn, mit denen man z.B. ein überfahrenes Reh nächtens gemeinsam schlachtete oder in der Dorfkneipe zusammen hockte. Ein Pferdehändler zehn Dörfer weiter bot uns zwei Turnierpferde über Winter zum Unterstellen an – gegen genügend Hafer, auch für unsere eigenen Tiere (er hatte mehr Pferde als Ställe). Da lernten wir die unterschiedlichsten Pferde-Charaktere kennen. Vorher hatten wir uns schon über unsere Gänse nicht genug wundern können, die jedesmal, wenn ein mit uns befreundeter Musiker am Wochenende anrückte und auf der Obstwiese hinterm Haus zu üben anfing, sich wie zum Konzertbesuch verabredeten – und dann fast atemlos sich um den Gitarristen scharrten, um ihm zuzuhören – mit langen vorgestreckten Hälsen. Ab und zu steckten sie die Köpfe zusammen, um sich leise zischelnd über diesen oder jenen Akkord auszulassen.

Wir Menschen hatten große Pläne und deswegen verzichteten wir großzügig unseren Eltern gegenüber auf die weitere Fortzahlung der „Stipendien“: wir wollten uns selbständig machen. Es war an der Zeit. Als ich wieder einmal bei dem Pferdehändler vorbeischaute – kurz nach Weihnachten, hatte er seine Ställe voll mit Fohlen. Da ich in mehr Geld als üblich plötzlich hatte, vom Verkauf meiner Bücher an die Uni-Bibliothek, die mir für Raubdrucke sogar 100% bezahlen wollte, und zudem einer der Göttinger Mescaleros, der wegen des Rummels um ihre öffentlich geäußerte „klammheimliche Freude“ über die Schleyer-Entführung zurück nach Bremen gezogen war, wo er dann später Selbstmord beging, mir jedoch vorher noch 5000 DM lieh, suchte ich mir spontan ein Fohlen bei dem Pferdehändler aus – und nahm es sogleich mit nach Hause.

Da es im Vergleich zu den bei uns untergestellten Turnierpferden des Händlers noch ganz klein und zudem krank war, nannten wir es zunächst Kleinchen – ohne k. Bald stellte sich die Frage: Was nun – mit ihm? Vielleicht sollte ich ihm die Welt zeigen, mutmaßte ich – den es ebenfalls drängte, aus dem Ungefähren hinauszugelangen. Darüber wurde es Winter. Ich bin kein Reiter, stattdessen setzte ich mich erst einmal zusammen mit meinen drei Mitbewohnerinnen um den bollernden Ofen im Wohnzimmer, während hinter uns die vierte Mitbewohnerin auf dem Bett in den Wehen lag – und gemeinsam  übten wir uns alle in Heimarbeit. Ich nähte mir aus einer halben Kuhhaut eine Satteltasche. Als sie fertig war, im Frühjahr, verließ ich Haus und Hof, wie man so sagt, d.h. in diesem Fall die vier Frauen – und zog mit dem Pferd in die weite Welt hinaus, konkret: anderthalb Kilometer weiter von Magelsen nach Wienbergen zu unserem Nachbarn Dirk.

Das Pferd war inzwischen zu einer stattlichen Stute herangewachsen. Ich sollte und wollte Dirk bei der Ernte sowie bei einigen Stall-Umbaumaßnahmen helfen, dafür erhoffte ich mir einige Einblicke in die Landwirtschaft sowie in das Handwerk, denn so viel wußte ich bereits von Dirk, dass er goldene Hände hatte, wie man so sagt. Er machte alles selber und hatte eine guteingerichtete Werkstatt, zudem war er sehr kollegial – ein wirklich guter Freund –  und verstand es, seine Kenntnisse auch zu vermitteln. Und zwar besser als jeder Handwerksmeister, denn als Autodidakt sagte er niemals ‚So muß es gemacht werden‘, sondern höchstens ‚Ich würde das so und so machen‘. Dirk war also auch ein sehr guter Lehrmeister. Er hatte in den Wienberger Hof reingeheiratet und war zuvor Verwalter auf verschiedenen Höfen gewesen, die dem reichen Hamburger Getreidehändler Töpfer gehörten. Politisch stand er der linken SPD in Niedersachsen nahe, im Dorf war er mit einem reichen Erb-Bauern befreundet, dem die offizielle Dorfkneipe gehörte, die beiden setzten ihre Mähdrescher im Lohndrusch ein und tranken gerne zusammen. Zuvor hatten sie mit anderen Bauern zusammen einen Maschinenring gegründet gehabt. Sie nannten ihn bei Regen „Eintracht“ und bei Sonnenschein „Zwietracht“, denn bei gutem Wetter wollte natürlich jeder die Maschinen benutzen, während bei schlechtem Wetter jeder dem anderen den Vortritt ließ. Irgendwann vergaß jemand, Frostschutzmittel beim Mähdrescher einzufüllen, woraufhin ihnen der Motor bei der ersten Kältewelle kaputt gegangen war. Das war das Ende ihrer ersten und letzten Kollektivierungsanstrengung gewesen.

Zuhause auf Dirks Hof hatte immer noch sein Schwiegervater das Sagen, dem einst bei Stalingrad alle Zehen abgefroren waren. Der reichste Bauer im Dorf war ein CDUler, der auch im Landtag saß, mit dessen Tochter Dirk jedoch manchmal „unterwegs“ war. Da ich oft mit einigen Frauen aus dem Dorf zusammenarbeiten mußte, z.B. beim Rübenhacken, wußte ich bald, wer mit wem in diesem sündigen Dorf etwas hatte oder gehabt hatte. Neben der Dorfkneipe gab es noch eine inoffizielle „Bei Anni“, wo Dirk und ich fast jeden Abend hingingen (siehe auch: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/04/26/landluft_macht_freitips_fuer_aussteiger/ ).

Der Höhepunkt meiner Knechts-Karriere bei ihm kam mit dem Erntedankfest im Bierzelt, als gegen Morgen ein Bauer nach dem anderen ankam und mich bat, für ihn diese oder jene Rinder und Schweine zu füttern, da er wegen der andauernden Trinkereien nicht mehr dazu in der Lage sein werde. Man hielt mich für zuverlässig und fähig – und mochte mich auch irgendwie!

Eigentlich hatte ich Dirk nur bei der Ernte helfen wollen, aber dann übernahm ich quasi seine heimliche Freundin Doris von ihm, die Tochter eines Knechts im Nachbardorf – und blieb, d.h. wir bauten tagsüber noch diesen oder jenen Stall zusammen um und renovierten die Wohnung und nachts war ich mit Doris unterwegs. Schließlich begann ich aber doch wieder an meiner Satteltasche herumzufummeln und meine Sachen zusammenzukramen. Das Pferd stand derweil untätig auf der Weide. Dirk hatte mitfühlend ein Pony geliehen, damit es nicht so alleine auf der Weide war. Meine Mitbewohnerin aus Magelsen, Heidi,die inzwischen längst ihr Kind bekommen hatte, schenkte mir ein dickes Heft für Eintragungen unterwegs.

Wenn Sie da vorne an der Kreuzung, statt durch den Bananenhain nach links zum Kibbuz, in dem Teddy Kolleg lebte, zehn Kilometer geradeaus gefahren wären – da war einst das Paradies.

12. September

Heute Morgen um vier habe ich schon das Pferd von der Weide geholt. Das Pony von Dirks Kindern blieb einsam zurück. Auf der Diele dann habe ich es erst einmal gestriegelt. Mittlerweile waren auch Dirk und Edith aufgestanden. Dirk war ganz erstaunt, er hatte nicht geglaubt, dass ich wirklich von seinem Hof abhauen würde oder könnte, in die Unsicherheit rein, raus aus diesen geregelten und normalen Tagesabläufen (6 Uhr Aufstehen, 8 Uhr Frühstück, Arbeit, 12 Uhr Mittag, Mittagspause, Arbeit, 15 Uhr Kaffee, Areit, 18 Uhr Abendbrot, Arbeit, Kneipe, TV, Schlafen).  Ich lege dem Pferd die Satteldecke auf. Leinchen ist nervös, ich ebenso. Die schwere Satteltasche wird mit einem Bauchgurt stramm festgezurrt. Das Pferd japst nach Luft. Wir gehen aus der Dielentür raus. Kurzer Abschied von Edith und Dirk, es ist fast ein Davonstehlen, andererseits war alles längst klar. Ich will versuchen, heute bis nach Sudwalde zu kommen – wo ein befreundetes Buchhändler-Ehepaar lebt.  Ich kenne die Strecke und wir gehen einfach immer geradeaus – über Wiesen und Äcker. Bei einem Bach dann haben wir allerdings den Ärger, dass wir eine ganze Strecke zurückgehen müssen, weil das Pferd sich weigert, rüberzuspringen oder durchzuwaten.

In Bruchhausen-Vilsen kommt uns ein Mann aus einer Kneipe entgegen, mit einem Schnaps für sich und für mich. Zuerst muffel ich ihn an. Immer noch in komischen Gedanken verstrickt. Dann nehme ich aber doch den Korn. Wir trinken auf das Gelingen der Reise. Er erzählt mir, der Schleyer ist entführt worden. Ich sage, ich habe ihn nicht. Ich muß weiter. Der Mann verabschiedet sich etwas enttäuscht und geht in die Kneipe zurück. Leinchen und ich gehen die Geesthügel hoch in den Bruchhauser Wald. Für das Pferd ist es das erste Mal, dass es in einen Wald geht. Es ist auch das erste Mal, dass es auf Sandboden geht. Drei, vier Schritte und es ist so entzückt, dass es sich sofort fallenläßt, und sich im Sand wälzen will. Ich bin entsetzt wegen der Satteltasche und der darauf befestigten Pferdedecke und ziehe es rasch wieder hoch. Trotzdem bin ich jetzt schon entspannter.

Das Pferd bleibt an jedem fremden Strauch oder Baum stehen und riecht und probiert und überlegt. Und die wenigen Leute, die wir treffen, verkneifen sich gottseidank irgendwelche Fragen oder Bemerkungen. Gegen Spätnachmittag kommen wir in Sudwalde an. Ich nehme Leinchen sofort die Tasche ab, bringe es in den Stall und gebe ihr was zu Trinken und zu Fressen und schaue sie verliebt an. In Sudwalde ist es wie immer: kalt und ungemütlich und die Leute sitzen in der Küche und reden darüber, was man alles machen könnte, um die nötige Kohle zu verdienen. Ich esse ein wenig, beteilige mich lustlos an den Gesprächen und gehe früh ins Bett. Am nächsten Morgen bringe ich das Pferd auf die Weide und trampe nach Bremen. Dort bleibe ich zwei Tage.

15. September

Am Morgen geht es weiter. Ich will die Mesloher besuchen – eine Wohngemeinschaft in der Nähe von Sulingen. Während eines Gewitterregens machen wir Rast unter einer Linde. Wir müssen lange Strecken auf vielbefahrenen Landstraßen gehen. Das Pferd ist nervös, wenn die Autos so dicht an ihm vorbeifahren. In Mesloh: in dem einen Haus: Renate mit ihren zwei Kindern – die vielen Schulden, die vielen Schrottautos um das Haus, der verdreckte Garten. Im Haus ist es kalt. Im anderen Haus nebenan bei den Coop- Leuten sieht es noch schlimmer aus: die Tiere sind alle saumäßig untergebracht und stehen buchstäblich in der Scheiße. Im Haus ist bis jetzt überhaupt nur ein Raum bewohnbar, alle anderen sind Baustelle. Überall liegt Gammelzeug herum. Ich helfe hier ein bißchen, baue da was zusammen – immer lustloser, alles nur Provisorien. Sie suchen schon wieder ein größeres Haus – irgendwo in der Nähe.

Da drüben, links neben den vier Bäumen am Ufer, habe ich mit meiner Frau früher immer übernachtet – in der Pension „Salzinger“.

20. September

Ich bin zu spät losgegangen. Dann stundenlang durch den Sulinger Bruch. Mitunter machen wir einen Umweg, was allerdings nur mich ärgert. Aber dadurch geraten wir noch in die Dunkelheit und müssen Nachts durchs Moor gehen. Leinchen sieht jedoch alles – geht so sicher wie am Tag den schmalen Sandweg weiter. Nur ab und zu benötige ich die Taschenlampe, um den Sitz der Satteltasche zu überprüfen. In Wagenfeld lasse ich das Pferd mit Brunos beiden Pferden zusammen laufen. Früher hatte Leinchen vor dem Hengst einen Heidenrespekt und sprang über jeden Zaun, um sich in Sicherheit zu bringen. Jetzt ist sie ein ganzes Stück größer als er und er hat nichts mehr zu lachen. Am nächsten Tag arbeiten wir im Wald: wir schälen einige bereits gefällte Bäume für Brunos Zaun.  Anschließend reparieren wir den Schuppen, bauen zwei Türen neu, entmisten den Pferdestall und legen ein Drainagerohr. Hier bremst kein Provisorium meine Arbeitslust, aber Bruno ist oft schlechter Laune, deswegen beschließe ich bald, weiter zu ziehen, Bruno will mich ein Stück bringen.

2. Oktober. Sonntag

Brunos Nachbar leiht uns für einen Tag seinen Hänger und wir fahren los in Richtung Sauerland. Zuerst will das Pferd nicht in den Hänger. Ich versuche alle möglichen Tricks. Schließlich kann es der Bauer nicht mehr länger mit ansehen. Er nimmt einen Reisigbesen und haut ihr ein paar Mal kräftig damit auf den Arsch und sie macht einen Satz und springt in den Hänger. Als wir am frühen Nachmittag durchs Sauerland fahren, kommt es uns vor, als würden wir durch irgendein Urlaubsgebiet fahren. Die Landschaft ist so schön, dass sich schlagartig meine Laune bessert. In einem kleinen Ort – Niederlandenbeck – hält Bruno an und läßt uns beide raus. Als er wegfährt, fühle ich mich freier. In der ersten besten Pension frage ich nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Leinchen bekommt die Garage, ich ein schreckliches Doppelzimmer.

3. Oktober

Ich bin in Halberbracht in einer Bauernhofpension untergekommen. Tagsüber auf dem Weg dorthin regnete es ununterbrochen, aber es war ganz gut zu ertragen. Außerdem genossen wir beide den Herbstwald. Leinchen übernachtet auf der Wiese bei dem Pferd des Bauern. Seine Frau, die die Pension macht, ist mißtrauisch mir gegenüber. Sie will wissen – ganz genau – wo ich herkomme, wo ich hin will, was ich will, was ich sonst mache, etc.. Ich erzähle einfach drauflos. Irgendwelche Geschichten. Sie glaubt mir kein Wort. Der Bauer, der „nichts zu sagen hat“, ist dagegen freundlich. Wir unterhalten uns noch einige Stunden in dem häßlichen Wohnzimmer über Landwirtschaft. Dann gehe ich hinauf in das Zimmer. Es ist abscheulich. Die Frau läßt mich früher frühstücken als die anderen Gäste, „damit ich nicht mit den anderen zusammenzusitzen brauche“.

4. Oktober

Ich gehe hinunter in den nächsten größeren Ort: Meggen, um dort einzukaufen: Lebensmittel, Spiegel, Karte und Kompaß (den ich aber nicht bekomme). Später stellt sich dann heraus, dass ich ihn dringend benötigt hätte: als Leinchen und ich endlich loskommen, nehmen wir eine Abkürzung nach Bilstein, aber wir verlaufen uns fürchterlich. Nach vier Stunden sind wir wieder in Halberbracht angelangt und das, nachdem wir durch enge Trampelpfade schleichen mußten, Steilhänge raufhetzen und Steinbrüche runterstolpern mußten und schlammige Wege runterschlidderten. Einmal musste Leinchen sogar eine Treppe hochsteigen. Das war wirklich ein Testtag. Außerdem musste sie noch meine schlechte Laune ertragen. Ich wurde schon sauer, wenn sie nur einen Grashalm anschaute. Nach dieser Kreiswanderung gehen wir normal die Hauptstraße entlang, was ich eigentlich wegen der vielen Leute und der Autos vermeiden wollte. Wegen der Lastwagen und Autos brauche ich mir diesmal keine Sorgen zu machen. Leinchen ist so erschöpft, dass sie brav hinter mir hertrottet. Abends kommen wir müde in Bilstein an. In drei Pensionen will man uns nicht haben. Ein Bauer – Kurt Schmitz – bittet uns aber zu bleiben. Leinchen bekommt einen Stall mit Stroh und Wasser und Heu und den Rest meiner Haferration. Sie frißt nur den Hafer – zu müde zum Kauen von Heu. Ich mache mir neben ihr ein Bett aus Strohballen. Meine Pferdedecke und den Fellmantel lege ich darüber. Darauf dann den Schlafsack. Danach gehe ich erst einmal ein Bier trinken und etwas essen. Auf dem Rückweg besorge ich noch zwei Flaschen Bier für Kurt und mich, die wir beide in der Küche austrinken. Dabei reden wir noch eine ganze Weile zusammen. Er ist hauptberuflich „im Berg“ beschäftigt und hat nebenbei noch drei Kühe, zwei Rinder und zwei Kälber. Seine drei Kühe holt er jede Nacht rein.

5. Oktober

Am nächsten Morgen stehe ich früh auf. Ich habe unruhig geschlafen, weil die Kühe die ganze Nacht mit ihren Ketten geklirrt haben und Leinchen mein Strohbett angefressen hat. Kurt ist schon weg zur Arbeit. Seine Mutter macht mir ein Schinkenbrot und gibt mir ein Glas Milch. Bevor es wieder weitergeht, gehe ich erst einmal in ein Restaurant – richtig gemütlich frühstücken, Zeitung lesen, mich auf der Toilette waschen. Nach dem ausgiebigen Frühstück – was ich nicht aufessen konnte, packe ich mir ein – geht es weiter bergauf-bergab durch die Wälder in Richtung Südsüdwesten. Vormittags liegt die Richtung links von der Sonne, Nachmittags rechts von ihr. Ohne Kompaß (auch in Bilstein gab es keinen) verlaufen wir uns wieder ein paarmal. Und Leinchen macht zu oft Pausen. Ich schaue dann immer, wie damals Rübezahl vom Berg runter auf die Dörfer in den Tälern: auf diese sauberen, kleinen Häuser dort unten mit den vielen sauberen und freundlichen und fremden Sauerländern. In und um Bilstein ist wenig Landwirtschaft noch (in ganz Bilstein gibt es weniger als zehn Kühe).

Nach Süden hin wird das anders – es wird auch etwas flacher. Manchmal mache ich bewußt einen Umweg, um nicht runter und durch ein Dorf gehen zu müssen, wo die Hausfrauen aus den Fenstern schauen, wo die RAF-Fahndungsplakate an den Buswartehäuschen hängen. Nachmittags komme ich in Altenkleusheim an. Alle Pensionen wollen mich aufnehmen, aber eine hat keine Weide, die andere nur eine ganz steile. Ich entscheide mich für die mit der flachsten Weide, die gleich hinter dem Haus liegt. Das Pferd scheint das „Entrée“ überhaupt zu sein – ein trojanisches Pferd, wer hätte das gedacht.

Gegen Mitternacht verdrücke ich mich todmüde ins Bett. Ich schlafe trotzdem schlecht ein, weil ich nicht mehr nach dem Pferd sehen konnte – alle Türen waren abgeschlossen. Der Mann der Pension – ein Werkzeugmaschinenbauer, der in Grevenbrück arbeitet – muß schon um fünf Uhr aufstehen. Noch vor dem Frühstück ging er auf die Weise, nach dem Pferd schauen, gucken, ob auch alles in Ordnung ist. Er ist vernarrt in Pferde. Er will selber eins haben. Das ganze Haus ist vollgestopft mit Pferdeutensilien: Sättel, Geschirr, Halfter, etc., die alle an den Wänden der Flure hängen. Am irresten war seine Pferdebar im Keller.

Ich habe lange geschlafen – bis neun Uhr und bin dann nach Olpe getrampt: Kompaß endlich kaufen, Zeitung kaufen, Cappuccino trinken. Ohne Pferd in dieser Kleinstadt bekomme ich wieder die Schleyer- Paranoia. Es ist auch wohl ein bißchen seltsam: wie ich da in Jeans und Lederjacke durch die Stadt schlendere, einen Kompaß kaufe, telefoniere, Briefe zur Post bringe und das alles zwischen diesen ganzen geschäftigen Leuten, die ja alle zur Mitfahndung aufgerufen werden. Zurück in die Pension gehe ich über die Berge.

Dort oben treffe ich den Bruder von Kurt. Er ist als Landvermesser tätig. Wir unterhalten uns eine Weile, d.h. er erzählt mir was über seine Arbeit und über das Land hier und ich werfe ab und zu Fragen dazwischen. Weil die Satteltasche schon an einer Stelle Leinchens Rücken ein wenig durchgescheuert hat – an einem Punkt auf dem Widerrist -, besorgt mir der Mann aus der Pension ein Stück Eisen aus seiner Fabrik, das wir biegen und das ich dann abends einbaue und zwar so, dass es oben möglichst wenig aufliegt. Beim Einbau des Eisens in der Werkstatt der Pension klappt alles nicht so wie es soll.

Du bist doch auch einer von diesen langhaarigen Affen! Erzähl mir nichts.

7. Oktober

Am nächsten Morgen kaufe ich erst einmal wieder ein, dann frühstücken, zahlen und weiter geht es durch den Herbstwald. Ich atme jedesmal auf, wenn ich wieder im Wald bin. Mitunter ist der Wald so durchforstet, dass ich mich mies fühle, wenn ich da durchgehe. Es ist dann ein Spaziergängerwald mit Trimmpfaden und allem drum und dran. Aber manchmal ist das auch ganz anders: da tanzen Leinchen und ich regelrecht und ich singe. An solchen Stellen dann machen wir oft Rast: ich hocke mich irgendwo hin und esse was und Leinchen läuft rum und sucht sich Gras. Allerdings behalte ich sie doch im Auge und wenn sie sich fressend zu weit entfernt, gehe ich ihr nach und hole sie wieder zurück.  Spätnachmittags kommen wir durch ein kleines abseits gelegenes Dorf in der Nähe von Freudenberg/Crottorf. Beim letzten Hof, der schon wieder halb auf dem Berg liegt, bitte ich um ein Quartier für die Nacht. Arthur – der Jungbauer – zeigt mir den Pferdestall (sein eigenes Pferd ist noch auf der Weide), gibt mir Stroh und Wasser und Heu und bittet mich herein. Ich soll nicht im Stall schlafen, das wollen sie mir nicht zumuten, man weist mir die Wohnzimmer-Couch zu. Dann bieten sie mir Kaffee und Bier und Abendbrot an. Das ist schon fast zu viel und ich kann wegen so viel Nettigkeit nicht schlafen. Zahnschmerzen.

Am nächsten Morgen – nach dem Frühstück – fahre ich mit aufs Feld und helfe beim Kartoffelernten. Danach miste ich auf dem Hof ein bißchen aus. Arthurs Mutter will mich ihrem Mann – dem Bauern – vorstellen. Er liegt mit Speiseröhrenkrebs im Bett, er weiß es aber nicht und ebensowenig, dass er nur noch kurze Zeit zum Leben hat, bzw. zum Sterben. Wir beide unterhalten uns lange. Er freut sich, dass jemand mit einem Pferd unterwegs ist. Er redet von seinem Pferd. Zwar besitzt er zwei Traktoren, aber er arbeitet nur mit seinem dicken Kaltblüter. „Mit dem Trecker kann man nicht pflügen“, sagt er und schüttelt mißbilligend den Kopf. Ich gebe ihm recht. Aber er glaubt mir nicht, er denkt wahrscheinlich, alle Jungen sind auf die moderne Technik abgefahren und wissen überhaupt nicht mehr, was „das Land bewirtschaften“ wirklich bedeutet. Ich wollte, er würde merken, dass ich auf seiner Seite bin.

Er wird schon künstlich durch einen Schlauch ernährt und jedesmal wenn er hustet, spuckt er große Klumpen Blut. Und er ist so dünn schon: nur noch ein Gerippe mit Haut darübergespannt. Ich frage ihn, warum er sich nicht – so lange wie er krank ist – im Lehnstuhl vor die Tür setzen läßt, um in der Sonne zu sitzen, um sein Pferd auf der Weide zu sehen. Er sagt, er hat das vor zwei Monaten mal gemacht, aber so da rumzusitzen und zuzugucken wie die anderen arbeiten, „das ist nichts für mich“. Er geht davon aus, dass er bald wieder draußen mitarbeiten kann. Dass er bald wieder mit Max auf dem Feld zugange ist.

Am nächsten Tage gehe ich den Berg hoch, um mir Max anzuschauen. Während ich noch am Zaun stehe und mit dem Pferd rede, kommt ein Mann vorbei. Auch er bleibt stehen. Wir kommen ins Gespräch. Er ist in dem Dorf auf der anderen Seite des Berges Schrotthändler und mit dem kranken Bauern befreundet. Oft hat dieser ihn nach der Arbeit mit Max besucht und sie haben zusammen einen getrunken. Wenn der Bauer dann besoffen nach Hause gefahren ist, hat Max ihn sicher durch den Wald über den Berg geführt. Wenn der Bauer ganz besoffen war, was auch ab und zu einmal vorgekommen ist, dann ist der Max alleine nach Hause gegangen und dann wußten die zu Hause schon, irgendjemand muß jetzt los und den Bauern mit dem Auto abholen. „So einer ist der Max“, seufzt der Schrotthändler, „… und jetzt stehst du ganz alleine auf der Wiese und nie wirst du wieder mit deinem Bauern arbeiten. Nie“. Dicke Tränen laufen dem Schrotthändler übers Gesicht und er kann nicht mehr weiterreden und wendet sich von mir ab und geht leise vor sich hin schnaubend in den Wald. Ich schaue auf den Walnußbaum, der in der Mitte der riesigen Weide von Max steht und der jetzt in allen Farben leuchtet. Und ich sehe ihn, als wäre ich auf einem Trip. Er zittert und die Farben verschwimmen ineinander und es fehlt nicht viel und ein Wunder geschieht. Ich gehe wieder zum Hof zurück, wo man bereits mit dem Essen auf mich wartet. Arthur erzählt mir, dass sie gerne das Pferd, das sein Vater vor zwanzig Jahren als Fohlen für 200 Mark gekauft hat, verkaufen würden, weil sie den Platz für Rinder brauchen, aber der Alte will nicht.

Am Tisch sitzt noch die jüngste Tochter. Sie wohnt noch mit im Haus, arbeitet in einer Wäscherei. Sie sagt kein Wort. Sie geht außer zu den Dorffesten nie weg. Die Kneipe ist tabu für sie. Gegen Abend kommt der Schwiegersohn hoch. Er bewirtschaftet jetzt mit Arthur zusammen den Hof – beide im Nebenerwerb. Wir unterhalten uns über die Konstruktion der Satteltasche. Der Schwiegersohn hat eine Idee. In ihrer phantastisch eingerichteten Werkstatt schweißt er mir noch zwei weitere Eisen an die bereits von mir eingebauten. Eine wesentliche Verbesserung. Das ganze Ding wird einem Sattel immer ähnlicher. Aber eigentlich schade, dass ich sie so falsch gebaut habe – fast nur nach ästhetischen Gesichtspunkten.

Den ganzen letzten Winter habe ich jeden Abend fast bei Heidi im Zimmer in Magelsen gesessen – am Ofen und an der Tasche gearbeitet. Sie ist aus einer halben Kuhhaut gemacht. Und jetzt muß ich beinahe jeden dritten Tag was daran umbauen und die durchgescheuerte Stelle auf Leinchens Rücken wird immer schlimmer.  Ich bleibe bis Sonntagmorgen. Schaue mir im Fernseher – im Zimmer des Alten – noch einen ganz spannenden Western an, lese, gehe spazieren. Und als ich endlich dann Morgens aufbreche, gibt mir die Frau noch ein dickes Eßpaket mit. So viel Liebe. Und dabei wollten sie am Anfang nicht einmal, dass ich bei ihnen übernachte. Und jetzt geben sie mir sogar ihre Adresse, damit ich ihnen schreibe.

9. Oktober. Sonntag

Leinchens Rücken wird schlimmer. Ich muß irgendwo eine längere Pause einlegen. Und warum soll ich auch wie ein Bekloppter immer weiter einem imaginären Ziel nachlaufen, das Pferd hinter mir herschleifend. Aber es ist dieser Hof in der Provence und das Datum 1.12.77, das mich antreibt. Zwar gibt es diese Adresse in der Provence und ich würde auch dort hingehen, aber doch nicht als Ziel und auch nur deswegen, weil mir nichts Besseres einfällt – einstweilen.  Auch dieser Hof, wo ich Sonntagabend „Quartier beziehe“ – ich im Fremdenzimmer und Leinchen im Laufstall – ist „warm“ in der Atmosphäre. Er liegt bei Niedermörsbach. Eine nette neugierige Tochter, zwei Söhne, zehn Katzen, drei Hunde. Ich werde zu einem gemütlichen Abendessen in die Wohnstube eingeladen. Der Fernseher bleibt allerdings an: Schleyer- Programm. Danach muß der jüngere Sohn Schularbeiten machen. Der ältere träumt laut davon, die Kühe abzuschaffen wegen der Abschlachtprämie und weil ihm das Melken stinkt. Heute unterwegs habe ich so gut wie gar nicht auf den Weg geachtet. Zu sehr war ich in meinen Gedanken mit Leinchens durchgedrückter Stelle auf dem Rücken beschäftigt und mit der Satteltasche.

12. Oktober

Seit drei Tagen arbeite ich nun schon hier auf dem Hof. Jetzt gerade sitze ich im Bad – in der Badewanne. Nachts. Was habe ich die Tage über hier gearbeitet? Mais in das Silo eingefahren, Ponys eingefangen, gemolken, Kartoffeln sortiert und verkauft, Rüben gezogen und aufgeladen, das Vieh gefüttert, mich an den Familientisch gesetzt und meinen Teil gelöffelt, der Tochter Ute in die Augen geschaut, schon etwas müde ferngesehen, im nächsten Ort beim Sattler Filz und Nieten für die Satteltasche besorgt (diesmal will ich es richtig machen). Tagesgespräch immer und überall Nr. 1: Terrorismus. Ich kann mich diesen Gesprächen einfach nicht entziehen.  Vorhin beim Fernsehen bekam ich plötzlich Angst, mein Fahndungsfoto würde auf dem Bildschirm erscheinen. Und ich möchte wetten, die Bauernfamilie hoffte und fürchtete das auch.  So, jetzt noch eine Zigarette und dann ins Bett. Morgen lerne ich weiter melken. Es ist ein gutes Gefühl, neben der Kuh zu stehen, sie zu streicheln, ihren Geruch einzuatmen und auf den Melkapparat zu achten.

17. Oktober

Ich arbeite noch immer auf dem „Tannenhof“. Hin und her gerissen zwischen „mich mit dem Betrieb identifizieren (engagieren)“ und „meinem Fernweh nachgeben“.

19. Oktober

Gestern meinen dreißigsten Geburtstag gefeiert, abends mit der Familie Tichy. Er hatte auch gerade Geburtstag. Sie spendieren eine Flasche Wein. Wie seit Tagen schon konzentrieren wir uns Abends auf das TV: Schleyer, Mogadishu, GSG 9, Politiker reden Nichtssagendes, und alle Programme und die Zeitungen am nächsten Tag wiederholen es. Dann: Baader, Ensslin, Raspe und Möller haben Selbstmord begangen.  Am nächsten Tag arbeite ich den ganzen Tag an den Zäunen. Abends Melken – wie üblich jetzt schon.

21. Oktober

Das Leben des Sohnes hier von dem Bauern in Gebhardshain, 18 Jahre: tagsüber arbeiten, Abends vor dem Fernseher einschlafen oder ins Kino fahren in die nächstgrößere Stadt, zwei oder dreimal die Woche Western oder Kriegsfilme. Wenn er tagsüber mal ins Dorf kommt, kauft er sich einige Groschenromane. Meistens macht er still und etwas muffelig seine Arbeit. Nur wenn sein kleinerer Bruder mitmacht, der aufs Gymnasium geht, wird er etwas fröhlicher und alberner. Wenn ich ihn um einen Rat angehe oder mich anbiete, ihm bei dieser oder jener Sache zu helfen, brummelt er unwirsch etwas vor sich hin. Gebe ich ihm aber einen Rat – naßforsch oder bestimme einfach etwas, akzeptiert er es sofort, findet er es fast immer gut.

Heute Abend habe ich eines der Ponystuten auf die Weide zu Leinchen geführt. Sie war so alleine und sah so deprimiert aus auf der riesigen Weide unter dem grauen Himmel. Ich hatte ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Sie versteht das vielleicht alles nicht: was soll sie gerade hier im Westerwald auf dieser riesigen Hangweide – allein. Es ist ein „Warten“, endloses Warten, das sie von sich aus nicht abbrechen kann. Manchmal macht diese Situation sie aggressiv und sie keilt wütend nach hinten aus oder geht vorne hoch.  „Dass die Kinder und Jugendlichen heute nicht mehr gehorchen und nichts mehr taugen, das kommt daher, weil sie so erzogen werden wie du dein Pferd erziehst“, sagte ein Bauer und ich nickte stumm.  Ich muß hier weg: Es ist einfach alles zu lieblos. Die Arbeit ist hier eine Schinderei. Nicht, dass sie es tatsächlich wäre, aber das ist der Status, den man ihr hier zugewiesen hat. Schade.

23. Oktober. Sonntag

Ich lese an diesem arbeitslosen Sonntag Blanchots „wesentliche Einsamkeit“. Zwischendurch gehe ich ab und zu mal auf die Weide und füttere das Pferd mit irgendwelchen Süßigkeiten. Jetzt wo das Pony mit auf seiner Weide läuft, macht es schon einen etwas fröhlicheren Eindruck.

1. November

Es wird langsam kalt. Ich komme nicht aus dem Bett – erst gegen Mittag. Schlecht geträumt. Vor zwei Tagen war ich nach langer Zeit mal wieder in einer Diskothek. Sehr schön die laute Musik. Auch die Leuten waren ganz prima. Viele quatschten mich an, auf eine ganz akzeptable Weise. Wieder zu Hause, mitten in der Nacht, schrieb ich noch einige Briefe.  Heute Abend ist der Bauer aus München zurückgekommen. Mir haben sie ein Hemd mitgebracht. Die Frau erzählt: die Mutter von Marina habe im Tierpark Hellabrunn den Helmut Kohl mit Familie gesehen.  In der Diskothek spielten sie öfter „Desire“ von Bob Dylan, besonders ein Refrain hat es mir angetan:  „on more cup of coffee for the road,  One more cup of coffee till I go,  to the valley below.“  Ich muß jetzt endlich weiter. Die Verbesserung der Satteltasche ist bald fertig.

2. November

Heute war ein Sautag. Regen, Kälte. Ich habe den Kuhstall gekalkt. Habe meinen Spaß dran gehabt, habe mein bißchen Liebe – das mir dafür zur Verfügung stand – ins Detail gesteckt.  Die Bauersfrau hatte es den ganzen Tag auf mich abgesehen. Wahrscheinlich machte ich ihr einfach ein zu fröhliches Gesicht bei der Arbeit, und dann noch Radio an und dann noch bei der Arbeit pfeifen. Dies und das hatte ich nicht gemacht, sagte sie, und dies und das falsch gemacht, dann abends alleine im Pensionshaus fernsehen ist auch nicht drin, zu teuer, und dann immer noch vier Lampen brennen lassen, und nicht so viel Heu verfüttern, etc. Wie zu einem dummen Jungen sprach sie. Früher arbeiteten auf dem Hof immer Heimjugendliche und junge Arbeitslose als Knechte. Der Ton ihnen gegenüber muß sich bei ihr festgesetzt haben. Während der Tage, wo sie im Urlaub waren und ich mit den Kindern alleine hier wurschelte, haben wir so viel gemacht, nicht zuletzt, um sie angenehm zu überraschen. Und jetzt, wo sie wieder da sind, sehen sie nur das, was wir nicht gemacht haben.  Das Pferd habe ich heute zusammen mit dem Pony in den Stall geholt, in den freien Laufstall zwischen den anderen Ponys und den Rindern. Der Hengst nebenan ist fast verrückt geworden bei ihrem Anblick. Und das Pferd freut sich: mit so vielen Pferden trocken in einem warmen Stall zu stehen. Auf der Weide machte sie wieder so einen verlassenen trostlosen Eindruck und immer wenn ich rüber ins Pensionshaus ging, schaute sie zu mir rüber – triefend naß und zusammengekauert.  Jetzt – um Mitternacht – regnet es nicht nur wieder, auch der Wind heult noch ums Haus. Er kommt aus Südwesten. Ich werde ihm also am Sonntag oder Montag wohl entgegengehen. Hier in diesem Zimmer jetzt friere ich mir fast den Arsch ab. Geheizt wird nur für Pensionsgäste.

Wenn ich bei diesem Wetter mit Leinchen unterwegs bin, wird mir wärmer zumute sein.  Es gibt eine kleine Maus im Zimmer. Sie schläft unter meinen Klamotten auf dem freien Bett neben mir.  Ich Idiot habe der Bäuerin davon erzählt und auch, dass ich sie mit Studentenfutter füttere und prompt hat sie neben dem Schrank ein Pfund Rattengift hingeschüttet. Gestern war der gesamte Gifthafer aufgefressen. Heute gehe ich die Treppe hoch und denke: die arme Maus. Jetzt ist sie tot und ich bin wieder allein im Zimmer. Ich mache die Zimmertür auf und da sitzt die (eine?) Maus auf dem Briefpapier mitten auf dem Tisch und schaut mich an. Und ich schaue sie an – eine ganze Weile sehen wir uns in die Augen. Leider kann ich ihr heute nur Würfelzucker anbieten.

Vorne links am Platz, da in dem Restaurant sind wir nachher mit unserer Reiseleiterin verabredet.

3. November

Heute war wieder so ein Sautag mit vielen Anmachen und blöden Anspielungen – „der Knecht nebenan bekommt 300 Mark für Kost und Logis vom Gehalt abgezogen, „den letzten Mitarbeiter haben wir entlassen müssen, der wollte einfach nicht arbeiten …“ etc..  Schön war der Einkaufsspaziergang durch den Wald im Regen – ganz allein, es war warm und überall dampfte es, ein Märchenwald, ein Regenwald. Schön war es auch, für Leinchen Äpfel mitzubringen. Nur Nüsse und Rosinen für die Maus hatte der Krämer nicht. Den ganzen Tag habe ich mich danach gesehnt: das Bett, Tee, Radiomusik, schreiben, lesen, rauchen. Herrlich. Geschafft! Die Bauern hier haben es auch geschafft: Er war Landarbeiter, sie Tochter eines Krämers (sie sagt natürlich, sie stamme aus einer „Kaufmannsfamilie“). Jetzt haben sie es geschafft: Zwei Höfe, 60 Ha, 30 Kühe, eine Tochter studiert, zwei PKWs, der Sohn wird Landwirtschaftsmeister, der Jüngste wird auch studieren, die andere Tochter soll einen Handwerker heiraten. Sie sagen diese Aufzählung immer in dieser Reihenfolge runter (mit kleinen Abweichungen).  Die Ehefrau ist die Siegelbewahrerin. Sie hütet den häuslichen Schatz, knüpft die geheimen Fäden zum sozialen Erfolg (ohne den der berufliche nichts ist): Beileidskarten an die Angehörigen von Verstorbenen, Glückwunschtelegramme an die frisch verheirateten Kinder der Nachbarn und zu den Kommunionsfeiern, sie vergißt nichts, sie treibt die Kinder sonntags in die Kirche, prüft ob der Rock auch richtig sitzt, selbstredend ist er blitzsauber, sie tritt den Sohn gegen das Schienbein, wenn er bei der Predigt einschläft, sie sieht sofort, wer ihre sauber herausgeputzte Familie alles sieht in der Kirche und wer gegrüßt werden muß und wer nicht und wer wie angezogen ist, etc.. Sie ist unermüdlich und überall: Treibt zur Arbeit an, keift, wenn eines der Kinder ein lästerliches Wort sagt, referiert die Neuigkeiten der Terroristenfahndung, hat in Wiesbaden angerufen, um am Telefon die Stimmen der Terroristen sich einzuprägen, überprüft die Schularbeiten, hört sich den neuesten Ladenklatsch ihrer Tochter an, die im Lebensmittelgeschäft arbeitet, erinnert den Mann an Verabredungen, bezahlt die Rechnungen, ein Blick am Abendbrottisch sagt: das war für dich die letzte Tasse Kaffee, ein anderer Blick sieht, die Tasse ist leer, sie schenkt nach. Und das ist beileibe keine freundliche Geste. Im Gegenteil. Das ist Pflicht, Verantwortung, etc..  Ohne diese Frauen würden die Männer ziellos sich bloß totackern. Umgekehrt die Frauen: Einmal auf die Perspektive des Ehemanns verpflichtet, funktionieren sie mit einer Ausdauer, Geschicklichkeit und Perfektion, davon kann ein Mann nur träumen. Sie wandeln die in der Horizontalen gewonnenen Früchte der Arbeit aus der ersten Natur in die Vertikale der zweiten Natur um. Wenn im bäuerlichen Betrieb die Frau wegen Geburt, Krankheit oder Kur als Arbeitskraft ausfällt, hat der Bauer Anspruch auf zwei Betriebshelfer, weil die Frau für zwei arbeitet. Umgekehrt, wenn der Bauer ausfällt, gibt es nur einen Betriebshelfer von der Berufsgenossenschaft bezahlt.

Diese Geschichte von dem Ehemann, der mal eben an die Ecken gehen wollte, um sich Zigaretten zu kaufen und der nie wieder nach Hause zurückkommt. Es gibt keine analoge Geschichte mit einer Frau in einer solchen Rolle. Deswegen können die meisten Frauen auch noch immer nicht werfen, und haben so viele eine unterworfene hohe Stimme. Aber andererseits ist es eine statistische Tatsache, dass mehr Frauen als Männer sich raus aus der Ehe auf und davon machen. Warum also bombardieren mich alle Frauen, alle Ehefrauen, die ich unterwegs getroffen habe, mit diesem Mißtrauen? Ist es sogar ein „gesundes“?

4. November

Heute war der Tierarzt zur Besamung da. Ein junger schneidiger Typ. Ich stand neben ihm am Wasserhahn mit dem Kalkeimer und dem Pinsel in der Hand. Er machte sich die Gummistiefel sauber. Ich sagte Guten Tag. Keine Antwort. Dann sagte er zum Bauern: „Ach, Sie streichen gerade Ihren Stall“. Ein phantastischer Typ!  Gestern Abend wurde die Bäuerin in der Elternversammlung der Gymnasialklasse ihres Jungen in die Lesebuchausschuß gewählt: „Da muß ich alle Schulbücher lesen und sehen, ob sie anstößlich sind und sie dann ablehnen“, sagte sie.  Beim Abendbrot realisierte ich die fürchterlich reaktionären Sprüche der Bäuerin unter einem neuen Gesichtspunkt. Sie sagte: „Wer dreimal mit dem Bus schwarz fährt, das ist doch schon ein Krimineller“. Im TV lief ein Film über Rußland, sie kommentierte fortlaufen …: „Sieh nur diese verhärmten Gesichter“, und dann, „Sind ja auch alles Analphabeten“. Die Tochter bewundert die Disziplin beim Schlangestehen. Sie sagt: „Die müssen ja auch vor jedem Laden Schlangestehen, weil es dort nichts zu kaufen gibt“. Selbst ihrem Mann wird das langsam zu viel des Guten. Er relativiert ihre Bemerkungen. Ich will erst losschäumen, aber dann merke ich: sie will mich nur provozieren. Nach jeder Bemerkung schaut sie mich fragend an. Vielleicht soll ich mich entlarven.

5. November

Ich bin müde, bin erst um dreiviertel Neun aufgewacht. Die letzten Nächte immer bis vier oder fünf Uhr gelesen, geschrieben, wachgeträumt. Abends wieder in der Diskothek. Laute Musik, Tanzen, Rumgucken. Diesmal habe ich auch mit einigen Frauen getanzt: mit einer Arbeiterin, einer Haushaltsangestellten, einer Sekretärin. Am bizarrsten waren zwei Gymnasiastinnen: sagten nicht viel, cool, überlegen, gelangweilt, tanzten die ganze Zeit. Um halb Zwei brachten mich zwei Typen nach Hause. Ich kannte sie flüchtig, sie hatten mir ein paar Tage zuvor geholfen, die ausgebrochenen Ponies wieder einzufangen. Die beiden fuhren wie die Irren.

6. November. Sonntag

Lange geschlafen, zum Mittagessen wurde ich geweckt. Die Bäuerin versuchte wieder mir ihre provokanten Thesen über den Tisch entgegenzuschleudern. Sie sprach über den Dreck, die Armut und die Dummheit der französischen Bauern: Zehn Kühe und das ist alles, was sie haben“. „Aber dafür sind sie glücklich“, sagte der Bauer. Dafür hatte sie nur ein verächtliches Lächeln übrig…Dieser Scheiß-Sonntag. Die Bauern hier sind keine Sabbatschänder. Das sind sie wirklich nicht.  Ich schleiche wie eine Katze um den heißen Brei: die Satteltasche muß gemacht werden. Heute Abend muß ich noch ran. Morgen früh nach dem Melken geh ich weiter. Vorhin habe ich dem Pferd schon den Bock auf dem Rücken angepaßt. Er sitzt gut. Jetzt muß ich noch die Taschen daran festschrauben. Ich zähle mein Geld: 150 Mark. Hoffentlich gibt mir der Bauer morgen noch was. Ich brauche es. Wenn er nichts rausrückt, auch gut. 100 Mark hat er mir schon gegeben – für vier Wochen.  Meine Fähigkeiten für unterwegs nehmen zu. Erfahrungswerte: z.B. was alles wichtig ist und deswegen so verpackt werden muß, dass man leicht rankommt und was unwichtig ist und in der Satteltasche zuunterst gepackt werden kann.

Der Bagger da, arbeitete da nicht der Gundermann drauf?!
7. November

Jetzt sitze ich schon im Gasthaus einer Pension in Oberdreis. Es war ein deprimierender Marsch heute – für uns beide. Gerade kommt die Tochter des Wirts – der mir seine Weide zur Verfügung gestellt und mir ein Zimmer für die Nacht vermietet hat – und setzt sich zu mir an den Tisch. Sie will nach dem Abitur Landwirtschaft studieren. Wir unterhalten uns eine Weile ganz nett. Eigentlich stellt sie nur Fragen. Aber wenigstens keine blöden. Morgen werde ich versuchen, bis zum „Paradies“ von Heinz Erwer in Remagen vorzustoßen. Ein alter Öko-Nazi. Dazu müssen wir scharf in Richtung Westen gehen. Es ist kein Umweg. Ich muß  sowieso über den Rhein bei Linz, wegen der Autofähre. Hoffentlich dreht Leinchen auf dem Schiff nicht durch. Heute hat sie wieder einige Bravourstücke absolviert: eine schmale Brücke überquert, durch einen Bach gewatet, einen Hügel runtergesprungen. Ich war jedesmal hellauf begeistert. Der Bauer gab mir 200 Mark und begleitete mich noch einen Kilometer. Wir sprachen wenig. Es war ein etwas gequälter Abschied dann, an einer Wegkreuzung. Vielleicht hätte er mich auch ganz gerne da behalten …

Jenes Tal dort und der kleine Bach, diese Hangwiese und der Wald, das kurze Gespräch mit einem Bauern am Wegrand – er kam mir entgegen aus Neugierde, erzählte mir, am Vormittag seien zwei Mädchen mit Pferden hier vorbeigekommen. Sie waren ein halbes Jahr unterwegs von Köln nach Österreich und zurück. Die meiste Zeit auch zu Fuß, aber die Pferde waren gesattelt. Geschlafen haben sie in Schlafsäcken auf irgendwelchen Weiden, an denen sie vorbeikamen.

8. November

Seit halb Elf sind wir wieder unterwegs. Ich dachte, wir würden bis Remagen kommen. Keine Rede davon. In der Nähe von Wilroth – kurz vor einer Autobahnunterführung -, treffe ich auf eine ältere Frau mit Hund, die Brombeeren pflückt. Ich spreche sie an. Wir kommen in ein Gespräch und gehen gemeinsam weiter bis in ein Dorf. Dort lädt sie mich zu einer Tasse Kaffee bei sich zu Hause ein. Im Vorgarten sattele ich Leinchen ab und lasse sie dort rumlaufen, fressen. Oben im Wohnzimmer sitzt schon ihr Mann bei einer Tasse Kaffee – ein Typ wie ein Mittelding zwischen Luis Trenker, O.M. Graf und einem Handelsvertreter. Er redet gleich los. „Scheiß auf Deutschland, scheiß auf Frankreich. Du gehst einen Kilometer, ein Dorf, zwei Kilometer, noch ein Dorf, noch einen Kilometer, noch ein kleineres Dorf, nach einen Kilometer, ein größeres Dorf. Kanada. Du mußt nach Kanada gehen.“ Die beiden fahren jedes Jahr nach Kanada. Nächstes Jahr will er sich mit Packpferd durch die Rocky Mountains „schlagen“. Er erzählt stundenlang von einigen Bauern dort, die er mittlerweile kennt, von den Tieren, vom Ackerbau (Weizen), von der Bienenzucht, von einer Indianer-Sippe, die auf einer Farm eine Pferdezucht hat. Er lädt mich ein, nächstes Jahr mit ihm durch Kanada zu ziehen: „Das Pferd verkaufst du und in Kanada kaufst du dir ein neues.“ Ich werde – während ich zuhöre – von der Frau mit Kaffee und Broten gestopft. Um sieben Uhr dann verabschiede ich mich endlich. Es ist schon dunkel. Wieder dieses seltsam traurige Gesicht des Mannes beim Abschied.

Siehst Du sie, da hinten, wo die Straße einen Knick macht, kommen sie angeritten.

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