vonHelmut Höge 05.11.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Das ist doch eine hessische Birke, oder?

15. Januar. (1979)

Wir sind eingeschneit und sitzen in dem Bauernhaus, das Heike sich zusammen mit einigen Freunden zu einem kleinen Tagungshaus ausgebaut hat. Das Dorf ist jedoch groß genug, um uns mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, so daß wir uns keine Sorgen machen, sondern ruhig bleiben und uns weiter darauf konzentrieren, Zukunftspläne zu schmieden. Ich will immer noch oder schon wieder weg und Heike weiß nicht so recht, von meiner Landwirtschaftsleidenschaft ist sie nur mäßig begeistert. Schließlich eine Art Kompromiß: Wir suchen uns einen Wohnwagen, den wir ausbauen und kaufen einen Traktor als Zugmaschine, mit dem ich mich unterwegs bei den Bauern nützlich machen kann. Auch eine Art von „Landwirtschaftsmaschine“, wenn auch nicht mehr so klein. Das Pferd und den Esel lassen wir erst einmal in Italien, bewegen uns jedoch in ihre Richtung – Süden.

18.Januar

Wir haben einen Schaustellerwagen gefunden – gleich in der Nachbarschaft, weiter können wir mit Heikes VW-Bus auch nicht suchen, da das Dorf noch immer von der Außenwelt abgeschnitten ist. Die Schaustellerfamilie bringt ihn zu uns auf den Hof, es war einmal ein Transportanhänger für eine Autoscooterbahn – sechs meter lang und 2 meter 55 breit.

22.Januar

Wir sind jetzt laufend unterwegs, um Material zu besorgen und wenn es nicht anders geht zu kaufen. In Bremen reiße ich alles an mich, was nicht niet- und nagelfest ist. Als Hausbausau kann man alles gebrauchen! Auch beim Wohnwagenausbau. Unser Stolz ist ein Schweißgerät, moralisch unsauber war dagegen die Beschaffung einer Flex, aber ab jetzt wird richtig geschmiedet.

17. Februar

Ich werde immer fanatischer, aber man sieht schon Fortschritte. Ein Zimmermann, Freund von Heike, macht uns die Fenster, von meinem Vater habe ich 20 Millimeter dickes Panzerglas dafür bekommen, da kommt man nicht einmal mit einer Brechstange durch.

1. März

Heikes Onkel, ein Spargelbauer bei Nienburg hat uns geholfen, einen Traktor zu kaufen: einen weißen David Brown. Es ist jetzt Mode, seinen Kindern jüdische Vornamen zu geben, der Traktor bzw. die englische Firma heißt aber schon immer so.

3.März

Die Probefahrt geht wieder zu einigen befreundeten Land-Wohngemeinschaften, von -kommunen kann man nicht mehr reden, bis auf einige Großprojekte wie Longo Mai und die AA-Leute aus Wien, Berlin und Bremen, die immer sektenartiger zu werden scheinen.

12.März

Heike und ich haben uns gestritten, ich bin nach Bremen gefahren und Jochen, der Tischler hat Traktor und Wohnwagen auf den Hof von Sybille Tönnies gefahren. In Bremen irre ich bloß überflüssig herum. Immer wieder finde ich einen Grund, irgendwohin aufs Land zu fahren, d.h. ich gehe – die meisten Strecken gehe ich, es ist ein wüstes Gehen, wobei das Ziel nur ein nervöser Halt bedeutet. Ich gehe so schnell wie möglich weiter bzw. zurück, bloß um wieder zu gehen. Es ist wie Vollgas im Leerlauf. Mein Standort ist im Impuls-Verlag, wo Jimmy als einziger im halbbesetzten Haus mit seinem Hund lebt – im ersten Stock, während unten die Obdachlosen schon aus den Dielenbrettern ihre Lagerfeuer machen. Dieses sich auflösende Provisorium eines Verlags paßt auch zu meinem Gemütszustand nahezu perfekt.

28. März

Ich grübel natürlich beim Gehen – was die letzten Tage zu einem regelrechten Ostermarsch ausgeartet ist.

30. März

Heike und ich haben uns wieder ein bißchen versöhnt. Der Ausbau geht weiter, das ist jetzt wie damals bei der Satteltasche: hier und da wird noch was angebaut, verbessert etc. Aber ich bin nicht zu bremsen, möchte los, vielleicht lösen sich dann alle Beziehungsprobleme von selbst. Es ist zu sehr mein „Projekt“, wenn sie es zu ihrem macht, dann muß es sich gegen mich richten, aber es geht weder so noch so. Also fahren wir erst einmal los. Gleich morgen. Eine kleine Katze kommt auch mit.

4.April

Bei Bruno auf dem Hof haben wir einen Kachelofen eingebaut, wenn der loslegt, bekommt man im Wohnwagen schon bei der kleinsten Bewegung einen Schweißausbruch. Der Wagen ist rundum isoliert, wir lesen viel, wir haben jede Menge Bücher unterm Bett. Wenn es zu warm wird, öffnen wir die Tür für eine Weile. Bei jeder Fahrt entdecken wir neue Schwachstellen, die bei nächster Gelegenheit beseitigt werden. Das mit dem Ofen, den wir zuerst drinne hatten, war auch so eine – er war zu klein. Auch dieses ständige Verändern war bei der Satteltasche schon so. Das Ofenrohr suppt, weil es zu lang ist und zu waagerecht verläuft, aber wir kriegen es einfach nicht verbessert. Einige  Bücher stinken schon nach Teer.

7. April

Jetzt sind wir aus unserem Adressenkreis heraus – und übernachten meist irgendwo am Wegrand, sind noch unruhig nachts, wenn ein Auto anhält und gar jemand mit der Taschenlampe draußen herumleuchtet. Richtig Licht haben wir nur, wenn wir uns über eine Kabelrolle irgendwo mit einer Steckdose verbinden.

8.April

Heute dachte ich, wir würden direkt in ein Haus reinfahren: der schwere Wohnwagen, er wiegt drei Tonnen, drückte den 48-PS-Traktor eine Bergstraße runter, die so steil war, dass die Traktorbremse es kaum schaffte, auch der Wohwagen hat eine Auflaufbremse, aber sie schien nicht zu funktionieren.

10.April

Wir steuern die Adresse einer Landkommune bei Gießen an, vielleicht kann ich hier die Auflaufbremse reparieren.

Kuck dir das bloß mal an! Was das wieder für eine Sauerei ist.

11.April

Ich nehme die Wohnwagenräder ab und entdeckte, dass das ganze Bremssystem verrottet ist. Genau wie bei der Satteltasche habe ich das Wichtigste übersehen, wir haben beide primär die ästhetische Seite des Wohnwagens im Blick gehabt. So war schon das Landwirtschaftsbeginnen in Magelsen von den vier Frauen gewesen, was mir irgendwann nicht mehr genügte.

12.April

Auch hier diese Landkommune  benimmt sich seltsam: Heike und ich wohnen zwar getrennt von ihnen im Wohnwagen hinterm Haus, dennoch bekommen wir mit, wie z.B. eine der dort lebenden Frauen die ganze Nacht beim Vögeln schreit, das halbe Dorf wurde davon wach. Als sie einzogen vor zwei Jahren, nahmen sie sich ebenfalls vor, bei allem das Primat der Ökonomie anzuerkennen, also bei jeder Anschaffung zuerst nach dem Nutzen zu fragen, dennoch konnte Reiner sich durchsetzen und als erstes mit einer nichtsnutzigen Bernhardinerhündin ankommen. Er wurde deswegen scharf kritisiert. Dann machte sich das Tier jedoch gleich nützlich: eine Henne fing im kalten Herbst noch an, draußen im Hof zu brüten und dann auch noch auf 13 Eiern. Die Landkommunarden ließen sie gewähren: Soll die Natur es doch selbst richten, war ihre immer wieder gern geäußerte Meinung. Nachdem aus allen Eiern Küken geschlüpft waren, übernahm die Bernhardinerhündin, die sich mit der Henne angefreundet hatte, die Hälfte ihrer Brut – und wärmte sie: alle 13 kamen durch. Im darauffolgenden Frühjahr haute sie eines nachts ab und paarte sich mit einem Rüden irgendwo in der Nachbarschaft. Die Landkommunarden waren entsetzt, als sich jede Menge junge Hunde abzeichneten. Aber es erwies sich dann, dass die reinrassige Bernhardinerhündin sich mit einem ebenso reinrassigen Bernhardinerhund gepaart hatte – und die sieben Jungen wurden sie sofort wieder los: für insgesamt 1400 DM. Inzwischen hat sich längst herausgestellt, dass die Hündin das „produktivste Tier“ auf dem ganzen Hof  ist. Darüberhinaus versteht sie sich mit allen Tieren. Sie haben auch zwei Jungkühe, die aber noch keine Milch geben. Bis vor kurzem lief auf dem Hof auch noch ein Kaninchen herum, das mit der Bernhardinerhündin spielte: weglaufen und hakenschlagen. Einmal stießen die beiden Tiere dabei frontal zusammen, die Hündin war nur verdutzt, aber das Kaninchen brach sich das Genick und war tot. Drei Tage lang fraß die Hündin daraufhin vor lauter Kummer nichts mehr. Auch zu uns, den Gästen auf der Obstwiese, hat sie inzwischen ein sehr inniges Verhältnis entwickelt. Aber wir müssen weiter.

16.April. Sonntag

Wir sind spät losgekommen und fahren vorsichtig, wegen der immer noch nicht richtig funktionierenden Auflaufbremse – die Straßen suchen wir möglichst nach dem geringsten Gefälle aus. Die Landkommunarden bei Gießen hatten uns gesagt, sie würden zu einem Landkommunefest auf den Altenfelder Hof bei Volkhartshain im Vogelsberg fahren und wir sollten doch auch dort hinkommen. Uns ist jedoch nicht nach einem Fest. Unterwegs stellen wir aber fest, dass wir uns bereits ganz in der Nähe befinden. Also fahren wir doch hin, wobei wir uns einig sind, wenn es uns nicht gefällt, bleiben wir dies mal nicht wieder tagelang hängen, sondern fahren gleich weiter.

Kuck! Nicht nur im Hessischen, auch im Hohenlohischen gibt es einen Vogelsberg.
Als wir endlich ankommen, ist das Fest schon vorbei, aber die Bewohner des Altenfelder Hofes im Vogelsberg bitten uns, trotzdem ein paar Tage zu bleiben. Daraus werden schließlich sechs  Jahre. Über zwei Jahre bleiben wir allein auf dem Altenfelder Hof: der Wohnwagen steht mitten auf einer riesigen Waldwiese und die Jahreszeiten kommen und gehen. Die Leute vom Hof backen Brot und machen Ziegenkäse, beides verkaufen sie am Wochenende in Frankfurter Bioläden. Am Waldrand ließ sich eine Gruppe von Wohnwagenleuten nieder, mit der Zeit wurden es immer mehr Wohnwagen. Es gibt sogar ein richtiges Wohnwagentreffen mit -fest. Der Vermieter des Hofes, der Fürst von Ortenberg, versucht, dies alles mit Polizeigewalt zu verhindern, aber der Hauptmieter, Karl Möller, fährt ebenfalls schweres juristisches Geschütz – aus Frankfurt – auf und die Sache verläuft sich in endlosen Schriftsätzen von Anwälten. Ich habe inzwischen angefangen, Texte für die taz und den Pflasterstrand zu schreiben, wobei ich versuche, alle Themen zu vervogelsbergisieren, d.h in diese Region rein zu verlagern, wo auch wirklich viel passiert. Die dagebliebenen bzw. zurückgekehrten jungen Einheimischen und die von den Städten aufs Land gezogenen machen immer mehr zusammen, sie haben bereits eine „eigene“ Kneipe und ein Café sowie eine Fußballmannschaft. Karl und seine Freundin Gisela haben sich einen Unimog gekauft sowie einen Zirkuswohnwagen, den sie nun ausbauen.

Als die Wohnwagenleute abziehen, schließt sich Heike mit unserem Gespann ihnen an, ich bleibe da, zwar wieder im Streit, aber weniger mit ihr als mit der ganzen Korbflechter- und Musiker-Truppe, die mir zu freakig ist. Als sie weg sind in Richtung Odenwald, bin ich zwar wieder ohne „Landwirtschaftsmaschine“, aber ich muß mich sowieso um das Pferd und den Esel in Italien kümmern – und fahre mit dem Zug dort hin. Auf dem Hof helfe ich den Leuten in „Le Bucacce“ wieder beim Roden ihrer völlig überwucherten Terrassenfelder. Dann muß ich jedoch wieder zurück, um irgendwie Geld zu verdienen. Heike ist inzwischen wieder auf den Altenfelder Hof zurückgekehrt.  Ich leih mir einen Volvo, einen Pferdeanhänger und wir  holen zusammen das Pferd aus Italien ab, der Esel bleibt bei Heidi, sie möchte ihn gerne dort haben. An drei Grenzübergängen werden wir mit dem Pferd abgewiesen, aber am vierten, zur Schweiz hin, hat der Capitano ein Einsehen: „In Italien ist alles möglich, erst recht beim Zoll am Brenner,“ sagt er und läßt uns trotz fehlender Einreisepapiere ausreisen.

Zurück auf dem Altenfelder Hof leiht mir kurz darauf ein Bekannter aus dem Taunus sein Pferd, für das ebenfalls noch Platz in den Ställen ist: eigentlich soll das Pferd nur einige Wochen dort bleiben, aber der Typ holt es nie wieder ab, so daß Leinchen einen neuen ständigen Begleiter hat. Heike will irgendwann nicht mehr länger im Wohnwagen wohnen, stattdessen erwirbt sie ein altes Bauernhaus im Vogelsberg, auf der anderen – Gießener – Seite des Hoherodskopfs. Ein Freund von mir aus Berlin Povl und ich sollen es ausbauen, ihr Vater will die Kosten übernehmen. Der Aus- und Umbau dieses Hauses in Wohnfeld dauert mehrere Jahre. Daneben muß ich mich im Sommer um Berge von Heu und Stroh für die zwei Pferde kümmern.

Als das Haus kurz vor der Fertigstellung steht, 1986,  ist meine Beziehung zu meinem Freund Povl und zu Heike so „abgenutzt“, dass ich ausziehe – aus dem Wohnwagen, in dem ich die ganze Zeit gewohnt habe. Zuerst fahre ich nach Freiburg, aber an dem morgen, als ich dort mit dem Zug ankomme, wird gerade das besetzte Haus geräumt, in das ich eigentlich einziehen wollte. Stattdessen ziehe ich wenig später nach Berlin, nachdem ich die beiden Pferde verkauft und die Satteltasche verschenkt habe. Drei Jahre später fahre ich noch einmal nach Wohnfeld zurück und helfe Povl und Heike, den Wohnwagen zu demontieren, der zwar unter dem Vordach einer Scheune steht, jedoch von niemandem mehr benutzt wurde und immer mehr vergammelte.

Wieder zurück in Berlin bricht dort plötzlich die Revolution aus, so nennt man jedenfalls in der ersten Euphorie den Zusammenbruchs der Sowjetunion. Mit Sabine Vogel zusammen besitze ich inzwischen einen alten förstergrünen Audi. Ließe sich daraus nicht auf die Schnelle eine neue „Landwirtschaftsmaschine“  bauen? fragen wir beide uns, nachdem auch noch „die Mauer fiel“ und wir sofort in dem für uns neuen Berliner Umland  herumkutschiert waren, um möglichst viele neue Eindrücke zu sammeln – bevor sie verschwanden.

Zunächst aber noch einmal zurück zum Vogelsberg:

1.

„Vogelsberg nimmermehr, geb‘ ich für Geld dich her, laß nicht von dir …“  So lautet ein bekanntes Vogelsberg-Lied (wiederabgedruckt in „Menschen am Fluß … wie lange noch?“ Hamburg 1985)    Weil die Stadt Frankfurt sich seit Jahren ihr Brauchwasser aus dem Vogelsberg rauspumpt und etliche umweltbewußte Vogelsberger sich dagegen – ebenfalls schon seit Jahren – zur Wehr setzen, deswegen wurde der Liedtext mit in das e.e. Buch von Inge Kramer und Günther Zint aufgenommen. Auf Seite 8 heißt es dazu: „Der Kampf um das kostbare Naß wird zuweilen mit harten Bandagen ausgetragen“. Der Text des Vogelsberg-Liedes legt es bereits nahe: Diese oberhessischen Mittelgebirgsbewohner scheinen sich besonders hartnäckig an ihre Scholle zu krallen. Einmal prozessierte beispielsweise die Gemeinde Wüstwillenroth über hundert Jahre gegen den Isenburger Fürsten zu Birstein – wegen ihrer Wasserrechte.

Im Jahre 1974 hatte Karl Möller aus Clauburg-Clauberg, der in Büdingen aufs Gymnasium gegangen war und dann am Frankfurter Städel Kunst studiert hatte, vom Ortenberger Fürsten zu Stolberg-Rossla ein Anwesen in Volkartshain gemietet. Der Fürst, dem einstmals große Besitzungen im Osten  gehört hatten, lebte jetzt bescheiden von seinen Ländereien und Immobilien im Vogelsberg. Sein ehemaliger Kammerdiener war sein Rentamts-Verwalter geworden; der kunstliebende Fürst verbrachte viel Zeit im Keller seines Ortenberger Schlosses, wo er als Hobby-Archäologe in römischen Koelkjemoedings herumgrub, daneben hatte er auch mäzenatische Ambitionen, deswegen vermietete er sein Forsthaus mit drei Hektar Land drumherum gerne an den Künstler Möller, dem sogar hundert Mark Mietzins im Monat erlassen wurden. Anfänglich war das Verhältnis zwischen Eigentümer und Pächter durchaus freundlich, man traf sich bei Gelegenheit eines fürstlichen Jagdausflugs am Altenfelder Hof und fachsimpelte beispielsweise über die Kunst und Geschichte der Lithographie. Karl hatte in der Scheune seine Lithopresse aufgestellt. So nach und nach hatte er aber auch angefangen, Teile der Wirtschaftsgebäude und des Geländes landwirtschaftlich zu nutzen. Nach einigen Jahren besaß er bereits eine große Ziegenherde und sein Mitbewohner Knuffi backte wöchentlich zwei mal 50 Biobrote. Die brotlose Kunst gab er bald ganz auf. (In einem Artikel über seinen Hof in der Kreiszeitung wird allerdings noch erwähnt, dass er die blutigen Laken von der Geburt seiner Tochter auf Rahmen gespannt hatte und sie als Kunstobjekte aufbewahrte – eine Übergangslösung vielleicht, mit Reminiszenz an die Schüttbilder von Nitsch, den Karl noch als Dozent am Städel kennengelernt hatte.)

Zu dem vom Fürsten gemieteten Forsthaus gehörte eine eigene Quelle, von der eine Wasserleitung zum Haus führte. Als diese Zuleitung einmal kaputtging, bat Karl seinen Vermieter den Schaden zu beheben. Nichts geschah. Nach einiger Zeit trat Wasser in den Keller ein, worauf Karl den Fürsten ein weiteres mal anschrieb, damit der auch diesen Schaden beheben lasse, wobei er darauf hinwies, dass der zweite Schaden nicht entstanden wäre, wenn man den ersten früher behoben hätte, im übrigen sei die ganze Angelegenheit dringend, in den Sommermonaten wäre die Wasserversorgung des Hauses bereits zusammengebrochen. Wieder geschah nichts. Der Mieter übergab die Angelegenheit einem linken Rechtsanwalt in Frankfurt, der sich im Zusammenhang der dortigen Hausbesetzer-Bewegung auf Mietrechtsprobleme spezialisiert hatte. Gemeinsam taxierte man den Gesamtschaden und Karl zog ihn in Raten von der monatlichen Miete ab. Auf diese mieterliche Eigeninitiative reagierte das Fürstlich Stolberg’sche Rentamt mit einem Brief, in dem darauf hingewiesen wurde, dass dem Pächter von Anfang an klar gemacht worden war, wie mangelhaft die Wasserversorgung des Hauses sei und dass man deswegen seinerzeit den Pachtzins für das Anwesen auf hundert Markt monatlich verringert hätte. Karls Anwalt forderte im Gegenzug vom Fürsten die Herausgabe des Schlüssels zum „Quellhäuschen“, damit das Wasserwirtschaftsamt Friedberg die Ursache für den Wassermangel feststellen könne. Gleichzeitig besorgte sich sein Mandant von einem Freund, der mit einer Anakonda und einer Boa Constrictor als Feuerschlucker in Oberhessen herumzog, eine Quittung über tausend Mark „für Arbeiten zur Wasserbeschaffung von Herrn Möller“. Das Rentamt bestätigte den Eingang des Schreibens, „wegen eines Trauerfalls“ würden sie es demnächst beantworten. Als nächstes schrieb Karl aber seinem Anwalt, dass er eine Kaution für die Hofanmietung hinterlegt hätte und dass er die mit den nächsten Mieten verrechnen wolle, zugleich würde er sich nach einem neuen Platz umsuchen. In seiner Antwort bezeichnete der Anwalt diese Kleinmütigkeit und Kampfunlustigkeit als „Milchmädchenrechnung“, außerdem fände er, Karl, so einen schönen Hof nie  wieder. Folgsam beauftragte Karl eine Firma, die einen Kostenvoranschlag für die Behebung des Rohrbruchs aufstellte: 1800 Mark – für diese Arbeit wurde ein Teil der Miete einbehalten. Das Rentamt forderte daraufhin die fehlende Miete ein, später informierte die Kreissparkasse Karl darüber, dass sie einen Teil der seinerzeit übernommenen Bürgschaft an das Rentamt überwiesen hätten. Inzwischen hatte sich auch der Fürst einen Anwalt genommen, der an Karls Rechtsvertreter einen Brief schrieb, in dem das Pachtverhältnis zum 31. Juli 1979 für beendet erklärt wurde; das dünne Schreiben endete mit dem Satz: „Ihre Mandatschaft mag den Wasserschaden selbst beheben“. Karl Möller war – gelinde gesagt – niedergeschlagen, aber sein Anwalt kam erst auf Touren, er bearbeitete seinen Mandanten, jetzt nur ja nicht aufzugeben. Der suchte sich nun nach zusätzlicher Unterstützung im Landkreis um: Der Landrat in Friedberg schrieb ihm ab: „aus wasserrechtlichen Gründen kann ich in Ihrem Fall leider nicht tätig werden“.

Auch sein Vermieter sollte noch einmal zu einem Sinneswandel bewogen werden: „Sehr geehrte Durchlaucht“, schrieb er, „bei unserem kurzen Zusammentreffen vor wenigen Tagen wollte ich Sie nicht abhalten von Ihrem Jagdvorhaben. (….) Ich bin zutiefst empört über das Verhalten Ihres Verwalters – Herrn Scheuermann …“ Und dann stellte er noch einmal den ganzen Fall bis dahin aus seiner Sicht dar, wobei er zum Schluß darauf hinwies, dass er sich in den feuchten Räumen bereits ein Rheumaleiden zugezogen habe, dass es ihm „unmöglich mache, längere Zeit an einem Stück zu malen“. „Ich betreibe hier den gesamten Altenfelder Hof mit seinen Inhalten und Wandlungen als Kunstwerk. Darüber war auch bereits in Presse und TV zu erfahren. Es sollte in diesem Sommer ein Bildband dazu erscheinen, ich fand aber weder Ruhe noch Zeit dafür, ob das ganzen Ärgers“. Sodann zählte er einige Mängel an Haus und Gartenzaun auf, die der Fürst als Vermieter zu beheben hätte. Der Brief endete „mit Vogelsberggrüßen“.  In einem weiteren Schreiben – an den Verwalter, Scheuermann – beschwerte Karl sich über „den Entzug der Berechtigung zur Haltung“ eines Hundes: a) brauche er ihn als Wachhund, das Forsthaus sei sehr isoliert gelegen und b) sei sein „altdeutscher Hirtenhund“ notwendig für seine „gelegentliche Arbeit als Aushilfsschäfer“, c) mitnichten würde der Hund „im Revier streunen und den Jagdbetrieb stören“.

Zu Beginn des Jahres 1979 antwortete ihm der Fürst: „Ich danke Ihnen für Ihr Schreiben und die Weihnachts- bzw. Neujahrswünsche, die ich noch nachträglich erwidern möchte. Außerdem bedanke ich mich für den überlassenen Probedruck.“ Des weiteren bedauerte der Fürst, in der Angelegenheit Altenfelder Hof keine Stellung nehmen zu können, da er – sowohl als auch Karl – bereits einen Anwalt mit der Klärung beauftragt hätten.  Am 10.4. hieß es in einem Brief von Karls Anwalt an das Amtsgericht Büdingen, „dass es sich bei dem fälschlich als ‚Pachtvertrag‘ bezeichneten Vertrag um ein ‚Wohnraummietverhältnis‘ handeln“ würde und somit die ausgesprochene Kündigung unwirksam sei, es könne kein ‚Eigenbedarf‘ vom Fürsten nachgewiesen werden und der behauptete ‚Betriebsbedarf‘ (einer der Förster des Fürsten – Baumann – sollte in das Forsthaus einziehen!) sei nicht identisch mit ‚Eigenbedarf‘.

Karl bekam ebenfalls einen Brief von seinem Anwalt, in dem dieser ihn daran erinnerte, beim Sozialamt Gedern ein Armenrechtszeugnis zu beantragen. In dem Schreiben an das Gericht war diesbezüglich schon darauf hingewiesen worden, dass „der Kläger Möller nur über ein monatliches Einkommen von 300 Mark verfüge“. Die Gegenseite – das Anwaltsbüro des Fürsten – beantragte beim Amtsgericht „Klageabweisung“ und „Vollstreckungsschutz“. Sie beharrten auf dem Begriff „Pachtvertrag“ – „Beweis: Augenscheinnahme“ (es wird auf dem Altenfelder Hof landwirtschaftlich gearbeitet). Zum Wasserleitungsproblem führten sie aus, dass „im Vogelsberggebiet naturbedingt schon seit Jahren Wassermangel besteht“. Entweder war das eine Lüge, wenn damit auf die jährliche Niederschlagsmenge in Nordhessen angespielt wurde, oder aber das „naturbedingt“ war ein hermeneutischer Fehlgriff, wenn damit der „Wasserraub der Frankfurter“ (I. Kramer/G. Zint, s.o.) gemeint war…

Karls Anwalt verfaßte daraufhin einen zweiten dünnen Schriftsatz für das Büdinger Gericht, in dem zu dem Wasserproblem noch ein Sachverständigengutachten als Beweis angeführt wurde. Das Amtsgericht verhörte dann auch als Zeugen einen Schlossermeister aus Gedern und kam im August 1979 zu dem Urteil: 1. Der Beklagte (der Fürst) wird verurteilt, an den Kläger (Karl) 500 Mark nebst 4% Zinsen zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen (sie ist nur z.T. begründet) und 2. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben. Das fürstliche Anwaltsbüro erhob dagegen Klage beim Landgericht Gießen – wegen „Räumung und Zahlung – Wert: 4050 Mark“, zusätzlich wurde darum gebeten – wegen der anstehenden Gerichtsferien die Angelegenheit zur „Feriensache“ zu erklären, „damit das Pachtobjekt alsbald anderweitig wirtschaftlich verwendet werden“ könne. Da Karls Anwalt vor dem Landgericht Gießen nicht zugelassen war, übernahm stellvertretend für ihn ein Anwaltskollektiv aus Lahn-Wetzlar den Fall und dieses schrieb dem „Landgericht – 3. Ferien-Zivilkammer“: 1. Die Klage abzuweisen, hilfsweise dem Beklagten eine Räumungsfrist einzuräumen und 2. Ihm das Armenrecht zu gewähren.

Dann wurde aber die SPD-Idee einer Europa-Großstadt „Lahn“ noch vor seiner Realisierung wieder rückgängig gemacht, wobei das Lahn-Wetzlarer Anwaltskollektiv zulassungsmäßig Limburg zugeschlagen wurde und somit Karl nicht mehr in Gießen verteidigen konnte. Ein neues Kollektiv in Linden- Leihgestern übenahm den Fall. Während dieses fliegenden Wechsels hatte Karl noch eine einstweilige Verfügung erwirkt gegen das fürstliche Rentamt, das die drei Hektar um den Hof wegen der im August zu erwartenden Kündigung neu verpachten wollte: Bei Meidung eines Ordnungsgeldes bis zu 50.000 Mark wurde dem Fürsten verboten, „das verpachtete Grundstück zu verändern“.

Durch seine fortwährenden Rechtshändel juristisch gefestigt und ob seiner bisherigen Teilsiege ermutigt, organisierte Karl im Frühherbst eine „Rock gegen Rausschmiß“-Veranstaltung auf dem Gelände des Altenfelder Hofs. Die Kreiszeitung schrieb später darüber: „Mit diesem Treffen sollte noch einmal ‚die Power‘ der alternativen Kultur demonstriert werden“. Karls Frankfurter Anwalt mahnte ein neues Armenrechtszeugnis für die Gießener Korrespondenzanwälte an.

Die Anwälte des Fürsten beantragten bei Gericht die Abweisung des Armenrechtsgesuchs des Beklagten „wegen Aussichtslosigkeit“. Zur Begründung ihrer Klage schrieben sie: „Eine gewisse Wasserversorgungskalamität war stets zu befürchten.“ Ferner wiesen sie darauf hin, dass der Beklagte auf dem Gelände des Altenfelder Hofs ein „Rock Festival“ veranstaltet habe – „Beweis: Kreisanzeiger vom 8.9.79“. Mindestens 120 Fahrzeuge (darunter zwei Busse) seien dazu aus der BRD und dem Ausland angereist. Etliche fremde Personen befänden sich mit ihren Fahrzeugen noch immer auf dem Hof. Die Veranstaltung wäre behördlich nicht angemeldet worden und wäre auch nicht genehmigt worden – „Beweis: Auskunft der Bürgermeisterei Gedern“. Um die Benutzung des Forsthauses für den Revierförster Baumann zu begründen, führten sie – gemäß Palandt § 556a, Anm. 6 – noch einmal „Eigenbedarf, auch für nahe Verwandte (Weimar, WM 68, 427)“ an. Sie hatten schlichtweg vergessen, dass Förster schon seit den napoleonischen Reformen nicht mehr zum Gesinde des Landesherrn zählten.

Einmal speisten Karl und seine Freundin Gisela mit einem der fürstlichen Anwälte in einem Büdinger Restaurant und bekamen dabei ihre Einschätzung bestätigt: Es war ein absolut mattköpfiger CDU-Karrierist, der für den Fürsten vor Gericht stritt.  Ende Oktober wies das Landgericht Gießen den Antrag von Karl auf Armenrecht zurück. Das Gießener Anwaltskollektiv legte dagegen Beschwerde ein. Die Beschwerde wurde abgewiesen. Der Frankfurter Anwalt von Karl ging daraufhin in Berufung beim Oberlandesgericht Frankfurt, wo Richter Theo Rasehorn (der sich unter Pseudonym schon mehrfach öffentlich für die Abschaffung der Justiz ausgesprochen hatte) den Antrag auf Armenrecht zu bearbeiten hatte.

Er entschied, dass es sich im vorliegenden Fall um einen Mietvertrag handele und genehmigte den Antrag auf Gewährung des Armenrechts. Zuvor hatten die fürstlichen Anwälte dem OLG Frankfurt mitgeteilt, dass es gar nicht darauf ankäme, was die Gegenseite zu Armenrechtsgesuch und anhängiger Klage vortrage, „fest steht, dass die Beklagten den Altenfelder Hof in eine Niederlage für Rock und Roll und zu einem Asyl für ortsfremde Korbflechter umfunktionieren“. „Es versteht sich von selbst und entspricht allgemeiner Lebenserfahrung“, dass dadurch das ganze wunderschöne Anwesen der Fürsten völlig versaut wird (sinngemäß). Ferner habe der Beklagte vom Kläger eine Reparatur des Badezimmers verlangt, „verweigere aber dem Leiter des Rentamtes, Herrn Amtmann Scheuermann, die Augenscheinnahme“. Als der „Amtmann Scheuermann zusammen mit dem Wehrleiter Göttlicher“ das Anwesen mitsamt den ganzen Wohnwagen, Zelten und Leuten fotografieren wollte, wurde der Beklagte sogar handgreiflich und drohte, den Fotoapparat zu zertrümmern. „Nun war es Amtmann Scheuermann weder zumutbar noch möglich, eine Ortsbesichtigung vorzunehmen“. „Mehrere männliche und weibliche Personen nebst mehreren Kindern beobachteten den Vorfall (hieraus ergibt sich die unzweifelhafte vertragswidrige Überbelegung des Anwesens) von den Fenstern des ersten Stocks aus“.

In der Annahme, „dass Angriff die beste Verteidigung sei, erstattete daraufhin der Beklagte Strafanzeige bei der Polizeistation Büdingen wegen Hausfriedensbruchs“.  Nach der Rockveranstaltung waren etliche mit Traktoren und Wohnwagen angereiste Besucher noch da geblieben. Einige von ihnen hatten neben einem Ziegenstall eine „Swetlodge“ errichtet – eine aus Reisig gebaute Rundhütte, die als Sauna benutzt wurde, indem man im Innern einige heiße Steine in ein großes Wassergefäß legte. Gerade als Revierförster Baumann sich zu einem Smalltalk mit Karl auf dem Altenfelder Hof aufhielt, wollte jemand die Swetlodge benutzen und trug einen heißen Stein hein, der rollte jedoch statt ins Wassergefäß an einen Strohballen und schon Minuten später brannte die ganze Sauna, kurz danach auch Teile des angrenzenden Stalls. Zwar wurde das Feuer bald gelöscht, aber ein paar Tage später erhielt Karl vom Amtsgericht Büdingen eine einstweilige Verfügung, in der ihm bei Strafe von 50.000 Mark fürderhin verboten wurde, auf dem Gelände des Forsthauses offene Feuer anzulegen. Gegen diese Verfügung legte Karl keine Beschwerde ein.

Um aber dem schlechten Eindruck etwas entgegenzusetzen, den die Darstellung der fürstlichen Anwälte von dem auf dem Hof herrschenden bunten Treiben eventuell auf das OLG Frankfurt gemacht hatte, überreichte Karls Anwalt in einer Anlage dem Gericht fünf Fotografien: „Bild 1 – Das Forsthaus einschließlich des ‚Asyls für ortsfremde Korbflechter‘ (Deren Tipis sich wohltuend in das umgebende Gelände einfügen); Bild 2 – Essensausgabe für die Besucher des Musikfestes; Bild 3 – Der Sohn der Zeugin Gisela Brückl in und mit Körben der ‚ortsfremden Korbflechter‘; Bild 4 – Das Forsthaus und – im Vordergrund – der Acker; Bild 5 – Teilansicht des Gemüsegartens (im Vordergrund Radieschen und Wirsingkohl sowie Mohrrüben- Reihen, hinten Kopfsalat und Endivien“. (Der Frankfurter Anwalt meinte herausbekommen zu haben, dass am 8. Zivilsenat des OLG Frankfurt zwei Vegetarier saßen!)

Diese fotografische Dreistigkeit konterten die fürstlichen Anwälte mit einem weiteren Schreiben, in dem sie noch einmal hervorhoben, wieviel Leute die Rock-Veranstaltung besucht hätten und wieviel davon jetzt immer noch auf dem Gelände kampieren würden – „dass durch diese Massenansammlung und Lärmeinwirkung die jagdlichen Belange des Klägers erheblich beeinträchtigt werden, wird vorsorglich hiermit unter Sachverständigenbeweis gestellt“.

Dessen ungeachtet wurde das Gießener Landgericht am 19. März 1980 vom OLG Frankfurt angewiesen, „dem Beklagten das Armenrecht nicht aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses zu versagen“.  Das Landgericht erklärte sich daraufhin für unzuständig, weil durch Beschluß des OLG der Fall zu einem „Mietprozeß“ geworden war und Mietprozesse erstinstanzlich an Amtsgerichten stattfinden: Zurück nach Büdingen. Dort hatte Richter Demel jetzt über den Fall zu befinden.

Derweil beschlossen zwei von den Korbflechtern zu heiraten und es wurde ein großes Fest organisiert. Die Unkosten dafür bezahlte der Hessische Rundfunk, Ulf von Mechow – ein Regisseur – drehte gerade einen Film: „Der Fürst und die Freaks“, und die Szene von der Hochzeitsfeier sollte freaklicherseits eine nachmittägliche Teezeremonie im fürstlichen Schloß zu Ortenberg kontrastieren. Die beiden in den Rechtsstreit verwickelten Parteien spielten also in dem Film mit.

Vor Beginn der Dreharbeiten hatte Karl dem Rentamt einen Brief geschrieben, in dem er vor allem den „miserablen Zustand“ des Wende- und Parkplatzes auf dem Hof erwähnte: „Wohl ist mir klar, dass es Ihnen eine klammheimliche Freude sein wird, wenn wir hier durch den Matsch stiefeln müssen“, trotzdem bitte er um neuen Schotter für diese Flächen. Wenn das Fernsehteam vom HR anrücke – Mitte April – „könnte wohl gerade der Schlamm und Matsch ein zusätzlich sehr negatives Bild auf Sie werfen.“ Rechtzeitig vor Drehbeginn ließ der Fürst Zufahrtsweg und Parkplatz neu einschottern.  Karls Frankfurter Anwalt beantragte beim Amtsgericht Büdingen erst einmal wieder die Bewilligung des Armenrechts. Die fürstlichen Anwälte beantragten dagegen, Karl das Armenrecht zu entziehen – Begründung: „Der Beklagte hat bei der Fa. Fischer in Siechenhausen einen Unimog zum Preis von 10.000 Mark gekauft und bar bezahlt“. Zwar erkannte das Büdinger Gericht Karl am 1. August das Armenrecht zu, aber sein Anwalt schrieb ihm am 27.8., er müsse unbedingt Stellung dazu beziehen, ob „wegen des Unimog-Kaufs die für das Armenrecht erforderliche ‚Kostenarmut‘ weggefallen ist“. Karl antwortete seinem Anwalt umgehend: 1. benötige er das Gefährt für ein zweites Filmprojekt und 2. Versuche er gerade eine neue Karriere als Puppenspieler, dazu wolle er mit zwei Wohnwagen und Unimog sich demnächst „on the road“ begeben. „Das Geld habe ich vom Verkauf eines Fachwerkhauses im Vogelsberg, wovon mit 1/4 ideell gehörte“. Dieser Brief wurde bereits von einem Weinbauerngut im Rheinhessischen abgeschickt, wo Karl, seine Freundin und die gemeinsamen drei Kinder sich bereits befanden – „Freitag fahren wir weiter in Richtung Süden!“

Im Oktober fällte Richter Demel sein Urteil: „1. Die Klage wird abgewiesen, 2. Der Kläger (der Fürst) hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen!“ In der Begründung hieß es, dass die Kläger die Schäden durch Rock- Veranstaltung und dort kampierende Korbflechter „nach Art und Umfang nicht hinreichend substantiiert vorgetragen“ hätten. Bei der Aufnahme von Frau Brückl in des Beklagten Haushalt handele es sich um seine Lebensgefährtin und also um keine „erlaubnispflichtige Untervermietung“.

In einem 2. Beschluß wurde allerdings die Beiordnung von Karls Anwalt als Armenanwalt abgelehnt. Die Anwälte des Fürsten hatten zuvor Bedenken gegen den Beschluß des OLG angemeldet: „1. Ist der Begriff ‚freischaffender Künstler‘ nicht näher definiert. 2. Ist die Beziehung seiner Kunstausübung zur gleichzeitigen Bewirtschaftung eines landwirtschaftlichen Betriebes unklar“. Außerdem habe der Beklagte sich einen Wohnwagen angeschafft mit dem er über Land zu ziehen beabsichtige“, den Hof will er der Nutzung und Verwaltung eines der dort untergebrachten Korbflechter überlassen, den er zu seinem ‚Stellvertreter‘ bestimmen will“. Und weiter hieß es: „Etwa Ende Februar 1980 sprach der zuständige Revierförster Baumann den Beklagten wegen der Räumung des Altenfelder Hofes an. Der Beklagte erklärte, Baumann möge mit dem Kläger sprechen, er – der Beklagte – sei bereit, gegen Zahlung von 10.000 Mark sofort auszuziehen. Anfang April fragte Baumann, der gelegentlich bei Wegebaumaßnahmen mit dem Beklagten zusammentraf, diesen wiederum, wann er auszuziehen gedenke. Der Beklagte erwiderte, Baumann sei schlecht informiert, das Gericht habe in zweiter Instanz seinem Armenrechtsgesuch stattgegeben, nun habe er – der Beklagte – viel Zeit und mit 10.000 Mark sei es nun auch nicht mehr getan. Er erklärte wörtlich: ‚Jetzt will ich Geld sehen! Einen ganzen Tisch voll Geld!‘ und weiter: ‚Ich habe ja nun ein Haus, das gehört so gut wie mir‘. Beweis: Revierförster Baumann: Diese Erklärungen des Beklagten lassen erkennen, dass es dem Beklagten darauf ankommt, unter dem Druck seines Räumungsschutzbegehrens eine möglichst hohe Abstandssumme, die materiell keineswegs berechtigt ist, zu erhalten. Außerdem verletzt seine Haltung (faktische Expropriation des Klägers!) dessen in Artikel 14 Grundgesetz garantiertes Eigentumsrecht“.

Nachdem das für den Fürsten nachteilige Urteil ergangen war, stellten seine Anwälte beim Amtsgericht Büdingen erneut einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung, mit der auch die Feuerstellen in den Wohnwagen und Tipis verboten werden sollten. Diesem Antrag wurde stattgegeben und Karls Anwalt legte auch keine Beschwerde dagegen ein.

Dann gingen die fürstlichen Anwälte gegen das Büdinger Urteil beim Landgericht Gießen in Berufung. Erst einmal schrieb aber der Verwalter des Rentamts – Scheuermann – dem Mieter Karl einen privaten Brief: „Die ganze Angelegenheit ärgert mich insofern am meisten, weil auf meine Vorsprache S.D. der Fürst Ihnen s.Z.t. den Hof auf Treu und Glauben vermietet hat und es jetzt sein Geld kostet, dass z.B. unser Revierleiter Baumann täglich vier mal die Strecke Ortenberg-Mittel- Seemen fahren muß und deshalb der forsttechnische Betrieb ordnungsgemäß nicht ausgeführt werden kann. Auch Herr Baumann muß darunter leiden. Vielleicht macht Ihnen das eine klammheimliche Freude. Herr Forstoberrat Diehl, den Sie jetzt auch kennen, meinte, Sie seien ein ehrlicher Partner. Es fällt mir schwer, dieser Meinung zu folgen. (…) Anscheinend haben sich die Zeiten geändert und das Wort ‚Vertragstreue‘ muß aus dem Duden entfernt werden. Ansonten sind meine Tage bei der Fürstlichen Verwaltung meines Alters wegen gezählt – vielleicht verstehen Sie gerade die letzten Worte. Das ist alles, was ich Ihnen antworten wollte. Dass aus dieser Antwort ein Briefwechsel entsteht, wünsche ich nicht.“

Für den nun in Gießen weitergehenden Prozeß reichten die fürstlichen Anwälte und Karls Frankfurter Anwalt bzw. dessen Korrespondenzanwälte ihre dünnen Schriftsätze beim dortigen Landgericht ein. Letztere schrieben: „Der Kläger verfolgt offensichtlich die Taktik, in systematischer Weise ‚Mosaiksteine‘ zu sammeln“. Zu den Wohnwagen und Tipis auf dem Altenfelder Hof erklärten sie: „Die Beklagten haben die Korbflechter eingeladen, mit ihnen einen Film sowie ein Buch zum Thema ‚Ästhetik der Subkultur‘ zu machen.“

Karl bedankte sich am 4.7.1980 bei dem Verwalter Scheuermann, dass dann dessen Intervention beim Gederner Bürgermeister der Altenfelder Hof endlich Anschluß an die Müllabfuhr bekommen habe, er vergaß aber nicht hinzuzufügen, dass noch etliche Reparaturen am Haus ausgeführten werden müßten … „In diesem Sinne und in der Hoffnung auf eine weitere fruchtbare Zusammenarbeit. Mit Vogelsberggrüßen“.

Der Frankfurter Anwalt erinnerte Karl am 1.8. daran, dass sie „vor langer Zeit mal ausgemacht“ hätten, dass er bei der Volksfürsorge eine Rechtsschutzversicherung abschließen sollte.

Das Rentamt schrieb ihm am 3.9.: „Am Montag wird durch unseren Gebäudemeister Alfred Wollny, geb. 4.12.1928, eine Besichtigung des o. Anwesens durchgeführt. Wir melden dies vorsorglich an.“

Am 16.2.81 reichten die fürstlichen Anwälte ihre Begründung für die Berufungsverhandlung ein, indem sie sich darüber beklagten, dass der Beklagte bauliche Veränderungen auf dem Anwesen vorgenommen hätte:

A) Einen Ziegenstall, für den weder die Genehmigung des Klägers noch eine Baugenehmigung eingeholt worden sei und bei dem „sich der Beklagte außerdem nicht darum scherte“, dass das Kreisbauamt des Wetteraukreises bereits eine Abbruchverfügung angeordnet hätte. (Tatsächlich war das Verfahren wegen des Stalls aber noch anhängig – Karl hatte die Hütte zum „Kunstwerk“ erklärt, war beim Verwaltungsgericht damit abgewiesen worden, hatte Widerspruch dagegen eingelegt, dies Schreiben war verloren gegangen, erst musste der Widerspruchstermin verlängert werden, dann wurde noch einmal Widerspruch eingelegt, sodann war es zu einer Verhandlung gekommen, hierbei war ein Termin verstrichen, schließlich hatte das Umweltschutzamt die Hütte beanstandet und dabei war wieder die selbe Schriftwechsel-Prozedur notwendig geworden. Zwei Jahre später wurde die Hütte schließlich den Nachbarn geschenkt, die sie in ihrem Garten aufbauten.)

B) Hätte Karl einfach ein Ofenrohr durch die Decke zum Schornstein geführt und

C) entsprächen seine nachträglich verlegten elektrischen Leitungen nicht den DIN-Vorschriften.

Zu Karls Freundin Gisela führten die fürstlichen Anwälte aus, dass sie im vergangenen Jahr beim Sozialamt Büdingen einen Antrag auf Mietzuschuß gestellt und dabei eine vom Beklagten unterschriebene Mietquittung vorgelegt hätte. Beweis: „Schriftliche Auskunft des Sozialamts Büdingen. Es kann danach keine Rede davon sein, dass Frau Brückl die ‚Lebensgefährtin‘ im Sinne des angefochtenen Urteils ist. Wie sich aus der Mietbescheinigung ergibt, ist sie Unterpächterin. Ansonsten läge möglicherweise ein Betrug zum Nachteil des Sozialamts vor, was von der Staatsanwaltschaft überprüft werden müßte.“ Zum Schluß wurden dann noch etliche bauliche Mängel aufgelistet.

Karl legte daraufhin am 25.2.81 seinem Anwalt in einem Brief dar, dass und wie fast alle die vom Kläger erwähnten Mängel Folge der von ihm versäumten Reparaturen seien. Sein Frankfurter Anwalt hatte aber langsam die Nase voll von diesem Prozeß und gab den Fall an seine Korrespondenzanwälte in Linden-Leihgestern ab. Diese versuchten dann in ihrem Schreiben an das Landgericht Gießen alle vom Kläger aufgestellten Behauptungen Punkt für Punkt zu widerlegen. U.a. präsentierten sie dem Gericht auch eine schriftliche Genehmigung des Klägers zum Bau eines Ziegenstalls.

Ende März verkündete das Landgericht Gießen sein Urteil: „Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.“  Noch im Siegestaumel schrieb Karl dem Fürsten einen langen Brief, indem er a) dem Verwalter Scheuermann die Schuld an „dem schlechten Stil“ der bisherigen Auseinandersetzung gab und b) einen Termin vorschlug, an dem „man über die Zukunft des Hofes“ sprechen solle, um fürderhin den Weg über die Gerichte zu vermeiden.

In einem weiteren Brief – an das Rentamt – forderte er 1. einen neuen Gartenzaun, 2. eine neue Kellertreppe, 3. neue Fenster, 4. einen neuen Außenanstrich und 5. die Genehmigung zu einigen „zeitgemäßen baulichen Veränderungen“. Wenig später schrieb er auch seinen Rechtsanwälten; denen gegenüber sprach er die Befürchtung aus, dass man die Renovierungen eventuell auf dem Rechtswege einklagen werden müsse.

Das Rentamt schrieb ihm am 16.4.81 zurück, dass er mehrfach die Waldwege benutzt hätte mit seinem Pkw – „dadurch wurde der Grundbesitz durch verbotene Eigenmacht verschiedentlich gestört“. Karl antwortete, dass er verbrieftes Wegerecht besäße, außerdem hätte er nun wegen der Reparaturen einen Kostenvoranschlag eingeholt und würde die durch die Mängelbeseitigung entstehenden Unkosten mit der laufenden Miete verrechnen. Das Rentamt kündigte daraufhin eine erneute Besichtigung „durch unseren Gebäudemeister Alfred Wollny, geb. 4.12.1928“ an.

Nach Wollnys Inspektion schrieb Karl noch einmal dem Rentamt einen Brief, in dem er wütend erklärte: „Es geht Sie einen Dreck an, wieviel Leute sich hier aufhalten!“ Außerdem erweiterte er die Mängelliste auf 13 Punkte und erwähnte ferner eine noch offenstehende Summe von 2200 Mark.

Das Rentamt konterte seinerseits mit einer Mängelliste, die Karl am 7.5.81 wiederum Punkt für Punkt zu widerlegen suchte. „Abschließend möchte ich nochmals betonen, dass mir im Prinzip an dieser ‚Kriegsführung‘ wenig bis nichts liegt. Aber Sie scheinen von ihren vertraglichen Pflichten nicht viel zu halten – doch es sind nun einmal die Zeiten vorbei, wo dem Adel die uneingeschränkten Rechte in die Wiege gelegt wurden.“

An das Einwohnermeldeamt Gedern schrieb Karl, er verlange, dass seine dem Datenschutz unterliegenden Angaben nicht wieder an das Rentamt weitergegeben werden. Einige Tage später kamen vier Büdinger Polizisten auf den Hof und nahmen von den anwesenden Bewohnern und Gästen die Personalien auf. Dann folge eine Hausdurchsuchung, weil man seinen Hund der „Jagdwilderei“ verdächtigte. Ein Jahr später stellte ein Büdinger Richter dieses Verfahren ein. Karl ließ einen Bauingenieur kommen, der ein Gutachten über den Umfang und die Ursachen verschiedener baulicher Mängel erstellte – für 862 Mark 60.

In einem Brief an seine Gießener Anwälte klagte Karl darüber, „dass die Bullen in den letzten drei Monaten schon fünf mal hier waren, jedesmal wegen irgendeiner Geschichte, die die Fürstenbande uns angehängt hat!“

Am 6. Juni 1981 schrieb er seinen Anwälten erneut: „Heute morgen trudelte eine neue fristlose Kündigung zum Monatsende von unserem Freund ein. Ich hatte eigentlich nicht geglaubt, dass die Bande tatsächlich so doof ist und ihr ganzes Pulver restlos verschießt, außerdem habe ich mittlerweile Rechtsschutz. Ich lege einen Schrieb vom Elektriker bei, dass alle Leitungen den EDV-Vorschriften entsprechen.“

Dem Rentamt teilte Karl mit, dass jetzt alle beanstandeten Mängel beseitigt wären – Herr Wollny hätte überdies alles kontrolliert. Am 17.8. ließ der Fürst durch eine Firma die Fassade des Forsthauses renovieren, die Farbmischung hatte die Fürstin ausgesucht – für alle ihre Forsthäuser gleich. Auch darüber kam es wieder zu einem Streit. Karl fand, es sähe aus wie „Das Forsthaus im Silberwald“; und weil in Frankfurt gerade einige Hausbesetzungen liefen, drohte er den Malern eine Gerüstbesetzung für das Wochenende an, um „die Profilleisten am Dachgesims mit Gold abzusetzen“.

Die Maler informierten sofort den Fürsten, der setzte seine Anwälte in Marsch und schon am nächsten Tag verbot eine einstweilige Verfügung des Amtsgerichts Büdingen Karl, dass er dem Gerüst auch nur in die Nähe kam.

Karls Anwälte hatten unterdes beim selben Gericht Klage gegen die Kündigung und wegen der Erlaubnis zur Untervermietung eingereicht.

Die fürstlichen Anwälte reagierten darauf mit einem Klageabweisungsantrag, in dem sie bestritten, dass der Kläger nur 400 Mark monatlich verdiene, weil er z.B. eine wertvolle Zuchtstute besitze (sie gehörte einem Freund!), außerdem bestritten sie mit Nichtwissen, dass der Kläger „derzeit eine Lebensgefährtin hat, dass der Kläger und seine Lebensgefährtin einen Beruf ausüben und dass sie aus beruflichen Gründen öfters von dem Forsthaus abwesend sind“. (Die Untermietsforderung war von Karl damit begründet worden, dass er und Gisela öfters weg wären und jemand in der Zeit Haus und Hof versorgen müsse!)

Zu der wertvollen Zuchtstute erklärten Karls Anwälte, dass sie ihrem Mandanten nur zu einem Drittel gehöre und dass sie ihm ebenfalls zum Unterhalt dienen würde, insofern er des öfteren Aufführungen, teilweise mit Kindern, mit ihr vornehme.“ (Eine abenteuerliche Konstruktion!)

Am 18. Oktober 1981 erschien zur Abwechslung mal wieder die Büdinger Polizei auf dem Hof, um die Personalien des Anwesenden aufzunehmen. Sie hatten einen Brief vom Rentamt an den Landrat sowie einen Brief vom Landrat an die Polizei dabei, in denen sie aufgefordert wurden, den Hof zu kontrollieren.

Im November lehnte das Büdinger Gericht erst einmal den Antrag auf Prozeßkostenhilfe ab (man sprach nicht mehr von Armenrecht mittlerweile!): Das Gericht sah sich außerstande, „die Frage der Armut des Klägers zu prüfen.“ Am 2.12. folgte das Urteil: „Die Klage wird abgewiesen. Die Widerklage wird abgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger zu 4/13 und dem Beklagten zu 9/13 auferlegt“. Zwei Wochen später legten die Anwälte des Fürsten beim Landgericht Gießen Berufung gegen dieses Urteil ein.

Mitte März 1982 verkündete die Berufungsinstanz Gießen ihr Urteil: Karl wurden die 5000 Mark zur Trockenlegung des durch den Wasserrohrbruch naßgewordenen Kellers nicht zugesprochen, ebensowenig das Untervermietungsrecht, dafür war aber auch die Kündigung der Gegenseite nicht rechtes und Karls eigenmächtige Reparatur des Gartenzauns, die er von der Miete abgezogen hatte, wurde ihm nachträglich gebilligt.

Die Ablehnung der Prozeßkostenbeihilfe hatte Karls Kampfgeist etwas gedämpft. Zudem hatte er angefangen, sich in Gedern um die Anmietung einer Schule zu kümmern, in der er Kurse im Hobbymalen veranstalten wollte – „Der Trend geht zum Aktivurlaub“ hatte er dazu dem Gederner Bürgermeister schriftlich mitgeteilt. Seine Landwirtschaft hatte er mittlerweile abgeschafft, die Korbflechter waren mitsamt ihren Tipis und Wohnwagen weitergezogen, seine eigenen zwei Wohnwagen hatte er verkauft und den Unimog hatte eine Nachbar- Landkommune zu Schrott gefahren, die wertvolle Zuchtstute graste ebenfalls nicht mehr auf dem Altenfelder Hof, ihren Stall baute Karl zu einem Atelier um. Überhaupt wurden nach und nach alle Räume des Forsthauses neu und modern renoviert – statt Naturholz Resopal und Metall und statt Kerzenbeleuchtung Neon. Angefangen hatte dies ausufernde Styling-Bedürfnis, dem auch Karls Kleidung und Haarschnitt zum Opfer fielen, ganz harmlos:

Noch vor dem Urteil des Gießener Gerichts, das schlußendlich weder vom Kläger noch vom Beklagten angefochten wurde, hatte Karl damit begonnen, der immer wieder in den gegnerischen Schriften auftauchenden Behauptung, die Räume seien „verwahrlost“, entgegenzutreten, indem er tagelang alle Zimmer neu tapezierte, strich, den Küchenherd und den Wasserkessel blankscheuerte, dann beim Gärtner Kurt für 500 Mark Schnittblumen bestellte, die er in den Räumen verteilte und zum Schluß den Fotografen Reinhard herbestellte, der mit einem Weitwinkelobjektiv diese saubere Pracht, die „Schöner Wohnen“ alle Ehre gemacht hätte, ablichtete. Fotografien waren zwar bei Gericht als Beweis nicht zugelassen, aber Karls Anwälte legten sie trotzdem ihren Schriftsätzen bei, zur gefälligen Kenntnisnahme.

Der Fotograf hatte Karl die Aufnahmen umsonst angefertigt. Ein paar Monate später arbeiteten die beiden zusammen mit einer Frau an einem gemeinsamen Kunstobjekt, das für eine Ausstellung in Kassel vorgesehen war. Der Fotograf kümmerte sich zusätzlich noch um den Ausstellungskatalog. Als der fertig vorlag mußten Karl und die Frau entsetzt feststellen, dass nur des Fotografen Name darin vorkam.

Die beiden Geprellten beauftragten sofort einen Hanauer Anwalt mit einer einstweiligen Verfügung gegen den Fotografen. Der reagierte mit einer saftigen Rechnung für die Fotografien von den Räumen des Forsthauses. Schließlich einigten sich die drei außergerichtlich, jedoch ohne ihr gemeinsames Kunstobjekt wieder aufzunehmen bzw. auszustellen. Unterdessen hatte das fürstliche Rentamt seinen Revierförster Baumann entlassen, weil der verheiratet war, aber mit einer jugoslawischen Freundin zusammenlebte.

Und Ende des Jahres steuerte die Fürstin ihren Mercedes bei Glatteis gegen einen Baum, wobei ihr Mann – der Fürst – wenig später seinen Verletzungen erlag. Erbe seiner Besitztümer wurde ein weitläufiger Verwandter in Gedern – ein 16jähriger Prinz. Der ließ – nach einer angemessenen Trauerzeit – den Mieter des Altenfelder Hofes – Karl – vorsorglich durch den Leiter des Rentamts Scheuermann darüber informieren, dass er am 15. Februar seinen neuerworbenen Besitz – also auch das Forsthaus – in Augenschein zu nehmen gedenke.

Karl Möller hatte sich mittlerweile wieder am Frankfurter Städel immatrikuliert und arbeitete mit zwei anderen Städel-Künstlern gerade an einer gemeinsamen Ausstellung. Seine Freundin – Gisela Brückl – hatte auch wieder eine Arbeitsstelle in Frankfurt angenommen – als Werbetexterin. Die beiden wohnten die Woche über meistens in ihrer neuen Stadtwohnung, nur am Wochenende auf dem Altenfelder Hof. Karl unterschrieb seine Briefe aber nach wie vor „Mit Vogelsberggrüßen“. Ein hartnäckiger Menschenschlag – diese Oberhessen, wie gesagt.

Im Sommer 2002 stellte er die Photos dann noch einmal einer Ausstellung mit Veranstaltungen über die Hochzeit der alternativen Scene im Vogelsberg zur Verfügung, von wo aus einige dann ins Internet gelangten.

Ja, fahr ruhig noch näher hier ran, das buchen wir dann unter Manöverschaden ab.

2.

Eines Tages bat man uns um eine Expertise über das im Vogelsberg angebaute Marihuana. Ein Landwirtschaftskollektiv bei Grünberg – bestehend aus ehemaligen Lehrern und Psychologen – beabsichtigte, derartige Pflanzen auf einem Versuchsfeld anzubauen. Abnehmer dafür hatten sie bereits in der Stadt aufgetrieben.  Bei unserer Expertise hatten wir uns zwar ausschließlich auf Material aus dem Süd-Vogelsberg gestützt, die daraus resultierenden Erkenntnisse ließen sich aber durchaus auch auf den Nord-Vogelsberg anwenden. Hier das Ergebnis.

„… So weit Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur. Ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig.“  (Friedrich Nietzshe, „Ecce Homo“, 1884)

Seit zwei Jahrzehnten wird im Vogelsberg – auf kleineren Gartenstücken zumeist – „Cannabis“ angebaut, das man auch als „Gras“, genauer noch: als „Nebelgras“ bezeichnet. Äußerlich unterscheidet es sich kaum von dem früher hier – als Zwischenfrucht – recht häufig angebauten „Hanf“, den man zur Herstellung von Seilen verwendete.[1] Der heutzutage in dieser Gegend angebaute „Hanf“, der geraucht wird, dient jedoch mehr zum „Abseilen“ – von täglichem Streß, Alkoholwitz und Gedankenarmut nämlich. Seit Januar 1983 ist der Anbau von „Cannabis“ strafbar in der Bundesrepublik. Im Vogelsberg verbietet sich der Freiluft-Anbau schon aus klimatischen Gründen, weil das „Gras“ mangels ausreichender Sonnenbestrahlung hier nicht zur vollen Reife gelangen kann und damit einen zu geringen THC-Wirkstoffgehalt entwickelt – insbesondere die weiblichen Pflanzen. Dies gilt selbst noch für den „Cannabis“-Anbau, den man mit importieren Samen – aus dem Kongo, aus Jamaica oder Kolumbien beispielsweise – begonnen hat. Aus Mangel an ausländischem Saatgut verwenden die hiesigen Hanfanbauer meistens selbstgezogenen Samen; die Folge: Bereits bei Pflanzen in der dritten Generation ist der THC-Wirkstoffgehalt auf nahezu „null“ gesunken und damit keine „Rausch“-Wirkung mehr spürbar. Derlei Erkenntnisse über das „Vogelsberg-Nebelgras“ sind den meistens Rauchern bekannt, es beeindruckt sie aber wenig, da die psychologische Einbildungskraft die fehlende physiologische Wirkung nahezu vollständig zu ersetzen vermag. Nun ist aber beim „Vogelsberger Nebelgras“ wiederholt festgestellt worden, dass bei abnehmendem THC-Gehalt vermehrt schädliche Nebenwirkungen auftreten. Im Folgenden soll das Erscheinungsbild dieser Nebenwirkungen an einem Beispiel näher betrachtet werden.  Dazu soll uns hier der „Palmenhof“ in Udenhain dienen – einer der üblichen Vogelsberger Fachwerk-Bauernhöfe, der einige Jahre lang leerstand und dann von zwei Frankfurter Sozialarbeitern – Paula und Werner – gekauft wurde, für 77.000 Mark.

Nach dem Kauf kündigte Werner seine Arbeitsstelle in der Stadt und begann, zusammen mit seinen beiden Freunden – Jörn und Willi , der eine ebenfalls Sozialarbeiter, der andere bildender Künstler – das Haus zu renovieren und zu modernisieren. Währenddessen arbeiteten die Freundinnen der drei weiterhin in Frankfurt und verdienten das Geld, bzw. die eine ging dort noch zur Schule. Sie tauchten immer nur an den Wochenenden in Udenhain auf. Nach einem Jahr zogen die drei Frauen dann auch auf den Hof. Jörn wollte sich als Wanderschäfer eine neue Existenz aufbauen und begann zuerst mit dem Bau eines Schafstalls – fachbuchgerecht und 17.000 Mark teuer. Werner entdeckte über den an seiner Staffelei sitzenden Willi seine eigene Liebe zur Kunst, schrieb sich an der Kunstakademie in Kassel ein und kaufte einen Wohnwagen, den er sich – zum Atelier umgebaut – in den Garten stellte. Oft saßen alle sechs abends in der Küche, redeten von zukünftigen Projekten und rauchten dabei Vogelsberger Nebelgras – anfangs versorgten die umliegenden Nachbar- Wohngemeinschaften sie noch damit, später bauten sie das Zeugs selber im Garten an. Gaby, die ihren Freund Jörn noch als Heimmädchen kennengelernt hatte, bekam jetzt auf dem Palmenhof immer öfter Streit mit ihm. Dann verliebte sich Jörn auch noch in eine Frau aus dem Dorf, die in Frankfurt Archäologie und Ethnologie studierte. Wenig später zog Gaby für einige Wochen in eine Nachbarwohngemeinschaft, ihre Mitbewohner auf dem Palmenhof hatten sie beschuldigt, zehn Mark aus der gemeinsamen Haushaltskasse gestohlen zu haben.

Dann passierte es, dass Paula nach einem länger schwelenden Streit mit Jörn in dessen Zimmer stürzte und auf ihn einschlug. Daraufhin zog Jörn auch eine Weile zu den Nachbarn. Ihnen erzählte er, auf dem Palmenhof würden seine ganzen Sachen verschwinden, die Bohrmaschine sei schon weg, ebenso Gewindeschneider und Schraubenzieher. Jetzt war auf dem Palmenhof schon von zwei „Parteien“ die Rede und mal gab es dort Streit um irgendwelche Wagenräder, mal um unbezahlte Rechnungen, wer wieviel davon zu bezahlen hatte. Der Streit der Parteien weitete sich aus. Nachdem jemand der anderen Partei eine tote Ratte ins Küchenregal zwischen die Lebensmittel gelegt hatte, aß jeder nur noch für sich allein auf seinem Zimmer. Man stritt sich um Geschirr, Kinderwagen, Regale, Lampen, Lumpen und ähnliches. Schließlich lagerte Jörn sein ganzes Hab und Gut bei der Nachbarwohngemeinschaft ein.

Zum Schlichten des Streites wurde ein Freund aus Frankfurt – Lothar – eingeladen. Er hatte schon seit längerem mit Stadtflucht-Gedanken gespielt, und nach kurzer Zeit zog er auf dem Palmenhof ein. Er hatte bis dahin als Journalist für die Frankfurter Rundschau gearbeitet. Eines Abends besuchten er und Paula die Nachbarn: Also, wir haben gehört, Jörn hat seine Sachen bei euch untergestellt … Natürlich wußte jeder darüber Bescheid, der Dorfneugier entgeht so etwas nicht. Vorher schon war Werner spätabends beobachtet worden, wie er die Scheune, wo man die Sachen abgestellt hatte, ausspioniert hatte. Paula und Lothar verlangten von den Nachbarn eine unterschriebene Liste aller vom Palmenhof bei ihnen deponierten Gegenstände. Die Wohngemeinschaft weigerte sich, irgendetwas zu unterschreiben, ebenso, irgendetwas wieder rauszurücken, außer an Jörn, der es als sein Eigentum bei ihnen untergestellt hatte.  In diesen Streit, der immer undurchschaubarer wurde, schaltete sich bald eine Reihe von Freunden aus der näheren und weitere Umgebung ein. Mitunter tagte auf dem Palmenhof ein regelrechter Arbeitskreis zur Konfliktlösung, wenn auch in verschiedenen Räumen. Wobei es sehr schnell gar nicht mehr um das weitere Zusammenleben der sieben ging, sondern nur noch um die Aufteilung ihres gemeinsamen Besitzes. Besonders Lucie, eine ehemalige Lehrerin, die mit einem Dichter zusammenlebte, der mit Hymnen auf das Land – in Prosa – sein Geld verdiente, engagierte sich dabei als neutrale Schlichterin zwischen den streitenden Parteien. Und sie schaffte auch fast eine Einigung; fast – bis auf 1500 Mark, die zahlte sie dann aus ihrer eigenen Tasche dazu, um des lieben Friedens willen. Dafür schrieb ihr Freund und Dichter einen Artikel für die Frankfurter Rundschau über den Palmenhof und die Probleme der dort Wohnenden; er bekam 500 Mark für den Artikel: „Zurück zum Beton“.[2]

Wenig später nahmen die gerade geschlichteten Parteien sich aber doch Rechtsanwälte, die dann – auf dünnem Schriftsatzpapier – noch einmal alles neu und anders auflisteten und gegeneinander aufrechneten: die Waschmaschine gegen die Geschirrspülmaschine, die Flex gegen die Handkreissäge, den Toaster gegen den Küchenquirl, ja, sogar das Klopapier gegen die Zahncreme. Seitenlang. Aber auch die Rechtsanwälte schafften es nicht, das Chaos zu ordnen. Als es dann zum Prozeß kam, weigerte sich der Richter, ein Urteil in dieser für ihn völlig obskuren Angelegenheit zu fällen, er verlangte kategorisch von den streitenden Parteien, sich hier und jetzt im Gerichtssaal zu einigen. Das geschah dann auch. Jörn beanspruchte ca. ein Drittel des Hofwertes – er hatte Geld und Arbeitskraft investiert. Die andere Partei – Paula, Werner und Lothar – behaupteten später zwar, übervorteilt worden zu sein, aber immerhin konnten sie die schon beantragte Zwangsversteigerung abwenden und im Haus wohnen bleiben. Die Schafwirtschaft wurde als alleinige Angelegenheit von Jörn dargestellt, und also musste er erst einmal alle Maschinen übernehmen – zu dem Preis, für den man sie angeschafft hatte plus der inzwischen angefallenen Reparaturkosten. (Beispielsweise hatten sie sich einen kleinen Traktor gekauft – für 2400 Mark, an dem waren für insgesamt 5000 Mark Reparaturen angefallen: Weil sie vergessen hatten, Frostschutzmittel aufzufüllen, war ihnen als erstes gleich nach der Anschaffung der Motor verreckt. Für die Übernahme des Traktors wurden Jörn also 7400 Mark berechnet.  Dann zogen Gaby und Jörn zusammen mit Michaela und Willi auf einen anderen Hof bei Ilbeshausen. Bei seinem Auszug aus dem Palmenhof hatte Jörn noch versucht, seine ganzen Freunde aus der Umgebung zu einer Art von Protestversammlung („Demo“) zu mobilisieren. Es kamen aber kaum welche. Auch die Nachbarwohngemeinschaft, die er zuvor schon vergeblich gebeten hatte, vor Gericht für ihn auszusagen, hielt sich zurück. Sie wollte es sich nicht völlig mit den anderen verderben. Überdies überlegten sie sich gerade, ob sie nicht ihren Hof landwirtschaftlich nutzen sollten.

Nächtelang saßen sie zusammen und diskutierten darüber, und immer öfter kamen Paul und Lothar zu ihnen rüber und setzten sich dazu. Man überlegte, ob man vielleicht sogar zusammen … Gemeinsam wollte man beispielsweise eine alte Dreschmaschine kaufen – so etwas sei besser als die neumodischen Mähdrescher, darüber war man sich einig, das Feld würde dabei sauberer werden und das Getreide gründlicher ausgedroschen. Das bestätigten ihnen auch alle umliegenden Bauern. Was sie verschwiegen, wonach sie aber auch nicht gefragt wurden, war, dass die Ernte damit statt drei Tage drei Wochen dauert – wenn man es gut kann. Werner hielt es nicht mehr länger aus, dass Paula mal mit ihm, mal mit Lothar ins Bett ging, und verlegte seinen Studienplatz von Kassel ins weiter entfernte Wien. Währenddessen hatten Lothar und Paula von ihren ziemlich wohlhabenden Eltern Geld aufgetrieben für die Anschaffung von landwirtschaftlichem Gerät. Statt mit den Nachbarn zusammen kauften sie sich dann aber alleine welche. Den Nachbarn boten sie an, zur Erntezeit mit ihren Getreidegarben einfach auf den Palmenhof zu kommen, damit man sie dort dresche, das sei einfacher als mit dem schweren Gerät zu ihnen rüberzufahren.  Lothar hatte überall in Nordhessen alte Mähbinder aufgetrieben; zwei, die mit Pferd, und einen, der mit Traktor zu bedienen war, kaufte er, wobei er einen davon gleich an die Nachbarwohngemeinschaft weiterverkaufte. Diese probierten ihn bei ihrer ersten Ernte auch aus – und fuhren damit zwei Morgen Getreide platt. Vorher hatten sie das Gerät noch umständlich repariert, es hatte ein Stück Plane gefehlt, das sie sich in Frankfurt besorgt und dann mit Nieten und Leisten hergerichtet hatten – für weitere 100 Mark. Insgesamt banden sie ca. 20 Garben Hafer damit, dann stellten sie den Mähbinder in einer dunklen Ecke ihrer Scheune ab – für immer. Wenig später vermittelte ihnen Lothar ein weiteres Gerät: eine kleine Dreschmaschine (er selbst hatte sich gerade eine große gekauft). Diese kleine, die sie mit ihrer VW-Pritsche nach Hause transportierten, wurde aber nie in Betrieb genommen, irgendjemand zerhackte sie dann im nächsten Winter zu Feuerholz.  Die alternative Landwirtschaft ist zwar umweltfreundlicher, aber auch arbeitsintensiver. Die vom Palmenhof suchten per Zeitungsannonce in der Berliner Tageszeitung weitere „Mitbewohner“.

Es meldete sich eine Berlinerin. Sie war zwar wunderschön, hockte aber die meiste Zeit auf ihrem Zimmer und dachte anscheinend nach. Ein paar Wochen später zog sie wieder aus. Man annoncierte neu. Es meldeten sich zwei weitere Leute aus Berlin: Lutz und Ev – er war mal Lehrer gewesen, sie Sozialpädagogin und verheiratet mit einem Arzt. Nachdem sie bei der für sie zuständigen Behörde in Gelnhausen Sozialhilfe beantragt hatten, erschien im Gelnhäuser Tageblatt ein Artikel über die beiden.[3]

Lutz und Ev hatten überhaupt keine Ahnung von Ackerbau und Viehzucht. Aber es lagen 15.000 Mark auf ihrem Konto, die sie in den Palmenhof investierten. Man pachtete Land von einer Landkommune – ein paar Dörfer weiter -, die gerade ihre Landwirtschaftsversuche wieder eingestellt hatte. Dann wurden VW-Bus-Ladungen mit jungen Gemüsepflanzen eingekauft – von Paulas Ex-Ehemann in Stuttgart, die zwar teurer waren als beim Großhändler nebenan, aber dafür „biologisch-dynamisch“. Auf einen Morgen pflanzte man Zucchinis, Kohl und Salat, auf zwei weitere Morgen 12.000 Mohrrüben und Zwiebeln. Die Landkommune, die ihnen den einen Morgen überlassen hatte, wurde von Lothar und Paula wiederholt ermahnt, sich nicht einfach vom Acker zu bedienen, man wolle vom Gemüseanbau leben und brauche jede Pflanze. Die Pflanzen gediehen alle prächtig. Da die Leute vom Palmenhof zu sehr mit Unkrauthacken, Begießen und Ernten beschäftigt waren, musste zwangsläufig der Absatz der reifen Früchte vernachlässigt werden. Es gab ein paar Dörfer weiter eine gerade im Entstehen begriffene alternative Absatzgenossenschaft, aber auch die bekamen das Problem des Verkaufs nie in den Griff. Wenigstens nahmen sie ab und an ein paar Kisten Gemüse vom Palmenhof mit auf den Wächtersbacher Wochenmarkt. Tausende von Salatköpfen schossen plötzlich aus und Tonnen von überreifen Zucchinis stapelten sich am Feldrand. Die Wohngemeinschaft, eben noch ermahnt, sich ja nicht selbst auf dem Feld zu bedienen, wurde nun angefleht, die Zucchinis doch bitte an ihre beiden Pferde zu verfüttern. Desgleichen ein Künstler in Herchenhain, der kurz zuvor auf Landwirtschaft umgestellt hatte und der auch sofort mit Traktor und Anhänger anrollte und sich die Zucchinis auflud, um sie an seine Schweine zu verfüttern. Nach einigen Tagen konnten selbst die keine Zucchinis mehr sehen. Etwas anders sah es auf dem Karotten- und Zwiebel- Feld aus – die Zwiebeln machten ihnen Kummer, sie wurden nicht größer als sie als Stecklinge gewesen waren, die 12.000 Karotten dagegen steckten im Boden wie Beton, von Quecken umschlungen und durchbohrt. Einzig die Sonnenblumen, die sie als Windschutz an den Rand der zwei Äcker gepflanzt hatten, ließen sich mit einigem Gewinn in Frankfurt verkaufen.

Von dem Geld von Ev und Lutz kaufte man sich für 10.000 Mark einen Traktor und für den Rest sieben preisgekrönte ostfriesische Milchschafe, die aber in dem Jahr nicht mehr gemolken wurden. Paula versuchte es einmal – sechs Monate nach der Geburt der Lämmer, aber die Tiere bekamen sofort alle Euterentzündungen davon und mußten kostspielig mit homöopathischen Mitteln wieder kuriert werden.  „Im zweiten Jahr hatte ich für sie eine Absatzmöglichkeit aufgetan, da wollte ein Magenkranker denen regelmäßig Schafsmilch abkaufen, für drei Mark den Liter, das war der Paula aber zu wenig; hab ich ihr gesagt, dass das immer noch besser sei als gar nichts, der Lothar konnte nämlich keinen Käse machen, bei dem landete die ganze Milch immer im Abfluß“, erzählte eine Nachbarin.  Der Traktor wurde auf Paulas Namen angemeldet, den Kraftfahrzeug-Brief vergaß Lothar merkwürdigerweise dann bei seiner Ex-Freundin in Frankfurt.  Ähnlich wie Jörn zuvor besuchte bald auch Lutz immer öfter die Nachbarn. Ev war hochschwanger und lag meistens in ihrem Zimmer im Bett. Beide wollten nur noch die Geburt ihres Kindes abwarten und dann sofort ausziehen. Die Nachbarn rieten Lutz, sich unverzüglich in Lothars Zimmer auf die Suche nach dem Kfz-Brief zu begeben, das verstand er aber nicht ganz. Jetzt fingen Paula und Lothar erneut mit ihrer verbissenen Aufrechnerei an, die dann später wieder in die dünnen Schriftsätze von Rechtsanwälten ausartete. Weder wollten sie die Milchschafe und den Traktor rausrücken, noch den Gegenwert in Geld dafür. Sie stellten Lutz und Ev etliche Monate Miete in Rechnung sowie 300 Mark „Unkosten-Pauschale Landwirtschaft“ im Monat. An einem Tag schien eine Einigung in Sicht: Mittags sollten Lutz und Ev 5000 Mark zurückbekommen und dafür unterschreiben, dass sie keine weiteren Forderungen mehr hätten, abends war dann aber nur noch von 3000 Mark die Rede. Sie wollten Lutz plötzlich die Mitarbeit am Bau des Fundaments eines Unterstell- und Holzschuppens nicht mehr vergüten. Diesen Schuppen hatten sie mitten auf den Hofplatz gebaut, er verschandelte alles und verunmöglichte überdies das Rangieren mit größerem Gerät auf dem Hof.

Christian hatte einen Güterwaggon Kalk bestellt, das war zwar viel zu viel für ihre paar Hektar Land, aber es war natürlich billiger, als den Kalk zentnerweise einzukaufen. Der Dünger musste vom Güterbahnhof in Lauterbach abgeholt werden. Dazu lieh Lothar sich einen riesigen Anhänger vom Speckenmüller in Salz. Und dann ging es darum, diesen mit 20 Tonnen Kalk völlig überladenen Anhänger rückwärts in den mit dem Schuppen verbauten Hof zu rangieren. Stundenlang versuchte Lothar es, dann nacheinander alle Nachbarn, andere standen drumherum und dirigierten. Schließlich standen Paula und Lothar allein auf der Straße und beschimpften sich. Der Holzzaun war kaputt, beim Hoftor war eine Ecke abgebrochen. Es ging trotzdem nicht.

Nachdem sie dann später einen Teil des Kalks auf ihre diversen Äcker und Wiesen gebracht hatten, gab es wieder Ärger. Und zwar mit dem Acker, der der Landkommune ein paar Dörfer weiter gehörte. Die hatten ihnen gesagt, sie wollten das Land wieder selber bestellen, das hatte Lothar aber überhört; da er den Acker nun mal gekalkt hatte, wollte er ihn auch ein paar Jahre behalten. Im Herbst rückte er an – pflügte und grubberte und war gerade dabei, Ackerbohnen einzusäen, als es zum Streit kam – am Feldrand. Lothar tobte und drohte: „Das zahl ich dir zurück!“ Und zum „Rechtsanwalt“ und zum „Fürsten“ wollte er gehen. Ein paar Tage später fand bei den Nachbarn in Udenhain ein Fest statt, zu dem Lothar, den sie ausdrücklich nicht eingeladen hatten, auch erschien. Petra sagte ihm, sie wolle ihn im Haus nicht sehen, er solle wieder verschwinden. Er ging aber nicht, blieb einfach sitzen und unterhielt sich angeregt weiter. Petra war insbesondere wegen des Eiergeldes wütend auf ihn. Die vom Palmenhof hatten regelmäßig Eier bei ihr geholt. Dann waren sie eines Tages angekommen und hatten zu ihr gemeint, sie hätte für 65 Mark auf dem Palmenhof telefoniert, die müsse sie jetzt endlich mal bezahlen. Petra hatte entgegnet: sie hätten für 67 Mark Eier und Milch von ihr bekommen, das könne man verrechnen, also bekäme sie noch zwei Mark vom Palmenhof. Damit war Paula aber nicht einverstanden, sie wollte das Telefongeld sofort und in bar; mit den Eiern und der Milch, das ginge sie nichts an; sie hätte allen in ihrem Haus und auch ihren Gästen untersagt, drüben Eier und Milch zu kaufen, deswegen wolle sie jetzt auch nicht die Rechnung dafür bezahlen. Eine Weile lang war Lothar morgens immer zu Petra rübergegangen und hatte sich einfach die Eier aus ihrem Hühnerstall rausgenommen. Sie hatte das aber jedesmal mitbekommen, war aus dem Bett gesprungen und hatte die Eier nachgezählt, die er in der Hand trug. Zwar hatte sie Lothar zu Anfang gebeten, die Anzahl der Eier doch immer selber aufzuschreiben, aber das war nie geschehen. Paula und Lothar hatten ihr statt dessen geraten, sie solle doch mal versuchen, großherziger zu sein:  „Das vergeß ich nie. Unser Auto kaputt, die beiden Kinder krank und mußten zum Arzt. Und Lothar musste uns natürlich dafür seinen Wagen leihen. Tat er auch. Und wir auch brav getankt. Alles klar. Sogar voller getankt als er war und auch noch einen Reifen gekauft für ihn. Abends wollten Paula und Lothar nach Frankfurt und ich mit ihnen mitfahren. Die haben mich abgeholt und wir sind los. Nach zehn Kilometern meinen die beiden: Hast du noch Geld dabei, wir müssen noch tanken. Ich sage: Ich habe doch heute morgen erst für 40 Mark getankt, damit kommen wir doch locker nach Frankfurt und wieder zurück. Die sofort: Nein, wir brauchen Geld, wir müssen tanken, wir fahren noch mal zurück, du mußt dir das Geld holen. Okay. Ich steige aus, finde nach langem Suchen im Haus auch fünf Mark und wir fahren erneut los. Für diese 4,95 Mark genau haben sie dann auf der Rückfahrt auch wirklich getankt. Dabei haben sie dann an der Tankstelle zu mir gesagt: ‚Du darfst das nicht alles so eng sehen, sei doch mal ein bißchen großherziger!‘  Dazu muß man noch wissen, dass die sich immer unsere Pritsche ausgeliehen haben, die mußten doch permanent irgendetwas transportieren. Einmal hatten wir auf unserer zehn Kilometer entfernten Wiese Heu zu liegen. Lothar kommt an und leiht sich – wie immer ‚mal eben kurz‘ – die Pritsche. Wir sitzen zu Hause und warten, dass er zurückkommt damit. Sind im Druck, weil das Heu wenigstens noch auf Reihen gemacht werden muß. Irgendwann geht mal jemand zum Palmenhof rüber um zu fragen, wo der Lothar mit der Pritsche bloß abbleibt. Und da steht der Wagen auf dem Hof bei denen. Lothar! Was ist denn los? Ja, das Auto ist kaputt, kann man nicht mehr mit fahren. Was? Hättest du nicht wenigstens bei uns Bescheid sagen können? Wir warten seit Stunden auf dich. Ja, wieso, die Pritsche ist doch eh kaputt, kannst doch eh nicht mehr mit fahren. Wir haben das Auto dann rübergeschoben und nachgeschaut. War eine Schraube am Vergaser los, die haben wir festgedreht und sind dann zur Wiese gefahren, war schon fast dunkel.“

„Zu dem ‚großherzig‘ fällt mir noch die Geschichte mit dem Stroh ein: Die Winters hatten dem Palmenhof und uns das Stroh auf einem ihrer Äcker gegeben. Als es soweit war, riefen sie beim Palmenhof an und die fuhren sofort mit der Ballenpresse los, ohne uns einen Ton zu sagen. Als wir dann ankamen, hatten sie sich schon 200 Ballen geschnappt, wir bekamen gerade noch 40 ab. Im Spätherbst wollten die Winters dann 100 Mark für das ganze Stroh haben. Lothar zahlte ihnen 50 Mark und sagte, die andere Hälfte würden sie von uns bekommen. Als ich ihn deswegen zur Rede stellte, meinte er, ich solle doch nicht so kleinlich sein.“

Nachdem Lothar sich seinen Herzenswunsch, einen Traktor für 10.000 Mark – 60 PS mit Allrad-Antrieb und Frontlader – erfüllt hatte, kaufte Paula sich für 10.000 Mark einen 18 Zentner schweren Schwarzwälder Ackergaul. (Sie hatten gerade von der Bochumer Anthroposophen-Bank einen 30.000 Mark-Kredit ausgezahlt bekommen.) Zunächst musste Paula mehrmals nach Ulm zum Züchter fahren, um sich mit dem ausgebildeten Pferd – eine tragende Stute – vertraut zu machen. Dann wurde es mit einem Pkw-Anhänger abgeholt. Vorher hatte Lothar wochenlang an einem Pferdestall gebaut. Vielleicht wäre das Pferd arbeitswillig gewesen, nur leider ließ es sich keine Eisen vom Schmied ansetzen. Dr. Laube wurde geholt. Er gab dem Pferd vier Beruhigungsspritzen. Dann war es so betäubt, dass es nicht mehr alleine stehen konnte. Der Tierarzt weigerte sich, ihm noch eine Spritze zu geben, die wäre eventuell tödlich gewesen. Wenn mal wieder der Schmied aus Frankfurt angesagt war, sah man den Tierarzt schon morgens schweißgebadet aus dem Pferdestall wanken und Bier trinken. Was sehr ungewöhnlich ist. Aber er schaffte es trotzdem nicht. Bis heute hat die Stute noch keine Eisen unter den Hufen. Mittlerweile ist ihr Fohlen schon fast ausgewachsen.

„Wir kaufen uns einen nagelneuen – noch originalverpackten – Kompressor. Packen den hier im Haus aus. Gucken uns den eine Woche lang verliebt an. Der Lothar kommt vorbei, sieht das Ding und meint, er brauche es mal kurz. Wir geben ihm den Kompressor auch. Und er spritzt sofort die ganzen Fassaden der Hofgebäude damit. – Siebenmal! Der Kompressor hatte danach den selben Farbton wie der Hof : Blutundbodenrot – und mindestens 300 Betriebsstunden drauf. Na gut. Wir haben nichts gesagt. Aber du hättest mal hören sollen, was passierte, wenn man sich was von denen geliehen hat. Ich leih mir deren Grubber, häng ihn an den Traktor und fahr los. An unserem Haus stoß ich mit der Krümelwalze an das Hoftor. Das Ding verzogen. Ich habe das aber gar nicht richtig mitbekommen, hab dann auf dem Acker gegrubbert. Der Krümler drehte sich auch noch, und dann habe ich den Grubber wieder auf den Palmenhof zurückgebracht. Dabei festgestellt, dass er leicht verzogen war, hinten. Na gut, habe ich ihn zum Schmied gebracht und richten lassen – 20 Mark. War alles wieder okay. Am nächsten Tag brauchte Uwe den Grubber auch, und wir haben uns das Ding noch mal geliehen. Kam die Paula mit raus und meinte: ‚In Ordnung, du kannst das Ding haben, du fährst ja auch nicht so wild wie der Bernd‘. Uwe heizt los mit dem Grubber durchs Dorf und haut mit der Krümelwalze beim Herbert ans Brückengeländer. Rumms. Wieder alles verzogen. Oh, war ihm das peinlich. Zuerst wollte er zum Schmied fahren und sich beschweren, ist ja immer noch verzogen, das Ding. Dann ist er aber doch aufs Feld gefahren, musste ja gegrubbert werden. Dann zurück zum Palmenhof mit dem Ding, den Lothar rausgeholt, der sofort: ‚Fahr bloß schnell zum Schmied damit, bevor die Paula das sieht‘. Er hat den Grubber auch gleich zum Schmied gefahren. Der hat nur noch geschmunzelt, weil der hat den nach jedem Gebrauch reparieren müssen. Uwe hat ihn dann auch gleich bezahlt und zurückgebracht. Ein paar Tage später kommt Lothar rüber und meint, der Grubber ist jetzt abgenutzt, die Holzlager halten nicht mehr so lange, 80 Mark wolle er für die Abnutzung von uns haben. Haben wir gesagt: ‚Ja, ja, ist okay‘. Als wir aber dann mal wieder beim Schmied waren, haben wir nachgefragt: Holzlager, hat er gesagt, das ist so eine Holzscheibe mit einem Loch drin, 2,50 Mark das Stück, die halten zehn bis 15 Jahre.“

In der Steinauer Kneipe „Bundschuh“ trafen wir ein paar Leute aus Hellstein, die uns erzählten:  „Wir hatten in der gemauerten Miste auf dem Hof von unseren zwei Pferden einen Riesenhaufen Mist liegen, den Paule und Lothar haben wollten – geschenkt natürlich. Und irgendwann rückte Lothar mit seinem Traktor und einem riesigen geliehenen Miststreuer an. Wochenlang vorher hatte es Stein und Bein gefroren, aber als Lothar kam, war es schon seit Tagen am Regnen. Unsere Miste hat 100 Jahre lang wunderbar gehalten. Als Lothar mit dem Ausmisten fertig war, war sie hinüber. Außerdem war der ganze Hof ein einziger Matschhaufen, mit Schotter und Mist vermischt. Für 1000 Mark mußten wir neuen Schotter anfahren lassen, die Wiese hinter der Miste hatte er zu Klump gefahren und die Drainage ist seitdem auch kaputt. Wir haben dann die Miste zugeschüttet. Während er seinen Miststreuer vollud, mußten wir ihn auch noch alle Augenblicke mit Unimog und Traktor wieder rausziehen, weil er sich mit seinem Allrad-Traktor in die Miste eingewühlt hatte. Wir haben die früher – per Hand – immer in drei Tagen ungefähr leer gemacht, und der Hof sah anschließend genauso sauber wie vorher aus, Lothar brauchte mit seinem dicken Traktor vier Tage dazu und alles war im Arsch. Und dann haben wir uns noch einen Monat lang im Haus untereinander deswegen gestritten.“

„Ich kann mich da auch noch dran erinnern. Da kam er nämlich hier an und wollte sich von uns den Bagger für den letzten Rest Mist ausleihen. Den Bagger hatten wir uns vom Imhoff geliehen, um einen kleinen Teich hinterm Haus auszubaggern. Da war ein Druckschlauch dran kaputt gewesen und wir haben gesagt, wir machen einen neuen drauf – für 80 Mark und dafür können wir dann unseren Teich damit ausheben. Gut. Halb hatten wir die Grube auch schon fertig, da kam Lothar an, brauchte schnell mal eben den Bagger, weil bei euch alles zu matschig geworden war. Ich sag, ‚da mußt du erst den Imhoff fragen‘. Was macht Lothar? Er fährt in unseren Garten, hängt den Bagger an seinen Traktor und prescht damit beim Imhoff vorbei, ich muß mal eben schnell damit auf den Acker, habe da was zu misten, dann fährt er weiter zum Palmenhof und hängt vorne an den Frontlader den großen Miststreuer. So ist er dann den Wald hochgeheizt, der Wald war abgeschlossen, er schnell die Schlösser geknackt und dann durch den Wald zu euch, der konnte natürlich nicht mit den zwei Geräten vorne und hinten dran auf der Straße fahren. Zwei Tage hat der Bagger bei euch gestanden, just am nächsten Tag war auch noch Karfreitag, und er ist den ganzen Tag mit dem Mist durchs Dorf gefahren und hat dabei die zu Ostern frisch gewaschenen Autos alle mit Mist bespritzt. Da war vielleicht was los. Am nächsten Tag kam sofort der Imhoff rüber, stinksauer, und hat den Bagger abgeholt: ‚Ihr kriegt den Bagger nicht mehr, ich leihe euch nie wieder was, das habe ich ja noch nie erlebt, sowas!‘ Ich dann noch mal zu ihm rüber: Da können wir doch nichts für, was haben wir mit dem Palmenhof zu tun …’Das ist mir egal‘, meinte der Imhoff, ‚der Bagger bleibt jetzt hier. Punktum‘. Und wir mußten den Teich dann quasi mit der Hand auslöffeln, und hatten 80 Mark fürn halben Teich bezahlt. Später hat der Förster dann noch Ärger gemacht wegen der aufgebrochenen Schlösser an den Schranken und weil der Lothar mehrmals durch den Forst gefahren ist. Da gingen dann wieder die Schriftsätze der Anwälte hin und her.“

Nachdem Lutz und Ev ausgezogen waren, wollten zwei neue Leute auf dem Palmenhof einziehen: André und Laura. Die beiden hatten schon irgendetwas von den Problemen dort läuten hören und erkundigten sich erst einmal vorsichtig bei den Nachbarn. Die erzählten ihnen auch alles, was sie wußten. Trotzdem zogen die beiden dann drüben ein. Kurz darauf hatte Laura ein kleines Techtelmechtel mit Lothar, dann verliebte sie sich in Werner. Die beiden heirateten sofort und André zog aus. Laura rauchte von einem Tag zum anderen kein „Gras“ mehr und fing stattdessen an zu joggen. Werner gab sein Studium in Wien auf und verkaufte seinen Bauwagen, den er dem neuen Besitzer mit einem Spezialtransporter der Bundesbahn nach Hamburg schickte. Laura und Werner wollten nach Andalusien auswandern. Dazu beabsichtigte Werner, sich seinen Hausanteil auszahlen zu lassen von Paula und Lothar. Zwar hatten die mittlerweile einen zweiten 30.000 Mark-Kredit von den Anthroposohen in Bochum bekommen, aber das Geld war schon wieder ausgegeben worden, u.a. hatte Lothar sich einen Peugeot davon gekauft. Werner ging nun einfach zum Peugeot-Händler und kaufte sich auf Paulas Namen für 22.000 Mark ebenfalls einen Peugeot, einen neuen. Jetzt beanspruchte er nur noch 40.000 Mark. Sie einigten sich darauf, dass Laura und Werner auf dem Palmenhof bleiben und sich dort eine eigene Wohnung ausbauen sollten, inklusive eigener Küche. Die beiden fingen auch sofort mit den Umbau- Arbeiten an. Alle Türen, Fenster und Fußböden wurden abgelaugt und repariert, Wände ausgerissen und neue hochgezogen, usw.. Als sie damit fertig waren, zogen sie aus, zu einem Freund nach Niedermoos, dem sie dann das Haus abkauften. Laura und Werner hatten extra kirchlich geheiratet, das Haus war das Hochzeitsgeschenk der reichen Eltern von Laura. Schon anfangs – bei den Nachbarn – hatte Laura immer von ihren reichen Eltern erzählt und dass sie adlig sei und dass sie sich für sie bei den Büdinger Fürsten verwenden könne, damit man irgendwie an dessen Seehof bei Wächtersbach „rankäme“.

Während Werner und Laura noch auf dem Palmenhof mit Umbauen beschäftigt waren, annoncierten Lothar und Paula nach neuen Leuten, die bereit waren, mit ihnen gemeinsam zu leben und landwirtschaftlich zu arbeiten. Es meldeten sich auch zwei: Winfried und Christa. Die beiden besaßen bereits eine eigene kleine Landwirtschaft in Südost-Bayern. Jetzt rückten sie mit ihren Kühen, Pferden, Landwirtschaftsgeräten und allem Drum und Dran an. Die Geräte transportierten sie mit einem Lastwagen. Für die Tiere hatte man sich einen Pkw-Anhänger geliehen und für 100 Mark eine Anhänger-Kupplung an Werners Peugeot anbauen lassen. Damit fuhren sie dreimal nach Bayern, um alle Tiere zu holen. Später verlangte Werner noch 500 Mark von Winfried für die Anhänger-Kupplung. Die beiden hatten sich ziemlich schnell zerstritten. Ihre Lebensstile waren sehr unterschiedlich: Laura und Werner aßen und tranken gerne gut und teuer, Bündener Rauchfleisch und Sekt zum Frühstück; während Winfried und Christa rohen Dinkel aus Holzschalen bevorzugten.

Nach einiger Zeit richteten die beiden sich eine eigene Küche in der Durchfahrt zwischen dem Haus und der Scheune ein, mit einem Holz-Küchenherd; sie sahen nicht ein, dass sie sich an den hohen Stromrechnungen im Haus beteiligen sollten, hervorgerufen durch Geschirrspüler, Durchlauferhitzer und Infrarot-Grillherd etc.. In der Durchfahrt stellten sie dann auch noch eine Zinkwanne auf, in der sie badeten. Einmal hatte Winfried zwei Tage lang mit seinen Pferden einen Acker geeggt, auf den Dinkel und Roggen ausgesät werden sollten, dann kam Paula und guckte sich alles an und es gefiel ihr nicht. Sie nahm den Traktor und eggte damit in zwei Stunden alles noch einmal über. Die beiden stritten sich immer öfter wegen ihrer Pferde. Wenn Winfried seine beiden einspannen wollte – zur Arbeit, meinte Paula zu ihm, für sie seien die Pferde nur ein Hobby. Um so verwunderter war man dann, als man hörte, dass Lothar und Paula einen Lehrer im Nachbardorf verklagt hatten, weil der von einem Bauern eine Wiese für die zwei Ponys seiner Tochter gekauft hatte. Die vom Palmenhof argumentierten, er hätte kein Recht zum Landkauf, sie als Landwirte hätten das Vorkaufsrecht.

Christa und Winfried waren gerade dabei, sich in ihrer Durchfahrtsküche einen Karottensalat zuzubereiten, da kam Paula dazu, sah das und schrie sie an, was ihnen denn einfiele, einfach die Karotten aus dem Keller zu nehmen, die seien nicht zum Essen, die wären für ihr Pferd. Daraufhin drehte Christa durch: „Ihr Idioten, ich zünde euch noch mal den ganzen Hof an!“ Das hörte Lothar im Stall, lief auf den Hof und rief: „Du willst uns unsere Existenz vernichten!“ Hin und her.

Im Oktober-Café in Wächtersbach erzählte uns Petra: „Ich habe mal zum Lothar gesagt: irgendwann schmeißt die Paula dich auch noch raus, dann hat sie ihr Haus fertig renoviert, und du kannst nichts machen, du hast ja nichts in der Hand. Ein paar Tage später passierte prompt so etwas Ähnliches: Paula hatte sich mit Lothar gezankt, daraufhin lief sie nach oben und warf seine ganzen Klamotten aus dem Fenster, unten rannte Lothar auf dem Hof hin und her und brabbelte vor sich hin: ‚Was mach ich jetzt?‘ ‚ Was mach ich jetzt bloß?‘ Irgendwie hat er es dann geschafft, sich wieder mit Paula zu vertragen und dann konnte er seine Klamotten wieder nach oben tragen. Ich hatte ihm geraten, ihr ein paar aufs Maul zu hauen. Der hat alles für sie gemacht – gekocht, eingekauft, die Landwirtschaft, und wenn der mit Putzen dran war, dann musste der auch putzen, während Paula – umgekehrt – an ihrem Tag seelenruhig im Bett blieb, die hat nur ihren Gaul gefüttert und ihn jeden Tag auf die Weide gebracht, und wenn mal eine andere Frau zu Besuch kam, die ist ja jedes Jahr regelmäßig zur Frauen- Sommerakademie nach Berlin gefahren, dann hat sie sich auch schon mal auf den Traktor gesetzt, um der zu imponieren. – Ich konnte sie noch weniger als Lothar ausstehen. Der hat immer versucht, mit mir anzubändeln, aber mich hat es zu sehr gestört, dass er einem nicht mal in die Augen gucken konnte.“

Eine Zeitlang hatten sie einen jungen Praktikanten auf dem Hof. Den haben sie dann immer zu den Nachbarn rübergeschickt, wenn sie mal wieder mit denen zerstritten waren, damit er sich das Auto für sie leihe. „So läuft das nicht, haben wir dem gesagt. Da war der dann auch noch sauer auf uns.“  „Dann kam ihr Versuch, eine Berner-Sennhund-Zucht aufzubauen. Da hatten sie erst einmal den riesigen Baldi, der alles und jeden anfiel. Dann brachte Laura noch ihren Hund Emily mit, und die durfte nie mit dem Baldi zusammenkommen, wenn sie heiß war. Beide Hunde wurden angebunden. Und zwar so, dass sie sich gerade mal eben mit der Schnauze berühren konnten. Das macht den Baldi derartig wahnsinnig, dass er kurz darauf den Werner in den Arm biß – bis auf den Knochen durch. Als Winfried und Christa einzogen, brachten sie auch noch einen Hund mit – Merlin, und der durfte dann auch wieder dem Baldi nicht zu nahe kommen. Dabei wurde Werner noch einmal gebissen. Schließlich ließen sie ihre Hundezucht-Idee wieder fallen.“

„Als nächstes versuchten sie es mit Hühnern. Sie hatten sich einen Stall und einen Hühner-Auslauf gebaut und auch schon alles ausgerechnet – 50 Pfennig pro Ei in den Frankfurter Reformhäusern und dies und das, aber dann haben die Vögel erst mal überhaupt keine Eier gelegt, und dann bekamen sie alle Tuberkulose und mußten vergast werden. Und sie durften auf dem Palmenhof jahrelang keine Hühner mehr halten. Einen gesunden Hahn hatten sie aber noch übrigbehalten, den wollte Lothar an Klaus und Heidi in Radmühl verkaufen – für 50 Mark. Klaus hat zu ihm gesagt, dafür nimmt er den Hahn bestimmt nicht. Daraufhin ist Lothar zu Heidi in den Garten gegangen und hat ihr gesagt, er habe mit Klaus geredet und sie solle ihm die 50 Mark für den Hahn geben, was sie auch getan hat, obwohl sie sich dabei gedacht hat, jetzt ist ihr Mann völlig durchgeknallt – so viel Geld für so einen bescheuerten Hahn auszugeben. Und dann hat der Hahn noch nicht einmal ihre Hühner besprungen, aber jeden hat er angefallen, der in den Stall gegangen ist. Man musste immer erst den Hahn treten – und so lange wie der halb betäubt hin und her torkelte, konnte man schnell die Hühner füttern oder die Eier einsammeln.“

Auf dem Palmenhof versuchten sie es dann mit Gänsen, aber die holte fast alle der Fuchs. Die letzten drei verkauften sie an Georg in Völzberg.  „Danach stiegen sie ins Kartoffel-Geschäft ein. Einen Acker wollten sie erst mal legen. Aber sie haben sich gleich eine große Kartoffel- Legemaschine dafür angeschafft. Gut. Uns haben sie damit dann auch gleich noch die Kartoffeln gelegt. Aber dabei hat Lothar die Maschine zu hoch eingestellt, so dass wir jede einzelne Kartoffel auf unserem Acker dann noch einmal mit der Hand einbuddeln mußten. Bei ihren Kartoffeln hat er es richtig gemacht. Aber wenn der Winfried später nicht zweimal mit dem Pferd durch die Reihen gegangen wäre, mit dem Unkrauthacker, hätten sie trotzdem keine geerntet, weil das Feld völlig verunkrautet wäre. 320 Zentner wollten sie ernten, das hatten sie sich ausgerechnet, die Hälfte haben sie dann geerntet, und selbst die sind sie kaum losgeworden. Schließlich fanden sie einen Biogemüse-Händler im Taunus, der ihnen die 160 Zentner abnahm. Aber der zahlte ihnen dann keinen Pfennig dafür, weil die Hälfte vergammelt war. Statt dessen verlangte er, sie sollten das Zeug wieder abholen. Daraufhin verklagte Paula ihn. Darüber gehen jetzt immer noch die Schriftsätze der Anwälte hin und her. Nach der Pleite mit der Legemaschine haben wir auf den Einsatz ihres Vollernters, den hatten sie sich natürlich auch gleich gekauft, dankend verzichtet und es mit unserem alten Roder selbst gemacht, ging auch genauso schnell, weil die für ihren Vollernter immer mindestens fünf Leute als Bedienungspersonal brauchten und außerdem laufend irgend etwas nicht funktionierte an dem Ding.“

„Was für ein Wahnsinn. Was ist da für ein Geld reingeflossen. Und sie haben nach wie vor nur die sieben Milchschafe, die nicht gemolken werden und das Pferd mit Fohlen, mit dem man weder arbeiten noch reiten kann.“  „Immerhin bekommen sie für jedes Schaf im Jahr 30 Mark Mutterschaf-Prämie von der Landesanstalt für Tierzucht …“  „Bei der letzten Versteigerung wollten sie ein Jungschaf verkaufen. Paula hatte dabei die tolle Idee, Ingo mitzunehmen, der sollte durch Mitbieten den Preis hochtreiben. Und das machte der auch ganz prima. Zu prima – denn der hat sogar noch den Höchstbietenden überboten, und damit hatte Paula für 650 Mark ihr eigenes Schaf sich wieder zurückersteigert, und musste dafür noch 75 Mark Auktionsgebühr bezahlen.“

Nach und nach übernehmen Lothar und Paula eine Wiese nach der anderen von Jörn, nachdem der sie bei der Gemeinde abgegeben hatte, und zwar ohne dass das – wie sonst üblich – über eine Versteigerung ging. Man wunderte sich schon im Dorf, wieso die sich derart gut mit dem Birsteiner Bürgermeister verstanden. Nur an die allseits begehrte Selzer-Wiese kamen sie nicht ran, Jörn hatte irgendwas läuten gehört und gab sie einfach nicht ab, obwohl er sie auch nicht brauchte, da er zu weit weg wohnte und dann sowieso seine Schäferei aufgab. „Ich habe mal zufällig mit angehört, wie Lothar mit dem Bürgermeister darüber redete: ‚Das geht nicht mehr so weiter, wir brauchen die Wiese, jetzt sehen Sie endlich mal zu, dass da was passiert, ich schicke Ihnen morgen gleich die Papiere zu, und dann muß das eigentlich klappen.‘ Der Bürgermeister brauchte den Lothar – als einen ehemaligen Journalisten, mit seinen ganzen Medien-Kontakten.  Vor einiger Zeit wollte der Clausener, der in Sotzbach eine Firma besitzt, die feinmechanische Geräte baut, sich einen Privatflugplatz bauen. Dagegen ist dann eine Bürgerinitiative entstanden. Und obwohl der Birsteiner CDU-Bürgermeister und Freund von Clausener sich für den Bau des Flugplatzes eingesetzt hat, hatte die Landesregierung ihn nicht genehmigt. Damit war die Sache aber noch nicht erledigt. Der Clausener drohte plötzlich damit, seinen Betrieb zu verlegen, wenn er seine Landebahn nicht bekäme – er müsse konkurrenzfähig bleiben, gegen die Japaner, er bräuchte ein schnelleres Kunden-Betreuungssystem und Ähnliches. Er machte also Druck.

Einer der ersten, die sich daraufhin für den Flugplatzausbau aussprachen, war der Speckenmüller. Sein Sohn arbeitet beim Clausener in der Firma und spielt außerdem im Fußball-Verein von Salz Linienrichter, und diesen Verein hat der Clausener ein paar Mal mit kleineren Geldspenden unterstützt. Deswegen haben die sogar eine Straße in Salz nach ihm benannt – Clausener- Straße. Auf den Schildern steht unter seinem Namen: „Sotzbacher Wohltäter“. Nach dem Speckenmüller wurden auch Lothar und Paula für den Clausener-Flugplatz aktiv. Sie besaßen gewisse organisatorische Fähigkeiten. Lothar war mal bei den Trotzkisten gewesen und Paula – wie ihre ehemaligen Mitbewohner auch – hatte als Sozialarbeiterin in dem linken Frankfurter Heimprojekt „Zingelswiese“ gearbeitet. Die beiden gründeten nun die Ortsgruppe Birstein des Bundes für Umwelt- und Naturschutz, wobei die Hauptaktivitäten der Ortsgruppe darin bestanden, sich für die Genehmigung des Clausenerschen Flugplatzes einzusetzen.

Der Speckenmüller, der sonst überall erhaltenswerte Feuchtbiotope wittert, hatte angesichts des zukünftigen Flugplatz-Standortes argumentiert, es handele sich hierbei nur um einige schlechte saure Wiesen, um die es nicht weiter schade sei. Lothar und Paula mit ihrer Birsteiner Ortsgruppe für Umwelt- und Naturschutz argumentierten nun wesentlicher: Im Zusammenhang mit den Frankfurter Wasserentnahme-Plänen sei im Flächennutzungsplan das Gebiet des Vogelsbergs nur noch als Naherholungsgebiet und Truppenübungsplatz ausgewiesen. Weder sei also beabsichtigt, die Landwirtschaft hier zu erhalten bzw. zu fördern, noch die wenige hier ansässige Industrie. Wenn man nun für den Bau des Flugplatzes eintrete, dann deshalb, um etwas für die Erhaltung der hiesigen Arbeitsplätze zu tun und um damit die für diese Region schädliche Wasserwirtschaftspolitik der hessischen Regierung zu durchkreuzen. „Darüber ließe sich ja reden. Nur was für ein Interesse hatten Lothar und Paula, sich derart für diesen Hobby-Flieger Clausener einzusetzen, und das noch mitten in der Heuernte!?“

„Ganz einfach. Sie haben vom Clausener immer wieder dessen Lastwagen sich ausleihen dürfen und außerdem hat er ihnen zinslos einen 8000 Mark-Kredit gegeben.“  Bernd, der ebenfalls in Udenhain wohnt, erzählte uns: „Uwe hatte sich neulich ohne zu fragen einfach den Miststreuer vom Palmenhof geholt, und Lothar war ausgeflippt, worauf wir ihnen im Gegenzug einen Acker gekündigt hatten. Jetzt waren Paula und Lothar wieder dran: Sie kündigten uns den Miststreuer, den wir uns ein halbes Jahr vorher gemeinsam angeschafft hatten – für 2600 Mark, jeder hatte 1300 Mark dazugegeben. Wir hatten sogar einen schriftlichen Vertrag darüber aufgesetzt, wobei ich ihnen noch die Priorität beim Heumachen eingeräumt hatte. Dann kam erst mal, dass sie plötzlich auch bei den Kartoffeln Priorität beanspruchten. Und sowieso sollten wie sie immer fragen, wenn wir den Miststreuer brauchten, während sie ihn jederzeit ungefragt nehmen konnten. Per Bote kam dann schriftlich von ihnen die Kündigung, fristlos, nach Paragraph sowieso. Ich habe das Schreiben einfach ignoriert.

Als wir den Miststreuer dann wieder mal brauchten, kam es zu einer richtigen kleinen Schlägerei deswegen, zwischen mir und Lothar, wobei Lothar den kürzeren zog, oder jedenfalls bekamen wir den Miststreuer noch einmal in unseren Besitz. Lothar hatte mir zwar mit Polizei und Bürgermeister gedroht, als ich ihm aber sagte – bei dem wirken nämlich nur so verbale Schläge unter die Gürtellinie: ‚Sei du bloß ruhig, du läßt dich doch nur von der Paula bumsen, weil sie die Kohle hat‘, da war er erst mal sprachlos. Ein paar Tage später hat er mir dann ein Angebot geschickt: Er wollte mir meinen Anteil am Miststreuer auszahlen – 1300 Mark, abzüglich 500 Mark Abnutzungsgebühr, also 800 Mark wollte er mir wiedergeben. Wir hatten das Ding aber nur ein paar Mal benutzt. Damit war ich natürlich nicht einverstanden.“

„Lothar und Winfried hatten im Sommer auf einem kleinen Feld ‚Gras‘ angebaut. Paula hatte Angst vor der Polizei bekommen und konnte deswegen keine Nacht mehr ruhig schlafen. Sie überredete Lothar schließlich, das ganze Zeugs zu vernichten. Woraufhin Winfried natürlich stinksauer war, den hatte man überhaupt nicht gefragt. Der Mangel an ‚Kiff‘ wurde aber dann einige Zeit später dadurch behoben, dass Lothar das Hanffeld von Gustl aberntete. Der hatte sich ein Feld am Waldrand angelegt gehabt und war dann bei uns ausgezogen. Ich hatte die Pflanzen ab und zu mal begossen.  Plötzlich waren sie verschwunden. Lothar sah daraufhin verdächtig oft ‚bekifft‘ aus, und Winfried bestätigte mir schließlich meinen Verdacht. Ich stellte Lothar zur Rede und er sagte: ‚Wieso?! Das war doch aufgebebenes Eigentum. Und das gehört mir.'“

„Zu uns kommt Lothar jetzt ab und zu und will ‚Gras‘ kaufen. Ich sag: Gut, machen wir es doch so – ein Gramm ‚Gras‘ gegen einen Ballen ‚Heu‘. Das kommt ungefähr hin. Den Preis findet der Lothar auch in Ordnung, aber so läßt er sich darauf nicht ein. Es läuft nur so, dass er mir das Geld gibt und ich gehe dann zu Paula, gebe ihr das Geld, und sie gibt mir dafür das Heu. Völlig idiotisch, aber anders machen die das nicht.“

„Beim letzten großen Herbst-Manöver hatte Werner alles mit kleinen Protest- Plakaten vollgeklebt. Am nächsten Tag rückte die Kripo an und durchsuchte den ganzen Palmenhof. Sie fanden aber nichts, fünf Minuten vorher war Werner mit seinem Peugeot weggefahren und da war alles ihn belastende Material drin gewesen. Eine Woche später haben sie auf dem Palmenhof wegen des Polizei-Überfalls eine Pressekonferenz organisiert und das halbe Dorf dazu eingeladen. Da kamen auch ziemlich viele, wollte ja jeder wissen: ‚Haben die vom Palmenhof nun die Plakate geklebt oder nicht?‘ Darüber sagten sie auf der Pressekonferenz aber keinen Ton, sie haben nur stundenlang über die Militarisierung der Region, über Raketenstationierung und dergleichen abgeprobt. Die Leute aus dem Dorf waren alle ziemlich enttäuscht.“

„Einmal haben sie richtigen Ärger mit dem Dorf gehabt. Da hatten sie von der Gemeinde einen Acker gepachtet, und die ganzen Steine, die sie runtergesucht hatten, an den Feldrand abgelegt, da gab es schon mal Ärger deswegen, aber dann haben sie auch noch zwischen die Steine eine Hecke gepflanzt. Die Gemeinde hatte es nach Jahrzehnten endlich geschafft, die Hecken überall auszureißen, so dass man mit den immer größer werdenden Maschinen überall durchkam, und nun pflanzten die da auf Gemeindeland wieder neue Hecken. Daraufhin wollte ihnen der Ortsvorsteher den Acker wieder abnehmen. Aber das hat er nicht geschafft, bei Lothars guten Kontakten zum Bürgermeister, und dann erschien in der Frankfurter Rundschau auch noch ein halbseitiger Artikel über diese Hecken-Affäre, von Lothar organisiert, mit einem Foto von ihm, wie er mitten auf seinem Steinhaufen zwischen der Hecke steht – stolz wie ein Spanier.“

Paula bekam beim Arbeitsamt Gelnhausen eine Umschulung auf Landwirtschaftsgehilfin genehmigt und begann für 1000 Mark im Monat pro forma eine Lehre bei einem Landwirt in Ulmbach; sie hatte mit dem Lehrherrn verabredet, dass der die Berichtshefte für die Berufsschule unterschreibt, ansonsten hatte sie mit dessen Landwirtschaft nichts zu tun.  Winfried und Christa hielten sich bald wie ihre Vorgänger mehr bei den Nachbarn auf als auf dem Palmenhof. Sie fuhren mehrmals nach Bayern, um sich dort nach einem neuen Hof umzuschauen. Petra musste derweil ihre Tiere versorgen, obwohl sie auf dem Palmenhof eigentlich Hausverbot bekommen hatte. Schließlich fanden Christa und Winfried einen neuen Hof nahe der tschechischen Grenze. Überstürzt unterschrieben sie einen Pachtvertrag und zogen dorthin – nur ihre Tiere und ihr Bettzeug nahmen sie mit. Bei ihrem Einzug auf den Palmenhof hatten sie 7000 Mark eingebracht, die nach und nach für den Ausbau von Ställen für ihre mitgebrachten Tiere verbraucht worden waren, dann – der letzte Rest – für Saatgut und Zusatzfutter. Bei ihrem Auszug verlangten Paula und Lothar rückwirkend für ein Jahr von den beiden monatlich je 600 Mark (300 Mark für Miete und 300 Mark Unkostenbeteiligung an der Landwirtschaft) – also 1200 Mark monatlich. Bisher ist darüber noch keine Einigung zustande gekommen, da Winfried und Christa in Bayern erst einmal mit anderen Dingen beschäftigt waren, sie hatten z.B. alle Heu-, Stroh- und Hafervorräte für ihre Tiere auf dem Palmenhof zurückgelassen und mußten sich für den Winter neue besorgen.  Einige Wochen nach ihrem Auszug gingen Lothar und Paula zu den Nachbarn rüber und fragten sie, ob sie das ganze Zeugs von den beiden bei sich einlagern könnten, sie bräuchten den Platz, weil in den nächsten Tagen neue Leute bei ihnen einziehen würden: eine Familie mit Kind und eine Psychologin – als Wochenendgäste diesmal nur. Dafür arbeiteten aber drei junge Praktikanten jetzt auf dem Hof. Die Nachbarn weigerten sich, noch einmal irgendetwas vom Palmenhof bei sich zu deponieren.

Eine Weile lang wurde es im „Bundschuh“ zu einer stehenden Redewendung, jeden zu fragen: „Was gibt’s Neues auf dem Palmenhof?“  Die Nachbarn in Udenhain hatten ihren Hof samt vier Hektar Land nur gepachtet gehabt, als sie ihn zu kaufen beabsichtigten, erfuhren sie vom Besitzer, dass Lothar und Paula ihn für 300.000 Mark zu kaufen beabsichtigten. Die beiden wollten den Hof in eine alternative Molkerei umwandeln (obwohl es mehrere leerstehende Molkereigebäude in der Umgebung bereits gibt). Das Geld dafür hatten sie anscheinend wieder von der Anthroposophen-Bank bewilligt bekommen. Die Nachbarn, die sich inzwischen nach einem neuen – billigeren – Hof umschauten, verlangten 20.000 Mark Ablösung für die vier Hektar Land, das sie drei Jahre lang nichtchemisch gedüngt hatten (nach weiteren zwei Jahren konnte man es als „Demeter-Land“ registrieren lassen). Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, drohten sie Lothar und Paula damit, dass sie vor ihrem Auszug Kunstdünger auf die vier Hektar streuen würden. Lothar und Paula hatten sich indes auch noch gerichtlich mit dem Birsteiner Fürsten angelegt, der im Nachbardorf einige Morgen Wiese gekauft hatte, als Vollerwerbslandwirte hätten sie das Vorkaufsrecht, meinten die beiden vom Palmenhof.

Wir hatten uns zu Anfang überlegt, ob man nicht alle Leute davor warnen sollte, dort einzuziehen; dann kamen wir aber überein, dass es sicher spannender sei, dieses Experiment weiter zu verfolgen, ohne irgendwie zu intervenieren.  Anhand des bisher vorliegenden Materials läßt sich aber jetzt schon sagen:  Das Vogelsberger Nebelgras ist wegen seiner zum Teil üblen Nebenwirkungen für den menschlichen Genuß nicht geeignet!

Anmerkungen:

[1] In Schotten befindet sich am Haus des Seilermeisters Sohst noch ein Schild mit der Aufschrift: „Die kleinen Diebe hängt man auf, die großen läßt man laufen. Wär umgekehrt der Welten Lauf, tät ich mehr Strick‘ verkaufen.“

[2] … „Bei uns im Dorf ist alles Flachland“, erklärt mir einer der Bauern, „hier kann man alles sehen.“ Hier ist alles Flachland, bei uns im Vogelsberger Mittelgebirge, ich musste lachen über diese vertrackte Wahrheit: Man kann alles sehen. Morgens um sechs kann man sehen, wie das Dorf zerrissen wird, die Nebenerwerbler fahren zur Arbeit in die Stadt, um nein kann man sehen, wie sich die Frauen abrackern auf dem Hof, und abends um sieben kann man in der Wirtschaft begreifen, dass man in eine chauvinistische Männergesellschaft geraten ist, ein erbarmungsloser Chauvinismus, er richtet sich nicht nur gegen Frauen als Wut, auch gegen Männer als Spott.  Man kann aber auch sehen: Der Nachbar ist krank, und zur Heuernte werden Hände gebraucht. Dann kommt immer jemand zur Hilfe, und ich denke: Ist es nicht diese Ethik des Dorfes, die in der Stadt gebraucht wird, eine Ethik der Kooperation und Hilfsbereitschaft?  Ohne Nachbarschaftshilfe kann freilich in einem 115-Seelen-Dorf keiner leben. Es kann immer sein, dass jemand die Schreibmaschine in meinem Haus benötigt, oder ich die Messerschleifmaschine vom Beckerhof.  Das Dorf ist klein. Es ist überschaubar: Drei Straßen, und doch leisten sich die Bauern den Luxus, den nördlichen Teil „Vorderdorf“, den südlichen „Hinterdorf“ zu nennen. „Überschaubarkeit“ ist ein Ideologem in der urbanen, anonymen Massengesellschaft geworden. Aber Übeschaubarkeit ist immer auch: soziale Kontrolle. Es gibt keine richtigen Todfeinschaften mehr im Dorf, solche, die über Generationen vererbt werden, aber heimliche Bosheiten, Gemeinheiten, Hintenrumgerede.  Höchstens unter den Landkommunen. Wie sie die alte Architektur wieder beleben, so auch das alte Herkommen. Eine Landkommune, zwei Dörfer weiter, hat sich zerstritten, und was jetzt beginnt, ist schlimmer als eine Ehescheidung. Sie reden nicht mehr miteinander, und ohne einen Vermittler gäbe es gar keine Kommunikation untereinander, aber eine Kommunikation braucht es doch, und sei es nur, um den Zugewinn aufzuteilen. Später, als eine Gruppe ausgezogen ist, wird sie von der anderen Gruppe noch immer unerbittlich verfolgt; es ist wie in einer zerrütteten Ehe – wenn man sich schon nicht lieben kann, ein Lebtag lang, soll man sich wenigstens hassen, bis in den Tod. Kleinlich, gehässig, boshaft – und das soll die Alternative zum normalen Leben sein? Es ist bäuerliche Kleineigentümermentalität, ein Kampf, ausgetragen bis zum Letzten. Stumm, reglos und entsetzt sehe ich mir das an – das soll das neue Leben sein, in Harmonie mit der Natur …?  Das Gesetz für jeden Stadtflüchtling heißt: Paß dich an, aber versuche nicht, in diesen Teig von Homogenität zu kriechen. Ich selbst habe mir angewöhnt, meinen Freunden auf dem Dorf zu erklären: „Wir wollen einen Teil der Dorfgemeinschaft sein, aber wir sind anders als ihr, und wir wollen auch anders bleiben.“ (…)

[3] „Guten Tag, liebe GT-Leser!  Landrat Rüger nennt sie Aussteiger. Darunter versteht der Mann aus dem Linsengerichter Eselspfad jene Zeitgenossen, die ihren Job ohne ersichtlichen Grund an den Nagel hängen und meinen, im sozialen Netz dieser Gesellschaftsordnung ist gut ruhen.  Besonders getroffen hat es anscheinend Hans Rüger, dass unter diesen Mitmenschen auch Beamte sind. Ein Beispiel: Die Frau eines Berliner Arztes, Beamtin auf Lebenszeit, von ihrem Mann getrennt, aber auch von der Arbeit. Besagte Dame hätte sich im Main-Kinzig-Kreis niedergelassen und kassiert jetzt fleißig vom Sozialamt.  Da gibt es dann noch, so Rügerm die „rüstigen Dreißigjährigen“, die in Vogelsberg und Spessart in Bauernhäusern unterschlüpfen, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und kräftig auf Kosten der Allgemeinheit abkassieren. Der Landrat nennt solche Volksgenossen Parasiten und klagt, dass immer mehr auf diese Unart und Weise ihr Leben fristen wollten.  Zehn Prozent der Sozialhilfeempfänger gehören zu diesen Typen. Wenn der Sozialetat des Kreises seit 1976 von 20 Millionen auf 36 Millionen Mark emporgeschnellt sei, dann sei dies der „Verdienst“ der „Aussteiger“. Warum diese Leute aussteigen, meint der Landrat erkannt zu haben. Trotz eines Lebens auf der faulen Haut hätten sie am Monatsende mit Sozialhilfe und ähnlichen Zahlungen aus der öffentlichen Hand genauso viel Geld im Säckel wie einst, als sie noch eine Lohnsteuerkarte ihr eigen nannten. Nicht selten seien gar staatliche Leistungen höher als die Nettoarbeitsentgelte. Wenn gar noch nebenbei etwas schwarzgearbeitet würde, könnten die Aussteiger nur noch über die Zeitgenossen lachen, die täglich in ihrem Beruf schuften.

Hans Rüger aber ist froh darüber, dass die Beamten in seiner Umgebung allesamt moralisch gefestigte Persönlichkeiten sind, die zwar schon das eine oder andere Mal dem Kreishauschef verrechnen, wie gut’s ihnen gehen könnte, wenn sie den Kram in der Verwaltung des Großkreises hinwerfen und sich fürs Nichtstun belohnen lassen würden.  Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, warum der Kreis den Parasiten die Mäuler stopft. Rüger weiß die Antwort. Früher wären die Fürsorgezahlungen von den Gemeinden gekommen. Da kannte man seine Pappenheimer. Heute komme der Antragsteller zur anonymen Kreisverwaltung, seine persönlichen Verhältnisse sind nicht bekannt, der Sachbearbeiter erfährt nur die „Notlage“ und wird dann – wagt er es, genauer nachzufragen – auch noch belehrt, dass er keine Moralpredigten zu halten, sondern zu zahlen habe. Kaum einmal kann diesen Menschen nachgewiesen werden, dass sie lügen. Sehr bedauerlich, denn wirkliche Aussteiger und Alternative werden mit den Betrügern gar zu schnell in einen Topf geworfen, befürchtet  Euer Fritz“

Da ist er eingestiegen – mit einer Leiter. Und hat die Stereoanlage und den Videorecorder mitgenommen.

3.

„Es gibt kein Territorium mehr, nur noch seine Simulation.“  (Jean Baudrillard)

Am Rande des großen europäischen Eruptionsgebietes – in der bedeutendsten Härtlingsform des nordhessischen Raums – liegt der Vogelsberg. Ein tafelförmiges Vulkanplateau auf dem Schnittpunkt zweier tektonischer Schwachlinien. Was dort eines der vielen rodungsbesiedelten Taldörfer umgeben von bewaldeten Mittelgebirgshängen war, ist also ursprünglich vielleicht einmal ein Magmafluß in einer erstarrten Lavawüste gewesen, zu Urzeiten.

In einem schon in den frühen achtziger Jahren erschienenen Sachbuch mit dem Titel „Vogelsberg“ reiten ein anonymer norddeutscher Ich-Erzähler und ein arabischer Peripathetiker, beide im Vogelsberg lebend, auf zwei Pferden (die dem Filialleiter der Ulmbacher Kreissparkasse gehören) durch die nähere Umgebung.

Irgendwann stimmt dabei der Araber ein Lied an – nach der alten Melodie  von „Britannien hab ich und Gallien verloren/ Und Rom und die Schwüre, die sie geschworen/ und verloren Lalange…“ Der Ich-Erzähler bemerkt dazu rückblickend: „Nur sang er stattdessen von Kairo, das er verloren hatte, und von den Frauen in Maaba, Dschidda und Suez. Es war ein schönes Lied, im rhythmischen Takt, den die Kamele so liebten, so daß sie die Köpfe senkten, die Hälse vorstreckten und mit weitausgreifenden Schritten träumerisch dahinschwankten. Nur unsere beiden Kleinpferde mochten es nicht, es machte sie nervös. Und Kamele gab es nicht, und kaum das Land vor uns – als endlose Sand- und Geröllebene“.

Bewachsen waren also die bis zu 773 Metern ansteigenden Erhebungen und die Täler vor zwanzig Jahren noch, wenn sie nicht gerade besiedelt, sonstwie bebaut oder Flußbett für Nidder, Salz, Kinzig Ohm und Bracht waren.

Aber schon damals hatte sich der aus dem Arbeiter-Anglerbund und dem Reichsverband Deutscher Sportfischer hervorgegangene Vogelsberger Angelverein mangels Betätigungsfelder aufgelöst. Aus dem selben Zeitraum stammt ein Urteil des Amtsgerichts Gelnhausen, einer Stadt am Südwestrand des Vogelsbergs. Dort wurde ein Kläger abgewiesen, der das Quaken sich paarender Frösche in einem Kunstteich im Garten seines Nachbarn wegen Lärmbelästigung zur Anzeige gebracht hatte (1). Im norddeutschen Itzehoe dagegen kam ein Landgericht wenig später zu einem entgegengesetzten Urteil, indem es das Artenschutzgesetz ausdrücklich an den natürlichen Standort der jeweiligen Spezies band.

Solche „natürlichen Standorte“ schmolzen freilich nach und nach auf Zeltplangrösse zusammen. Bis zum endgültigen Austrocknen der Flüsse im Vogelsberg gab es dort zwar einen gewissen Fischbestand, der auch regelmäßig wieder neu – d.h. künstlich – aufgestockt wurde, aber nicht mehr bis zur Angelreife gedieh, denn mehrmals im Jahr kippten die Gewässer unter zu großem Fäkalien- und Düngemitteldruck um.

Dieser Prozeß erfaßte bald auch die quellengespeisten Wasserbecken der Fischzüchter in der Gegend.

Als dann auch noch die umliegenden Großstädte (vor allem Frankfurt am Main) anfingen, den täglichen Wasserbedarf für ihre Bewohner und Industrieanlagen aus dem Vogelsberg abzupumpen, warnten die um ihr Element bangenden Angler und Fischzüchter immer heftiger vor einer „Versteppung der Region“. Hinzu kamen die sowieso unzufriedenen Bergbauern, die sich durch die beginnende Erosion und Bodenabsenkung noch zusätzlich in ihrer Existenz bedroht fühlten. Und nicht zu vergessen ihre aufs Altenteil gesetzten Väter, die sich angewöhnt hatten, einen Großteil ihrer reichlichen Mußezeit auf einem Klappstuhl am Dorfweiher zu verbringen, mit einer Angelrute in ihren „von der Arbeit schwielig gewordenen Händen“.

Vielleicht waren sie es, (in der Nachkriegszeit hatten sie noch mit Karbid und Dynamit zu fischen gelernt hatten), die in der Folgezeit dann immer öfter Brunnenanlagen und Pumpstationen der städtischen Wasserversorgungsbetriebe in die Luft sprengten? Die Polizeibehörden in den umliegenden Kreisstädten sahen sich schon bald gezwungen, eine spezielle Fahndungstruppe gegen diese „Öko-Terroristen“ einzurichten (2).

Diese neuen militanten Verteidiger des in ökologischer Hinsicht längst als äußerst instabil eingestuften Status Quo der Landschaft nannten sich selbst jedoch „Hydro-Guerilla“, da Dreh- und Angelpunkt ihrer Aktionen der prekläre Wasserhaushalt des Vogelsbergs war. Eine verschärfte Bewachung der Abpumpanlagen konnte die Attentäter nicht einschüchtern. Als dann bei einem „Brandanschlag“ auch noch ein Baggerführer der Wasserpipeline-Firma getötet wurde – der, aus dem Vogelsberg stammend, selber eigentlich zu den aktiven Gegnern des „Wasserraubs“ gehört hatte -, besaßen die Kontrahenten sogleich einen Märtyrer, dem bald im außerordentlich hoher Symbolwert anhaftete.

Die eine Partei, nennen wir sie der Einfachheit halber „die Vogelsberger“ (um hier wenigstens einmal noch das Kollektive mit dem Regionalen zu verknüpfen), die Vogelsberger also reagierten sofort: Protestierend versammelte sich eine große Menge von ihnen auf dem Marktplatz von Nidda, wo sie lauthals den Stopp des Wasserraubs verlangten und zum Zeichen ihres Protests und der Trauer um den Toten auf einem Scheiterhaufen mitgebrachte schwarz-weiße Gummischwäne aus aufgeschlitzten Autoreifen verbrannten, wie sie dort seit den Sechzigerjahren, d.h. seit dem Beginn des Individualverkehrs mit Privat-PKWs, überall in den Vorgärten aufgestellt worden waren – als Teil der Eigeninitiative in den Kampagnen um den ersten Platz im jährlich wiederkehrenden Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“.

Die Jurys in diesen Wettbewerben setzen sich zwar aus Vertretern der an den jeweiligen Orten dominierenden Interessensverbänden zusammen, waren also gewissen konjunkturell bedingten Veränderungen unterworfen, aber der einmal bei ihrer erstmaligen Zusammensetzung formulierte Anspruch, eine „gepflegte Sachlichkeit“ zu fördern, hat sich seitdem nie wieder neuen Paradigmen im Zusammenspiel zwischen verstädterten Dörfern und verlandschafteten Städten zugewandt, geschweige denn selber welche kreiert.

Und doch scheint sich auch in diesen Gremien mit der Zeit eine gewissen Hydro-Sensibilität breit gemacht zu haben: Überall werden alte – teilweise verschüttete – Brunnen liebevoll restauriert; an die ausgetrockneten Löschteiche werden von der Lauterbacher Gartenzwergfabrik Meissner hergestellte große Figuren mit eindeutiger Angelausrüstung und -gestik aufgestellt, wahlweise aus Ton gebrannt oder aus Plastik gepresst; große farbige Hinweisschilder zeigen an, welche Quellen und Bäche früher wo verliefen; für jede Gemeinde wird ein eigenes Hallenschwimmbad gefordert – und auch genehmigt (als Ausgleich zumeist für die Verminderung der Lebensqualität in all den Orten, in deren unmittelbarer Nähe man ein Nato-Munitionsdepot oder eine andere militärische Einrichtung hingesetzt hat); und schon seit langem haben herumziehende Delphin-Shows die kleinen und mittleren Wanderzirkusse an Beliebtheit übertroffen. Im Sommer sind die Kurse im Synchron-Schwimmen überbelegt. Plötzlich beginnen sich auch alte, längst vergessene christliche Bräuche wieder zu regen – ich rede nicht von der Wassertaufe, sondern von den vielen Katholiken, die wieder darauf bestehen, am Freitag nur Fisch zu essen (es ist wie mit allem und überall: Was sich rar macht, wird kostbar und begehrt!). Wobei der Zusammenhang zwischen der auf dem Fels Petri erbauten Kirche und dem Fischergruß  „Petri Heil“ sowieso nie ganz verschüttet war.

Als erst drei, dann sechs der Kreiskrankenhäuser aus Kostengründen von der Landesregierung geschlossen werden sollen, kommt es zu partiellen gemeinsamen Aktionen zwischen dem weniger militanten Flügel der Hydro-Guerilla und Teilen des gegen die Schließung ihrer Krankenhäuser protestierenden Personals.

Aus Gedern wird dazu der folgende Vorfall vermeldet: Dort agitierte der mit einer medizinischtechnischen Assistentin verheiratete Bademeister Karl Moeller vom Beckenrand aus sieben herumschwimmende Frauen für die Erhaltung des Gederner Krankenhauses. Seiner Meinung nach würden nur deswegen keine Frauen sich mehr auf die dortige gynäkologische Abteilung überweisen lassen, weil der ehemalige Stationsleiter und Frauenarzt Doktor Siebert „durchgedreht“ sei – er hätte nachts sämtliche Patientinnen auf den Flur befohlen, wo sie im Nachthemd in Reih und Glied Aufstellung nehmen und das Deutschlandlied singen mußten. Tatsächlich wurde dann ein Doktor Siebert aus Gedern in die mittelhessische Irrenanstalt Hadamar eingewiesen.  Die Kreiskrankenhäuser, deren gynäkologische Abteilungen vor allem unter dem Trend zum Einkind, das dann auch noch in einer Hausgeburt zur Welt kommt, zu leiden haben, sind dazu übergegangen, mit einem sogenannten Unterwassergeburts-Angebot sich wieder attraktiv für ihre hochschwangere Klientel zu machen. Im Kreißsaal werden über Lautsprecher Walgesänge abgespielt, auf den Zimmern befinden sich nicht nur TV-Geräte, sondern auch Kalt- und Warmwasser-Aquarien, und in den Badezimmern sind spezielle Räume abgetrennt worden, in denen man einige vom amerikanischen Professor Lilly erfundene Isoliertanks aufgestellt hat. Sie sind halbgefüllt mit lauwarmem Salzwasser und lassen sich von innen schall und lichtdicht schließen. Angeblich soll die darin von Außenreizen gänzlich freie Atmosphäre, während der Körper sanft in einer Salzlauge vor sich hin dümpelt, dazu führen, daß die Angst vor dem zerstreuungs- und beschäftigungslosen „Horror Vacui“ einer „Gaudium Vacui“-Erwartung Platz macht, in der einem darüber hinaus pränatale – ja sogar präterrestrische, mithin also ozeanische – Erfahrungen wieder zugänglich werden. Erfahrungen, über die unter Wasser geborene Kinder von vornherein noch verfügen, was sie zum Beispiel befähigt, sich ohne große Scheu und Umstellung mit den Delphinen in den Wander-Shows zu verständigen, selbst die dort nur selten gezeigten halb ausgewachsenen Killerwale sind ihnen nicht fremd (3)

Man muß dazu anmerken, daß diese sogenannte „lnterspecies Communication“ eine lange Tradition im Vogelsberg hat. Seit den frühen sechziger Jahren bereits war dort der CB-Funk weit verbreitet, eine Bewegung von Hobbyfunkern, für die seit jeher Verständigungsschwierigkeiten zwischen verschiedenen Arten nichts weiter bedeuteten als Probleme bei der Feineinstellung von Frequenzen: „Jaguar ruft Windrose! Bitte kommen!“ – Um nur ein Beispiel zu nennen.

Im Laufe der Funk-Zeit hat diese Identifikation mit einer als Code-Wort verwendeten Spezies die seltsamsten Blüten getrieben: Eine CB-Funkerin aus Gelnhausen beispielsweise, die im Äther auf „Flußpferd“ reagiert, sammelte mit den Jahren so ziemlich alles verfügbare Bildund Schriftmaterial über dieses noch von Alfred Brehm als „äußerst dumm und heimtückisch“ beschriebene Säugetier; ein anderer CB-Funker – „Barracuda Birstein“ – nahm nach der Aufstellung einer großen Mehrbereichsantenne in seinem Garten ein seltsam raubfischhaftes Aussehen an; ähnlich erging es seinem Funkkollegen in Herbstein namens „Tümmler“, der immer irgendwie tranig wirkte …

Genug dieser Interspecies Metamorphosen, die darüber hinaus noch eine erdgeschichtliche Dimension beinhalten: Wie man mittlerweile weiß, begann vor 65 Millionen Jahren die geologische Neuzeit der Erde, in deren Tertiär das gesamte Gebiet um das Kinzigtal Teil eines Meeresarmes war, der das Nordmeer mit dem Mittelmeer verband (entstanden war er durch den Einbruch des Oberrheingrabens). Mit der Zeit wurde daraus ein Binnenmeer, das dann vom Spessart aus langsam verlandete. In den Lilly-Isoliertanks der Kreiskrankenhäuser von Schlüchtern und Salmünster gelang es nun einigen Patienten wiederholt, an diese verschütteten binnenozeanischen Erfahrungen anzuknüpfen, die immer noch in Form von Arche-Typen durch den Vogelsberg wabern (4)

Anfang der Achtzigerjahre publizierte ein Social-Fiction-Autor in Bobenhausen II – Mathias Horx – mehrere literarische Rekonstruktionen des sozialen und technologischen Elements (nach einer atomaren Katastrophe im Vogelsberg). Wie hätte er voraussehen können, daß in Wirklichkeit eine Rekonstruktion  des nassen Elements dort auf dem Plan stand, genauer gesagt: eine Simulation desselben? Dies geschah vor allem dadurch, dass man es sich mythisch auflud und mit mystischen Qualitäten gleichsam anreicherte – so erhielt man „schweres Wasser“ (das dem in den Dreißiger Jahren in Norwegen produzierten nicht unähnlich war – vergleiche dazu H.M. Enzensbergers „Norwegen“-Essay).

Was die versiegenden Bäche kurzfristig immer wieder neu entstehen ließ und den Anglern jedesmal wieder Anlaß zu neuen Hoffnungen gab: die Niederschläge an saurem Regen, hatten bald die nicht-unterglaste und nicht-künstlich bewässerte Rest-Vegetation in der Region fast völlig zerstört. Seltsam, in dem Moment, wo man fast nur noch das mühsam und zudem äußerst kostbare Brunnenwasser zur Verfügung hatte, ab diesem Zeitpunkt etwa klassifizierten mehrere Psychiater in den kreisstädtischen Krankenhäusern bei etlichen Fällen das von ihnen diagnostizierte Syndrom „Wasserscheu“ als endogene Psychose.

Noch seltsamer, daß erst dann damit begonnen wurde, die Fließwasserenergie an den noch erhaltenen Wassermühlen zu nutzen, als die Bäche und Flüsse fast völlig versiegt waren. Man verwendete statt dessen ebenfalls Brunnenwasser, das umständlich und teuer hochgepumpt auf die Mühlräder geleitet werden mußte, anschließend floß es in die Gewächshäuser und auf die niederschlagsgeschützten kleinen Felder. „Wasserkunde“ wurde zu einem Unterrichtsfach an den Grund- und Hauptschulen, in den gymnasialen Oberstufen kam noch das Fach „Strömungslehre“ hinzu; an der Gesamthochschule Kassel wurde „Wasserkraftforschung“ betrieben.

Die Wünschelrutengänger – Hydromanten – hatten Hochkonjunktur. Aus Schotten wird von einem solchen, der zuvor jahrelang als Formblattvertreter gearbeitet hatte, berichtet: Während er noch als Vertreter im Kreis herumfuhr, hatte er immer wieder auf Parkplätzen eine Pause eingelegt, sich die Karteikarten seiner nächsten Kunden vorgenommen und dabei überlegt, was er bei seinem letzten Besuch mit ihnen geredet, wie hoch ihre letzte Bestellung gewesen war. Dabei passierte es ihm dann, daß seine Kunden, wenn er bei ihnen ankam, jedesmal bemerkten:  „Verrückt, daß Sie jetzt gerade kommen, eben haben wir von Ihnen gesprochen!“ Von einem anatolischen Kunden aus Ober-Seemen erfuhr er dazu ein türkisches Sprichwort:  „Der gute Mensch kommt aufs Wort“. Die deutsche Verkäuferin im Kaufhaus Kempel in Ulrichstein meinte dagegen: „Wenn man vom Teufel spricht…“ Ein zufällig in diesem Laden anwesender ostfriesischer Sommergast, der sich auch durch die erheblich verminderte Erholungsqualität des Vogelsbergs aufgrund erodierter Höhen und Hänge nicht von seinen Urlaubsgewohnheiten abbringen ließ, beruhigte ihn jedoch: „De düwel is so swat nich, as huum oft malt“. Der Formblattvertreter machte sich schließlich diese Parkplatz-Telepathie zunutze und erledigte seine Aufträge nur noch vom Schreibtisch aus, indem er der Reihe nach an seine Kunden dachte, d.h. über ihre Karteikarten meditierte, woraufhin die Adressaten ihm prompt und schriftlich ihre Bestellungen zuschickten.

Dieser merkwürdige Vorfall hat insofern etwas mit Wasser zu tun, als diese Art der Geschäftsabwicklung per morphischer Resonanz sich streng an den Verlauf der ehemaligen Flüsse in dieser Region hielt und zwar funktionierte sie flußaufwärts besser als abwärts, was seit jeher in etwa der Ausbreitung neuer Ideen und Gedanken entsprach – die Vogelsberger erwarteten demzufolge anscheinend nach wie vor alle Erneuerungen und neuen Errungenschaften vornehmlich aus den umliegenden Niederungen (5). Dorthin schickten sie jedenfalls ihre „Bestellungen“.

Den Formblattvertreter brachten diese Erkenntnisse auf die Kunst des Wünschelrutengehens. Überhaupt wurde mit der Zeit das Gehen immer attraktiver bei den Vogelsbergern. Allerdings verwandelte sich dabei der frühere „Wanderer“ mehr und mehr in einen Flaneur, der nicht mehr in gerader Linie zu einem Ziel nach Dort aufbrach, sondern im Hier und Jetzt hin und her wandelte. Sowohl im Städtischen als auch im nicht mehr davon unterscheidbaren Dörflichen sprach man nur noch vom „Wandler“, der bei seinem Herumschlendern den Vektor gegen Null brachte und die Vielheit der Richtungswechsel maximierte.

Erinnern wir uns: diese Phänomene nahmen ihren Anfang mit der Entstehung und den Aktivitäten der Hydro-Guerilleros, die nächtens in der Gegend herumschlichen und dabei (als Liebespaare mitunter getarnt) Brunneneinrichtungen und Pumpanlagen der städtischen Wasserversorgungsfirmen im Vogelsberg in die Luft sprengten. Eine dieser wahrscheinlich aus Jungbauern zusammengesetzten Gruppen nannte sich in ihren sogenannten Bekennerbriefen „Initiative Lebensfreudiges Kinzigtal“. Sie unterschied sich insofern von den anderen Bombenlegern, als sie ziemlich wahllos nächtens alle Planierraupen mit einem selbsthergestellten Nitroglyzeringemisch explodieren ließ, also auch solche Baumaschinen, die nur zur Straßenausbesserung verwendet wurden.

Kommen wir nun von diesen „Explosés“ über den immer genauer hinschauenden „Wandler“ zum neuen „Implosions“-Paradigma.

Nachdem der ehemalige Oberförster Trauauberger aus Wächtersbach (6) einige Jahre lang in seinen Gewächshäusern mit Bonsai-Bäumchen-Kulturen experimentiert hatte, vergeblich, legte er sich einen kleinen künstlichen Bachlauf unter Glas an, in dem er fortan Forellen beobachtete. Dabei machte er die Entdeckung, daß diese Fische nicht mittels einer schnellen Bewegung ihrer Schwanzflossen flußaufwärts springen, sondern weil sie in der Lage sind, die durch das herabstürzende Wasser entstehenden Strudel für sich zu nutzen – sie machen sich darin steif, werden herumgewirbelt und gleich darauf nach oben geschleudert. Diese Beobachtung teilte Trauberger den Mitarbeitern der kirchlichen Heimfortbildungsstätte bei Wittgenborn auf dem „Weiherhof“ mit. In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zog man dann erste noch vorsichtige Schlußfolgerungen daraus, die in der Folgezeit in einer Serie von Experimenten erhärtet wurden. Ihre Erkenntnisse bestätigten eine alte Vermutung, die neben einigen Pflanzenphysiologen auch schon Goethe gehegt hatte: „Es waltet in der Natur ein allgemeiner Spiralismus!“

Diese Spiralbewegung wurde von den Wittgenbornern als „saugendes implosives Gebilde“ bezeichnet, wobei die Kunst ihrer Nutzbarmachung darin besteht, jene Spiralkurve zu finden, in der sich das Wasser, das durch sogenannte Drallrohre gedrückt und darin spiralisiert wird, von seiner Führungswand löst, sich also widerstandlos spezifisch verdichten läßt, zentripetiert und dabei abkühlt. Das in einem solchen System spiralisierte Wasser entwickelt sich zu einem Sogkolben, wobei es sich von Windung zu Windung beschleunigt und verdichtet. Es kann damit eine Maschine angetrieben werden, deren Implosionskräfte (nach Prof. Ehrenhart) 127mal stärker als Explosionskräfte sind. Im Prinzip sieht eine solche Implosions-Maschine so aus, daß mehrere Drallrohre, die auf einem konischen Rotor montiert sind, strahlenförmig von einem Sammeleinlauf abgehen. Durch die Drehung des Rotors erfolgt eine zentrifugale Beschleunigung der Rohre, womit ein sofortiges Einrollen des darin befindlichen Wasser bewirkt wird, das sich dabei abkühlt und verdichtet. Beim Ausstoßen dieses „Wasser-Zopfes“ werden hohe Rückstoßkräfte frei, die in Antriebskraft umgesetzt werden können.

Eine solche Antriebskraft kommt einem Perpetuum Mobile Zweiter Ordnung gleich und ist somit geeignet, das zweite Gesetz der Thermodynamik zu widerlegen. Ein Gesetz, von dem der Kunstkritiker und Historiker Arnheim einmal behauptet hat, daß Europa es bei seiner ersten Formulierung (durch Carnot) deswegen so begierig aufgriff, weil sich damit alles, was scheinbar den Bach runterging, erklären ließ: „Die Sonne wurde kleiner und die Erde kälter, und der allgemeine Zerfall in einen  Zustand der Entropie ließ sich bis in die sinkende Armeedisziplin, in die gesellschaftliche Fraktionierung, in die abnehmende Geburtenrate, in die Verödung der Landstriche und in die Zunahme von Geisteskranken und Tuberkulose etc. hinein aufspüren“ (heute würde man statt Tuberkulose vielleicht Aids und BSE anführen!).

Trauberger hat einmal die Implosions-Energie als „weiblich“ bezeichnet, im Gegensatz zum‘ Explosions-Modell, das ihm ein „männliches Phantasma“ zu sein schien, wobei er schon das implosionserzeugende Element „Wasser“ als etwas genuin Weibliches begriff.

Wie dem auch sei, zusammenfassend läßt sich sagen, daß in einer Region, deren soziale und ökologische Entropie schon ziemlich weit fortgeschritten war, daß gerade dort versucht wurde, den Zusammenbruch der ineinandergreifenden Systeme mittels explosiver Mittel und Strategien aufzuhalten, wobei man im weiteren Verlauf dieser sich radikalisierenden Auseinandersetzung schließlich auf eine ganz andere Denk- und Sichtweise stieß: Auf implosive Gebilde, die in ihrer Anwendung dann die gesamte Entropie schließlich widerlegten.

Jetzt, wo man bereits begonnen hat, über die einst umkämpften städtischen Pumpanlagen Wasser (aus Rhein, Main und Lahn) wieder zurück in den verkarsteten und verödeten Vogelsberg zu transportieren, um gewisse Rekultivierungsversuche  zu unternehmen – jetzt wage ich eine kleine Vorausschau: Die Land- und Forstwirtschaft und damit zusammenhängend die gesamte Ökologie der Region wurde nicht durch den unterirdischen Angriff in Form von konzentrierter Wasserentnahme und Nitratverseuchung des Grundwassers zerstört, auch nicht durch oberirdische Einflüsse wie Luftverschmutzung und sauren Regen, sondern dadurch, daß das gänzlich immaterielle morphogenetische Feld der voneinander abhängigen (man sagt auch „vernetzten“) Flora und Fauna immer wieder gleichsam zerhackt und zerschnitten worden ist.

Beim derzeitigen Aufbau eines neuen „Feldes“ im Zusammenhang mit den Rekultivierungsarbeiten wird man von vornherein an der „Morphogenese“ partizipieren, und man tut gut daran, dies bewußt zu tun, wenn man verhindern will, daß die frisch wiederaufgeforsteten kleinen Wälder ebenso wie die zögernd wieder fließenden Bäche erneut, von tiefer Mutlosigkeit ergriffen eingehen bzw. versiegen. Um es mit Nietzsche zu sagen: „Wille kann natürlich nur auf Wille wirken und nicht auf Stoffe (auf ,Nerven‘ beispielsweise). Genug, man muß die These wagen, daß überall, wo Wirkungen anerkannt werden, Wille auf Willen wirkt.“

In der überregionalen Zeitschrift „Angel-Woche“, in der sonst nur eines zählt – „Prachtbrassen“, „Traumhechte“ und „Superforellen“, und die farbig fotografiert, gemessen und gewogen, fand ich neulich einen Artikel von einem Fischer aus Obervolta, er begann mit dem Satz: „Ein Angler, der nicht mit den Fischen redet, ist verrückt“. Das scheint mir schon mal ein guter Anfang zu sein, obwohl für Petrijünger eigentlich selbstverständlich.

Anmerkungen

1. Seltsam: Kurz zuvor war der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan nach Caracas gereist. Von dort schrieb er einen Brief an seine Ecole Freudien de Paris, in dem er sie für aufgelöst erklärte. Ferner behauptete er darin, daß die Frösche eine große Eleganz bei der Paarung zur Schau stellen würden, die Menschen dagegen nicht. Und das sei doch wohl das wesentliche Problem, mit dem die Psychoanalyse es zu tun habe. Am nächsten Tag starb Lacan.

2. In diesen Zusammenhang gehört vielleicht das Phänomen, daß damals die rot umrandeten Fahndungsplakate für die letzten noch frei herumlaufenden Stadt-Terroristen (von der RAF), die überall auf den Ämtern und selbst an den Buswartehäuschen, den Treffpunkten der dörflichen Jugend, aushingen, und auf denen verhaftete bzw. erschossene „Gewalttäter“ mit Kugelschreiber oder Filzstift durchgestrichen wurden – daß die Umrandung dieser Fahndungsplakate plötzlich von rot in grün umgeändert wurde, von irgendeinem hellsichtigen Verwaltungsbeamten mit Entscheidungsbefugnis im Öffentlichkeitsreferat des Bundeskriminalamtes (BKA). Anschließend fand man auf vielen dieser grünumrandeten Fahndungsplakate im Vogelsberg den handschriftlichen Zusatz: „Besser am Stammtisch als in Stammheim!“

3. Die Killerwale, die in großen Glasbecken bikini-bekleideten Schwimmerinnen das Oberteil aufknüpfen, haben mit diesem Kunststückchen die in Oberhessen früher beliebten Damen-Schlammcatch-Shows völlig verdrängt.

4. Der französische Schriftsteller Romain Rolland schrieb einmal an seinen Freund Sigmund Freud, nichts beglücke den Menschen so sehr wie ein „ozeanisches Lebensgefühl“ (eine umfassende Metapher für das, was Carol Gilligan als „Verbundenheit“ beschreibt). Freud notierte  dazu, ein solches Gefühl sei wohl eine Illusion, er könne jedenfalls nichts Entsprechendes in sich  entdecken. Damals war die Zeit anscheinend noch nicht reif  dafür. Die Menschheit brauchte anscheinend  erst einmal die Erfahrung des „Umkippens von ganzen Gewässern“ (Horst Stern).

5. Ganz anders – entgegengesetzt – vermutete es seinerzeit Novalis, als er meinte: „Abwärts treibt der Sinn!“

6. …Dessen Beziehungen zur Hydro-Guerilla mehrmals Gegenstand von polizeilichen Ermittlungen waren, die aber nie ganz geklärt werden konnten, er war jedenfalls – vorzeitig pensioniert – ein erbitterter Gegner des „Wasserraubs“.

7. Übrigens stehen dabei wieder an vorderster Front – wie seit eh und je – die sogenannten „Kulturfrauen“, das ländliche Pendant zu den städtischen „Trümmerfrauen“.

Könnten Sie Ihre Haare wieder etwas nach hinten stecken links, d.h. von Ihnen aus rechts?

4.

In der Nacht von Freitag auf Faschings-Samstag wurden in  Volkartshain drei Frauen mit einem stumpfen Gegenstand bewußtlos geschlagen und dann mit einem Hirschfänger erstochen. Bei den Ermordeten handelte es sich um eine Großmutter, die Mutter und die zwölfjährige Tochter.

Ein Jahr zuvor hatte die Familie das Haus der alleinlebenden Großmutter väterlicherseits verkauft. Diese hatte daraufhin im nahen Dorfteich Selbstmord begangen. Das Seltsame an ihrem Wassertod, den auf dem Land schon viele Frauen wählten, bestand nach Meinung der  Dorfbewohner darin, dass das Wasser im  Teich nur knietief war. Auch das scheint nichts Ungewöhnliches zu sein: 1992 berichtete Erwin Strittmatter von einem ähnlichen Wassertod einer alten Frau bei Gransee – in seinem letzten Buch „Vor der Verwandlung“. Vielleicht hat er dabei aber auch einfach den Volksartshainer Fall genommen und ihn in seinem Dorf gewissermaßen neu angesiedelt? Ein halbes Jahr nach dem Selbstmord der Großmutter im Dorfweiher starb ihr Sohn an einem Herzinfarkt. Nach der Beerdigung des Mannes fing die Frau an, die Landwirtschaft aufzulösen. Ein paar Tage vor ihrer Ermordung hatte sie den Traktor für 18.000 Mark verkauft, das Geld aber nicht auf die Bank gebracht, stattdessen hatte sie noch 2500 Mark abgehoben. Man vermutete deshalb einen Raubüber- fall. Der Täter mußte das Geld gesucht haben, da alle Zimmer des Hauses durchwühlt waren.

Mit zeitweise bis zu 40 Polizisten quartierte sich die Mord-Kommission im Dorfgemeinschaftshaus ein, ,,darunter drei der angeblich fähigsten LKA-Beamte: M. Engel, T. Treibel und C. Werner. Alle Telefone wurden abgehört, die Freiwillige Feuerwehr Grebenhain durchsuchte mit Leitern sämtliche Dachrinnen nach der Mordwaffe, ein paar Mal kreisten Hubschrauber über dem Dorf, der Jagdverein Oberer Vogelsberg durchkämmte die verschneite Umgebung nach Spuren. Im Haus hatte man nur ein Indiz gefunden: einen Fußabdruck, Größe 44. Jeder erwachsene Mann im Dorf mußte sich im Lithoverfahren einen Fußabdruck nehmen lassen, auch einige Frauen wurden nach ihrer Schuhgröße gefragt.

Als ersten Verdächtigen verhörte man den im Dorf nicht besonders beliebten Schäfer, der mit seinem Pkw in der Mordnacht durchs Dorf gefahren war. Er hatte seinen Sohn – einen Bäckerlehrling – zur Arbeit gebracht. Am vierten Tag ihrer Untersuchung fand die Polizei die 18.000 Mark. Das Geld war im leerste- henden Zimmer des ältesten Sohnes versteckt worden. Der Sohn sowie zwei weitere Geschwister lebten schon seit längerem nicht mehr im Elternhaus.

In der Mordnacht feierte der Volkartshainer Tischtennisverein eine Faschingsparty. Die zwölfjährige Tochter war bis zehn Uhr auf dieser Party gewesen. Als sie nach Hause ging, vergaß sie die Handtasche dort, die einige Mädchen ihr kurze Zeit später nachtrugen, aber sie fanden die Haustür bereits verschlossen vor.

Der Volkartshainer Ortsvorsteher Oskar fungierte als Vermittler zwischen dem ermittelnden Polizeistab und den immer unruhiger werdenden Dorfbewohnern. Da man an der Raubmord-Theorie festhielt, kam als Täter eigentlich nur jemand in Betracht, der von dem Bargeld gewußt haben mußte. Bald fühlte sich jeder im Dorf schuldig, und fast jeder war verdächtig. Während man einen Künstler, der oberhalb des Dorfes lebte, zum Verhör abholte, brannte ihm sein halbes Atelier ab, er war gerade beim Ofenreinigen gewesen. Ein weiterer Künstler von unterhalb des Dorfes stellte sich, während er verhört wurde, den Beamten als Phantom-Fußzeichner zur Verfügung. Jeder Erwachsene im Dorf bekam erst einmal ein Formular ausgehändigt, auf dem er sein Alibi für die Mordnacht aufschreiben mußte. Tagsüber standen die Leute in kleinen Gruppen auf der Dorfstraße zusammen und diskutierten den Fortgang der Ermittlungen. Einige schafften sich heimlich Waffen an, nachts wurden die Türen abgeschlossen und die Rolläden heruntergelassen. Diejenigen, die in abgelegenen Häusern wohnten, trauten sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr in ihre Scheunen, Besucher mußten sich mit einem vorher vereinbarten Hupsignal ausweisen.

Auf der Post sagte eine Frau: „Ja also, warum konnte der Täter nicht wenigstens ein Kind leben lassen?“ Eine andere: ,,Wenn so einer zu mir käme, ich würde ihm doch sofort das Geld geben. Geld bekommt man immer wieder, aber das Leben…“

Im letzten Haus auf der rechten Seite der Dorf-Hauptstraße nahm der kleine Sohn einen Telefonanruf entgegen: ,,Dir kommt als nächste dran!“ wurde ihm gesagt. Die Familie war so verstört, daß zwei junge Leute aus der Nachbarschaft Nachtwache im Haus halten mußten.

Gegen Morgen hielt ein Auto im Dorf, der Fahrer stieg aus, leuchtete mit einer Taschenlampe das Haus gegenüber ab, ging dann zu seinem Wagen zurück und fuhr weg. Die Nachtwache beobachtete ihn durch die Vorhänge. Bei der Gederner Flugzeug-Firma meinten einige: ,,Das muß der Künstler von unterhalb des Dorfes gewesen ein!“ Ein anderer widersprach: ,,Der, für den lege ich meine Hand ins Feuer!“ Der Tankstellenwart in Hartmannshain war der Ansicht, die Polizei habe alles falsch gemacht, die hätte in der selben Nacht noch Spürhunde einsetzen müssen. Andere ergingen sich in neue Theorien über den Täter: Vielleicht war es ein kurz vor der Mordnacht aus dem Kölner Gefängnis ausgebrochener Gewalttäter, der zufällig in das Dorf gekommen war?! Es ging das Gerücht um, daß die ermordete Mutter in der Mordnacht nackt durchs Dorf gelaufen sei, von einem Betrunkenen verfolgt. Ein anderes Gerücht besagte, daß irgendjemand angeheuert worden war, die Großmutter zu töten, um an die Erbschaft ranzukommen, den Haustürschlüssel hätte der Täter von einem der drei außerhalb lebenden Enkel bekommen. Die Polizei verhörte den Verlobten der ältesten Tochter: Helmut Vogel.

Bei der Beerdigung der drei Toten, die von mehreren hundert Leuten besucht . wurde, kam es zu einem merkwürdigen Vorfall: Auf der großen Fichte nahe der Friedhofsmauer saßen drei schwarze Vögel. Als der erste Sarg heruntergelassen‘ wurde, verschwand einet der Vögel, nachdem man die nächsten zwei Särge zusammen ins Grab gesenkt hatte, verschwanden auch die anderen beiden Vögel. Während der ganzen Beerdigungszeremonie kreiste ein Raubvogel über dem Friedhof. Mehrere Frauen aus dem benachbarten Völzberg waren von der Trauerfeier so mitgenommen, daß sie noch anderntags weinten. Die Pastorin sprach in ihrer Predigt davon, daß der Mörder hoffentlich bald gefunden werde, damit wieder Ruhe im Dorf einkehre, dann fügte sie noch hinzu, daß der Täter sich vielleicht sogar unter ihnen befände. Ein paar Tage später schimpfte der Ortvorsteher über den Bildzeitungs-Journalisten – ein so netter und freundlicher junger Mann, der sogar die Beerdigung besucht und dann so eine haarsträubende Geschichte geschrieben hatte, an der alles falsch war. ,,Da hat nichts zusammengepaßt – seine Nettigkeit und seine Verlogenheit.“ Der Verlobte der ältesten Tochter wurde erneut verhört. In Freiensteinau fand ein Bäcker eine blutverschmierte Hose.

Im Nachbardorf hieß es: ,,In Volkartshain bringen sie sich gegenseitig um. Das sind sowieso alles Zigeuner dort.“ (Das Dorf war vor Jahrhunderten einmal von Jenischen gegründet worden.) Der Krankenpfleger Walther besuchte eine Versammlung der Grünen in Grebenhain. Man redete an dem Tag gerade über die Solidarität mit dem Hungerstreik der RAF und über die Besetzung eines Büros der Wiesbadener Grünen durch RAF-Sympathisanten. Einem stillen älteren Herrn wurde das zu viel, er sprang auf und sagte erregt: ,,In Volkartshain bringen sie sich gegenseitig um und hier ist ja auch einer aus Volkartshain anwesend!“ Dann verließ er den Saal. Ein Kneipenwirt aus Gedern meinte zu seinen Gästen: ,,Die Volkartshainer sind alles Zigeuner, die halten zusammen, deswegen wird das auch nie aufgeklärt werden.“ Im Dorf erinnerte man sich an das alte Bauernsprichwort: Wenn ein Toter über Sonntag liegt, zieht er einen nach sich. Tatsächlich starben in den Wochen darauf zwei ältere Volkartshainer in der Nacht vom Freitag auf Samstag.

Die Polizei konnte mit Hilfe eines Orthopäden angeblich den Verlobten der ältesten Tochter als denjenigen überführen, von dem der blutige Fußabdruck stammte. Man hörte, er hätte ein Teilgeständnis abgelegt: Er hätte in der Mordnacht sehr viel getrunken und sei dann in dem Haus, in dem die Morde passiert waren, eingeschlafen und dann von den Schreien der Frauen aufgeweckt worden. In der Frankfurter Rundschau sprach ein Journalist sofort von dem ,,ehemaligen“ Verlobten der Tochter. Die Volkartshainer waren dagegen überzeugt, daß die Tochter von der Tat ihres Freundes zumindest gewußt haben mußte: ,,Sie muß ihm doch die blutigen Socken und die Hose gewaschen haben! Oder wenn er sie verbrannt hat, dann muß sie doch gemerkt haben, daß die fehlen!“ Ein Zuhörer schüttelte bedenklich den Kopf – nicht nur, daß seine Freundin es nicht merken würde, wenn ihm sämtliche Socken und Hosen fehlen würden, selbst wenn er ihre nähme, würde sie es lange Zeit nicht bemerken. Diesen Einwand äußerte er jedoch nicht laut. Jemand bemerkte über den Umstand, daß der Täter vielleicht betrunken gewesen war: ,,Zwei Kisten Bier und vier Flaschen Schnaps, da kommt der am Ende noch in die Psychiatrie und wird behandelt.“ Die Vorstellung einer solchen ,,Behandlung“ des Täters wecke archaische Erinnerungen an alte Lynchjustiz-Tage. Verschiedene Methoden wurden kurz andiskutiert. Das ganze Gespräch erinnerte immer mehr an die Gründungsversammlung einer Bürgerwehr.

In der Lauterbacher Hohaus-Bibliothek fand sich ein alter Aktenordner ,,Volkartshain“ – mit Zeitungsausschnitten. Über Bürgermeister Kempels erste Geldbörsen-Fabrik nach dem Krieg beispiels- weise. (Warum bloß ausgerechnet ,,Geldbörsen“?) Dann über die zwei ,,Helden von Volkartshain“ – zwei amerikanische Piloten, denen es gelungen war, bei einem Übungsflug ihr brennendes Flugzeug nicht über Volkartshain abstürzen zu lassen. Außerdem wurde der Ort mehrmals im Zusammenhang mit der Kampagne ,,Unser Dorf soll schöner werden“ erwähnt. Ferner fanden sich einige Abschriften aus alten Kirchenbüchern: Welche Offiziere bei welchem Schäfer oder Bauern einquartiert waren, auf dem Rückzug der napoleonischen Truppen aus dem Osten. Dem Pfarrer hatte einer der französischen Offiziere eine persönliche Widmung auf die Rückseite eines Silbertellers geritzt. Und dann war noch von einer Volkartshainer Magd die Rede, die ihr neugeborenes Kind umgebracht hatte und die deswegen in Geldern aufgehenkt worden war. Der damalige Pfarrer sprach davon, daß man allgemein sehr zufrieden mit ihr war, da sie gefaßt und reuig auf den Richtplatz ging. Im Lauterbacher Café sagte jemand am Nebentisch: Die Polizei hat in der Wohnung des Verlobten der Tochter 14.000 Mark gefunden – zwischen den Rolläden und im Werkzeugkasten versteckt. Tatsächlich hatte die Polizei das Geld bei einem Freund gefunden, wobei dessen Großvater ausgesagt hatte, er hätte die Summe seinem Enkel geschenkt.

Der Künstler unterhalb des Dorfes erkundigte sich auf einer  Fahrt nach Frankfurt bei einem Tankwart in Büdingen, ob es was Neues über den Volkartshainer Mord gäbe, woraufhin der Tankwart sofort der Polizei die Autonummer des Künstlers durchgab. Nach circa drei Wochen wurde der Presse der genaue Todeszeitpunkt bekanntgegeben: zwischen zwei und drei Uhr morgens waren die drei Frauen ermordet worden. Außerdem erwähnte der Polizeisprecher, daß sie eine ,,Rufprobe“ im Haus durchgeführt hätten – man könnte draußen keine Schreie von drinnen hören. In zwei Monaten werde man Anklage gegen den Verlobten der Tochter erheben, der nach Ziegenhain überführt worden sei.

Die Lauterbacher Staatsanwältin ergänzte: Bei der Fußspur sei man sich aufgrund des orthopädischen Gutachtens nahezu hundertprozentig sicher. Die Polizei räumte das Dorfgemeinschaftshaus. In dem zum Partyraum umgebauten Schweinestall des Ortsvorstehers fand noch einmal eine Dorfversammlung statt. Später erfuhr man, daß die Tochter nach wie vor zu ihrem Verlobten hielt, desgleichen ihr älterer Bruder. Sie hätten ihm einen ,,exquisiten Rechtsanwalt“ besorgt. Im Dorf konnte man es noch immer nicht fassen, daß der mutmaßliche Täter sowohl auf der Beerdigung als auch beim Gottesdienst anwesend gewesen war. Einige wollten ·gesehen haben, wie seine Hände zitterten und daß er die ganze Zeit am Grab den Kopf gesenkt hielt. Während der Trauerfeierlichkeiten hatten sich circa 100 Polizisten in der Umgebung versteckt gehalten, da sie hofften, der Täter würde sich während der Beerdigung zu erkennen geben. Er hatte mittlerweile sein Teilgeständnis widerrufen und noch kein neues abgelegt. Seine Nachbarin würde nach wie vor ihre Hand für ihn ins Feuer legen — ,,so ein netter Kerl! Der kann das nicht gewesen sein!“ Ein Mann im Dorf meinte: ,,Wenn man mal drüber nachdenkt, der hat mehr als zwei Prozent der Dorfbevölkerung umgebracht.“ (Volkartshain hat 157 Einwohner) Ein anderer sagte: ,,Vielleicht war er wirklich halb bewußtlos im Suff dort und ist dann durchgedreht, als die drei Frauen ihn entdeckten?!“ Nach einer Weile fügte er hinzu: ,,Irgendwie scheint die Tragödie in der Familie schon damit angefangen zu haben, daß die Großmutter wegen des Hausverkaufs im Dorfteich Selbstmord beging…“

Da alle Zimmer des Hauses durchwühlt waren, vermutete man einen Raubüberfall. Mit 40 Polizisten quar- tierte sich die Mordkommission im Dorfgemeinschaftshaus ein, ihr einziges lndiz: die blutigen Abdrücke eines bestrumpften Fußes, Größe 44, die im Treppenhaus gefunden worden waren. Von allen erwachsenen Männern im Dorf, auch von einigen Frauen, nahmen die Beamten Fußabdrücke.

Solange nicht ein Täter gefunden war, breitete sich Mißtrauen und Angst aus, einige verbarrikardierten sich nachts, andere bewaffneten sich. Am vierten Tag ihrer Untersuchungen entdeckte die Polizei die 18.000 Mark unangetastet in einer Schreibtischschublade im Dachzimmer des Hauses. Der leitende Oberstaatsanwalt Matzke kam in der „Fuldaer Zeitung“ zu Wort: „Wenn der Täter nach 48 Stunden noch nicht gestellt ist, vermindert sich die Chance im Quadrat zu der fortschreitenden Zeit“. Eine äußerst präzise Angabe eines Experten – die Sonderkommission im Dorfgemeinschaftshaus hatte mittlerweile ihre ,,Spur 1″.

Bei ,,Spur 1″ handelte es sich um den Verdacht gegen Helmut Vogel, ein 22jähriger Tischler, den Verlobten der außer Haus lebenden ältesten Tochter der Ermordeten. Die beiden wohnten im Nachbardorf in Mauswinkel, in einem Neubau, den der Verlobte einige Jahre zuvor mit finanzieller Hilfe seiner Eltern begonnen hatte. Da es zwischen seinen Füßen und den am Tatort gefundenen Abdruck eine gewisse Ähnlichkeit gab, hatte man ihn zu Anfang schon einmal vernommen, aber er war in der Tatnacht auf der Generalversammlung der Freiwilligen Feuerwehr gewesen und besaß damit ein Alibi bis kurz vor zwei Uhr. Laut Gutachten eines Gerichtsmediziners mußten die Morde früher passiert sein. Nachdem man ein zweites gerichtsmedizinisches Gutachten eingeholt hatte, das die mögliche Tatzeit bis in die frühen Morgenstunden schob, konzentrierte man sich noch einmal und intensiver auf ,,Spur 1″.

In der dritten Woche ihrer Ermittlungen war die Polizei dann so weit: sie verhaftete den Verlobten als ,,dringend tatverdächtig“. In Volkartshain atmete man auf, endlich hatte sich ein Fahndungserfolg gezeigt. In Mauswinkel war man dagegen anfänglich nicht von der Schuld des Verhafteten überzeugt. Man kannte ihn als ,,fleißig, zuverlässig und ruhig“, er trank höchstens mal ein, zwei Cola-Cognac, gelegentlich fuhren seine Verlobte und er ins Nachbardorf Fischbom, um dort in einer Kneipe je einen Hamburger zu essen, die meiste Zeit und Energie steckten sie in ihren Hausbau. Er arbeitete im Dorf bei einem Tischler, der nur Positives über ihn berichtete. Als man von einem Teilgeständnis erfährt, das er in seiner Aussage gemacht haben soll, redet man von einem möglichen ,,Black-Out“.

Der Angeklagte wird nach Fulda überführt. Seine Verlobte besorgt ihm einen Rechtsanwalt – Dr. Fischer aus Frankfurt – und der zieht wegen der Kompliziertheit des Falles einen zweiten berühmten Anwalt hinzu: Sebastian Cobler.

Helmut Vogel hat schon zuvor sein Teilgeständnis widerrufen. Der Staatsanwaltschaft ist das Motiv ,,nach wie vor unklar“. Desungeachtet eröffnet man nach über einem Jahr aufgrund der Indizien den Prozeß gegen H. V.  Die beiden Anwälte sind von der Unschuld ihres Mandanten überzeugt und versuchen nachzuweisen, daß alle Experten, die gutachterlich die Rekonstruktion des vermutlichen Tatablaufs für die Anklage gegen Helmut V. abgestützt haben, nur unzulänglich die gravierenden Mängel der Ermittlung kaschieren. In detektivischer Kleinarbeit deckten die Anwälte in den bisher zehn Verhandlungstagen eine Fragwürdigkeit nach der anderen auf. Es begann mit den Fußanalysen des Orthopäden, nachdem zuvor die Verteidiger nachgewiesen hatten, daß der Gutachter bei seiner Statistik geschlampt hatte und einmal sogar einen rechten Fußabdruck vom Tatort mit dem linken Fuß des Angeklagten verwechselt und dabei eine ,,hundertprozentige Übereinstimmung“ festgestellt hatte. Schon zuvor war ,,Heiterkeit“ im Gerichtssaal aufgekommen, als einer der als Zeuge auftretenden Alsfelder Kripo-Beamten, die die Untersuchung in Volkartshain geleitet hatten, aussagte: Mehrere seiner Kollegen hätten ,,wegen durchfeuchteter Schuhe“ das Mordhaus auf Socken nach Spuren durchsucht. Diese Tatsache fand sich an keiner Stelle in den knapp l.OOOseitigen Akten vermerkt.

Nur auf einem Foto, das die Alsfelder vom Tatort gemacht hatten, bevor die LKA-Spurensicherungstruppe aus Wiesbaden anrückte, sah man einen bestrumpften Fuß, der aus Versehen mit aufs Bild gekommen war. Der Zeuge bestritt, daß es Absprachen unter den Beamten gegeben habe, dieses Detail vor Gericht zu verschweigen. Aber nur einer von ihnen hatte ,,für den Notfall“ Abdrücke von seinen Füßen anfertigen las- sen. Der Orthopäde, der anscheinend von der polizeilichen Präferenz für ,,Spur 1″ überzeugt werden konnte (er sprach im Gutachten bsp. vom ,,Fuß des Täters“, wenn von Helmut Vogels Fuß die Rede war), hatte die Fußabdrücke des Beamten gar nicht erst mit den am Tatort gefundenen verglichen.

Die Verteidiger beantragten die Ablehnung des orthopädischen Gutachters wegen Befangenheit. In der darauffolgenden Sitzung stellten sie erneut einen Antrag: auf Nicht-Verwendung der Aussagen ihres Mandanten bei den Vernehmungen durch die Alsfelder Polizei und der Lauterbacher Haftrichterin. Nach Studium der Protokolle darüber waren sie zu der Ansicht gelangt, daß H. V. von den Beamten ,,getäuscht, genötigt und gequält“ worden sei. Diese hatten ihn am 5. März ’85 vom Frühstückstisch im Haus seiner Eltern weg verhaftet und mit Unterbrechungen 14 Stunden lang verhört. Schon auf der Fahrt zum Verhör sagte man ihm, daß man die Tatwerkzeuge schon finden werde, und wenn man dazu mit einem Bagger sein ganzes Haus und das seiner Eltern abtragen müsse. Für jemand, dessen Denken zu einem großen Teil um den Bau seines Hauses kreiste, eine fürchterlicheDrohung. Schließlich wurde ihm auch noch mitgeteilt, daß das Gutachten des Orthopäden zweifelsfrei seine Schuld bewiesen habe. Dem Zusammenbruch nahe begann H. V. anscheinend an seiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung zu zweifeln.

Zu diesem Zeitpunkt der Vernehmung, bei der sich mehrere Beamte abwechselten, wollte die Verlobte Helmut Vogel einen Zettel zukommen lassen, auf den sie geschrieben hatte, daß sie weiter zu ihm halte und einen Anwalt besorgen werde. Den Zettel bekam er nie ausgehändigt. Anscheinend war der Beamte, der ihn verhörte, ungehalten über diese Unterbrechung gewesen: ,,Jetzt, wo wir ihn gleich so weit haben!“ Der Haftrichterin warf die Verteidigung vor, die Ergebnisse einer solchen polizeilichen Vernehmung verwertet und außerdem, ihn nicht zuvor selbst vernommen zu haben, wie es die Strafprozeßordnung vorschreibt. Als anderntags der Staatsanwalt gegen den Antrag  auf Nichtverwertung dieser Aussagen Stellung nahm, und u.a. darlegte, daß H. V. genügend Pausen bei seiner Vernehmung eingeräumt worden seien, protestierte der Angeklagte zum ersten Mal laut.

Am 9. – vorletzten – Verhandlungstag ging es um den Nagel im rechten Vorderreifen des VW-Polo der Schwester des Angeklagten. Mit diesem Wagen soll H. V. zum Tatort gefahren sein. Laut seiner Aussage war aber der Reifen schon am Vorabend der Tat platt gewesen. Hierzu war von den LKA-Sachverständigen für Werkzeugspuren zu klären, ob möglicherweise der Angeklagte den Nagel nach der Tat selbst in den Reifen getrieben hatte. Tests ergaben, daß dies mit einem in der auch als Werkstatt benutzten Garage asservierten Gummihammer nicht möglich gewesen wäre, wohl aber mit einem Metallhammer, den hatte man nur nicht sichergestellt. Es gab jedoch den Orginalnagel. Der Angeklagte hatte dazu zu Protokoll ge- geben, daß er einige Tage vor dem Mord beim Arbeiten an der Hobelbank in der Garage ein Kästchen mit diesen Nägeln aus Versehen heruntergestoßen habe. Mit zehn ausgesuchten ähnlichen Nägeln stellten daraufhin die Sachverständigen ein – diesem Mißgeschick nachempfundenes – Wurfexperiment in der Garage an, wobei sie dann mit einem VW- Polo mehrmals über die Nägel fuhren – keiner der Nägel wurde dabei in den Reifen getrieben. Sodann wurden mehrere Versuche mit Vergleichsnägeln im Reifen gefahren, je 20 km auf unterschiedlichem Pflaster, um anschließend die dabei auf den Nagelköpfen entstehenden Spuren mit denen am sichergestellten Nagel zu vergleichen. In weiteren Versuchen ging es darum herauszufinden, wie lange ein Reifen mit Nagel drinne die Luft hält.

Die Verteidiger kritisierten, daß man derlei Experimente ca. l.OOOmal durchführen müsse, um zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen. Der Sachverständige rechtfertigte seine Arbeit: ,,Wir wollten ja nur Ergebnisse bekommen,die den sichergestellteri Spuren ähnlich sind!“ Dazu merkte der Gutachter Dr. Maisch an: ,,Wissen sie, was sie da eben jetzt gesagt haben?“ Ein anderer Sachverständiger ·führte aus, daß er keine Spuren von Gewaltanwendung am Schloß der Haustür des Tathauses in Volkartshain festgestellt hätte, allerdings hatte sein Auftrag nur gelautet, das Schloß der Haustür zu untersuchen, so daß Balkon- und Kellertür sowie die Fenster nicht untersucht worden seien. Am 10. Verhandlungstag verkündete das Gericht seinen Beschluß zu den Anträgen auf Nichtverwertung der Aussagen der ersten Vernehmung und vor der Haftrichterin: Die Verwertung des Teilgeständnisses wurde für unzulässig erklärt, weil unter erheblichen Drohungen und Druck zustandegekommen. In den nächsten Verhandlungen beantragte die Verteidigung eine Ablehnung des orthopädischen Gutachters wegen Befangenheit. Danach nahmen sie sich weitere  Experten vor: ,,Es gibt eine geradezu beängstigende Beziehung zu dieser Art von Begutachtung (gemeint ist hier die des Orthopäden) und dem weiteren Fortgang der Ermittlungen“ -so einer der Anwälte.

Am 4. August – einem Montag – werden im nordhessischen Philippstal bei Fulda zwei kleine Mädchen ermordet. Die Geschwister Carola und Melanie Weimar sind fünf und sieben Jahre alt. Die Öffentlichkeit reagiert heftig: Eine ganze Hundertschaft von Journalisten belagert fortan den Ort und das ,,Mordhaus“. Die Behörden sorgen für Verwirrung. Erst wird die Mutter der beiden Mädchen, eine 28jährige Krankenschwester, als Tatverdächtige festgenommen. Dann wird sie freigelassen und der Vater, ein 34jähriger Bergwerksschlosser, festgenommen. Auch er wird vom zuständigen Haftrichter wieder auf freien Fuß gesetzt. Es mangele am ,,dringenden Tatverdacht“. Danach fühlt sich die ·Journaille vor Ort verpflichtet, den Mörder auf eigene Rechnung zu fangen, der Philippstaler Ortsteil Röhrichshof-Nippe ist aber schwer zu finden. Unbekannte haben den Wegweiser umgehauen. Das ,,Mordhaus“ steht abseits, eines von drei Häusern, die in der 50er Jahren für die Arbeiter des nahegelegenen Kali-Bergwerks gebaut wurden. In der Siedlung wohnen heute ungefähr 60 Menschen in ihren Eigentumswohnungen.

Die Szene ,,vor Ort“ in der vorigen Woche: Überall stehen Autos. Der Hessische Rundfunk dreht einen Bericht für die ‚Hessenschau. Die Bewohner der Siedlung schauen aus allen Fenstern. Die Mutter der beiden ermordeten Mädchen lebt in einer Parterre-Wohnung. Auch sie lehnt im Fenster und wird gerade von einem Reporter der ‚Bild am Sonntag‘ interviewt. Im Haus lebt außerdem ihre Familie – samt den angeheirateten Männern. Die öffentliche Meinung wirft ihr vor, daß sie während der Mordnacht möglicherweise ihren amerikanischen Freund, einen GI, im nahegelegenen Bad Hersfeld besuchte. Die Großgemeinde Philippstal liegt direkt an der Grenze zur DDR und ist deshallb für GIs verboten, ,,off limis“. In Bad Hersfeld und Fulda streiten Polizei, Staatsanwaltschaft und Haftrichter um die mutmaßlich Tatverdächtigen. Der Leiter der Sonderkommission (Soko), die in dem Mordfall ermittelt, ließ inzwischen durchsickern, daß er die Eltern nicht für die Täter halte. Er setzte sich damit in Gegensatz zur Staatsanwaltschaft. Mittlerweile wünscht er sich ,,nichts sehnlicher, als einen anderen großen Fall irgendwo im Bundesgebiet“. Inzwischen sitzt er aller- dings unentwegt am Telefon und beantwortet – ausweichend – Fragen der zahlreichen Journalisten. Die vor Ort recherchierenden Presseleute logieren schon seit Wochen alle im Bad Hersfelder Kurpark-Hotel. ,,Es ist das einzige mit Schwimmbad“, sagt der Reporter der ‚Bild am Sonntag‘. Der örtliche ‚Kreisanzeiger‘ mut- maßt, daß die angereisten Kollegen nach dem Motto ,,Geld spielt keine Rolle“ arbeiten. Beim Ausstellen der Schecks für Interviews und Fotos sind die Vertreter der Regenbogenpresse nicht kleinlich. Es ist von ,,drei- bis vierstelligen Summen“ die Rede. Schwierigkeiten, an Informationen zu kommen,gibt es nur, wenn die örtlichen Banken geschlossen haben. Anscheinend bevorzugen die Philippstaler Bargeld. Auf offizieller Seite ist einzig der ,,Fremdenverkehrsverband Waldhessen“ in der Lage, diesen ganzen Rummel unter einem positiven Aspekt zu sehen. Der Bürgermeister ist zurückhaltender. Er hätte sich ,,eine bessere Werbung“ für seinen Ort gewünscht. Die Spekulationen im Ort sind vielfältig. Ein Tankwart ist davon überzeugt, daß der amerikanische Freund der Mutter der Mörder gewesen ist: ,,Der soll doch sowieso ein Neger sein!“ Beim örtlichen Bundesgrenzschutz meinen fast alle, die Mutter sei die Täterin gewesen. Es komme jetzt darauf an, daß die Frau ,,aufhört zu lügen“. ,,Die hat viel gelogen und ihren Mann beschuldigt.“ Man hält sie für ,,dominant, kaltherzig und berechnend“. Dem Vater traut keiner den Mord zu. Der ist inzwischen zu seinem Bruder, der ebenfalls Schlosser im Bergwerk ist, ins Nachbardorf gezogen. Insgesamt ziehen sich die widersprüchlichen Einschätzungen durch den ganzen Ort. Drei Bewohner des ,,Mordhauses“ wollen die Kinder am Vormittag des Tattages – gegen 11 Uhr – auf dem zur Siedlung gehörenden großenSpielplatz gesehen haben. Der Gerichtsmediziner Hugermeier dagegen ist sich vorerst sicher, daß die beiden Mädchen in den frühen Morgenstunden getötet wurden.  Nachbarn sagten aus, sie hätten nachts eines der Mädchen weinend auf der Straße gefunden und ins Haus zurückgebracht. Die Siedlungs-Kneipe ,,Zur Er- holung“ hat wegen des ganzen Trubels um den Mord jetzt schon ab mittags geöffnet.

An der Theke schimpfen einige Gäste über die schlampige Arbeit der Ermittlungsbehörden. An einem Tisch wird über die Höhe der Schecks der Journalisten gerätselt und wieviel Geld die wohl selbst für ihre Arbeit bekommen? Der ‚Bild‘- Reporter hat sein logistisches Basislager gleich in dieser Kneipe aufgeschlagen. Von dort aus telefoniert er laufend mit dem Fuldaer Oberstaatsanwalt Matzke und den Bad Hersfelder Rechtsanwälten des Ehepaars Weimar, Die ‚Abendpost Nachtausgabe‘ aus Frankfurt will herausbekommen haben, daß Staranwalt Bossi ,,für 50.000 DM oder Abtretung der Filmrechte die Verteidigung des Vaters übernehmen wolle. Auch die Philippstaler Grund- und Hauptschule ignoriert den Mord nicht. Dort steht im Fach Sozialkunde der 6. und 7. Klassen eine Wochenstunde ,,Mord“ auf dem Unterrichtsplan: Die Schüler müssen Mappen mit allen Zeitungsartikeln anlegen und Gerücht und Wahrheit herausanalysieren. Die beiden Mädchen gingen allerdings noch in den Kindergarten. Dort ist eine kleine Gedenkstätte errichtet worden – dekoriert mit Bildern und Blumen. . Nachdem anfangs angenommen worden war, daß die beiden Kinder vom Spielplatz weg gekidnappt wurden, überdachte die Philippstaler Gemeinde die Sicherheit der Kinder in der Arbeitersiedlung. Sie beschloß dann, die zwei Kilometer entfernte Schulbus-Haltestelle in die Siedlung zu verlegen.

Inzwischen schlägt der Behördenstreit in Fulda weiter hohe Wellen. Gegen den Beschluß des Haftrichters, weder die Mutter noch den Vater festzusetzen, reichten Oberstaatsanwalt Matzke und sein untergebener Staatsanwalt in Bad Hersfeld, Sauter, umgehend Beschwerde ein. Das Gericht in Fulda entschied jedoch in der vergangenen Woche, diese Beschwerde abzulehnen. Matzke hatte vorher in Interviews mehrmals erklärt, er sei der Meinung, der Fall sei ,,kriminalistisch gelaufen“. Es fehle jetzt ,,nur noch“ der ,,justizförmliche Nachweis“ der Schuld des Vaters. Der ‚Spiegel‘ schrieb dazu verärgert: ,,Als käme es im Rechtsstaat nicht ausschließlich auf eben diesen Nachweis an. Matzke werden auch in anderen Fällen schwere Pannen, Fehler und Schlampereien nachgesagt. Im nahegelegenen Volkhartshain brachte er einen Tischler vor Gericht, der drei Frauen ermordet haben soll. Dessen Unschuld sei, sagen Prozeßbeobachter und Juristen, inzwischen so gut wie erwiesen. Auch dort vertrat er die Anklage mit ungebrochener Über- zeugung. Dennoch ließ  er den Volkartshain-Prozeß anfang des Monats kurz unterbrechen, um der ‚Bild‘-Zeitung ein schnelles Interview zu geben, in dem er den Ablauf des Dramas von Philippstal so enthüllte: ,,Carola (5) sah die Schwester sterben, dann war sie selbst dran!“ Als die Nachbarn das Kind nachts ins Haus zurück brachten (.. .die Mutter war bei ihrem amerikanischen Geliebten…), hielt sich ,,vermutlich der Vater im Schlafzimmer versteckt. “ Er habe dann seine Tochter ,,mit einem Kissen“ erstickt. Das andere Mädchen habe er schon vorher umgebracht.

Viele Beobachter der letzten Wochen in Fulda meinen, daß Oberstaatsanwalt Matzke unter Erfolgszwang stehe und deshalb seine Theorien zum Tathergang als gesicherte Erkenntnisse ausgebe. Der ‚Gießener Anzeiger‘ vermutet dagegen, daß auch Matzkes Bad Hersfelder Kollege Sauter ,,offensichtlich Karriere-Chancen“ wittere.“

Jahrelang fuhr ich immer wieder zu dem Prozeß nach Fulda. Das Gericht ließ sich mit seiner Urteilsverkündung bis Ende 1987 Zeit. Dann wurde der Angeklagte Schreiner Helmut Vogel freigesprochen. Seine Verlobte hatte sich schon lange von ihm getrennt und im Dorf wurde er auch weiterhin mißtrauisch beobachtet. Er zog  weg. Seitdem hat man nie wieder was  von ihm gehört. Die U-Haft und der Prozeß haben sein Leben zerstört. Gerhard Mauz schrieb im Spiegel: “ Die Neigung zu Fußschweiß wird von den Betroffenen aus naheliegenden Gründen als ärgerlich empfunden. Der Schreiner Helmut Vogel, 25, hat das Glück, Schweißfüße zu haben. Denn seine Füße ruinierten ein schwerwiegendes Indiz der Anklage, unter der er seit dem 22. April 1986 (!) vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Fulda stand. Sie lautete auf dreifachen Mord.  Jetzt ist Helmut Vogel freigesprochen worden. Seit dem 5. März 1985 hat er sich in U-Haft befunden. Das Urteil wurde vom Publikum, das den Saal überfüllte, empört aufgenommen. Die Mehrheit der Mitbürger steht auf dem Standpunkt, daß es besser ist, einmal zuviel als einmal zuwenig zu verurteilen. War das Urteil falsch, so kann man es immer noch der Strafjustiz um die Ohren schlagen. Die Justiz soll unabhängig sein, aber doch, bitte, nicht völlig unbeeindruckt vom Volksempfinden, das schließlich ein sicheres Gefühl dafür hat, wer der Täter war. Die Anklageschrift vom 30. Oktober 1985 schien ein stabiles Papier zu sein. Am 10. Dezember 1985 ließ die Schwurgerichtskammer die Anklage zu und eröffnete das Hauptverfahren.  In den Blutspuren seien 39 Fasern gefunden worden, Fasern, wie sie auch in fast allen Schuhen Helmut Vogels festgestellt werden konnten: Schließlich wurden die im Tathaus vorgefundenen  blutigen Fußabdrücke mit Abdrücken der Füße des Angeschuldigten verglichen. Hierbei stellte der Gutachter Prof. Dr. med. Joachim Eichler, Leiter der Orthopädischen Klinik in Wiesbaden, eine Übereinstimmung für den rechten Fuß von 94 % und für den linken Fuß von 85 % fest. “

Auch hatte der Sachverständige, außer den Fußabdrücken auf Strümpfen, am rechten Fuß von Helmut Vogel „eine personenspezifische charakteristische linsenförmige Schwielenbildung an der Innenseite der rechten Ferse sowie an der Außenseite des Großzehengelenks“ festgestellt. Diese „personenspezifischen Charakteristika“ habe auch die am Tatort gesicherte Fußspur vom rechten Fuß aufgewiesen.  Diese – und andere, hier nicht angeführte – Indizien machten die Anklageschrift in der Tat zu einem Papier, nach dem die Überführung und Verurteilung Helmut Vogels völlig unproblematisch schien. Und vor allem war da auch noch das, was Helmut Vogel am Tag seiner Festnahme „eingeräumt“ hatte. Die Anklageschrift muß hier noch einmal ausführlich zitiert werden. Heute ist sie ein Trümmerhaufen. Vor der Hauptverhandlung erschien sie in ihrer Kompaktheit als ein unüberwindlicher Wall.

In seiner Vernehmung vom 5. März 1985 hat der Angeschuldigte dann eingeräumt, daß er in der Tatnacht in Volkartshain gewesen sei. Er sei nach dem Feuerwehrfest nach Hause gegangen, habe sich kurz auf das Bett gelegt und begonnen, eine Zigarette zu rauchen; dann habe er den Entschluß gefaßt, noch einmal mit dem Pkw seiner Schwester wegzufahren. Er sei mit dem Pkw losgefahren, Richtung Fischborn, über Reichenbach, Radmühl und dann zur Bundesstraße in Richtung Hartmannshain und schließlich nach Volkartshain. Dort habe er den Pkw etwa 500 Meter vor dem Ort in einen Seitenweg abgestellt. Er sei zu Fuß in den Ort hineingegangen und habe noch Licht im Dorfgemeinschaftshaus gesehen. Er sei zu dem Anwesen seiner Schwiegermutter gegangen und durch die nicht verschlossene Eingangstür eingetreten. Im Flur habe er am Telefontisch einen abgebrochenen Schippenstiehl stehen sehen. Er habe sich in das  Wohnzimmer gesetzt. Dabei habe er auch das Licht im Wohnzimmer angemacht. Er habe dann plötzlich Stimmen gehört, und danach könne er sich an nichts mehr erinnern. Es sei plötzlich alles wieder ruhig gewesen und er habe vor dem Haus unter einer Laterne gestanden. Er sei schließlich mit dem Pkw zurück nach Mauswinkel gefahren. Den Plattfuß am Pkw seiner Schwester habe er erst am nächsten Morgen, nachdem er aufgestanden war, bemerkt … Im Haftprüfungstermin am 9. Mai 1985 hat der Angeschuldigte dann diese Einlassung widerrufen und erklärt, daß er in der Tatnacht nicht in Volkartshain gewesen sei und daß seine ganzen Angaben zuvor erfunden gewesen seien. Er habe diese Angaben nur gemacht, um aus dem Polizeigewahrsam zu gelangen.

Die Kripo hat Helmut Vogel am 5. März 1985 in einer Weise zugesetzt, die schwer zu fassen ist. Mehr als um sich selbst machte sich Helmut Vogel um seine alten, kranken Eltern Sorgen. Das ist gegen ihn benutzt worden. Nur dadurch, daß er aussage, daß er wenigstens einräume, am Tatort gewesen zu sein in der Tatnacht, könne er verhindern, daß man das Haus der Eltern durchsuche, es auf den Kopf stelle. Da werde kein Stein auf dem anderen bleiben. „Wenn es sein muß … dann lassen wir eben einen Bagger kommen.“

Höhepunkt der Befragung jedoch an jenem Tag, in der Anklageschrift im Hintergrund verschwunden, nun aber in den Mittelpunkt gerückt, war, daß Helmut Vogel mit der Behauptung konfrontiert wurde, es seien Fußspuren von ihm gefunden worden. Helmut Vogels Antwort, „dann müsse er wohl in der Wohnung gewesen sein“, wurde nicht kritisch aufgenommen. Das war schlimm …  Denn die Fußspuren wurden für die Anklage zu einer Katastrophe: Die Verteidigung hat den Sachverständigen Professor Eichler erfolgreich wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Im Beschluß des Gerichts hieß es unter anderem, beim Angeklagten habe der Eindruck entstehen können. „der Sachverständige sei bestrebt, ihn notfalls auch mit unzureichenden Mitteln – nämlich mit kaum auswertbaren Fußspuren, bei denen er sich noch von Dritten, möglicherweise sogar von den Ermittlungsbehörden zeigen lassen müsse, was nun blutige Fußspur und was Linoleummuster ist – zu überführen, und er setze dabei ohne Skrupel auch unzulässige Mittel ein – nämlich eine von ihm selbst für unzulässig gehaltene Statistik -, um das Gericht im Sinne seines Ergebnisses zu beeinflussen“.

Die Anklage hat in der Hauptverhandlung eine unglückliche Rolle gespielt. Oberstaatsanwalt Rudolf Ferdinand Matzke, 59, vertrat sie nicht von Anfang an. Er zog erst ein, als Staatsanwalt Lothar Wilbers ausgeschieden war, um fortan als Richter zu wirken. Man mag dem Ankläger Matzke nicht gram sein, er ist ein Haudegen, ein Leitfossil, das tief in die Historie der Strafverfolgungsbehörde zurückführt. In 42 Minuten hatte er seinen Antrag auf Lebenslang begründet. Für ihn hatte die Hauptverhandlung nichts Neues außer einer dreisten Verteidigung erbracht, die in ihre Schranken zu weisen das Gericht versäumt habe.

Ungesühnt seien drei Morde geblieben, hieß es. „Doch es ist wohl besser, daß Schreckliches ungesühnt bleibt, als daß wir ohne zwingende Beweise verurteilen. Vielleicht wird diese Tat doch noch einmal aufgeklärt.“

Dies geschah jedoch nicht, der Fall wurde eingestellt, aber weil das Fuldaer Gericht mit seinem Freispruch den Oberstaatsanwalt Matzke brüskiert hatte, mußte es ihm beim darauffolgenden Prozeß – gegen die „Kindesmörderin“ – im Strafmaß entgegenkommen.  Monika Weimar wurde zu lebenslänglicher Haft  verurteilt. Gerhard Mauz schrieb bei Prozeßbeginn im Spiegel: „Oberstaatsanwalt Matzke steht vor einigem, vor seiner Behörde und vor der Polizei. Und er steht gegen alles, vor allem gegen das Chaos, das da in Gestalt von zwei Frankfurter Verteidigern hereingebrochen ist. Der Oberstaatsanwalt ist das personifizierte Exempel dafür, was die Strafsache Vogel in Fulda und Umgebung angerichtet hat. Einem Landgerichtsbezirk widerfahren Einbrüche wie im Fall Vogel nicht, ohne schwerwiegende Spuren zu hinterlassen.  Sie mögen gemildert werden im weiteren Lauf des Verfahrens, sie lassen sich vielleicht zugänglich machen, doch nicht einmal eine Verurteilung am Schluß der Hauptverhandlung könnte sie rechtfertigen. Völlig unkritisch wird kein Gericht, das bei Sinnen ist, der Polizei und der Staatsanwaltschaft begegnen, doch gibt es schon eine breite Zone, in der man sich aufeinander verläßt, in der man gewisse Mißgeschicke verständnisvoll behandelt.“

Die Frankfurter Prozeßbeobachterin der taz, Heide Platen, veröffentlichte 1988 ein Buch über „Den Fall Weimar“ mit dem Titel „Kindsmord“. Im April 2008 berichtet  die taz noch einmal, ein letztes Mal über Monika Weimar: „Die Frauenbewegung ist am Grund der Gesellschaft angekommen. Zwei Tagesereignisse sind das Indiz: Monika Böttcher, geschiedene Weimar, wird mangels Beweisen von der Anklage des Kindesmordes freigesprochen. Und: Frauen aller Bundestagsparteien fordern, die Vergewaltigung in der Ehe ohne Widerspruchsklausel zu bestrafen. Als das Fuldaer Landgericht Monika Böttcher 1988 zu lebenslanger Haft verurteilte, skandierte die Menge vor dem Gebäude: „Hexe! Hexe!“ Für sie stand fest: „Die Amihure war es.“ Monatelang war Monika Böttcher als mordende „Mutter Weimar“ von der Regenbogenpresse vorverurteilt worden. Sie entsprach nicht dem gängigen Bild der Ehefrau in einem hessischen Dorf. Sie ging als Nachtschwester arbeiten, ging in Diskotheken, suchte sich einen Liebhaber. Die Anklage warf ihr eine „ehebrecherische Beziehung“ vor. Das alles spielte bei der Wiederaufnahme des Prozesses kaum eine Rolle mehr. Das gesellschaftliche Klima hatte sich geändert: Mütter, die tagsüber arbeiten und abends tanzen, werden nicht mehr aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen.

1997 erlebte die Angeklagte keinen Hexenprozeß mehr, sondern einen sachlichen Indizienprozeß. Auch die Sensibilität gegenüber männlicher „Privat“-Gewalt ist in dieser Zeit gewachsen. Für Männer wie Reinhard Weimar, der seine Frau Monika jahrelang schwer mißhandelt hatte, gibt es inzwischen Sonderdezernate bei Staatsanwaltschaften. Die Frauenbewegung bringt längst nicht mehr die Massen auf die Straße. Dafür bewegt sie das gesellschaftliche Rechtsempfinden.“

Hören Sie die Sirene? Das ist die freiwillige Feuerwehr.

5.

Drei Künstler auf dem Land: L.:  Ein Auftrag, auf den ich lange hingearbeitet habe, war die Bemalung der Trennwand in der Radmühler Diskothek vom Eier-Schleich. Als ich das erste Mal hinkam, war das da grad so auf der Kippe: dort haben sie noch Foxtrott getanzt und in Frankfurt fingen sie just damit wieder an; so wie man anderswo keine Tramper mehr mitnimmt und in Oberhessen noch nicht. Mit der Zeit bin ich dann mit den drei Töchtern vom Eier-Schleich ins Gespräch gekommen, die machten die drei Theken in der Disko und versuchten ansonsten, alle möglichen Moden und Trends dort reinzuziehen, den Schuppen also modern durchzustylen, aber der Vater behielt zäh die Oberhand, so dass sie sich immer nur punktuell oder in irgendwelchen Ecken, laufend werden neue angebaut, verwirklichen konnten, was das Ganze immer panoptikumsartiger werden ließ. Irgendwann war ich für die drei Frauen mit meiner blondgefärbten Stoppelfrisur und weil ich Kunst machte, nicht nur der Mann, der im Trend lag, sondern der auch immer die guten Ideen hatte und dafür gaben sie mir jedesmal, wenn ich hinkam, einen aus. Manchmal haben wir dann noch bis morgens um Fünf da gesessen und ich habe mitgeholfen, sauber zu machen. Das ist auch ein Erlebnis, am Mittwoch, wenn es Cola/Weinbrand für eine Mark gibt – in Plastikbechern, dann müssen morgens bergeweise diese Becher zusammengekehrt werden – mit einem speziellen kleinen Kehrtrecker wird das gemacht. Die besuchten natürlich laufend andere Diskos, um auf neue Ideen zu kommen und immer wieder sprachen sie davon: „Ja, jetzt wird alles umgebaut und renoviert. Alles ganz weiß. Der ganze Krempel kommt raus!“ Mit dem Krempel meinten sie all die Dreschflegel, Schiffe in Flaschen, Wappen aus Plastik, Kanonen, Spinnräder, Starposter, Gipsgrotten, Western-Panoramen und falschen Yucca- Palmen.

Aber sie hatten nichts zu sagen. Bestenfalls erlaubte der Vater ihnen, noch mehr dazuzukaufen. Z.B. die größte Laseranlage Europas, die aber wegen der getäfelten Wände und den ganzen Ecken und Winkeln überhaupt nicht zur Wirkung kam. Dann wieder sprachen sie davon, sie hätten jetzt den Architekten der Klein-Stammheim-Disko in Frankfurt engagiert – alles wird vergittert und gekachelt. Und zwischendurch erzählten sie mir auch immer noch ihre persönlichen Deals: „Haste schon gehört, die Ilse heiratet demnächst. Die hat auf Ibiza einen Bildhauer kennengelernt.“ Da dachte ich noch: Was für ein Flip, fährst in Urlaub und verheiratest dich gleich. Dann habe ich aber erfahren, der ist aus Ladenhausen, also quasi grad um die Ecke, und mit dem war sie früher schon mal fünf Jahre zusammen, und das ist ein ganz langweiliger Steinmetz, Verfasser von Grabinschriften und das macht der auch nur noch ganz selten, weil die meisten Grabsteine mittlerweile synthetisch hergestellt werden. Jetzt arbeitet er auch in der Diskothek. Jeder, der beim Eier-Schleich zur Familie gehört, arbeitet auch in seiner Disko und bekommt dafür 1.500 Mark Taschengeld im Monat und hat ansonsten alles andere umsonst.

Eines Abends haute mich Anette an, ob ich nicht einen Aufkleber für sie entwerfen könnte. Hab ich gesagt: „Für 500 Mark gerne“. „Bist du verrückt“, hat sie sofort gekontert, „dafür können wir schon 2000 Stück drucken lassen“. Das haben sie dann auch gemacht – mit so einem grünen griechisch-römischen Motiv drauf.  Der Eier-Schleich heißt so, weil er noch einer Eier-Großhandel hat, ein Eiergeschäft, das er von fünf Uhr morgens bis zehn Uhr morgens betreibt, wo er schon mal einen Tausender täglich mit verdient … Also der Eier- Schleicht beschäftigt schon seit Jahren einen Architekten für alle Um- und Anbauten. Eines Tages zitierte er diesen Architekten wieder mal zu sich, um ihm stolz seine neueste Erwerbung für die Diskothek vorzuführen: eine echte Ritterrüstung – und die sollte am Ende der Theke aufgestellt werden. Nun war es aber von der Theke bis zur abgehängten Decke nur 1 Meter 60 und die Ritterrüstung war 1 Meter 90 hoch, so dass der Helm über der Decke gar nicht mehr sichtbar war. Der Architekt traute sich nicht, dem Schleich zu sagen, dass das Monstrum total daneben war, der fand das aber völlig in Ordnung. Nur eines bereitete ihm Kopfschmerzen: da die Leute die Rüstung ewig anfaßten, musste die immer geputzt werden, sonst fing sie an zu rosten. Später haben sie sie dann an einer Wand befestigt, mit einer Plexiglas-Schutzscheibe davor.

Im Sommer hatten sie mal wieder angebaut – eine zweite Tanzfläche, mit Marmor und Spiegeln und einem schmiedeeisernen Gitter drumrum, und dann kamen sie auf die Idee, quer durch die Disko eine in der Decke versenkbare Trennwand einzubauen, die heruntergelassen werden konnte, wenn es mal nicht so voll war und man mit dem halben Raum auskam. Diese Trennwand wollten sie bemalen lassen – Sonnenuntergänge sollten da drauf. Anette sagte mir, ich solle doch mal den Architekten anrufen, vielleicht könnte ich das ja übernehmen, was ich denn dafür haben wolle? Hab ich gesagt, so ungefähr 100 Mark für den Quadratmeter. Das fand sie natürlich wieder viel zu viel, das wären ja bei 100 Quadratmetern 10.000 Mark. Rechnen konnte sie blitzschnell. Aber die Nummer vom Architekten hat sie mir trotzdem gegeben und der war dann ganz froh, dass er jemanden hatte, der das übernehmen wollte. Und 100 Mark für den Quadratmeter hat er mir dann auch gezahlt, er waren aber nur 30 Quadratmeter.

Der Schleich war ganz enttäuscht, als ich ihm sagte, ich spritze das Bild (eine ganze Diskoszene mit einer Sky-Line im Hintergrund), er wollte es lieber mit Pinsel gemalt haben, weil er mal im Fernsehen gesehen hatte, wie irgendwelche schwarzen Jugendlichen mit Farbspray-Dosen eine New Yorker U- Bahn völlig versaut hatten. Während der Arbeit an dem Disko-Panorama bin ich öfter zum Essen in den Dreschflegel nach Birstein gefahren. Einmal hat sich der Wirt dort zu mir an den Tisch gesetzt und mir einen Stapel Polaroids gezeigt von Trucks und Truckern.

Er war gerade dabei, das „1. Internationale Trucker-Festival in Birstein“ – „mit Tom Astor und bekannten Country-Stars“ – zu veranstalten und dafür brauchte er noch ein großes Hinweisschild. Das habe ich dann zwischendurch auch noch schnell gemalt – Dispersion auf Span, ausgesägt, ein großer roter Truck. An sich freute sich ganz Birstein über dieses Trucker-Festival, aber als man erfuhr, dass im Bierzelt ein Damen-Schlamm-Catchen stattfinden sollte, distanzierten sich nach und nach alle Schirmherren davon, zuerst der Bürgermeister, nachdem sogar der evangelische und der katholische Pfarrer von der Kanzler herab dagegen gewettert hatten. Er gingen einige einstweilige Verfügungen hin und her und tagelang wurde in Birstein über nichts anderes mehr geredet als über dieses Schlamm-Catchen, das dann nur ca. ein Dutzend Leute wirklich sehen konnten, weil mehr nicht um das in einer Ecke des Bierzeltes aufgestellte Kinder-Planschbecken paßten, das mit Haferschleim gefüllt war. Draußen hing ein Transparent mit der Aufschrift: „Wer Country-Music spielen will, muß eine Menge Mist gerochen haben. (Hank Williams)“. Während des Festivals bekam der Dreschflegel-Wirt als Veranstalter noch einmal Ärger mit der Polizei, weil mein Bild zu nahe an der Straße stand und so realistisch wirkte, dass es aussah, als würde ein Truck von rechts auf die Hauptstraße donnern, mehrere vorbeifahrende Pkws waren kreischend auf die Bremse getreten. Dieser von mir gemalte Truck, für den ich übrigens 400 Mark bekommen hatte und eine Diashow im Bierzelt über Trucks und Armeelastwagen, das waren die einzigen Trucks auf dem Festival, ansonsten gab es nur noch einen Paraphernalien-Stand und Lévi’s „Frisch-Fisch“.

M.:  Manchmal bekommt man Aufträge, die einen verbittern, bei der Kunstkritikerin Hilpolt zum Beispiel. Die kauft die Arbeiten der Kollegen und schreibt über sie, aber mich holt sie, damit ich ihr das Landhaus  renoviere, da muß ich ihr die Wände neu anstreichen, damit die Arbeiten der Kollegen besser zur Geltung kommen. Dabei liegt meine einzige Gestaltungsmöglichkeit dann darin, dass ich bestimmen kann, wo der Nagel hinkommt, an dem die Bilder aufgehängt werden. Sie eine Frau, die ist natürlich als Kunstkritikerin über das Auge so hoch benetzt, im ästhetischen Bereich, das die mir genau sagt, wie ich das Grau der Wandfarbe abzumischen habe: „Ja kein Rot reinmachen, das sieht man!“

L.: Ich bekam dann als nächstes einen Backhaus-Auftrag in Volkhartshain. In den Wochen davor hatten Manu und ich kaum was anderes gemacht, als im Vogelsberg rumzufahren, von einer Kerb zur nächsten, von einem Dorffest zum anderen. Dabei waren wir irgendwann in Volkhartshain gelandet. Es war schon ziemlich spät und nur noch der harte Kern der letzten Trinker hing an der Theke im Zelt. Schließlich sackte auch Manu weg und übrig blieben der Ortsvorsteher Walther und ich. Da diese Kerbs immer öder wurden, machte ich ihm den Vorschlag, doch mal ein Straßenfest zu organisieren, auf der Volkhartshainer Hauptstraße. Und er: „Ja? Was? Was ist das denn?“ Und ich ihm sofort die ganze Hippie-Schose erklärt – mit Non-Profit und jeder macht das, wozu er Lust hat, jeder Haushalt steuert irgendwas zu dem Fest bei oder läßt es sein, usw.. Walther ist in der CDU, aber das hat ihm restlos eingeleuchtet. Er sagte: „Ja, das machen wir! Aber jetzt haben wir erst mal das Problem, wir machen ja bei der Ortsverschönerung mit, ‚Unser Dorf soll schöner werden‘, da kommt dann ein Gremium, das sich aus Vertretern der regionalen Interessenverbände zusammensetzt und es gibt da einen jährlichen Wettbewerb, kurz und gut, die Kommission kommt am 28. Juli nach Volkshartshain und bis dahin muß alles topfit sein, d.h. wir haben noch eine Menge zu tun, u.a. muß auch noch das Backhaus renoviert werden…“ Er schaute lange in sein Bierglas und sagte dann: „Wenn du uns ein Bild an das Backhaus malst, dann machen wir ein Straßenfest. Alles Non-Profit!“

Besoffen wir ich damals war, hat mir das auch sofort eingeleuchtet und ich habe zugesagt. Das hat sich dann langsam im Dorf rumgesprochen – „Was? Der malt ein Bild? Der kann doch gar nicht malen!“ Einige waren schwer am Unken, viele konnten mich auch überhaupt nicht leiden in Volkshartshain. Erst einmal wurde das Backhaus neu verputzt, die Bänke gestrichen, Blumentöpfe hin und her gerückt, Zäune lackiert, Hecken gestutzt … Das meiste muß ja in Eigeninitiative geleistet werden, seit der Zusammenlegung zu Großgemeinden. Früher hatten die einzelnen Gemeinden eigenes Geld dafür zur Verfügung. Jetzt gehört Volkhartshain zu Grebenhain und die haben sich gerade für fünf Millionen ein neues Feuerwehr-Gerätehaus hingestellt, d.h. dass für Volkhartshain fünf Jahre lang kein Pfennig mehr da ist. Gerade dass man aus irgendeinem Sonderfond noch das Geld für die Farbe des öffentlichen Gebäudes Backhaus bekommen konnte.

Ich sollte mein Bild bis zum 25. Fertig haben. Vorher habe ich den Weißbindern noch ein paar kleine Anweisungen gegeben und die haben mich immer gefragt, was ich denn da raufmale. Ich hatte mir vom ehemaligen Seemann, der im Haus des Bademeisters wohnt, ein paar Dutzend Kunstpostkarten geliehen und mich für eine Bauern-Idylle entschieden: Drei dickärschige Ährenleserinnen. Dann kam aber der Iduna- Versicherungsfritze an und wollte unbedingt ein Stilleben drauf haben – irgendso einen Bierhumpen neben einem vertrockneten Hering und einem Kanten Brot. Ein anderer wollte was ganz Modernes und der Krankenpfleger Thomas, völlig bescheuert, ein jamaikanisches Panorama. Er ist ein absoluter Reggae- Fan und Kiff-Kopf.

Ein paar Abende lang standen wir vor dem Backhaus und das halbe Dorf diskutierte biertrinkenderweise über das Motiv. Die Bauern sind morgens vom Backhaus weg nach Hause gleich in den Kuhstall zum Melken gegangen. Ich wiederholte permanent – wie der alte Cato: Das muß irgendwas mit Backen zu tun haben. Ich mal euch da einen Landschaft drauf, mit einem Getreidefeld und drei Ährenleserinnen. „Ja, und wie machst du denn das?“ Und ich: „Öhöhö …“ „Ja, wann fängst du denn an?“ „Wenn es dunkel ist!“ Das hat sie schon mal sehr geschockt. Man war ziemlich gespannt. „Laßt euch überraschen. Wenn es dunkel ist, kann ich fünfmal schneller arbeiten.“ „Ja, brauchst du noch irgendwas?“ Hab ich gesagt: „Ich benötige kurz einen Traktor mit Frontlader, ein Gerüst und vielleicht noch zwei Leute, die mir kurz helfen,“ Ich hatte mir schon mal angerissen, wie groß das Bild in etwa werden sollte und bin dann weggefahren, um ein Episkop zu holen. Als ich zurückkam, war es bereits dunkel und der Traktor stand bereit. Das Episkop habe ich auf den Frontlader gestellt und es damit auf die richtige Höhe gebracht. Der alte Opa Knieriehm ist auf das Gestänge vom Frontlader geklettert und hat das Episkop festgehalten. Dann habe ich die Postkarte drunter gelegt und das Licht angeschaltet. „Das ist es! Das Bild ist fertig!“, habe ich gemeint. Die haben immer noch nicht durchgeblickt. „Du willst uns verarschen, du Schwein!“ Ich bin dann auf das Gerüst und habe die Umrisse mit einem Kohlestift nachgezeichnet. Das hat fünf Minuten gedauert. Ich habe ihnen dann erzählt, so würde man das heute meistens machen, ich hätte mich auch hinstellen können und das Ding mühsam in drei Stunden abzeichnen können. Das fanden sie schon mal sehr einleuchtend und modern. Und morgen würde ich dann mit dem Malen anfangen. Ja, wann ich denn anfangen wollte? „So zwischen drei und halb vier Nachmittags“, hab ich gesagt. Am nächsten Tag waren sie wieder alle da, ich habe mich aufs Gerüst gesetzt und als erstes angefangen, den Himmel zu malen, irgendwie so mit dickem Pinsel und Farbe und damit rumgestrichen, unten waren sie immer noch am Unken: „Ob das was wird?!“ „Ob der überhaupt malen kann?“ Dann habe ich in diesen Himmel reingezogen, so ein bißchen mit Farben, das weiteste von der Landschaft, was sich im Himmel teilweise bereits auflöst, und dann mit wenigen schnellen Strichen, zack, zack, zack, Berge am Horizont, und dann fing ich an, auch so ganz wenig: Da ein Haus, Heinrichs Haus, und noch eins, Walthers Haus, jetzt der Kirchturm, zack, die alte Schule, das Dorfgemeinschaftshaus, zack, zack, in zwei Minuten hatte ich das ganze Dorf gemalt, in der Ferne, nur mit so ein paar Pinselstrichen, während unten die letzten Skeptiker verstummten und alles begeistert war. Dann bin ich erst mal wieder runter und habe mit denen ein Bier getrunken, und dann war es auch schon wieder Abend. Bis zum Morgengrauen haben wir noch da gestanden und geredet. Am nächsten Nachmittag ging es weiter. Diesmal war fast das ganze Dorf am Zugucken und dann auch am Rummachen. Walther fing an, sein Garagentor zu streichen, Oma Müth strich ihre Fenster, die Postfrau pflanzte Blumen ein und eine andere alte Frau schrubbte die Gasse. Auf einmal war das reinste Dorfverschönerungsfieber ausgebrochen. Ein Typ war dabei, der war früher mal Ortsvorsteher gewesen, der konnte mich nicht ausstehen, der hatte früher nie auch nur ein Wort mit mir gewechselt. Ich hatte mal einen Hund, Troll, so einer, bei dem man nicht wußte, wo vorne oder hinten ist, der ist immer hoch ins Dorf gelaufen und da hat ihm dieser Typ mal mit einer Kartoffelhacke ins Bein gehauen und der Hund hatte danach noch monatelang ein Riesenloch im Bein. Der hatte zwar behauptet, er wäre es nicht gewesen, aber Rudi hatte es gesehen und mir erzählt. Auf jeden Fall, er hatte Geburtstag und stand da mit zwei anderen rum, und ich war am Malen, eine von den drei Frauen, mit einem dicken Pinsel, da ein paar Flecken und da ein paar Flecken. Die da unten kommentierten es: „Das wird doch nichts!“ „Was gibt das denn?“ Es dauerte keine fünf Minuten, da hatte ich die ganzen verstreuten Flecken zusammengebracht und es war halt ein Kleid mit Licht und Schatten und Falten und die Frau war so gut wie fertig. Sie hatten aber wohl nur mitgekriegt, wie ich irgendwelche Flecken verteilt hatte und das war für sie einfach Zauberei. Sie waren baff. Ich wußte, dass der Typ an dem Tag Geburtstag hatte und da habe ich zu ihm gesagt: „Ich steh hier auf dem Gerüst, hol mir doch mal einen schönen starken Kaffee mit zwei Stück Zucker und viel Milch und ein Stück Kuchen, möglichst mit Schlagsahne.“ Und er sofort: „Ja, ja, bring ich dir“, und ist losgeflitzt und hat mir Kaffee und Kuchen gebracht. Der war so überrascht worden von diesen Fleckenspielereien, dass er auch die nächsten zwei Tage noch immer unter dem Gerüst rumrannte und mir laufend anbot, Kaffee und Kuchen zu holen. Er hatte irgendwie mitbekommen, ich brauch viel Kaffee, um wach zu bleiben. Ich habe jeden Tag höchstens drei Stunden gearbeitet, insgesamt vielleicht zwölf, es extra hinausgezögert.

Als das Bild fertig war, hat der von der Iduna einen Pressefuzzi geholt (einen, dem er mal günstig eine Lebensversicherung verkauft hatte) und der Journalist hat dann auch ein Foto gemacht und dann stand wieder was über Volkhartshain in der Presse und dass da ein Künstler das Backhaus gemalt hat. Dann kam diese „Unser Dorf soll schöner werden“-Kommission und die Kommission hat Volkhartshain gelobt, die waren voll des Lobes und deswegen gab es später noch einen Artikel übers Dorf in der Kreiszeitung. Wenn ich in die CDU eingetreten wäre, die hätten mich vielleicht sogar zum 1. Vorsitzenden des Tischtennis- Vereins gemacht, das war das Hauptkulturträger im Dorf, vier Tage hatte ich jedenfalls die besten Karten in Volkshartshain.

M.: Ich bekam mal einen Anruf von der katholischen Gemeinde in Gelnhausen. Die hatten irgendwas von mir erfahren und dass ich auch fotografieren würde, jetzt hätten sie eventuell einen Auftrag für mich, ich solle mal vorbeischauen. Ein Kirchenauftrag, das ist ja toll, hab ich gedacht und bin gleich hingefahren. Wenn man mal einen Fuß in der Kirche hat, das zieht bestimmt noch weitere Aufträge nach sich. Kurz und gut, es ging darum, dass die ihre bunten bleiverglasten Kirchenfenster, aus dem 18. Jahrhundert oder so, fotografiert haben wollten. Wunderbar. Zuerst musste aber mal eine Firma mit einem Spezialgerät kommen und die großen Schutzvorrichtungen vor den Fenstern, aus Plexiglas, abbauen, weil die störende Lichtreflexe warfen. Dann habe ich meine geliehene Hasselblad aufgebaut, alles fotografiert und die Fotos entwickelt und vergrößert, die Firma baute die Plexiglas-Vorrichtungen wieder an und ich setzte mich zu Hause hin und schrieb eine überzeugende Rechnung – über 3000 Mark. Eine Woche später schickte mir die Kirchengemeinde eine Spendenquittung in Höhe von 3000 Mark. Das wars. Und dann waren die auch noch katholisch und ich bin protestantisch. Seitdem bin ich auf Kirchenaufträge nicht mehr so scharf.

N.:  Zwischendurch bekommt man auch immer wieder mal Arbeiten, wo nichts passiert, völlig langweilige Geschichten. Einmal sollte ich fürs Hanauer Heimatmuseum irgend so ein didaktisches Ding anfertigen, für eine neue Ausstellung: eine Ständepyramide: Hämmernde Gesellen, eggende Bauern und so was, von winzigen Vorlagen mit Tuschefedern abgezeichnet und koloriert. Da hatte ich mir gedacht, es ist Sommer und draußen eh zu warm, da kann ich gemütlich hier im Haus sitzen, aber ich zeichne ja so gut wie nie und außerdem kann ich Fitzelkram nicht ausstehen. 300 Markt sollte ich dafür bekommen und dann habe ich angefangen. Alle drei Minuten bekam ich einen Krampf in der Hand, musste die Feder beiseite legen und mir fünf Minuten die Hand massieren, irgendwelche Salben draufschmieren. Vier Tage habe ich gebraucht. Und dann dauerte es ewig, bis das Museum mit dem Geld rüberkam und dann wollte auch noch der Typ, der mir den Auftrag verschafft hatte, einen Fünfziger Provision haben.

M.:  Manchmal geht das von einem Auftrag zum nächsten über Empfehlungen. Einmal kam z.B. auf diese Weise ein älteres Pärchen bei uns auf den Hof gefahren – im VW-Bus, der Typ mit Bart und freiem Oberkörper, kurze weiße Hose. Die sagen beide sehr kurios aus. Ja, und was sie denn gemalt haben wollten? Ja, rehe wollten sie, ans Haus. Ach, um Gottes Willen, hab ich gesagt, auf Rehe zu malen habe ich einfach keine Lust. Und das fanden die fürchterlich arrogant und sind wieder abgezogen. Ich wollte sowieso erst einmal in Urlaub fahren. Wieder zurück brauchte ich natürlich wieder Geld und bin dann irgendwann zu denen hingefahren. Ich hätte denen auch Rehe gemalt, aber es gelang mir, ihnen eine Gainsborough-Kopie aufzuschwatzen: Eine südenglische Heuernte, eine wirklich tolle Idylle. Ich hab dann auch so ein bißchen was von denen mitbekommen. Sie war ihrem Mann abgehauen und er seiner Frau, weil, was weiß ich, die sich alle irgendwie gegenseitig vergiften wollten. Der Typ war schon zweimal am Gehirntumor operiert worden, hat immer rumerzählt, von irgendwelchen Frauen, dass er da wie ein Stier wird, und ich saß ihm gegenüber und habe mir gedacht, auweia, der wird ja schon zum Stier, wenn er nur davon erzählt. Und die Frau immer dazwischen zu mir: „Willst du hier noch was vom Kuchen und noch eine Tasse Kaffee, und wenn du anfängst, ich bin ja dann nicht da, ich leg dir hier den Schlüssel hin und stell dir was zum Essen auf den Tisch.“ Als ich den ersten Tag kam, meinte sie, sie müßte um zwei Uhr arbeiten, hätte mir aber zwei Rippchen fertiggemacht, die im Kühlschrank lägen. Ein paar Stunden später kam der Sohn – von seinem Spanienurlaub zurück, mit seiner Freundin, die er Mäuschen nannte. Er war so ein stämmiger 19jähriger Dachdecker. Wir haben uns eine Weile unterhalten, dann hat er mir seinen Body-Building- Trainingsraum im Keller gezeigt, wo wir ein bißchen Hanteln gestemmt haben. Er hatte noch ein paar Tage Urlaub und am nächsten Tag kam er wieder an. Ich stand auf dem Gerüst. Da fragte er mich, ob wir uns nicht zusammen Videos angucken wollten, er hätte sich gerade ein paar neue Pornos geholt. Haben wir uns also erst mal im Wohnzimmer einen Porno reingezogen. Er hatte die ganze Zeit die Fernbedienung in der Hand und wenn jemand ins Zimmer kam, schaltete er schnell um, durfte niemand mitkriegen, dass wir uns am hellichten Tag Pornos anschauten. Aber meistens war es seine Freundin, die da so leicht indigniert durchs Wohnzimmer schlicht und dabei irgendwelche Bemerkungen fallen ließ – was wir uns für einen Scheiß anguckten, er hat sie jedesmal zurück angemacht: „Mach dich doch raus, wenn du keine Pornos sehen willst“. Das waren vielleicht dumpfe Dinger, noch drei Nummern bescheuerter als die Pornos in der „Heißen Hütte“ in Büdingen. Am nächsten Tag kam er zu mir und meinte: „Du mußt mir unbedingt ein Bild für mein Zimmer malen. Er wollte so einen Typen so ähnlich wie Supermann gemalt haben, unheimlich groß und stark, und der sollte so aussehen wie er, und dann um ihn herum so ein paar Mickerlinge, die so aussehen sollten wie seine Freunde. Und das wollte er riesig-groß haben und was das denn kosten würde? Hab ich gesagt: „Naja, 1500 Mark ungefähr“. Und das fand er auch in Ordnung. Er hätte nur im Augenblick gerade nicht so viel. Ach ja, und dann sollte da noch eine scharfe Frau drauf, die ihm zu Füßen liegt.

L.:  Mein wichtigster Auftraggeber, quasi ein Dauerauftrag, war Peter, der seit einem Jahr in Ober-Seemen eine Kfz-Werkstatt hat. Seine Frau war mal in einem Volkshochschulkurs von Manu, von daher kenne ich sie, und als Peter die Werkstatt eröffnete, habe ich ab und zu beim ihm getankt. Einmal meinte er, er bräuchte irgendeine Werbung für seine Werkstatt: „Du kannst doch malen, mal mir doch mal ein Bild auf die Garangentür, die ist so vergammelt, da muß Farbe rauf.“ Er hat dann so rumgesponnen, was man da alles raufmalen könnte: einen Rennwagen, einen Geschlechtsakt, Trucks mit irgendwelchen Tussis, die mir prallen Ärschen an der Straße stehen … Irgend so was in der Art sollte ich machen, aber Geld gäbe es keins, er würde mir dafür meinen Benz reparieren. Ich habe dann einen Scirocco von hinten gemalt und daneben eine dralle blonde Tankwartin, mit aufgerissenem Mund, die zwischen den Beinen einen Tankschlauch hält und damit irgendwelchen Sprit in das Auto schüttet. Auf dem Original war sie barbusig, und jetzt musste man irendwie, man konnte ja da im Dorf nicht, die musste halt was anhaben, ich habe ihr dann irgend so ein Hemdchen gemalt, ein nasses T-Shirt, mit dem sie noch nackter aussah. Irgendwo stand dann noch groß „Quick-Wash“ drüber. Als ich anfing, habe ich die Tür erst einmal weiß grundiert und dann die Umrisse der Zeichnung mit brauner Dispersionsfarbe einfach nachgezogen, mit einem spitzen, weichen Pinsel. Die Nachbarin, die Frau von einem Bauunternehmer, fand diese Zeichnung ganz toll, als ich dann aber mit den knallbunten Farben und der Spritzpistole anfing, das auszumalen, fand sie das alles zu obszön, das ginge nicht, sie müßte da jeden Tag dran vorbeigehen. Peter hat zu ihr nur „ja, ja“ gesagt. Das Bild ist jedenfalls immer noch auf der Garagentür. Ich wußte von Peter vorher nur, dass er so ein schräger Fuzzi war, der alle möglichen linken Dinger dreht, und jetzt musste er also was an meinem Benz machen, aber da war nichts dran zu machen, war alles okay, er hat nur ab und zu mal unter die Motorhaube geguckt.

In dem Sommer bin ich fast täglich an den Gederner See gefahren zum Tretbootfahren. Und da musste ich immer bei Peter vorbei. Irgendwann habe ich zu ihm mal gemeint: „Du brauchst unbedingt eine Espresso-Maschine und die stellst du draußen hin, unter einen Sonnenschirm, und dann einen Tisch und ein paar Stühle dazu, das muß gemütlich sein, dann kommen die Leute auch zu dir. Tanken, das muß wie Urlaub sein“, hab ich gemeint, aber Peter mochte keinen Espresso. Bis er irgendwann mal bei seiner Schwägerin zum Essen eingeladen war und da gab es anschließend einen Espresso. Beim nächsten Metro-Einkauf hat er sich dann gleich so eine Maschine angeschafft, für 120 Mark. Und ich hockte ab da jeden Tag bei ihm unterm Sonnenschirm und habe einen Espresso getrunken, für eine Mark. Und dann habe ich ihm ein Schild gemalt, für seine Motoröle, ein Sonderangebotsschild, und dann noch eins für seine Spraydosen, und dafür bekam ich zwei Reifen von ihm oder einen Ölwechsel, also solche Geschichten. Ein Jahr ungefähr lief das so.

Die einzig größere Sache war die Bemalung der Überdachung für die Zapfsäulen, eine anstrengende Überkopfmalerei. Ich hab aus der Überdachung eine Sixtinische Kapelle gemacht – mit der Erschaffung Adams, dem dabei ein Zapfhahn in die Hand gedrückt wird. Am Anfang hatten wir ausgemacht, ich brauche nur das Material zu bezahlen und ansonsten rechnen wir einfach seine Arbeitszeit gegen meine auf. Dann war aber plötzlich der Benz alle nasenlang kaputt und er reparierte ihn, was zur Folge hatte, dass er sich laufend neue Malaufträge für mich einfallen lassen musste. Also Kunst, keine Anstreicher- Arbeiten. Das sah dann z.B. so aus, dass er die Suzuki-Vertretung haben wollte und sich einen Suzuki-Jeep kaufte, obwohl er keine müde Mark in der Tasche hatte, und ich musste ihm dann hinten auf das Blech, das den Ersatzreifen hält, ein Bild malen – einen Adler. Ein paar Tage später kam dann schon der nächste Suzuki-Jeep-Besitzer und wollte ebenfalls ein Bild auf den Ersatzreifen gemalt haben – einen Mustang, für 200 Mark, was wieder soundsoviele Ölwechsel, kleinere Reparaturen, etc. bedeutete.

Als ich noch an diesem Mustang rumpinselte kam Toni, der Pizzeria-Besitzer aus Gedern zum Tanken vorbei. „Ach, wußte gar nicht, du prima Maler, mal mir ein Bild in Pizzeria“. „Klar, mach ich, Toni“, hab ich gesagt. Und bin dann ein paar Tage später zu ihm hin. Bei Tortellini und Thunfischsalat haben wir das Motiv diskutiert. Es musste irgendwas Sardisches sein. Ich sollte ihm eine Pizza und Wein und so was vor einer Landschaft malen und hatte schließlich die Idee mit dem „Abendmahl“, wo alle Jünger um eine Riesenpizza sitzen, knallbunt und jeder versucht sich da ein Stück rauszuziehen, ein Riesengewurschel mit Pizza und Käse. Toni war absolut begeistert. Zuvor musste Roberto aber noch die Wand neu verputzen und der war gegen das Motiv: „Das ist Gotteslästerung“, hat er gesagt, „das kann man nicht machen. Es kommt niemand mehr in deine Pizzeria, Toni“, usw.. Das hat Toni derart verunsichert, dass er plötzlich was anderes drauf gemalt haben wollte. Eine sardische Idylle habe ich ihm dann liefern müssen – mit seinem Großvater in der Mitte. „Das war großer Bandit“, meinte Toni, „Partisan, verstehst du?!“.

Bei Peter ging es dann im Spätherbst so weiter, dass ihm ein Prospekt von Glasurit in die Hände fiel und da wollte er bei denen sofort einen Kursus in Auto-Bemalung machen, um Air-Brush-Bilder auf Karosserien malen zu können. Ich hab ihm gesagt, das könnte ich auch, hab mir von ihm eine Schrott-Motorhaube geben lassen und eine Wassernixe mit Brandung draufgesprüht. Peter war begeistert. Und gleich am nächsten Tag sollte ich seinen Passat und einen Scirocco bemalen. Er hat die Karosserie-Teile jeweils geschliffen und grundiert und anschließend noch fünf Klarlack- Schichten drübergelegt. Wir haben die üblichen Ralley-Idioten-Motive genommen – so Mischungen aus Schwermetall-Fantasy und oberhessischen Playboy-Imitationen. Peter kümmerte sich um weitere Aufträge. Einer wollte ein Bild auf seinen Motorrad-Tank gemalt haben, ein anderer, der Besitzer vom Windsor-Club in Büdingen, irgendwelche Streifen an seinen Bentley. Das Geschäft lief gut an, das muß man sagen.

Als dann in der „Bild am Sonntag“ auch noch ein Artikel über solche Karosserie-Bemalungen mit Air-Brush erschien, haben wir uns hingesetzt und für die Kreiszeitung ebenfalls einen Werbeartikel verfaßt, der wurde aber nie abgeschickt. Ich bekam es von der ganzen Farbsprüherei auf die Lunge und hörte mit dem Rauchen auf, und Peter ging das Geld aus, die Werkstatt lief schlecht, er vergraulte mehr Kunden als neue hinzukamen mit seiner chaotischen Art. Und in dieser Situation wurden wir beide unausstehlich. Einmal kam er mit einem Busunternehmer, der auf seine zwölf Busse hinten irgendwelche Bilder – Palmen mit Sonnenuntergängen – gesprüht haben wollte, aber ich habe gleich den Preis so hoch angesetzt, dass der Typ sich wieder verzog. An sich war diese Auto- Design-Idee nicht schlecht, gerade für Peter nicht, der sich damit neue Kunden für seine Werkstatt ranlockte, die auch immer was zu gucken hatten, aber auf die Dauer war das für mich nichts, nicht nur wegen der Glasurit- Schichten – Giftklasse 5Fx – auf den Bronchien.

M.:  Schon seit längerem wollte ich mal eine Anzeige in die Zeitung setzen, dass ich Häuser bemale. Als mir dann das Geld ausging, habe ich das auch gemacht. Und dann kamen ein paar Anrufe. Eine Frau, die war ganz hartnäckig. Die meisten haben nur einmal angerufen und es dann wieder vergessen. Ich habe die Frau dann auch zurückgerufen. Sie hätte ein kleines Fertighaus, das wäre halt nicht so schön und deswegen sollte da ein Bild drauf. „Historische Figuren“, meinte der Mann. Erst wußte er von nichts, weil seine Frau das mit mir ausgemacht hatte. „Wie auf einem Fachwerkhaus, so historische Figuren“. Die gibt es überhaupt nicht, aber er meinte, man würde die überall finden. Seine Frau hat mir die Ohren vollgesabbelt: „Ja, sie hätten ein Neckermann-Fertighäuschen, so langweilig, und sie wollte was Gotisches um die Fenster. Hab ich erst mal gedacht: Oh, verdammte Scheiße, was gibt das wieder für ein Ding? An ein Neckermann-Haus auch noch. Und dann fiel mir ein früherer Auftraggeber ein, bei dem hatte ich mal ein Buch gesehen: „Fassadenmalerei“ – ein dickes, schönes Buch mit wahnsinnig vielen Abbildungen, das habe ich mir am nächsten Tag ausgeliehen und bin damit zu meinen neuen Auftraggebern hingefahren. Das Haus war von vorne ganz zugewachsen – mit so Zierbäumen: Wacholder, Lebensbäume, Zwergpinien und Krüppelkiefern. Verdammte Scheiße, wo soll ich denn da noch was hinmalen? Die Frau, mit gefärbten Haaren, machte mir gleich auf, sah aus wie sechzig, später hat sie mir erzählt, sie sei über siebzig, total behängt mit Klunkern. Im Flur hing ein Riesen-Barock-Spiegel, Stuck um die Türrahmen, alles in hellblau, das ganze Wohnzimmer so Neubarock aus dem Neckermann- Katalog, da sollte ich mich hinsetzen. Mehrere Zimmer gingen ineinander über, mit Bögen dazwischen und alles vollgestopft von oben bis unten, die Wände waren voll mit Barockbildern, überall Schnörkel: Da ging ein Engel von der Decke und da eine Rosette aus Plastik mit Holzlasur. Sie guckte sich das Buch an und rastete völlig aus. „Das ist ja so wahnsinnig schön. Und das ist ja noch viel schöner. Und das erst.“ Und zwischendurch immer wieder: „Das ist ja so toll, dass sie das Buch mitgebracht haben.“ „Sie hätten das Buch nicht mitbringen dürfen, ich weiß jetzt überhaupt nicht mehr …“ „Sie mit Ihrem künstlerischen Verständnis, Sie müssen das entscheiden …“ Und dann rief sie ihren Mann und der musste sich dann auch noch mal die ganzen 250 Seiten angucken. Ich hab denen erzählt, dass all diese abgebildeten Säulen, Balkone, Fenster, Putten, Türen und Bögen gemalt seien – bloße Fassadenmalerei. Und dann fing die Frau an: „Ach, ich wollte ja schon immer in einer Villa wohnen mit Säulen. Vielleicht sollten wir Säulen auf die Fassade malen?“ Es waren beides Rentner, sie aus Berlin, er vom Bodensee. Er schnipselte immer in seinem Garten rum, ein kleiner Garten an sich, aber mindestens 200 Bäume drauf, alles diese Zierbäume, ein richtiger Mini-Urwald, man musste sich da durchquetschen, zu einem kleinen freien Platz, wo eine griechische Statue aus Gips stand, vor einem Springbrunnen und flankiert von riesigen Blumentöpfen. Die Frau erzählte mir die ganze Zeit von ihrer Terrasse, wo ich auch irgendwann was malen sollte. Aber erst mal ging es darum, sie hatten gerade Heizöl gekauft und ich kam ganz ungelegen, sollte nur was ganz Kleines malen, nur was um die Tür, und später um alle Fenster rum, und er wollte immer noch Sankt Georg mit dem Drachen vorne neben die Eingangstür haben, und zwei dorische Säulen. Das Buch hatte ihre Phantasie wahnsinnig angeregt. Da sie den Vorschlag gemacht hatten, aus finanziellen Gründen, alles nach und nach zu malen, hab ich schon gedacht, das gibt wieder einen Dauerauftrag. Ich habe dann gesagt, dass sie sich in Ruhe entscheiden sollen, ich lasse ihnen das Buch da. In der Zeitung hatte ich geschrieben: zwischen 400 und 800 Mark würden die Malereien kosten; zu ihrer Beruhigung habe ich dann hinzugefügt, dass solche Fenster-Ummalungen billiger seien. Und so etwas sollte ich ihnen dann auch machen: Oberbayrische Lüftelmalerei um die Fenster. Für 700 Mark insgesamt. Später kam dann noch ein kleines Barockbild dazu: Ein junge Frau im Reifrock, die unter einem dürren Baum sitzt und ein Schäfchen streichelt. Auch auf die Außenfassade, an einer Stelle, wo von der Symmetrie her ein Fenster fehlte.

N.:  Kaum war ich mit dem einen Auftrag fertig, rief ein Herr Grönewoldt aus Nieder-Seemen an, der ein Bild gemalt haben wollte. Ach nein, das war anders, der kam hierher und wollte eine Gans kaufen, wir haben aber keine Gänse mehr, und da hat er mitgekriegt, dass wir malen. So war das. Und dann kam er noch mal – mit einer Gipsrosette, die man an die Decke klebt, und in deren Mitte ein Kronleuchter hängt, mit so einem Ding kam er an, um unsere Fähigkeiten erst mal zu testen. Diese Rosette wollte er sehr delikat und zart pastell bemalt haben. Das habe ich auch gemacht. Für einen Fuffi. Er war auch ganz zufrieden damit, nur einige Rosen waren ihm noch ein bißchen zu glühend. Na gut. Das war also erledigt. Irgendwann hat er dann angerufen und gefragt, ob ich mal vorbeikommen könnte. Vorher hatte er schon von einem Bild geredet. Hab ich gedacht, er will halt jetzt so einen Schinken gemalt haben. So war es aber nicht. Erst einmal musste ich eine Führung durch sein Haus mit ihm machen. An der Decke im Wohnzimmer hing noch so eine Gipsrosette, in der Mitte ein wahnsinnig häßlicher Leuchter. Hat er gemeint, die Rosette wollte er auch so ein bißchen in Pastellfarben haben, er hätte auch eine Leiter da, ich könnte gleich anfangen. Das kleine runde Feld, wo die Lampe raushing, habe ich himmelblau gemacht. Er ist die ganze Zeit wie ein Distelfink um die Leiter rumgesprungen und hat immer gemeint: „Toll, dieses Blau, einfach toll!“ Und zwischendurch hat er sich immer wieder als ausgezeichneter Gastgeber profiliert, indem er laufend in meiner Reichweite Kristallgläser mit einem ausgezeichneten Wein deponierte. Seine Frau kam dann auch noch dazu, aber ihr war das alles nicht so ganz geheuer. Sie ging arbeiten und er war schon Rentner. „Ach, du immer mit deinem Kram“, sagte sie ein paar Mal, sie wollte das eigentlich alles gar nicht. Ihr war das auch peinlich, dass ihr Mann so einen pingeligen oder ungewöhnlichen Geschmack hatte. Auf jeden Fall hat sie mich dann zu irgendwelchen Resten von Hasenpfeffer eingeladen, und dazu gab es Elsässer Wein. Ich wurde immer betrunkener.

Am Nachmittag gab es dann in der Küche noch Kaffee und Kuchen. Der Auftrag zog sich hin, das mit der kleinen Rosette, weil er mir ständig irgendwas anderes noch zeigen wollte oder wir ins Reden bzw. Essen und Trinken kamen. Sieben Stunden war ich insgesamt beschäftigt, wieder für einen Fuffi. Er hat mich mehr als Gesprächspartner bezahlt. „Komm doch mal wieder vorbei, das war prima!“ meinte er als ich ging. Im Keller besaß er einen Hobby-Raum, eine fast vollständig eingerichtete Schreinerei. „Wenn ihr irgendwas gemacht haben wollt, kommt einfach vorbei“. Eigentlich wollte er ja ein Bild gemalt haben: Verhärmte Flüchtlinge, die über die deutsche Scholle gen Westen wanken. Auf einer Auktion hatte er mal von einem norwegischen Maler ein Bild gekauft – ein Gabenfeld bei Vollmond. Ein sehr schönes kleines Bild. Das hing in seinem Wohnzimmer, in dem die Decke und die Türen aus Kirschholz waren, in der Mitte stand ein Eichentisch. Um sein Grundstück hatte er sich so eine geschwungene Mauer im spanisch-maurischen Stil gebaut, ibizamäßig, und innen also dieser Schwarzwaldstil. Es war auch ein Fertighaus. Und nun war ihm dieses Bild von dem Norweger nicht mehr groß genug. Die riesigen Malereien in unserem Atelier müssen ihn inspiriert haben. Ich gab ihm einen Stapel Kunstpostkarten, weil ich dachte; Mach ich ihm halt eine Kopie von irgendwas. Als er dann anrief und sagte, ich solle vorbeikommen, dachte ich natürlich, er hat sich was ausgesucht, war aber nicht. Er wußte noch nicht so richtig. Haben wir also zusammengesessen und Wein getrunken. Das ging ein paar Mal so. Irgendwann hatte er aber doch was gefunden – er gleich mit dem Zollstock an der Wand über der Wohnzimmercouch: 2 Meter 20 mal 1 Meter 20, in einem Zimmer von höchstens 20 Quadratmetern, und ich guck mir die Postkarte an, da war das so etwas Ähnliches wie von Käthe Kollwitz. Also irgend so eine Elends-Vision. Wenn ich die dem gemalt hätte, nach drei Wochen hätte er nur noch geheult und nach weiteren drei Wochen wäre er in seinen Hobbykeller gewankt und hätte Selbstmord begangen, auf seiner Kreissäge oder was weiß ich. Er hat gemeint, ja, er wäre doch auch mal geflüchtet. Und sowieso hatte er mir schon erzählt, dass er depressiv wäre, deswegen würde er so viel schaffen.

Ich habe ihm dann das Bild ausgeredet. Irgendwann rief er wieder an, jetzt hätte er was gefunden. Ich habe gleich gedacht: Oh scheiße, wieder ein Nachmittag weg, bin aber runtergefahren. Da hat er mir in einem Buch auf einer Seite, unten winzig klein in der Ecke, eine Federzeichnung von Wilhelm Busch gezeigt, die er unbedingt haben wollte, so eine schnelle Zeichnung mit 15 Federstrichen: Ein Spießbürger im Sessel mit dickem Bauch und Zigarre im Maul, der von einem dünnen spitzgesichtigen Wanderburschen mit Felleisen schräg angeschaut wird. Auf handbemalten Zielscheiben, die den Ehrenschützen vorbehalten sind, sollte ich das malen, eine hatte er schon fertig grundiert in seinem Bastelkeller liegen. In einer halben Stunde habe ich ihm das Ding da raufgeklatscht, mit Acrylfarben von seiner Frau, die manchmal nach Zahlen Katzenbilder ausmalte. Als er es dann abholte, wußte ich erst gar nicht, wieviel ich dafür nehmen sollte, bloß weg das Ding, wir haben noch dagestanden und über die Schwierigkeiten bei der Festlegung der Kosten solcher Arbeiten geredet. Fünfzig Mark habe ich dann wieder genommen, ich wollte ihn nur los sein …

L.:  Man sollte man darüber nachdenken, ob Kunst, ich meine jetzt vor allem Bilder, die man an die Wand hängt, ob man die nicht auf Krankenschein bekommen kann, dass ich also als Maler über die Krankenkassen abrechne. Die Bilder, die haben ja auch eine Langzeit-Wirkung, mehrere Jahre meistens, so lange eben, wie jemand sie in seinem Zimmer hängen hat, und dabei laufen jede Menge Auseinandersetzungen und Identifikationen damit. So ein Krankenkassen-Kunstmodell wäre jedenfalls weitaus besser als das holländische Modell, wo der Staat den Künstlern quasi ein Gehalt zahlt und dafür Bilder bekommt, die er in irgendwelchen Speicherräumen, kulturellen Zehntscheinen, abbunkert, wo sie vor sich hingammeln. Sowas ist Mist. Wenn der Künstler für irgendwelchen vergrätzten Bürokraten arbeitet statt sich mit hochmotivierten privaten Auftraggebern zu arrangieren, die dann ja wirklich auch mit dem Bild leben wollen oder müssen. In Volkhartshain da war quasi eine Woche das ganze Dorf an der Malerei beteiligt, und die Bezahlung, die war dann ja das Straßenfest, das sie dann vier Wochen später auch wirklich gemacht haben, ein tolles Fest im übrigen, da gab es zum Beispiel zwei Familien, die wohnten seit 15 Jahren im Dorf und hatten seit 15 Jahren noch mit niemandem dort geredet, die hingen auf dem Fest bis morgens um Fünf da rum und haben mit fast allen getanzt und geredet.

N.:  Dabei fällt mir noch was ein, dieses Krankenkassen-Modell noch mal: Im Grunde gibt es das ja schon. Vor einigen Jahren habe ich mal in ei ner psychosomatischen Klinik als Beschäftigungstherapeut gearbeitet – Maltherapie, das ist ja schon fast so etwas, auch wenn das in diese ganze Prinzhorn-Muff-Richtung geht. Und danach habe ich in Schotten und Lauterbach Volkshochschulkurse im Malen gegeben, das ist auch so etwas Ähnliches. In der psychosomatischen Klinik hatte ich mit magersüchtigen und fettsüchtigen Frauen zu tun und statt Mallehrer war ich dann sehr schnell deren Entertainer, d.h. ich musste für die als Discjockey Platten auflegen, nach denen sie getanzt haben.

L.:  Mein letzter Auftrag, der fädelte sich quasi am Faschingssamstag ein. Da hat ein bisher Unbekannter kurz vor Mitternacht in Volkhartshain drei Frauen umgebracht – Großmutter, Mutter und zwölfjährige Tochter. Ein fürchterliches Blutbad angerichtet, mit einem schweren Gegenstand und einem Messer. Der Täter muß barfuß gewesen sein. Man fand einen blutigen Fußabdruck. Die Polizei quartierte sich wochenlang im Dorfgemeinschaftshaus ein. Sie fingen an, alle Leute aus dem Dorf zu verhören. Zuerst den Schäfer, der nachts um ein Uhr auf der Straße gesehen worden war, er hatte seinen Sohn, einen Bäckerlehrling, zur Arbeit gefahren. Der Täter hatte die Schuhgröße 44, deswegen schieden die meisten als unverdächtig aus, ich auch. Vor einem Jahr hatte die Familie das Haus der Oma väterlicherseits verkauft, weil die allein nicht mehr drin wohnen konnte. Die Oma hatte mit ihren 88 Jahren deswegen Selbstmord gemacht, im Dorfweiher, der nur einen Meter tief ist. Ein halbes Jahr später starb ihr Sohn an einem Herzinfarkt. Seine Frau verkaufte das Vieh und die landwirtschaftlichen Geräte, erst vor einigen Wochen den Traktor für 18.000 Mark. Das Geld war nicht auf die Bank gezahlt worden, im Gegenteil, sie hatte sogar noch was abgehoben. Die Polizei vermutete deswegen einen Raubüberfall, und der konnte nur von jemandem verübt worden sein, der von dem Geld wußte. Irgendjemand aus dem Dorf, aus dem Umfeld des Käufers oder jemand aus der Verwandtschaft. Das Haus war vom Täter völlig auf den Kopf gestellt worden. Als man nach einer Woche noch niemanden verhaften konnte, wurde die Atmosphäre im Dorf immer gespannter. Jeder verdächtigte jden, ja, viele fühlten sich selbst verdächtig, einige kauften sich Gewehre, andere schlossen nachts ihre Türen ab. Der Ortsvorsteher berief in seinem zum Partyraum umgebauten ehemaligen Schweinestall eine Dorfversammlung ein. Er fungierte als Mittelsmann zwischen der Polizei im Dorfgemeinschaftshaus und den verwirrten Leuten drumrum. Die Polizei ließ Hubschrauber über dem Dorf kreisen, sie durchsuchte mit Leitern alle Dachrinnen. Als ich an der Tankstelle in Büdingen mal den Tankwart fragte, was es Neues über den Mord in Volkhartshain gäbe, schrieb der sich gleich meine Nummer auf, meldete sie der Polizei und die setzten sich sofort auf meine Fährte.

Ich war gerade auf dem Weg nach Frankfurt, wo ich einen neuen Auftrag hatte, ich sollte für eine Kaffeerösterei ein Firmenschild malen, für 400 Mark. Die Polizei ließ mich nach kurzer Zeit wieder laufen. Aber ein paar Tage später tauchten sie in unserem Atelier auf und wir kamen ganz nett ins Gespräch dabei. Ich bot mich ihnen als Phantomzeichner an – und tatsächlich bekam ich auch den Job: sie zahlten mir hundert Mark für eine Zeichnung. Bis jetzt hat man zwar noch niemanden verhaftet, aber mein Honorar ist nicht vom Erfolg abhängig. Ich habe diese Phantomköpfe mit schwarzer Feder gezeichnet. Es war ziemlich schwierig. Die Kripo-Beamten kamen mir laufend mit ganz ungewöhnlichen Einwänden. Fast war es das Gegenteil von dem, was ich sonst so gemacht hatte: Eine möglichst genaue Kopie von einem verschwundenen Original anzufertigen, das vielleicht nie existiert hat. Der Täter, den die Polizei dann später – ohne Phantomzeichnung – verhaftete, war es dann auch gar nicht: seinen Anwälten gelang es, ihn wieder freizubekommen. Mittlerweile hat man es aufgegeben, nach dem echten zu suchen, und der falsche wurde trotzdem bestraft: er saß lange in U-Haft, seine Verlobte trennte sich von ihm, er verlor seine Arbeit, und als er rauskam, traute er sich nicht mehr in sein Heimatdorf zurück. Die Bevölkerung hier mißtraut nämlich immer noch der Intelligenz, mit der seine linken Anwälte aus Frankfurt ihn freibekamen. Für sie gilt eher sein „Geständnis“, das die beiden Polizisten, einer aus Alsfeld, der andere vom BKA, aus ihm rauspreßten – mit „persönlichkeitsverletzenden Polizeipraktiken“, wie es einer der Gutachter ausdrückte.

Dahinten fahrt ihr rückwärts an die Scheune und dann könnt ihr schon die Schläuche ausrollen.

6.

Fulda ist nicht überall: Die erste Erwähnung der Stadt am Fuße der Rhön fällt ineins mit der Gründung des Klosters Fulda durch den iroschottischen Mönch Bonifatius, dessen Gebeine noch heute in der Krypta des Doms aufgebahrt sind.

Einige Jahrzehnte später, 772, beauftragte Karl der Große die Fuldaer Benediktinermönche mit der Christianisierung der von ihm besiegten Sachsen. Die „Fuldaer Sachsenmission“ wurde derart brutal durchgeführt, daß in den darauffolgenden dreißig Jahren die Sachsen immer wieder rebellierten. Unter der Führung des Westfalen Widukind bedrohten die Aufständischen 778 sogar das ihnen „besonders verhaßte Fulda“ selbst, den Hauptstützpunkt der fränkischen Reichsmission. Karl der Große reagierte auf diese neuerliche Insurrektion mit dem berühmt gewordenen „Blutgericht zu Verden“ (783). Der Sachsenführer Widukind wurde zwangsgetauft. Er soll vor Empfang seiner die Niederlage besiegelnden Taufe den Bann ausgestoßen haben: „O Fulda, verflucht sollst du und alle in deinen Mauern sein, bis zu dem Tag, da die christliche Schmach von uns genommen!“

Zunächst schien der Fluch folgenlos zu bleiben. Gut 1.000 Jahre – bis zu den napoleonischen Reformen – regierten die Fuldaer Äbte mit „Krummstab und Schwert“: je verwegener, desto erfolgreicher. „Das weitläufige und herrliche Barockviertel zeugt noch heute von der Pracht und Macht seiner Fürstbischöfe“ (Fuldaer Stadtführer). Es gibt aber einige Chronisten, die es bereits als Folge des Widukindschen Fluchs ansehen, daß ausgerechnet in den Mauern des Fuldaer Klosters zwei Mönche ausgebildet wurden, die der katholischen Kirche später großen Schaden zufügten: Der eine hieß Bruder Johannes, er lebte acht Jahre unter dem Abt Hrabanus Maurus (822-842), dem Schöpfer des „teutschen Schulwesens“ im Fuldaer Kloster. „Bruder“ Johannes war die Tochter eines iroschottischen Mönches und einer Sächsin. Später ging sie nach Rom und wurde dortselbst nach dem Tode Leo IV. 855 zum Papst gewählt. Nur knapp zwei Jahre saß sie auf dem Heiligen Stuhl, aber als „Päpstin Johanna“ ging sie in die Legenden und katholischen Phantasien ein. Der andere Mönch war der von seinem Vater 1499 dem Fuldaer Kloster übergebene Ulrich von Hutten aus Oberhessen. Er kämpfte später als Humanist und Anhänger der Reformation publizistisch äußerst wirkungsvoll gegen den Papismus und das Mönchstum – in Sonderheit gegen die Dominikaner „die scharfen Hunde Gottes“: mit gefakten „Dunkelmännerbriefen“, die ihn berühmt machten.

Es gilt aber noch viele weitere Vorfälle zu erwähnen, die darauf hindeuten, daß der Widukindsche Fluch mehr war als nur ein „strafloses Wahndelikt“ (Der Spiegel): Im Jahre 850 brach eine Hungersnot über Fulda herein (Eltern sollen ihre Kinder verzehrt haben); 927 äscherte ein Blitz die Stiftskirche ein – kurz zuvor waren die letzten Heiden christianisiert worden; 1014 plünderten die Truppen Kaiser Heinrich II. das Kloster, 1103 brannte die Pfarrkirche und ein Teil der Stadt ab; 1103 stürzte der südliche Flügel der Stiftskirche ein; 1145 ging ein großer Teil der Stadt in Flammen auf; 1148 blieb zwischen ein Uhr und sechs Uhr nachts zwischen Kämmerzell und Lüdermünd die Fulda aus – ein beklemmendes Zeichen: die sogenannte „Fuldaische Ebbe und Fluth“; im Jahre 1200 legte ein Brand fast die gesamte Stadt in Schutt und Asche, 1215 noch einmal; 1235 wurden in einem Pogrom 32 Juden erschlagen; 1285 brannte die Hauptkirche ab; 1330 kam es zu Bürgeraufständen gegen die Herrschaft des Fürstbischof-Abts Heinrich VI.; 1331 ließen die rebellierenden Bürger das Kloster in Flammen aufgehen, ihre Anführer wurden später hingerichtet; zwischen 1349 und 1364 starben etwa 3.000 Fuldaer an der Pest, in den Chroniken heißt es, daß mehr als 600 Juden erschlagen wurden, da man sie für die Seuche verantwortlich machte; 1385 kam es zu Bauernrevolten, die vom Abt Friedrich niedergeschlagen wurden; 1398 brannte die Hauptkirche zum dritten Mal ab, auch das Kloster wurde dabei in Mitleidenschaft gezogen, wobei die Bibliothek vernichtet wurde; 1438 erneuter Pestausbruch; 1523 predigte Thomas Müntzer in Fulda; es kommt zu Bauernaufständen; Fulda wird geplündert, das Kloster zerstört, Landgraf Philipp läßt 200 aufständische Bauern töten; 1530 wurden etliche Wiedertäufer hingerichtet; 1542 brach noch einmal die Pest in Fulda aus; 1546 wurde die Stadt durch Truppen des Kurfürsten von Sachsen geplündert; zwischen 1603 und 1606 wurden mehr als 300 Frauen als Hexen hingerichtet, verantwortlich dafür war der die Gegenreformation einleitende Fürstabt Balthasar von Dernbach; 1625, mit dem Dreißigjährigen Krieg, der für Fulda 35 Jahre währte, weil bis 1653 noch Truppen vor der Stadt lagen, die auf Lösegeld warteten, kam noch einmal die Pest in die Stadt.  1806 plünderten napoleonische Truppen Fulda und seine Kirchen. Adalbert III. von Harstall ist der 93. und letzte Fürst-Abt. Fulda wird Provinz.

Die Revolutionen von 1830, 1848 und 1918 finden in Fulda kein Echo mehr, im Gegenteil: trotzdem man Anschluß an die Industrialisierung gefunden hatte, scharrte man sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer enger um den zunehmend reaktionärer werdenden Klerus der Stadt. 1933 fordert der Fuldaer Bonifatiusbote (das offizielle Bistumsblatt): „Wir brauchen einen sicheren Führer, unter der Losung: Christliches Deutschland, kein kommunistisches!“ Zwölf Jahre später wurde diese Losung – ohne Bezug auf den Führer – noch einmal bekräftigt. Die Stadt war – parallel mit der Vertreibung der Fuldaer Judengemeinde – militärisch vereinnahmt worden, mit vier Kasernen, Munitionslager, Wehrbezirkskommando und Offizierskasino. Dies war der Grund, warum Fulda mehrmals von den Alliierten bombardiert wurde. Demgegenüber steht eine Geschichte, die der Schriftsteller Wladimir Kaminer kürzlich erzählte, nachdem er in Fulda eine Lesung gehabt und als Dank von den Veranstaltern ein Buch über Fulda geschenkt bekommen hatte. Das Buch hieß „Als der Ami kam. Fulda in der Stunde der Entscheidung“. Der Autor – Gustav Lochmann – war laut Kaminer „ein tapferer Wehrmachtsoffizier, sieben Mal verwundet worden und leitete nach Kriegsende in Fulda die amerikanische Feuerwehr. 1954 bekam er einen Auftrag von der Fuldauer Volkszeitung, über das Kriegsende in Fulda zu schreiben. Als die Amerikaner schon ganz in der Nahe standen, machten sich die Militärs, die Bürger und Fabrikanten Gedanken, wie man die Übergabe ordentlich regeln könne. Dem letzten Befehl von oben – alle zu erschießen, die Stadt und die Fabriken in die Luft zu jagen, also nichts dem Feind zu überlassen, wollten die Fuldauer nicht mehr folgen. Also übergaben sie die Stadt den Amerikanern fast kampflos. Als Dank für diese tolle Geste, plünderten die freigelassenen Zwangsarbeiter wie wild die halbe Stadt, unter anderem auch die Wohnung des Ortskommandanten, der gerade unterwegs war, um mit den Amis die friedliche Übergabe Fuldas zu verhandeln. Die undankbaren Fremdarbeiter bildeten sogar Banden und überfielen die Bevölkerung. Die Amerikaner schauten weg und wollten nicht so richtig helfen. Außerdem wurde die Stadt trotz aller Bemühungen doch noch ordentlich bombardiert. Herr Lochmann fand heraus, wie es dazu kam: Ausgerechnet ein jüdischer Junge aus Fulda war schuld. Lange vor dem Krieg hatte die Stadt bereits ihre jüdische Bevölkerung entfernt und ihre Häuser enteignet. Die Familie des Fuldauer Jungen Erwin konnte sich frei kaufen und aus dem KZ Buchenwald nach England auswandern. Danach flog der Junge nach Amerika, wo er dann Obergefreiter in der Luftwaffe wurde. Laut Herrn Lochmann hatte Erwin nur einen Traum: Fulda in Schutt und Asche zu legen! Aber wie kann ein einfacher Soldat eine Bombardierung organisieren? Der Junge schrieb immer wieder lange Briefe an seine Vorgesetzten über die Notwendigkeit der sofortigen Bombardierung Fuldas, denen er selbstgemalte Skizzen über die Lage aller angeblichen Waffenfabriken seiner Heimatstadt beifügte. Mit großem Vergnügen markierte er auch das enteignete Haus seines Vaters auf den Karten sowie auch andere Fuldaer Ziele, deren Zerstörung er sich wünschte. Der junge Fuldaer mußte lange warten. Die amerikanische Luftwaffe hatte sich erst einmal mit anderen, wichtigeren Zielen zu beschäftigen. Langsam wurde Erwin verzweifelt, ob die Air Force jemals darauf eingehen würde, sein Fulda zu bombardieren? Dann aber rief ihn eines Tages sein Vorgesetzter zu sich und zeigte ihm die Luftaufnahmen der zerstörten Gebäude dort: Es hatte also doch noch alles geklappt! Sein persönlich wichtigstes Ziel, das Haus, das die Nazis seiner Familie weggenommen hatten, wurde sogar sechs mal bombardiert. Herr Lochmann zitiert in seinem Buch Auszüge aus einem Interview mit Erwin: ‚Schade, das die Amerikaner niemals starke Kräfte über mein Ziel schickten‘, beschwerte er sich darin. ‚Aber ich glaube trotzdem, das ich alles getan habe, was ich konnte‘. ‚Nur „wenige werden das bezweifeln“, kommentierte dies Herr Lochmann. ‚Den einzigen Wunsch, den Erwin noch hat, ist eine Inspektion seiner Luftschlacht durchzuführen und die Bombenkrater zu prüfen,‘ so beendet der Autor sein Buch.“

Nach 1945 lebten wieder einige hundert Juden in der Stadt, aber sie hielten es dort nicht mehr lange aus: Bis 1950 sind fast alle nach Palästina oder in die USA emigriert. Fulda war ökonomisch und kulturell vollends ins Abseits geraten – ins Zonenrandgebiet, „wo sich Förster und Bundesgrenzschutz gute Nacht sagen,“ wie sich eine Studentin dort ausdrückte.

Mit Hilfe der Alliierten hatte der ehemalige Kommunist Kierzek nach dem Krieg die Fuldaer Volkszeitung gegründet, die erste nicht- papistische, nicht-nationalistische Zeitung in Fulda. Anfang der fünfziger Jahre sollte in Fulda das ehemalige klerikale Zentrumsblatt Fuldaer Zeitung (im folgenden F.Z.) wieder erscheinen, ein Pfarrer erklärte von der Kanzel herab, ihm sei bekannt, daß in der Gemeinde noch immer 41 Volkszeitungen gelesen würden, er erwarte, daß auch sie bald verschwänden. Ein anderer Geistlicher forderte zu Ostern seine Gemeinde auf, ein Vaterunser „für einen erfolgreichen Start der Fuldaer Zeitung“ zu beten.

Ab den Siebzigerjahren etwa geriet Fulda erneut ins Zentrum – in das der Nato-Offensiv-Verteidigung, als „Fulda Gap“. Von der einstigen wonnekräftigen Waldeinsamkeit blieben bald, von Autobahnen und Schnellbahntrassen zerschnitten, nur noch einige Festkilometer saure Fichten übrig. Diesem mählichen Abkappen des Realen, der lebendigen Verbindungen und sozialen Zusammenhänge, folgte eine moralische Erosion im Innern der Stadt. Sie begann mit dem „unheimlichsten Verbrechen unserer Zeit“: Der Schändung des Leichnams von Bischof Adolf Bolte durch den freischaffenden Künstler Jürgen Wegehenkel im November 1974. Der Täter konnte nach der Tat mit dem Krummstab entkommen, er vergrub ihn noch in der selben Nacht auf dem Kalvarienberg, nachdem er ihn stolz seiner Freundin, die zu Hause schon geschlafen hatte, gezeigt und von ihr nur zu hören bekommen hatte: „Sieh zu, wie du das wieder in Ordnung bringst!“

Bereits am nächsten Tag konnte man ihn anhand seiner Fingerabdrücke auf dem Ewigen Licht identifizieren und festnehmen. Wegehenkel gab an, es aus „Haß auf die Kirche und ihre Würdenträger“ getan zu haben. Später räumte er ein, es sei auch Eifersucht mit im Spiel gewesen (seine gläubige und von ihm schwangere Freundin hatte am Tag zuvor am Trauerzug der Fuldaer Katholiken zum Sarg des im Dom aufgebahrten Bischofs teilgenommen). Nach der Tat „nahm ich den Stab und schritt majestätisch nach Hause“, gab der angeklagte Leichenschänder zu Protokoll. Einen Tag vor seiner Tat hatte Wegehenkel schon inmitten der um den toten Bischof Trauernden vor dem Dom „ein Lied von einem Mönch aus dem 15. Jahrhundert gesungen; der Text lautete: ,Es gibt kein Händeringen / Wir müssen all von hinnen / dann kommt der Tod gefahren / auf einem schwarzen Wagen/ der Tod, der macht uns alle gleich / das Schwein, den Bischof, ob arm, ob reich.“ (F.Z.) Nach der Schändung erklärte der Nachfolger von Bischof Adolf Bolte, Kapitularvikar Eduard Schick „mit großer innerer Erregung: ,Diese Zeit trägt apokalyptische Züge'“.  Das Fuldaer Amtsgericht, das Wegehenkel verurteilte, erhielt zahlreiche Drohbriefe von empörten Gläubigen, in denen das „Aufhängen des Angeklagten“ und das „Abhauen seiner rechten Hand“ gefordert wurde; mehrere anonyme Anrufer verlangten außerdem ein „Abhacken des rechten Fußes“. Dazu muß man wissen, daß die Wegehenkels zu der Zeit ein brühmtes Fuldaer Fußballer- Geschlecht waren. Am weitesten hatte es diesbezüglich der älteste Bruder des Angeklagten gebracht, der bei den Fuldaer „Borussen“ in der 2. Liga Süd spielte. Seltsame Koinzidenz: Seit der Bischofsschändung ging es mit den Fuldaer Fußballern „fortunamäßig“ (Jack Lemmon) stetig bergab.

Wegehenkels schändliche Tat machte zudem schon bald bei den Fuldaer Jugendlichen Schule: Zuerst wurde der Altar der Stadtteil-Kirche Bachrain geschändet. Die Gemeinde hatte gerade einen neuen Hirten bekommen: den Schlesier Schydlo – einen ehemaligen Militärseelsorger mit einer großen Vorliebe für alles Zackige. Seine Meßdiener schissen ihm nächtens in die Monstranz.  Sie kamen mit geringfügigen Bestrafungen davon. Einige Monate später passierte in der Edelzeller Kirche Ähnliches: Die Jugendlichen versuchten hier zusätzlich noch das Gestühl anzukokeln. Es wurden Höchststrafen gegen sie verhängt. Unterdes war Eduard Schick Nachfolger des Bischofs Bolte geworden. In Fulda und auf der Bischofskonferenz nannte man ihn „Diamanten-Ede“: Er nahm seinen heißgeliebten Bischofsring nicht einmal im Schlaf ab. Am Südhang der Stadt ließ er sich eine protzige Villa errichten. Der Bonifatius-Bote (42/85) vermeldet, dass Schick – schon emirittiert – in einer Festrede noch einmal das Fuldaer „Missionswerk“ pries – „von der programmatischen Fällung der Donareiche bei Geismar bis zur Sachsenmission“, und dass er den wütenden Heidenschinder Bonifatius „als großen Anreger und Wegbereiter“ bezeichnete. Sein Nachfolger wurde ein gewisser Johannes Dyba – dessen Name in den eben genannten Kreisen bald zu einer Maßeinheit wurde: In „Dyba“ mißt man seit seinem Amtsantritt die Geschwindigkeit, mit der jemand eine unsägliche Blödheit nach der anderen von sich geben kann. Dyba trennte sich zugunsten der „Mission“ von seiner wertvollen Briefmarkensammlung, die bereits sein Vater 1890 angefangen hatte. In und um Fulda herum schossen indes – gemäß des Nato-Plans „Flexible Response“ – die US-Miltäreinrichtungen „wie Pilze aus dem Boden“ (laut einer Broschüre des Fuldaer Friedensladens).  Währenddessen stilisierte sich des Bischopfs weltlicher Arm – Oberbürgermeister Alfred Dregger, Führer der Deutschnationalen in der CDU – zu einer Rhöner Variante des „tough guy“ (G.Salvatore). Mit der Maske eines Fuldaer Rogers fiel es lange niemandem auf, dass Dregger dahinter zu einem reaktionären „Senilo“ (M. Horx) herunterkam. So erklärte er z.B. vor einem Treffen mit dem Weltbankchef McNamara der Presse: „Ich treffe mich gleich mit McBanana!“ Und als Fraktionsvorsitzender im Bundestag schaffte er es, durchzusetzen, dass der ICE zwischen Kassel und Frankfurt fortan statt in Gießen in Fulda hielt, was einen Umweg von etwa 100 Kilometern ausmacht. Der Widukindsche Fluch begann langsam zu greifen.

Als nächstes verhängnisvolles Ereignis in dieser sepsischen Serie kündigte sich am 22.11.82 das Schreiben von Bürgermeister von Pufendorf an die zwei Schriftsteller Chotjewitz an, in dem er eine Einladung der beiden, als Autoren an der Volkshochschule Fulda zu lesen, rückgängig machte – mit der Begründung: Ihm wäre „zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht bekannt gewesen, welche Aktivitäten sie 1977 im Zusammenhang mit den Vorgängen um die RAF Terroristengruppe entfaltet  haben“. Frau Chotjewitz schrieb ihm zurück: „Die von ihnen ausgegrabenen Vorwürfe gegen meinen Mann treffen 1. nicht zu, sondern lassen eher auf eine Rufmordkampagne schließen, und haben 2. mit meiner Person als Co-Autorin schon gar nichts zu tun. (Frankfurter Rundschau vom 17.10.83). Knapp ein Jahr später „rammte 16jährige ehemaligem Freund Messer ins Herz“ (so die Oberhessische Volkszeitung). Bei dem dabei Schwerverletzten handelte es sich um einen in Fulda stationierten GI, der mit dem Mädchen, das von ihm scnwanger war, zusammengelebt hatte: „Am Tag zuvor hatte die telefonisch erfahren, dass sich ihr ‚Ehemaliger‘ mit anderen Frauen in einer Bar amüsierte“. (F.R.). Sie lauerte ihm auf und als er aus seinem Auto – ein BMW 323i metallic – stieg, stach sie mit einem Klappmesser auf ihn ein.

Am 2.11.des nämlichen Jahres saß einer der zwei festen Mitarbeiter des Fuldaer Friedensladens frustriert im Café Flamme und meinte gegenüber der Kellnerin: „Wir haben eigentlich alles getan, was wir konnten – jeden Militärstützpunkt, jeden Raketenstandort, jedes Atomminendepot und jeden Sprengschacht haben wir vermessen, verzeichnet und veröffentlicht, was sollen wir jetzt noch machen?“ Als er kurz darauf aus dem Café trat, schiß ihm eine Taube im Flug auf seine schwarze Samtjacke. Am 7.11. wollten zwei GIs – in Zivil und leicht angetrunken – im gerade umgebauten Fuldaer Bahnhofsrestaurant fünf Mark beim Kellner gewechselt bekommen. Als der sich weigerte, beschwerten sie sich laut und auf Englisch bei den Gästen: „We protect you and fight against the Russians – and then you don’t even want to change us five Marks. Fuck you all!“

11.11.: In den Anzeigenblättern der Region werden „von privat an privat“ laufend Weltkrieg-Zwo-Helden-Verehrungsbücher und Militaria gesucht. Jemand „benötigt dringend“ von A.Hitler „Der Kampf“. Eine Blitzumfrage unter den Fuldaer Antiquariaten ergibt, dass „Mein Kampf“ mittlerweile mehrere hundert DM kostet, weil „die Nachfrage hier weit größer als das Angebot“ sei. 14.11.: Der Fuldaer Neonaziboss und stellvertretende Bundesleiter der verbotenen „Aktionsfront Nationale Sozialisten“ – Thomas Brehl – parkt seinen weißen Mercedes mit Chauffeur auf dem Bonifatius-Parkplatz und begibt sich in die dortige Diskothek „Steigbügel“. Zum Sylvesterabend beabsichtigt die rechtsradikale Wiking-Jugend laut F.R. wieder, in der nahen Rhön gegen die „Mordgrenze der DDR“ zu demonstrieren. 16.11.: Eine junge Mutter mit Kind betritt das Café in der Hauptwache gegenüber dem Schloß und bestellt etwas am Kuchenbüffet. Das Kind schaut auf die Torten in der Auslage, zeigt dabei auf eine Schwarzwälder Kirschtorte und kräht keck „Kacke!“ Die Mutter haut ihm eine runter. Die Bedienung schaut weg. 21.11.: Jürgen G. aus der Oberstadt läßt sich von seiner Frau ein Jurastudium in Gießen finanzieren, ist aber überhaupt nicht immatrikuliert und vertreibt sich stattdessen fröhlich die Zeit dort – in der „mittelhessischen Einkaufsmetropole“ (so der Gießener Anzeiger, hier zitiert nach „Elefanten-Klo Gießen“, 12/84) Anläßlich seiner Examensfeier kommt es zum Eklat: Seine Frau ist stinksauer und trennt sich vorübergehend von ihm. 28.11: Ein Berliner Journalist – Paul Kohl – veröffentlicht seinen im Jahr zuvor in Fulda recherchierten Romand zur Friedensbewegung: „Fulda Gap“ – eine Emotions- und Argumentationshilfe für das so genannte „Fulda-Friedenscamp“.

„Sein Buch,“ schreibt die taz in einer Rezension am 22.2.85, „strotzt nur so von pathologischer Vernichtungssehnsucht und Wahrnehmungsverzerrung“. Nichtsdestotrotz wird es von den Fuldaer Friedenskämpfern noch 2007 wärmstens via Webpage empfohlen. Über die Fuldaer Kneipe „Goldene Krone“ hatte der Autor – Kohl – darin „hemingwaymäßig“ (E.Henscheid) geschrieben: „Angetrunkene GIs und Mädchen, Teenies, halb noch Kinder. Schülerinnen. Vielleicht Nutten, die in ihrem Kinderköpfchen kühl taxieren, und hier ein bißchen Zärtlichkeit suchen von den Amipranken und ein bißchen Selbstbestätigung. Kaum sitzt der betrunkene GI wieder, hat er ein danebenstehendes Mädchen um die Hüfte gepackt und auf seinen Schoß gewuchtet. Sie bleibt auf seinen Schenkeln sitze, rutscht darauf hin und her. Ich sehe, wie die Mädchen mit zerwühltem Haar wie Tauben hin- und herflattern, und die Amis untereinander mit dem Unterarm und mit geballter Faust die bewußte Rammelbewegung machen. Die Vorfreude läuft ihnen schon am Unterschenkel herab. Ich muß an die Sprengkammern denken. An das eingekreiste Fulda. Die Städte sind zu.“ (S. 87)

Ein kurzer Besuch der „Goldenen Krone“ noch im selben Jahr ergab dann: eine stinknormale Kneipe. Wir konnten jedenfalls nichts „Verhaltensauffälliges“ (O.Kolle) darin entdecken, bis auf einen Präservativautomaten, der für 2 DM „Amor Filigran mit Perlnoppen“ auswarf. Vor dem im Schloß untergebrachten Amtsgericht stießen wir dafür auf den „Staranwalt“ (BILD) Rolf Bossi, der – wahrscheinlich wie immer mit dem eigenen Hubschrauber angereist war und hier in Fulda den „fliegenden Fluchthelfer Friedemann Späth“ (Der Spiegel) verteidigte. Der mit einem Flugzeug in die DDR geflogene, dort verhaftete und dann vom Westen wieder zurückgekaufte Angeklagte hatte DDR-Flüchtlinge, „um dem verhaßten Regime eins auszuwischen“ (Bossi vor Gericht) mit einem ihm zur Verfügung gestellten Flugzeug von Jossa aus „herausgeholt“ (F.R.). Im Prozeß  kam weder zur Sprache, ob die Flüchtlinge dafür gezahlt hatten, noch was der Eigentümer des Flugzeugs, ein in Frankfurt lebender und zu Reichtum gekommener ehemaliger DDR-Flüchtling mit der Fluchthilfe zu tun hatte. Der Angeklagte bekam zehn Monate auf Bewährung, Bossi legte Berufung ein, zog dieser aber wenig später wieder zurück.

Im schon erwähnten Café Flamme entdeckten wie nach der Gerichtsverhandlung – Zufall? – Hansjoachim Tiedge am Nebentisch. Wie jedes Jahr so verbrachte der „Top-Agent“ (Bild am Sonntag) des Bundesnachrichtendienstes auch heuer wieder seinen Jahresurlaub in der Rhön, wo es bekanntlich von Spionen, aber auch  Doppelagenten nur so wimmelt. Dort trafen wir dann auch kurz darauf Tiedge gleich noch mal: Im Hochzeitszimmer des Heimatmuseums von Tann. Wir hatten gerade den Bockenheimer Philosophen Heipe besucht, der ein Wochenendhaus bei Tann besitzt, wo er uns erzählte, dass das jus primae noctae in der Rhön erst von den Nazis wirklich abgeschafft worden sei. Und ferner: dass dies „Recht auf die erste Nacht“ einstmals bei den Heiden-Fürsten eine Pflicht gewesen sei, die erst durch Christianisierung und Aufklärung zu Recht wurde.

Aus der Rhön dringen am 4.9. 85 neue vorchristliche Worte an die Öffentlichkeit: Gegen ein Honorar von 150.- bis 30.000 Mark schwor die „Satanspriesterin“ Ulla von Bernus ihren Klienten besonders verhaßte Mitmenschen Tod oder Krankheit an. Der mittlerweile abgesetzte Fernsehpfarrer Sommerauer brachte sie daraufhin wegen „Mordes“ zur Anzeige; ein Fuldaer Gericht sprach die „Hexe“ jedoch frei – ihr „Totbeten“ wurde als „irrealer Versuch“ qualifiziert. Die Ereignisse häuften sich nichtsdestotrotz.

Aber zuerst Topagent Tiedge noch einmal, über den man schon lange in der Unterstadt geunkt hatte, dass er wahrscheinlich seine Frau „mit einem harten Gegenstand“ (so Erwin Laschke aus Schlitz) erschlug, und dass ihn diese Tat für „die Gegenseite“ (A. Gehlen) erpressbar gemacht hätte. Der Gruppenleiter in der Spionageabwehr des BND Tiedge setzte sich Ende August 1985 „überraschend“ (so die BUNTE) in die DDR ab – und sein Chef Hellenbroich mußte deswegen zurücktreten. Kurz danach sprach Laschke bereits davon, dass jetzt wahrscheinlich die bundesdeutsche Staatsanwaltschaft wegen des „tragischen Unglücksfalles seiner Frau“ („Die Zeit“) ermitteln werde. Und so geschah es dann auch.

Ein anderer gelegentlicher Fuldabesucher, Erwin Kimpel aus Wildflecken, wurde wenig später in der Domstadt von einem Beamten der Verkehrskontrolle gestoppt – und zwar derart, dass dieser mit seiner Stop-Kelle „mehrmals heftig und wütend wie die Pest auf die Motorhaube seines neuen Zweiliter-Opels schlug (so ein Bademeister als Zeuge am 12.12.85). Beim nächsten Ereignis ist umgekehrt ein Polizist der Zeuge – und zwar ausgerechnet der Frankfurter Wasserwerfer-Kommandant Reichert, ein besonders brutaler Beamter, der einige Monate zuvor  den Tod des Demonstranten Günter Sare zu verantworten hatte. Er ist in Hanau stationiert. In Fulda tritt er nun als Zeuge in einem Prozeß wegen Religionsverunglimpfung auf – einer in der Folge von 443 Ermittlungsverfahren, die die Staatsanwaltschaft in dieser verfluchten Stadt im Zusammenhang mit der „Aktionswoche Fulda Gap 1984“ angestrengt hatte. Der sich in diesem Fall beleidigt fühlende Anzeiger ist ein stadtbekannter „Brauner“ (laut Heinz Fischer aus Gersfeld). Angeklagt ist eine schwäbische Friedensfeministin: Sabine Antal, die am „Frauentag“ der Aktionswoche, an dem zufällig auch die Bischofskonferenz tagte, in der Stadt demonstriert hatte – unter einem Transparent mit der Aufschrift „Wenn Pfaffen schwanger werden könnten, wäre Abtreibung ein Sakrament!“ Aufgebrachte Gläubige hatten daraufhin die Demonstrantinnen beschimpft und tätlich angegriffen, wobei zwei Frauen das Transparent entrissen worden war – und Kommandant Reichert eine Quittung dafür ausgestellt hatte, die er einfach der Nächstbesten – Sabine Antal – in die Hand drückte, wodurch sie quasi automatisch zur Rädelsfürerin wurde. Im Prozeß stellte ihre Anwältin erst einmal einen Antrag auf Ablehnung des katholischen Amtsrichters – wegen Befangenheit. Die Suche eines evangelischen Richters im Gerichtskreis gestaltete sich äußerst mühsam, aber dann fand man einen – der den Antrag ablehnte. Die Anwältin, die in Frankfurt auch die Eltern des mit dem Wasserwerfer getöteten Günter Sare vertrat, stellte daraufhin einen zweiten Befangenheitsantrag, weil der Zeuge – Reichert – dem Fuldaer Amtsgericht nicht seine Adresse mitteilen wollte. Das reichte dem Richter, um den Prozeß erst einmal zu vertagen. Eine kluge Entscheidung.

Eine eher „bahnbrechende“  (so die Neue Juristische Wochenschrift) hatte ein Richter im selben Amtsgericht zuvor in einem anderen Beleidigungsprozeß gefällt. Dabei war es um die Wörter „Wahnsinniger“ und „Arschloch“ gegangen, mit denen der in Schlechtenwegen lebende März-Verleger Jörg Schröder den Fuldaer Umweltschutz-Bund-Vorsitzenden Bittner, der nebenbei noch Organist im Dom war, charakterisiert hatte (vgl. dazu  das Märzbuch „Cosmic“, S. 112). Der so Beschimpfte klagte dagegen auf Zahlung eines Schmerzensgeldes. Doch der Richter wischte „unerwartet“ (so Schröder) den „Wahnsinn“ sofort vom Tisch und stellte auch das „Arschloch“ wenig später „wegen Geringfügigkeit“ ein. Die Ereignisse jagten sich schon fast.

Zuerst war es wieder nur ein Gerücht in der Unterstadt, dem diesmal Kriminaloberkommissar Winfried Heurich im „Bermudadreieck“ („zwischen den Kneipen ,Zur Krone‘, ,Tante Änne‘ und ,Kulmbacher Schmiede'“, (F.Z.) nachging. Der stadtbekannte Richard Ponizil, Gelegenheitsarbeiter und „Bierschnorrer“ (laut Gelnhäuser Tageblatt), war verschwunden – samt seines Cordhutes. Man munkelte, er sei ermordet worden, trotzdem fing man bald an, Heurich wegen seines hartnäckigen Festhaltens an diesem Gerücht zu veräppeln . Ende Oktober wurde er jedoch fündig. Am 2.11.85 hieß es: „die beiden Brüder Sch. und die 27 und 43 Jahre alten Brüder H. sind verhaftet worden. Teilgeständnissen von zwei der mutmaßlichen Täter zufolge stieß der angetrunkene Ponozil gegen 18 Uhr zu einer Gruppe von fünf Männern, drei Frauen und zwei Kindern, die in den Fuldawiesen grillten. Die bis dahin heitere Stimmung sei umgeschlagen: Der ,Bierschnorrer‘ und angebliche Kinderschänder Ponizil sei unerwünscht gewesen. Einer der Männer habe Ponizil dann eine volle Bierflasche auf den Kopf geschlagen. Nach Fausthieben, Tritten und einem weiteren Schlag mit einer Bierflasche sei Ponizil blutend zusammengebrochen. Der Schwerverletzte schleppte sich laut Staatsanwalt Trost nach einer Viertelstunde an die Fulda und watete mit letzter Kraft durch das flache Wasser, wo er sich am Ufergestrüpp festhielt. Dort sei er dann von den ihm folgenden Männern in den Fluß zurückgestoßen worden. Einer habe ihn fünf bis zehn Minuten unter Wasser gedrückt. Seine Leiche sei anschließend beim Grillplatz auf einen frisch aufgeschichteten Holzhaufen gelegt und verbrannt worden.“ Zuvor hatten die Männer sich auf einer Baustelle Holz für ihren Scheiterhaufen besorgt, ferner einen neuen Kasten Bier geholt und die Frauen und Kinder mit dem fünften Mann weggeschickt. „Das Feuer loderte die ganze Nacht an der Grillstelle unter der Trauerweide hinter dem Eins-A-Markt“. Gegen Morgen wurden wohl die verkohlten Leichenteile in die Fulda geschaufelt – „deswegen hab man auch trotz Trockenlegung des Seitenarms der Fulda keinen Fund machen können“, teilte der leitende Oberstaatsanwalt Baumann mit. Die Täter kamen überein, Stillschweigen zu bewahren und „gaben ihrer Tat das Kennwort ,Hexenhammer'“ (F.Z. vom 2.11.85).

Bereits drei Tage zuvor hatte die Fuldaer Zeitung die Ermordung Ponizils als „grausamstes Verbrechen der Nachkriegszeit“ bezeichnet. In dem schon erwähnten Buch „Fulda Gap“ beschreibt der Autor Paul Kohl eine Stipvisite im Städtchen Schlitz nahe Fulda, wo ihn eine Horrorvision befielf (vgl. dazu die ganz anders gearteten Schlitzeindrücke der Europakorrespondentin des „New Yorker“: „Die Schlacht am Eisenberg“ sowie die erst kürzlich erschienenen Kindheitserinnerungen des Wahlberliners  Florian Illies – dem in Schlitz aufgewachsenen Sohn des gläubig gewordenen Limnologen Joachim Illies). Der unsägliche Paul Kohl schreibt: „Ich bin Kämmerzellern begegnet. Sie waren grauenhaft zugerichtet: verbrannt, verletzt, verstümmelt, blind. Sie kommen das Fuldatal herab. Sie schleppen sich am Fuldaufer entlang. Dort sammeln sich die Halbverbrannten. Sie haben aus dem Fluß getrunken, der voll Asche und Leichen und sicher radioaktiv verseucht ist.“ (S.63)

Kohls Buch erschien Ende 1984. Der Mord an Ponizil auf den Fuldawiesen hinter dem Eins-A-Markt ereignete sich Mitte 85. Vor dem Eins-A-Markt, genauer gesagt auf dem Parkplatz dieses Einkaufszentrums fand wenige Monate später ein „internationales Schweinerennen“ statt. Zwölf Tierschützer demonstrierten dagegen vor dem Kassenhäuschen der Veranstalter – mit Transparenten: „Macht Hessen frei/von Tierquälerei!“ Aber die einzigen, die bei diesem von einer heruntergekommenen Schaustellertruppe aus Bremervörde organisierten Rhön-Nepp nicht gequält wurden, das waren die drei halbwüchsigen Angler-Sattel-Schweine, die übermütig  grunzend auf dem mit Teppichen ausgelegten 20-Meter-Parcours auf- und absauten – ungefähr so schnell wie alte Menschen bei Gelb Zebrastreifen überqueren. Die Behörden hatten für die Schweine extra einen Amtstierarzt und einen Veterinärassistenten abgestellt, die alle Augenblicke den Tieren den Puls fühlten, ihre Ställe kontrollierten, und Kot- sowie Kraftfutterproben nahmen. Das Ganze ähnelte einer peinigenden Parodie auf Wettrenn-Veranstaltungen. Aber weder durften Wetten abgeschlossen werden noch traten wie angekündigt ausländische Schweine an und Höchstleistungen zeigten die drei Bremervörder Läufer schon gar nicht: Als einer der als „Trainer annoncierten Knechte sein Tier ein wenig zu scheuchen versuchte, blieb die Sau prompt stehen und er fiel über sie, wobei er sich das Handgelenk verstauchte – das einzige Mal, das so etwas wie Freude im Publikum aufkam.

„Manchmal passiert monatelang gar nichts – und dann häufen sich plötzlich wieder die Ereignisse“, meinte die Lokalreporterin der F.Z., Iris Hartl, im Spätherbst. Am selben Tag, da der Oberstaatsanwalt, der ermittelnde Staatsanwalt, der Leiter der Fuldaer Kriminalpolizei, ein Kriminaloberrat und der erste Kriminalhauptkommissar auf einer Pressekonferenz stolz die Aufklärung der Ponizil-Falls verkündeten – am 1.11.85 -, schreckte ein rätselhaftes Ereignis die Fuldaer auf: In der Buttlarstraße explodierte ein dreistöckiges Mietshaus, das von Studenten der Fachhochschule für Sozialarbeit bewohnt wurde. Zwei Studenten starben, einer wurde schwer verletzt. Als die Studenten  einen Trauermarsch planten, trafen Drohanrufe ein. Ein Anrufer meinte, daß noch „viel zu wenige Studenten gestorben seien“ (F.Z. vom 6.11.). Einen Drohanruf erhielt am gleichen Tag auch der Lokalredakteur der F.Z.: „Du kriegst auch noch dein Fett ab!“, weil er die Erklärung des Astas zu dem Vorfall zitiert hatte. „Unter der Oberfläche brodelt hier in Fulda noch viel Rechtes“, so ein anderer F.Z.-Redakteur. Nach der Explosion, die das Mietshaus fast völlig zerstörte, hatte sofort die Fuldaer Kriminalpolizei die Einsatzleitung übernommen – unter dem bis dato noch nicht eingestandenen Verdacht eines terroristischen Bombenattentats. Die Polizisten suchten keine Verschütteten, sondern Spuren. Dabei wurde über eine zu dem Zeitpunkt noch lebende verschüttete Studentin weiterer Schutt gehäuft. Die herbeigeeilte Feuerwehr war von der Polizei weggeschickt worden. Mag sein, daß es sich bei dem Unglück nur um ein „technisches Versagen“, bzw. „schuldhaftes Vergehen“ handelte, für das laut Betriebsrat der „Gas- und Wasserversorgung Fulda“ (GWV) die „Ursachen nicht im Verantwortungsbereich der GWV-Mitarbeiter liegen, sondern im Bereich des Hauseigentümers bzw. des für ihn tätigen und im Versorgungsbereich zugelassenen Fachunternehmens“ (F.Z. vom 7.11.85), trotzdem kann man wahrscheinlich mit Fug und Recht bei diesem Vorfall, der wohl nie restlos aufgeklärt werden wird, von einer „höheren Merkwürdigkeit“ (G.Dietze) sprechen – vor allem dann, wenn man ihn sich einmal unvoreigenommen im Zusammenhang der gesamten eskalierenden „Ereignis-Kette“ (M.Foucault) vor Augen führt.

„In Fulda ist jedenfalls irgendwie der Wurm drin. Aber es läßt sich hier doch noch einigermaßen angenehm leben“, behauptete den Chronisten gegenüber trotzig ein prominenter Fuldaer, der allerdings ungenannt bleiben will.  Kurz darauf wurden in einem Kali-Kumpelnest unweit Fuldas zwei Kinder ermordet. In einem Prozeß, der in dem im Schloß untergebrachten Landgericht stattfindet, wird daraufhin die Mutter, Monika Weimar, zu „lebenslänglich Zuchthaus“ verurteilt. Dazu muß man wissen, daß derselbe Richter kurz zuvor gegen denselben (im übrigen stocksenilen) Staatsanwalt einen wegen dreifachen Frauenmordes angeklagten jungen Tischler aus Volkartshain freigesprochen hatte, weil dessen hochgerüstete Frankfurter Anwälte, Cobler und König, den ermittelnden BKA-Beamten quasi Foltermethoden beim Verhör nachweisen konnten. Im Prozeß gegen Monika Weimar nun mußte der Richter einfach dem Staatsanwalt nachgeben, so gebietet es die Fuldaer Justizetikette. Was das Delikt anbetraf war man dort früher weitaus toleranter: „Die Kinder der Nonnen warf man gewöhnlich in die Fulda. So wurde die Ehre der Klöster gerettet und die Fische wurden fett“, berichtet ein früherer Chronist, Emmanuil Roidis.  Über den Weimar-Prozeß und das „skandalöse Urteil“ veröffentlichte die Frankfurter taz-Korrespondentin Heide Platen kurze Zeit später ein Buch. Sie und ihr Bürokollege Klingelschmitt berichten seit jener Zeit mit schöner Regelmäßigkeit über Fulda, bis heute in mehreren hundert Artikeln. Die Stichworte dazu lauten meist: „Ökologie“ (Kali-Versalzung der Fulda), „Feminismus“ (Dyba) und „Pazifismus“ (US-Militär). Nicht zu vergessen natürlich: „Neonazis“. Einige Headlines bzw. Leadsätze seien hier wiedergegeben. 16.9.88: „Arbeitslose müssen beim Fuldaer Sozialamt ihre geschützten Krankendaten preisgeben, um Sozialhilfe zu bekommen.“ 19.1.89: „NPD solidarisch mit Dyba“. Weil der in Fulda stationierte GI Michael Peri sämtliche Daten über das „elektronische Verteidigungssystem“ seiner dortigen Einheit der DDR zugespielt hatte, wird er im Sommer 1989 zu 30 Jahren Haft wegen Spionage verurteilt. 16.9.89: Dyba, „der „Glöckner von Fulda“, will zum Jahresende ein warnendes Föten- Läuten bundesweit veranstalten. Weil er, den man auch den „Khomeini von Fulda“ nennt, dem Bund der deutschen katholischen Jugend (BDKJ) sämtliche kircheneigenen Räume in der Stadt gekündigt und die Zuschüsse aus der Kirchensteuerkasse gestrichen hatte, wollten die Jungkatholiken Ende September aus Protest „mehrere hundert Luftballons“ anläßlich der in Fulda tagenden Bischofskonferenz steigen lassen. Sie lassen sich die Aktion jedoch in letzter Minute noch schnell verbieten.  27.10.89: „Der Ayatollah aus der Rhön hat wieder zugeschlagen“ – diesmal verfügte er, daß kirchliche Grundstücke in Fulda nur an „Ehepaare mit katholischem Trauschein“ verkauft werden dürfen. Am 26.4.90 stellen die Grünen Strafantrag gegen Unbekannt: Fuldaer Polizeibeamte hatten ein iranisches Ehepaar, Sharia und Gilda Yousefi, „wie fanatisierte iranische Revolutionswächter“ festgenommen und mißhandelt. Ein Abschiebeversuch konnte in letzter Minute von amnesty international verhindert werden.  4.9.90: Eine Umfrage unter 900 Fuldaer Schülern ergibt, daß 20 Prozent „rechtsextreme Computerspiele“ (wie z.B. „KZ-Manager“) besitzen, weitere 40 Prozent gaben an, solche Spiele zu kennen. Weil er ein „Die-In“ von Homosexuellen auf dem Fuldaer Domplatz verbieten ließ, störten etwa 150 Nichtgläubige einen Gottesdienst Dybas in Marburg. 26.3.92: Weil das Gebäude der Kirche gehört, dürfen in der Fuldaer Filiale der Drogeriekette „Schlecker“ keine Kondome verkauft werden. 23.9.92: Vorwürfe, daß Studentinnen der Fachhochschule Fulda gegen Leistungsnachweis zu Sex mit Professoren genötigt wurden, bezeichnet der Rektor, Dehler, als „überzogen“. Auf einem Friedhof bei Fulda stehlen Unbekannte eine wertvolle Guarneri-Geige aus dem Sarg eines Zigeuners. Dyba bezeichnet Abtreibung als „Kinder- Holocaust“, Papst Woityla ernennt den Fuldaer Erzreaktionär zum katholischen Militärbischof. Dieser erklärt daraufhin, man sollte auch deutsche Soldaten nach Bosnien an die Front schicken.  15.5.93: Wegen eines Brandanschlags auf ein Asylbewerberheim bei Fulda bekommen zwei Jugendliche Bewährungsstrafen von einem Jahr beziehungsweise sechs Monaten. 3.7.93: Fuldaer Forscher finden heraus, daß die Mikrowellengeräte immer mehr abstrahlen. 30. 8.93: Nach dem Nazi-Aufmarsch zu Ehren von Rudolf Heß am 14. August werden von der Landesregierung personelle Konsequenzen gefordert, weil die Polizei die rechte Demonstration nicht verhindert hat. Ralph Giordano fordert sogar den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Das hätte auch anderswo passieren können, wird gemahnt: „Fulda ist überall“, sagt der Chefredakteur des Hessischen Rundfunks. Aber warum konnten gerade auf dem Fuldaer Domplatz die Jungnazis unbehelligt demonstrieren, von Polizisten freundschaftlich begrüßt? fragt sich die taz. und berichtet in den darauffolgenden Jahren fast nur noch aus Fulda, wenn dort mal wieder etwas Rechtsradikales passiert ist. Im Mai 2007 geschah jedoch was anderes: „Patienten fliehen aus Fulda-Klinik“ – nachdem dort acht Menschen an Salmonellen starben. Und im Oktober 2007 ließ die liberale katholische Schwangerenberatungs-Organisation „Donum Vietae“  in Künzell bei Fulda ein Musical zur Sexualaufklärung aufführen, woraufhin der neue Bischof Heinz Josef Algermissen erklärt, „dass die Organisation ,Donum Vitae‘ sich für diese Form des Zugangs zur körperlichen Sexualität für die Kinder fernab vom Elternhaus und ethischer Wertevermittlung bekennt, zeigt, dass sie keine katholische Vereinigung ist.“ Die erzkonservative Webpage „kreuz.net“ setzt wenig später noch einen drauf: „Der antikatholische Verein ,Donum Vitae‘ organisiert ein Sex-Verführungsspektakel für Kinder in Fulda.“ Und die radikalen Lebensschützer der Domstadt schimpfen unter „aktion-leben-fulda.de“: „Das Musical  animiert Kinder zu sexuellen Spielen und Selbstbefriedigung.“ Kurz zuvor hatte die inzwischen berühmt-berüchtigte Eva Hermann einen geradezu triumphalen Auftritt in Fulda gehabt, die taz schrieb: Angekündigt als „tapfere Frau“, die sich „gegen das öffentliche Geheul“ erhebe, sprach sie vor 700 Menschen. Und dann ging sie unter – nein, nicht so wie bei Kerner – sie ging unter im Jubel der 700. Alles Nazis? Nein, nicht unbedingt. Das „Forum deutscher Katholiken bildete die Jubelgemeinde.“

31.10. 2007: Einige Gießener Sozialwissenschaftler machen sich auf den Weg in die Barockstadt zwischen Rhön und Vogelsberg, um herauszufinden, ob dort noch viel mehr ungesund abstrahlt als nur Mikrowellenherde. Von August Bebel stammt die Einschätzung: „Wenn in Fulda einmal die roten Fahnen wehn, dann hat in Deutschland der Sozialismus gesiegt.“ In der Broschüre „Fulda, liebenswert – lebenswert“ stößt ihnen der Eintrag auf: „Seit 1960 besteht eine Patenschaft mit dem Minenjagdboot Fulda M 1068 der Bundesmarine“.  Dieses scheint jedoch irgendwann gesunken oder vorfristig verschrottet worden zu sein, wie die Forscher dann im „Marineforum“ herausfanden, denn die  dafür neu in Dienst gestellte „M 1068“ heißt jetzt „Datteln“ stattdessen. Die Forscher sind, nach eigenen Angaben, auf der Suche nach Zeichen, „mit denen das in der Vergangenheit angelegte und sich im Gegenwärtigen abzeichnende Grauen richtig gedeutet werden kann“. Sie wollen damit, ihrem Finanzplan gemäß, bis Ende 2010 fertig werden. Bis dahin mag diese Chronik hinreichen.

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