„Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte,“ schrieb Goethe 1780 über die „Natur“. Zwar irrte er sich, als er bestätigte, dass der Text von ihm war (er stammte ursprünglich vom Schweizer Theologen Georg Christoph Tobler), aber unter seinem Namen geriet das „Fragment“ noch 1869 ins Editorial der ersten Ausgabe des Zentralorgans der angloamerikanischen Neodarwinisten: „Nature“.
An einer Synthese – von in Dumpfheit verharren und zum Licht streben – wird heute in der „synthetischen Biologie“ gearbeitet – und wie! In den 1992 verabschiedeten US-Richtlinien für genveränderte Organismen (GVO) hieß es bereits: „The USA is world leader in biotechnology – and will keep it that way“. Zu den „Summer Schools“ der US-Eliteuniversitäten rücken seitdem die besten und jüngsten „Nature“-Karrieristen aus aller Welt an – und basteln „neue Lebewesen“: Ein französisches Team schleuste leuchtende Quallengene in farblose Mikroorganismen ein, ein bologneser Team baute stinkende Darmbakterien so um, dass sie fortan nach Bananen und Pfefferminze rochen, ein chinesisches kodierte den Text des Liedes „It’s a small world“ in DNA-Sequenzen, die sie derart in das Erbgut von Darmbakterien einschleusten, dass das Lied bei der Teilung des Einzellers mitvererbt wurde.
Auf der Gentechnik-Olympiade IGEM (International Genetically Engineered Machines) des MIT in Boston werden alljährlich die vielversprechensten Kompositionen aus „genetic components and technologies“ prämiert. 2008 gewann ein slowenisches Team die begehrte „BioBrick-Trophy“. Es kreierte „a new type of vaccine against H. pylore [ein im Magen siedelndes Bakterium] based on the chimeric flagellin that combines activation of innate and adaptive immunity within the same molecule“.
Es gibt inzwischen schon Baukästen (Bio-Kits) zu kaufen, mit denen man sich zu Hause neue Lebewesen basteln kann, wie der „Chaos Computer Club“ entsetzt berichtete. Der Physiker Freeman Dyson von der Princeton University ist dagegen von diesem neuen „Trend“ begeistert: „Die domestizierte Biotechnologie wird uns, sobald sie in die Hände von Hausfrauen und Kinder gelangt, eine Explosion der Vielfalt von Lebewesen bescheren – ganz im Gegensatz zu den Monokulturen, die Großkonzerne bevorzugen.“
Das österreichische Magazin „profil“ veröffentlichte gerade einen Bericht über diese „Biohacker“ in den USA: „In Küchenlabors und Garagenwerkstätten führen sie mit Pipetten, Brutschränken, Mikroskopen und Computern Experimente durch. Sie isolieren. analysieren und vermehren DNA aus Gemüse und Speichel…“ Und wenn sie Feuer gefangen haben, gründen sie erst ein Inter-Netzwerk oder einen Club (erwähnt wird der landesweite „Do it yourself – DIYbio-Club“) und dann ein „Start-Up-Unternehmen – wie z.B. „Ginkgo Bio Works“, dessen Motto da in Boston lautet: „Wir machen es einfach, Biologie zu manipulieren“. Für seine Kunden, u.a. aus der Kosmetikbranche, entwirft es neue Mikroorganismen und für „Hobbygenetiker“ hat die Firma ein „DNA-Bastelset“ im Angebot. Ihre Chefin träumt davon, Bäume zu schaffen, „die zu einem komfortablen Haus zusammenwachsen.“ Während der DIYbio-Clubgründer hofft, Hefezellen eines Tages so zu programmieren, dass sie das angeblich lebensverlängernde Antioxydans „Resveratrol“ produzieren: „Damit würde das Biertrinken viel gesünder werden“.
Auf der IGEM wurde in diesem Jahr besonders viel mit dem Darmbakterium E.coli experimentiert. Die „Trophy 2009“ gewann ein englisches Team der Uni Cambridge – mit einem manipulierten „E.chromi“, das abhängig von Umweltreizen verschiedene Farbstoffe absondert. Mit von der Partie war heuer auch das FBI, das schon mal die Nähe der Biohacker sucht, weil es sich um „Bioterroristen“ sorgt, wie „profil“ nach einem Gespräch mit einem FBI-Agenten aus der „Abteilung für Massenvernichtungswaffen“ meint. 2004 hatte diese Truppe einen Künstler, der mit „harmlosen Bakterienkulturen“ experimentierte, wegen „Biotechmord“ verhaftet – und mußte ihn dann wieder laufen lassen. Das „Gen-ethische Netzwerk“ hat etwas weiter gedacht: „Vom Bio-Terror zum Bio-Error“. Aber nicht nur die Genkritiker, auch immer mehr Künstler beschäftigen sich mit synthetischer Biologie. Berühmt wurden die diesbezüglichen Aktionen des 1987 gegründeten „Critical Art Ensembles“ (CAE).
1999 thematisierte die „Ars Electronica“ in Linz „genetische“ bzw. „transgener Kunst“ – d.h. „die Erforschung des künstlichen Lebens wie dessen Kritik. Sie ist eine der wenigen Kunstformen der Gegenwart, die nicht rein kunstimmanent bleibt, sondern sich zentralen Punkten des Lebens nähert,“ wie Peter Weibel etwas unkritisch ausführte. 2007 fand im Berliner Kunstverein NGBK eine weitere Übersichtsschau zur „BioTech-Kunst und den Verheißungen der Biotechnologie“ statt: „Put on your Blue Genes“. Der Philosoph Vilem Flusser hatte bereits 1986 gemeint: „Erst mit der Gentechnik beginnt die wahre Kunst, d.h. sind selbstreproduktive Werke möglich.“ Und damit auch selbstreproduktive Waffen, wie das FBI befürchtet. Die Firma „Ginkgo Bio Works“ ebenso wie der „DIYbio-Clubgründer spielen jedoch laut „profil“ diese Gefahr herunter: „Wenn jemand mit technischer Expertise entschlossen ist, Pathogene herzustellen, dann werden ihn davon keine Vorschriften oder andere Hürden abhalten,“ meint z.B. Tom Knight von GBW.
Die eher an kropotkinschen „Symbiosen“ als an neodarwinistischen -„Natur-Verbesserungen“ interessierte US-Mikrobiologin Lynn Margulis veröffentlichte 1993 zusammen mit ihrem Sohn einige Vorschläge für Hobbybiologen – zwischen „BioTech-Kunst“ und „synthetischer Biologie“: „Garden of Microbial Delights: A Practical Guide to the Subvisible World“. Auch an diesem praktischen Ratgeberbuch wurde bemängelt: „The authors should have included a note on safety, as some of the cultures can produce pathogenic organisms.“
Darum ging es u.a. auf dem „Chaos Communication Congress“ im Berliner Kongreßcenter, wo 2007 z.B. „Biohacker“-Probleme diskutiert wurden. Der MIT-Biotechniker Drew Endy referierte dort über „Programming DNA“. Während die Veranstalter, der Chaos Computer Club (CCC), sich über „Building a Hacker Space“ Gedanken machten. Vielleicht nannte sich deswegen das an der IGEM 2008 beteiligte Team von der ETH Zürich bereits „Chaos Cloning Club (CCC)“. Seine Mitglieder versuchten in Boston, „aus einem Plasmid einen Teil des DNA-Strangs herauszulösen und in ein anderes Plasmid einzupflanzen. Am Schluss sollten die Bakterien, die das Plasmid enthielten, durch das Besprühen mit einem Stoff gelb werden. Leider klappte es nicht, doch dies tat dem Tatendrang keinen Abbruch. Selbst die wissenschaftliche Zeitschrift ’nature‘, in der wir hoffen mit unserem Design zu erscheinen, war vertreten,“ berichteten sie anschließend frohgemut. Das „Gen-ethische Netzwerk“ ist weniger begeistert. In der Dezember-Ausgabe seines GID-Infos schreibt Florian Rötzer: „Die Befürworter der synthetischen Biologie werden derzeit deutlicher hörbar. So fand unlängst der Kongress ‚Synthetic Biology 3.0‘ an der ETH Zürich statt. Dort heißt es, dass ‚die neue und sich schnell entwickelnde Forschungsrichtung‘ das Ziel habe, ‚(neue) biologische Systeme (neu) zu entwerfen und herzustellen‘. Potenzielle Anwendungen gebe es viele. Die Vorträge beschäftigten sich mit der minimalen Zelle, der Weiterentwicklung von Genomen, neu verbundenen Gennetzwerken von Bakterien, der Herstellung von menschlichen Zellen, Gensynthese oder eben einem ‚Ab Initio Design of Complete Living Organisms‘. Es wurden auch Sicherheitsvorkehrungen behandelt und Anwendungen in der Chemie, der Material- und Systemforschung diskutiert.“
Zu den Zürcher Referenten gehörte die Biologin Florianne Koechlin von der Schweizerischen Arbeitsgruppe Gentechnik (SAG), sie kritisierte: „Einmal mehr hören wir von der Wissenschaft, unterstützt von Industrie und Militär, man habe das Leben im Griff und könne es bald konstruieren. Doch Leben ist mehr als die Summe seiner Teilchen.“ (Koechlin ist Mitglied der eidgenössischen Ethikkommission EKAH, die sich demnächst mit den Auswirkungen der synthetischen Biologie auseinandersetzen wird). Für Deutschland ist in dieser Hinsicht wenig zu erwarten – seitdem CDU, CSU und FDP an der Regierung sind. Diese Parteien handelten einen Koalitionsvertrag aus: „Es findet sich darin kein einziges Wort zum Schuldenabbau, wohl aber über eine vom Konzern BAYER entwickelte Kartoffelsorte: ‚Der Anbau der gentechnisch veränderten Stärkekartoffel Amflora für eine kommerzielle, industrielle Verwertung wird unterstützt,‘ heißt es im Regierungsvertrag. Der Konzern bemüht sich seit zwölf Jahren um eine Zulassung für die Kartoffel. Jetzt sehe man, wer der Regierung die Feder führe,“ schreibt die „IG Bauen Agrar und Umwelt“ in ihrem Gewerkschaftsorgan „Der Säemann“.
Auch das Organ der Bundesregierung und der Länder zur politische Bildung – der „Fluter“ – ist durchaus genkritisch eingestellt. Über „Das Eigentum in der Pharmaindustrie und der Gentechnik“ heißt es dort:
„Der ganze Erkenntnis-Apparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat – nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge …“ (F.Nietzsche)
Als der Kernphysiker Klaus Fuchs, der im Exil an der englisch-amerikanischen Atombombe mitarbeitete, Teile des Bauplans an die Sowjetunion weitergab, wurde er als „Spion“ verhaftet und kam ins Gefängnis. Er selbst begriff seinen „Verrat“ – die Weitergabe von Forschungsergebnissen – jedoch als eine Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit unter Wissenschaftlern – zumal da sie in Ländern arbeiteten, die damals noch alliiert waren.
Ein ähnlich komplexes internationales Forschungs- und Entwicklungsprojekt war in den Neunzigerjahren die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts, das sog. „Human-Genom-Project“. Als das HGP seine ersten Daten 2000 im Internet veröffentlichte und der US-Präsident Bill Clinton zusammen mit dem englischen Premierminister Tony Blair eine Erklärung herausgaben, in der sie die „weltweite Forschergemeinde“ aufforderten, auch fürderhin ihre „Rohdaten“ auszutauschen, hatte sich die Situation jedoch umgedreht: Jetzt waren es vor allem die Biowissenschaftler, von denen in den USA fast 80% eigene Firmen besitzen – zur Verwertung ihrer Arbeiten, die auf den staatlichen Schutz ihrer Daten vor Entwendung durch Dritte bestanden, d.h. auf ihre Patentierung.
Der Biochemiker Craig Venter, dessen Firma Celera in Konkurrenz zum HGP forschte – und 1999 bereits für 6500 ausgemachte Gene Patentanträge gestellt hatte, schreibt in seiner Autobiographie: „Ich war auf dem Weg, der erste Dollar-Milliardär der Biotechnologiebranche zu werden.“ So viel war den Geldgebern sein baldiges „geistiges Eigentum an menschlichen Genen“ wert. Aber innerhalb von 48 Stunden nach der Erklärung von Clinton und Blair zogen seine Aktionäre „Venture-Capital“ im Wert von 6 Milliarden Dollar aus der Firma: „Der Biotechnologiemarkt verlor insgesamt rund 500 Milliarden,“ schreibt Venter, der sich daraufhin nicht einmal mehr den Kauf einer Yacht für 15 Millionen leisten konnte. Aber Clinton und Blair hatten das alles gar nicht so gemeint, wie sie wenig später in einer weiteren Erklärung, zusammen mit Venter, versicherten. Die Verwandlung wissenschaftlicher Genforschung in Biokapital wollten und konnten sie nicht stoppen. In den 1992 veröffentlichten US-Richtlinien für genveränderte Organismen (GVO) hieß es bereits: „The USA is world leader in biotechnology – and will keep it that way“.
Und bis 1995 waren schon 1200 Patente auf menschliche DNS-Abschnitte erteilt, an denen vor allem die Pharmaindustrie interessiert war. Noch weit mehr Patente bezogen sich auf die Zelllinien von Pflanzen und Tieren – für die Agrarindustrie. Hans-Magnus Enzensberger schrieb 2001: „Die mit der Industrie verschmolzene Wissenschaft tritt als höhere Gewalt auf“, wobei der dafür „nötige Energieeinsatz nicht mehr aus der Umwelt, sondern aus dem entfesselten Kapital stammt.“ Die indische Biologin Vandana Shiva nennt das in ihrem Buch „Biopiraterie“, eine zweite „Kolonisierung“, die nun „auf die Innenräume von Lebensformen ausgeweitet wird, auf die ‚genetischen Codes‘ von Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren, einschließlich des Menschen“. Schon 1991 hatte die US-Firma General Electrics ein Patent auf ein gentechnisch verändertes Bakterium beantragt. Ihr Mitarbeiter Anand Moha Chakravarty hatte die DNA-Moleküle (Plasmide) von drei Bakterienarten isoliert und in eine vierte transplantiert: „Ich habe einfach einige Gene gemischt,“ erklärte er. Obwohl der Forscher also keinen neuen Organismus „erfunden“ hatte, wurde die Gen-„Verschiebung“ als sein geistiges Eigentum anerkannt und ihm das „erste Patent auf Leben vergeben“. Die indische Biologin erbost besonders, dass die Bauern jahrtausendelang, seit einigen Jahrhunderten auch zusammen mit Wissenschaftlern, Pflanzen und Tiere züchterisch verbessert haben, und diese nun aber mit den profitorientierten Gentechnikern in das Eigentum von Biokonzernen übergehen. Die Bauern müssen z.B. das Saatgut von ihnen kaufen und dürfen aus den Pflanzen dann bei Strafe nicht mehr ihr eigenes Saatgut ziehen.
Der in den USA lehrende Anthropologe Kaushik Sunder Rajan hat neuerdings einige Fallstudien über das Vorgehen der Genforscher und Pharmakonzerne veröffentlicht. Auch er spricht im Zusammenhang ihres Vorgehens von einem „quasi kolonialen Unternehmen, das sich genetisches Material aus der Dritten Welt aneignet, um in der Ersten Welt Werte zu erzeugen.“ Darüberhinaus ist dieses Material dann auch noch Grundlage für neue Medikamente, die dann wieder in der Dritten Welt getestet werden, u.a. an arbeitslosen Textilarbeitern in Bombay, für die das die einzige Einkommensquelle ist. Hierbei von „freiwilligen Versuchsteilnehmern“ zu sprechen, hält Rajan für „ethisch äußerst fragwürdig“, sie sind eher von „Opfern zu bloßen Objekten geworden.“ Da die Mikrobiologen auf der anderen Seite für ihre „Venture Science“ laufend Kapital einwerben müssen, propagieren sie einen wahren „Genfeteschismus“: Alle menschlichen Probleme und Krankheiten werden von ihnen auf das Erbmaterial reduziert. Sogar unsere Sterblichkeit wird als ein Gebrechen angesehen, das heilbar ist. Wir haben es dabei mit einer postfaschistischen Eugenik zu tun, die nicht mehr auf nationaler, sondern auf individueller Basis und mit Privatbesitz operiert. Einer der berühmtesten US-Genetiker, James Watson, sagte es so: „Früher haben wir gedacht, unser Schicksal stünde in den Sternen. Heute wissen wir, es liegt in unseren Genen.“ Dort liegen auch die Schätze begraben, die es nun zu heben gilt. Mit Erkenntnissen bei der Wahrheitssuche hat das nur noch am Rande etwas zu tun.
Craig Venter: „Entschlüsselt“, Frankfurt/Main 2009
Kaushik Sunder Rajan: „Biokapitalismus“, Frankfurt/Main 2009
Ananada Shiva: „Biopiraterie – Kolonialismus des 21. Jahrhunderts“, Münster 2002.
Die Le Monde Diplomatique kommt in ihrer Ausgabe vom August 2010 ebenfalls auf die Biobastler an den US-Universitäten zu sprechen.
„Schöpfung zwei. Die Bioindustrie produziert ganze Lebewesen“ heißt der Artikel von Dorothée Benoit-Browaeys:
Am 20. Mai 2010 gab der US-amerikanische Biochemiker Craig Venter bekannt, sein Team habe im Labor eine bakterielle Zelle mit einem implantierten, fremden Genom hergestellt. Prompt wurde die Frage laut, ob in absehbarer Zeit Lebewesen industriell produziert werden können. Schon heute bietet die synthetische Biologie viele Bauteile an, mit denen sich Viren, Bakterien oder Hefen herstellen lassen – womöglich rollt jetzt eine ganze Welle künstlich erzeugter Organismen auf uns zu.
„Wir brauchen Sie! Mit den Möglichkeiten, die in Ihren Werkzeugen stecken, ist eine große Verantwortung verbunden.“ So spricht der FBI-Agent Ed You die Studenten aus aller Welt an, die zum internationalen Wettbewerb der synthetischen Biologie (International Genetically Engineered Machine competition, iGEM) gekommen sind. Wir befinden uns in Boston am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Ende Oktober 2009. Das FBI, das die Veranstaltung mit organisiert hat, will den jungen Teilnehmern eine Botschaft übermitteln: Ihr Know-how ist nötig, um den Bioterrorismus in Schach zu halten! Piers Millett vom Büro zur Implementierung der Biowaffenkonvention der Vereinten Nationen in Genf schlägt einen Verhaltenskodex vor, „für bessere Sicherheit, die mehr Spaß erlaubt“. Denn die spielerische Erforschung ist seit jeher der Motor dieses jährlichen Treffens.
Das Prinzip ist einfach: Jedes der 112 Kandidatenteams des sechsten iGEM stellt seine Bakterienbastelei vor. Die 1 700 Studierenden haben Gene isoliert, übertragen und wieder zusammengefügt, um ein Medikament herzustellen, Gerüche, ein blinkendes Licht zu erzeugen oder Arsen aufzuspüren.
In dieser Großküche des Lebens werden innerhalb von zwei Tagen pausenlos Rezepte vorgestellt, diskutiert, kritisiert und verbessert. Die Mitwirkenden tragen wie beim Fußball die Farben ihres Teams, sprechen mal einen indischen Konkurrenten an, mal antworten sie auf die ethischen Fragen der Jurymitglieder. Es ist ein großes intellektuelles Abenteuer, mit einer Abschlussparty im Bostoner Vergnügungszentrum Jillian’s, bei der die Gesichter der Teilnehmer zwischen Billard, Bowling und Tanzflächen im Loop auf zwei Ebenen projiziert werden.
Die einzige Regel in diesem Spiel: Alle tragen etwas zum großen gemeinsamen Topf bei, jeder stellt seine Ergebnisse in der Sammlung der BioBricks(1) zur allgemeinen Verfügung. DNA-Stücke, die Schlüsselfunktionen steuern (siehe Glossar), werden Open-Source-Wissen. „Wir haben heute schon ungefähr 5 000 beisammen“, freut sich Randy Rettberg, Ingenieur für künstliche Intelligenz und einer der Initiatoren des Wettbewerbs. Er öffnet den Gefrierschrank, in dem die von der BioBricks Foundation gehüteten Abschnitte synthetischer Gene aufbewahrt werden. „Das Ziel ist, dass wir eines Tages über eine Vielzahl genetischer Legosteine verfügen“, erklärt Tom Knight, der ebenfalls von der Informatik (Software) zur Programmierung des Lebendigen (Wetware) übergewechselt ist.
Mit den BioBricks hat das MIT ein Standardmodell für den Austausch geschaffen, ähnlich wie der Quellcode in der Informatik oder die gedruckten Leiterplatten in der Elektronik. Trotzdem deckt sich die Forschergemeinde nicht beim MIT ein. „Der iGEM-Wettbewerb ist ein Vergnügen für junge Leute“, meint Victor de Lorenzo, Koordinator des Programms Synthetische Biotechnologie am Biotech-Zentrum von Madrid. „Aber keine dieser Arbeiten kann veröffentlicht werden, weil die Machbarkeitsnachweise meist nicht ausreichen. Und die Wissenschaftler nutzen doch lieber die eigenen, in ihrem Labor hergestellten Gensequenzen.“
Wir stehen an einem Wendepunkt in der Geschichte der Genetik. Im Jahr 1953 veröffentlichten Francis Crick und James Watson in der Zeitschrift Nature ihr räumliches Modell der Doppelhelix, der Trägerin der Erbinformation. Ein halbes Jahrhundert später hat die Menschheit eine beeindruckende Fülle an Informationen über die molekulare Zusammensetzung des Lebendigen angesammelt.
Die synthetische Biologie geht allerdings weit über das perfektionierte Beobachten der molekularbiologischen Prozesse hinaus. Frei nach dem Diktum des großen US-Physikers Richard Feynman „Man kennt nur das, was man herstellt“ arbeiten in weltweit über 10 000 Labors Biologen, Chemiker und Ingenieure gemeinsam daran, biologische Systeme herzustellen, die in der Natur nicht vorkommen. Möglich wurde das erst, seit sich kodierende DNA-Sequenzen schnell und preiswert – für 35 Cent pro Basenpaar – synthetisieren lassen und die Informatik in der Lage ist, lebendige Systeme auseinanderzunehmen und neu zu entwerfen.
Die synthetische Biologie ist keine einfache Weiterentwicklung der Molekularbiologie, die am Anfang der genetisch veränderten Organismen (GVO) stand. Diese „Ingenieure des Lebens“ setzen ihren Ehrgeiz darein, biologische Systeme nach Designprinzipien mit Standard- und Optimierungsmodulen zu programmieren. Den minimalen Basisorganismus, auf den sie bestimmte Funktionen oder Schaltkreise aufbringen, bezeichnen die Forscher allgemein als „Chassis“. Sie wollen ganz neue Genome bauen. Um Verwechslungen mit der bislang üblichen Biologie auszuschließen, fordern manche Leute schon, „dass sich diese biologischen Schöpfungen von den bekannten Organismen deutlich unterscheiden“(2) sollten. So könnte man zum Beispiel ein anderes Basenalphabet als ATGC (siehe Glossar auf Seite 13) verwenden.
Jenseits von Genmanipulation und genetisch veränderten Organismen geht es darum, vollständige künstliche Genome zu bauen und gentechnisch erzeugte Organismen (genetically engineered organisms, GEO) herzustellen. Das Ziel ist in der Tat die „Industrialisierung der Biologie“, betont Richard Kitney, Leiter des Zentrums für biologische und medizinische Systeme am Imperial College London.
Dieser Sektor kann sich derzeit kaum retten vor Investoren. Schließlich wird er von den neuen hochspekulativen Märkte befeuert: Das Energieproblem wäre gelöst, wenn künstliche Mikroorganismen auf klimaschonende Weise große Mengen Treibstoff produzieren könnten; die Pharmabranche träumt von maßgeschneiderten Bakterien, die Medikamente produzieren; und die Biochemie ganz allgemein experimentiert mit der Synthese komplexer Moleküle oder biologischer Gewebe, mit DNA-Wächtern, die fremde Zellen erkennen, oder Organismen, die Umweltschäden beseitigen können. Diese Anwendungsgebiete entsprechen im Übrigen auch den Bewertungskriterien beim iGEM, ein Beleg dafür, dass die Grenzen zwischen Wissenschaft und Markt in der Biotechnologie fließend sind.
Craig Venter, dem Entzifferer des menschlichen Genoms, ist es nun gelungen, durch das Zusammenfügen und Vermehren nachgebildeter Gensequenzen des Bakteriums Mycoplasma mycoides (dem Erreger der Rinder-Lungenseuche) ein komplettes „künstliches“ Chromosom zu erzeugen und es in ein anderes Bakterium (Mycoplasma capricolum, den entsprechenden Erreger bei Ziegen) zu injizieren, aus dem das eigene Genom zuvor entfernt worden war. Die derart neu geschaffene Zelle funktionierte, vermehrte sich und bildete Kolonien.
Das kräftige Wachstum des neuen Forschungszweigs illustrierte die Zeitschrift Nature Biotechnology, indem sie zwanzig Experten bat, den Begriff „synthetische Biologie“ zu definieren, und ihre unterschiedlichen Antworten veröffentlichte.(3) In der neuen Disziplin gibt es drei konkurrierende Methoden, die Biotechnologie auf verschiedenen Ebenen betreiben. Bei der ersten geht es um genetische Bauteile, bei der zweiten um das gesamte Genom und bei der dritten um die
Zellwände.(4 )
In die erste Kategorie fallen die Montageverfahren (bottom-up, von unten nach oben). Ihr führender Kopf, Drew Endy, vertritt die Idee eines molekularen Lego-Baukastens. Forscher wie Tim Gardner, Jim Collins oder Stanislas Leibler (von der Technischen Universität Caltech im kalifornischen Pasadena) haben Mikroorganismen in steuerbare Systeme verwandelt und damit schon im Jahr 2000 bewiesen, dass man Standardmodule mit programmierbarem Verhalten kreieren kann.
Wenn bipolare Säuren eine Kugel bilden
Die zweite Methode ist ein Reduktionsverfahren (top-down, von oben nach unten). Hier geht es darum, das „minimal lebensfähige Genom“ zu schaffen, eine Art Chassis, auf das man – in den gegebenen Grenzen – jedes beliebige funktionale Modul übertragen kann. Einem von Venters Forscherteams ist es gelungen, das Genom des Bakteriums E. coli um 15 Prozent zu reduzieren, indem man die nicht kodierenden Teile des Gens entfernte. Der 1978 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnete Hamilton Smith erklärte im Januar 2008, er habe das gesamte Chromosom des Bakteriums Mycoplasma genitalium (von 517 auf 386 Gene reduziert) synthetisch hergestellt. Der Funktionsbeweis, bei dem das Chromosom in ein zuvor vom eigenen Erbmaterial befreites Bakterium eingeführt würde, steht jedoch noch aus.
Die dritte Methode kehrt zu den Arbeiten über den Ursprung des Lebens zurück. Sie konzentriert sich auf die Fähigkeit zur Selbstassemblierung von Molekülen, die man in den Zellmembranen nachweisen kann. Der Molekularbiologe Jack W. Szostak(5) von der Harvard Medical School versucht auf diese Weise, sogenannte Protozellen zu erzeugen. Szostak, der 2009 den Medizinnobelpreis erhielt, hat bewiesen, dass bipolare Fettsäuren (deren hydrophiles (wassersuchendes) Ende sich an Wassermoleküle bindet, während das hydrophobe Ende sie abstößt) sich verbinden und in Reaktion mit Wasser eine Kugel bilden können.(6) Szostak schließt daraus: „Es gibt viele Möglichkeiten, um die Selbstorganisationsfähigkeiten hervorzurufen; die Replikation, die wir erhalten, läuft noch nicht ganz autonom ab, aber wir waren noch nie so nah dran, Moleküle in lebende Organismen umzuwandeln.“
Diese Versuche erinnern an die Forschungen zur Morphogenese (Entstehung der Formen), die der 1939 verstorbene französische Mediziner Stéphane Leduc vor einem Jahrhundert unternahm – indem er in chemischen Gärten Formen, Farben, Texturen und Bewegungen lebender Organismen nachahmte. In seinem Buch „La biologie synthétique“ (Die synthetische Biologie, 1912) entwickelte Leduc, ausgehend von seinen materialistischen und antivitalistischen Überzeugungen, eine ambitionierte physikalisch-chemische Theorie des Lebens. Bereits 1978, nach der genetischen Revolution, sagte der polnische Genetiker Waclaw Szybalski die synthetische Biologie voraus: „Bis jetzt arbeiten wir an der deskriptiven Phase der Molekularbiologie. […] Aber die wahre Herausforderung wird mit der Forschungsphase der synthetischen Biologie beginnen. Wir werden dann neue Steuerelemente erfinden und diese neuen Module den bestehenden Genomen hinzufügen oder völlig neue Genome bauen. Das wäre ein Feld mit unendlichem Potenzial. Den Möglichkeiten, neue und verbesserte Schaltkreise und […] schließlich andere synthetische Organismen zu bauen, wären dann kaum noch Grenzen gesetzt.“(7 )
Man versteht die Begeisterung, mit der Drew Endy erklärt, „mit DNA zu programmieren ist viel cooler, attraktiver und folgenreicher als mit Silicium“. Er sagt aber auch: „Die Fragen, die die synthetische Biologie aufwirft, gehören zu den schwierigsten überhaupt. Schrecklich wie die Hölle!“(8 )
Die Risiken einer zufälligen oder absichtlichen Verbreitung solcher künstlichen Organismen wecken Ängste. Manche Biologen sprechen sich dafür aus, als Träger der Erbinformation „Xenonukleinsäuren“ zu verwenden, die den heutigen Lebensformen fremd und nicht mit ihnen kompatibel sind. Doch selbst wenn es gelänge, jede biologische Kreuzung zu verhindern, könnten irgendwann die synthetischen Organismen mit den natürlichen um Nahrung konkurrieren. Deshalb sollte der Organismus, der als Chassis dient, so gebaut sein, dass er nur von selten oder gar nicht in der Natur vorkommenden Substanzen lebt, wie etwa Fluor oder Silicium.
Andere Befürchtungen gelten dem fantastischen Arsenal neuer Waffengattungen. Im Guardian vom 14. Juni 2006 berichtete James Randerson, er habe ein Stück von der DNA des Pockenvirus bei einer privaten Firma bestellen können. Dass Bio-Hacker sich DNA-Sequenzen per Internet besorgen können, bezeugt ebenfalls die Risiken des freien Austauschs von Genbasteleien.
Während US-Labors die Genome gefährlicher Viren wie Polio und Spanische Grippe synthetisch erzeugen konnten, ist von irgendwelchen Schutzvorkehrungen kaum die Rede. Beispielhaft verhält sich Blue Heron Biotechnology: Die US-Firma nimmt keinerlei gefährliche Bestellungen an. Mithilfe einer Software tastet sie Gensequenzen auf eine mögliche bioterroristische Bedrohung ab und weist die entsprechende Anfrage zurück – so verantwortungsvoll agieren nur knapp ein Drittel der Firmen.
Der Friedensforscher Alexander Kelle von der University of Bradford(9) zeigt sich beunruhigt darüber, dass die Zunft der synthetischen Biologen die möglichen militärischen Anwendungen alles andere als realistisch einschätzt. Inzwischen hat eine Gruppe von Wissenschaftlern und Vertretern von US-Regierung und Industrie vorgeschlagen, die Herstellung von DNA-Sequenzen zu kontrollieren.(10) Einige fordern ein Gesetz, das alle Hersteller synthetischer Genome zu verstärkter Kontrolle verpflichtet.(11 )
Obwohl die GVO-Vorschriften im Prinzip auch für synthetische Zellen gelten, wird auf die Möglichkeit, dass diese sich selbst verbreiten könnten, nicht eingegangen.(12) Auch gibt es international heftigen Streit über die Frage, wie ein GVO definiert ist. Gewisse Gruppen wollen die künstlichen Organismen nämlich unter keinen Umständen als GVO bezeichnet wissen – damit bräuchten sie sich an die betreffenden gesetzlichen Einschränkungen nicht zu halten.
Die größte Gefahr, die von der synthetischen Biologie ausgeht, besteht vermutlich darin, dass landwirtschaftliche Rohstoffe vermehrt für die Energiegewinnung und für die chemisch-pharmazeutische Industrie genutzt werden – auf Kosten der Nahrungsproduktion für die Menschen.
Fußnoten:
(1) Siehe bbf.openwetware.org.
(2) Philippe Marlière, „Université de tous les savoirs“, 7. Juli 2008.
(3) Nature Biotechnology, Bd. 27, Nr. 12, New York, Dezember 2009. (4) Maureen O’Malley, Alexander Powell, Jonathan F. Davies und Jane Calvert, „Knowledge-making distinctions in synthetic biology“, in: BioEssays, Cambridge 2007.
(5) Vgl. dazu das Spiegel-Dossier „Wie das Leben auf die Erde kam“ von Jack W. Szostak und Alonso Ricardo, http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,684654,00.html
(6) Siehe Alexis Madrigal, „Biologists on the Verge of Creating New Form of Life“, Wired.com, 8. September 2008, current.com/1fi6i4c
(7) Waclaw Szybalski, „Nobel prizes and restriction enzymes“, in: Gene, Bd. 4, Nr. 3, 1978.
(8) Michael Specter, „A life of its own“, in: The New Yorker, September 2009.
(9) „Synthetic Biology and Biosecurity awareness in Europe“, in: Bradford Science and Technology Report, Nr. 9, http://www.brad.ac.uk.
(10) „DNA Synthesis and Biological Security“, in: Nature Biotechnology, Bd. 25, Nr. 6, Juni 2007.
(11) Raymond A. Zilinskas und Jonathan B. Tucker, „The Promise and Perils of Synthetic Biology“, in: The New Atlantis, Washington 2006.
(12) Michael Rodemeyer, „New Life, Old Bottles“, Woodrow Wilson International Center for Scholars, 25. März 2009. In Deutschland ist die Freisetzung von GVO gesetzlich geregelt: http://www.bvl.bund.de/DE/06__Gentechnik/gentechnik__node.html, siehe auch: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/Perspektivenpapier_Synthetische_Biologie_2009-04-23.pdf.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski Dorothée Benoit-Browaeys ist Generalbeauftragte von VivAgora und Autorin von „Le Meilleur des nanomondes“, Paris (Buchet-Chastel) 2009.