Den Schleier zerreißen
Bei dem Zimmermädchen im New Yorker Hotel Sofitel, dem mutmaßlichen Opfer des Vergewaltigungsversuchs von Dominique Strauss-Kahn, handelt es sich um eine 32jährige verwitwete Frau aus Guinea namens Nafissatou . Sie ist eine Muslima und trägt stets ein „islamisches Kopftuch“. Die in der Bronx lebende Mutter einer Tochter namens Dana wird von einer New Yorker Zeitung als zurückhaltend und tüchtig beschrieben. „Sie hat gute Manieren, sie ist still“, zitiert das Blatt einen ihrer Kollegen aus dem Hotel, ähnlich äußerte sich der Hoteldirektor über sie.
Ihr Bruder, Blake Diallo, gab am Mittwoch „Le Parisien“ ein Interview. Der 42-jährige Restaurantbesitzer sagte, dass er es für ausgeschlossen halte, dass seine Schwester dem IWF-Chef eine Falle stellen wollte: „Sie kannte ihn nicht. Meine Schwester ist unfähig, sich eine solche Geschichte auszudenken.“ Sie habe keine Ahnung von Politik, sie wisse nicht einmal, wer Bürgermeister von New York sei. „Sie ist eine ehrenwerte und anständige Frau, die hart arbeitet, um ihre Tochter großzuziehen“, betonte Diallo. „Wenn sie nach Hause kommt, schaut sie afrikanische TV-Serien.“ Nach Angaben von Diallo hält sich seine 32 Jahre alte Schwester „Nafi“ Nafissatou derzeit unter Polizeischutz an einem geheimen Ort auf. „Sie weint viel“, sagte ihr Bruder – „Nafi“ stehe noch immer unter Schock.
Die FAZ bringt es heute fertig, auf einer ganzen Politik-Seite sich Sorgen zu machen, ob Strauss-Kahn auch ein faires Verfahren in den USA bekommt, das den hohen europäischen Ansprüchen genügt, wobei sein mutmaßliches Opfer, „das Zimmermädchen, das die Welt bewegt“, wie eine Salzburger Zeitung textete, mit keinem einzigen Wort erwähnt wird. Im Zweifelsfall tritt das Frankfurter Kapitalorgan immer noch für den Schutz und das Wohlergehen der Mächtigen ein.
Die taz-Chefredakteurin Ines Pohl schreibt dazu:
Die breiten, milieuübergreifenden Beispiele aus unterschiedlichsten Medien zeigen, wem sich die Gesellschaft näher fühlt und welche Haltung sie durch ihre Wortwahl, wie bewusst oder unbewusst auch immer, einnimmt. Wer vom Lustmolch spricht und davon, dass Strauss-Kahn sich von seinen Hormonen die Karriere vermasseln lässt, der zeigt, dass er oder sie bereit ist, die Perspektive des Täters einzunehmen. Die Nähe, die Empathie, das Hineinfühlenwollen wird dem Vergewaltiger geschenkt. Nicht der Frau, die während ihrer Arbeit vergewaltigt wurde.
Und die vergewaltigte Frau? Sie wird zum Zimmermädchen degradiert – zu einer Person also, die durch diese Bezeichnung zu einem Kind gemacht wird, das nicht im Vollbesitz ihrer Urteilskraft ist. Bestenfalls wird vom Missbrauchsopfer geschrieben – aber auch dieser Ausdruck sollte nachdenklich machen. Der Annahme, dass ich etwas missbrauchen kann, liegt immer zugrunde, dass ich etwas gebrauchen kann. Frauen werden dadurch einmal mehr zu Objekten, die je nach Gusto benutzt werden dürfen.
Sprache spiegelt nicht nur Machtverhältnisse wider. Sie ist auch ein Instrument, um Machtverhältnisse zu zementieren, sexuelle Gewalt gegen Frauen zu verniedlichen und damit letztlich Täter zu entlasten.
Antonia Herrscher schreibt in einem Text über das französische Schleierverbot für muslimische Frauen:
(…) Googelt man Schleier und Sex erscheint eine endlose Liste von Einträgen, die zeigen: Unter dem Schleier liegt das Negligé. So kommt es, dass der Spiegel-Autor Romain Leick in dem erotischen Roman „Die Mandel“ der marokkanischen Autorin mit dem Pseudonym Nedjima 2005 „Einen Aufstand“ und „Akt des politischen Widerstandes“ sieht. Es geht um „Sex unter dem Schleier“. Ausführlich zitiert wurde in der Buchbesprechung dann vor allem die Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht der Romanheldin. Dies lässt an die Berichte Frantz Fanons aus der Psychatrie in Algerien denken, nach denen den Vergewaltigungsfantasien westlicher Männer stets der Akt des Zerreissens des Schleiers vorausgeht. Sowohl die Nedjiima als auch der libysche Autor Hisham Matar beschreiben denn auch die gewaltsame Entjungferung in der Hochzeitsnacht als das „Durchstoßen des Schleiers“. (…)
In der taz kommentierte Gabriele Dietze den „Fall“:
Hätte Dominique Strauss-Kahn im letzten Jahr den deutschen „Tatort“ gesehen, wäre ihm eine schöne Entlastungsgeschichte begegnet. Dann hätte er nur zugeben müssen, telefonisch eine Sexrollenspielgefährtin geordert zu haben, die in Zimmermädchenuniform ein Opfer spielen sollte – und er den Vergewaltiger. Ein solches Telefongespräch hätten Dunkelmänner – wahlweise aus dem Lager von Sarkozy, dem des IWF oder dem der französischen Sozialisten – abgehört. Diese hätten dann ein echtes Zimmermädchen zum Saubermachen geschickt (oder eine Geheimagentin, die schon länger als „Zimmermädchen“ platziert war), um ihn hochgehen zu lassen.
So könnte es gewesen sein, was sich am Wochenende in einer Hotelsuite in New York abgespielt hat. Es könnte sich auch um einen tragischen Irrtum der New Yorker Polizei handeln. Oder um ein gewissenloses Zimmermädchen, das auf ein fürstliches Schweigegeld hoffte. Das sind nur einige der möglichen Szenarien, die den Angeklagten entlasten würden.
Es könnte aber auch einfach so sein, dass Dominique Strauss-Kahn sich schlicht in die lange Riege mächtiger und berühmter Männer einreiht, die in den letzten Jahren durch bizarre Übergriffe auf weibliches Personal oder exzessive Inanspruchnahme der gehobenen Sexindustrie von sich reden: Israels Präsident Mosche Katzav, Arnold Schwarzenegger und TV-Star Charly Sheen fielen durch sexuelle Belästigungen bis hin zu Vergewaltigungen auf, Schwedens König Carl Gustav, Talkmaster Michel Friedman und Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi als konsumfreudige Freier.
Warum benehmen sich dermaßen bedeutende Männer wie Oberaffen, die sich greifen (oder kaufen), was bei „drei“ nicht auf den Bäumen ist? Dazu passt die Antwort, die Friedrich der Große gab, als man ihn fragte, warum er ohne jeden Grund Österreich angreife: „Weil ich es kann“.
All diese Männer, die am Gipfel ihrer Karrieren angelangt sind, nehmen für sich zur Belohnung das Privileg unbegrenzter sexueller Gratifikation in Anspruch – mit oder ohne Zustimmung der auserkorenen Sexobjekte. An die „Macht“ zu kommen „ermächtigt“ und will gefühlt und gekostet werden. Omnipotenz ist nirgends direkter erlebbar als dann, wenn man ein anderes lebendiges Wesen überwältigt. Das betrifft sowohl den „Genuss“ der Macht wie ihr Krisenmanagement. Wie tief das Verhaltenssetting im männlichen kollektiv Imaginären verankert ist, sieht man daran, dass ein großer Teil der kursierenden Pornografie auf Vergewaltigungsfantasien basiert.
Der Unterschied zwischen den Wüstlingen, die man aus der Historie kennt, und denen von heute besteht darin, dass ihr Verhalten skandalisiert wird, wenn sie ein öffentliches Amt bekleiden oder Stars mit großem Prestige sind. In den USA dient diese Skandalisierung spätestens seit Bill Clinton dazu, den sexualpolitischen Status der Nation auszuhandeln.
In Frankreich, wo man eine Kultur der Diskretion pflegt, zeigte man sich zunächst schockierter über die Art und Weise, wie ein einflussreicher Mann exponiert wurde, als über die Delikte, die ihm vorgeworfen wurden. Je länger die Affäre andauert, desto mehr scheint hier aber ein Lernprozess stattzufinden.
Die neue Unduldsamkeit gegenüber männlichen sexuellen Verfehlungen ist zweifellos eine langfristige Folge der zweiten Frauenbewegung der siebziger Jahre. Und es ist sicher nicht unwichtig, dass eine Richterin die weitere Untersuchungshaft für DSK, wie ihn seine Landsleute gerne nennen, angeordnet hat. Denn eine der wenigen Errungenschaften des Neuen Feminismus mag darin bestehen, kurzfristig mediale Erregungsgemeinschaften erzeugen zu können, die mittelfristig sexuell abirrende Helden entthronen (um sie langfristig als geläuterte wieder an die Brust zu drücken). Strukturell wird das männliche sexuelle Privileg, das sich in unzähligen Formen wie Junggesellenabschieden, Vatertage oder Bordellbesuche ausdrückt, damit aber nicht angetastet.
Dieses Privileg beruht auf einem gesellschaftlichen Konsens, dem Doppelstandard von männlicher sexueller Handlungsfreiheit und weiblicher Verfügbarkeit, der nur selten herausgefordert wird – zaghaft in Schweden, dem einzigen Land der Welt, das Freier und nicht Prostituierte bestraft. Dabei geht es um Machtfragen. Hegemonie (oder hegemoniale Männlichkeit, wie die Maskulinitätsforschung sagt) ist nur dann möglich, wenn sie auf breites Einverständnis einer sekundär interessierten Gruppe nicht gleichermaßen mächtiger Männer trifft.
Insofern ist die Aufregung über Fälle wie den von DSK weitgehend geheuchelt. Man kann das an der Larmoyanz vieler Kommentare ablesen, denen es häufig an Trennschärfe zwischen „Oh, là, là – Galanterie à la française“ und sexueller Nötigung gebricht. Auch ein großer Teil von Silvio Berlusconis Charisma bei seinen italienischen Landsmännern beruht auf seiner vorgeblichen sexuellen Hyperaktivität im hohen Alter – die Situation seiner minderjährigen Gespielinnen wird dabei weitgehend ausgeblendet.
Frauen haben durchaus ihren Anteil an der Glorifizierung dieser Aura von Maskulinität als zugreifender Potenz. In „Fesseln der Liebe“ entwickelt die US-amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin, dass die weibliche Komplizenschaft mit der maskulin dominierten sexuellen Ordnung darin bestehe, Überwältigung und Hingabe zu romantisieren. Dieses Muster der Herablassung eines hohen Herrn zu einer niederen Dame war erst kürzlich in der weltweiten Begeisterung für die britische Königshochzeit zu studieren.
Trotzdem ist hier nicht beabsichtigt, soziobiologischen Thesen von männlichem sexuellen Jagdinstinkt und weiblichem Beutebewusstsein das Wort zu reden. Im Gegenteil, menschliches Verhalten ist langfristig veränderbar, wenn der Rahmen von Akzeptanz verändert wird. Das hat in der westlichen Hemisphäre die zweite Frauenbewegung versucht – aber sie hat die Kulturrevolution nicht zu Ende geführt. Die neue Publizität von sexuellem Machtmissbrauch mächtiger Männer macht Lust, diese wieder aufzugreifen.
AFP berichtet aus Guinea:
Das New Yorker Zimmermädchen, das IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn versuchte Vergewaltigung vorwirft, hat sich seit Jahren nicht mehr bei ihrer Familie in Afrika gemeldet. „Seit sie vor mehr als zehn Jahren fortgegangen ist, habe ich ein Mal mit ihr gesprochen“, sagte ihr 42-jähriger Halbbruder der Nachrichtenagentur AFP. Er lebt noch immer in dem entlegenen Dorf Tchiakoulle im Norden des westafrikanischen Guinea, aus dem die 32-Jährige stammt. Die in der Region von Fouta Djallon zwischen hohen Felswänden verlorene Ortschaft mit einigen dutzend muslimischen Einwohnern kann nur zu Fuß erreicht werden.
Die sieben Zementhäuser und ein dutzend Lehmhütten des Dorfs haben weder fließend Wasser noch Strom oder Telefon. Nach Angaben ihres Halbbruders wurde die junge Frau dort geboren, doch ging sie mit 13 Jahren in die 80 Kilometer entfernte Provinzstadt Labé. Mit 17 kehrte sie zurück, um den Sohn eines Geistlichen zu heiraten. Doch als ihr Mann nach nur zwei Jahren starb, entschloss sie sich, mit ihrer inzwischen geborenen Tochter in die USA auszuwandern.
Einer der Brüder ihres Vaters, der 2009 mit 90 Jahren verstarb, sagte, seitdem „keinen Brief, kein Photo, nichts“ mehr von ihr oder ihrer inzwischen 15-jährigen Tochter erhalten zu haben. Der 60-jährige Onkel gab an, im Lokalradio gehört zu haben, dass „ein Weißer in den Vereinigten Staaten ein Mädchen missbraucht hat. Aber ich hätte nie gedacht, dass es meine Nichte ist.“ Niemand in dem muslimischen Dorf wusste davon.
Die junge Frau wurde ihrer Aussage zufolge am Samstag in dem New Yorker Hotel, wo sie seit drei Jahren als Zimmermädchen arbeitete, von Strauss-Kahn in seiner Suite sexuell bedrängt und zum Oralsex gezwungen. Nach Angaben ihrer Familie in Afrika ist sie das jüngste von sechs Kindern eines armen Bauern und seiner beiden Frauen. Einwohner des Dorfes beschrieben die Familie als sehr gläubig und sagten, der Vater sei in der Region als muslimischer Geistlicher anerkannt gewesen.
Photo: amazon.de
Karim El Gawhary berichtet heute in der taz aus Kairo über Syrien:
Einer der syrischen Aktivisten, der nach Kairo geflohene Menschenrechtler Ammar al-Kurabi, sieht die neuen US-Sanktionen zwar skeptisch, begrüßt sie aber als politisches Signal. „Es zeigt, dass der Spielraum des syrischen Systems enger wird und dass es isoliert ist“, meint er.
„Die internationale Gemeinschaft könnte aber mehr unternehmen“, sagt er. Beispielsweise könnte der UN-Menschenrechtsrat aktiver werden. Einer Mission dieses Rates sei die Einreise nach Syrien verweigert worden, und bisher gebe es keine offizielle Reaktion darauf, klagt er. Bei 1.000 Toten und 10.000 Verhafteten würde es auch langsam Zeit, dass sich der Internationale Gerichtshof, ähnlich wie mit Gaddafi, nun auch mit Baschar al-Assad befasst, fordert er. Eine internationale militärische Intervention in Syrien lehnt der Menschenrechtler strikt ab, das wolle weder das Volk noch die Opposition. Al-Kurabi ist sich sicher, dass die Proteste weitergehen werden. „Es fließt Blut, es gibt Tote, es wird gefoltert, die Menschen flüchten, sie werden entführt. Es gibt tausende Verletzte, zerstörte Häuser, gestohlenes Vermögen. Und trotz alledem macht das Volk weiter und fordert den Sturz des Regimes“, sagt er.
Kairo und das revolutionäre Ägypten entwickelt sich langsam zu einem Zentrum der syrischen Regimegegner. Einer der neu in Kairo angekommen Syrer ist Ayad Eissa. Der Journalist hat vor zwei Wochen seinen Job bei einer staatlichen syrischen Tageszeitung gekündigt, seine Mitgliedschaft im syrischen Journalistenverband niedergelegt und ist in den Libanon geflüchtet, wo er sich aber nicht sicher fühlte.
„Syrien hat sich in eine Insel des Horrors verwandelt. Er ist eine einzige große Kaserne in allen Provinzen. Vor allem aber in Damaskus und Aleppo“, beschreibt er die Lage. Die Sicherheitskräfte besetzten jede Gasse. „Sie gehen gegen jeden vor, der eine vom Regime abweichende Meinung hat. Sie setzten Todesschwadronen ein, die keiner kennt“, erzählt er. Besonders dramatisch sei die Lage in der südsyrischen Stadt Deraa, wo gerade dieses Woche ein Massengrab mit 28 Leichen entdeckt wurde. Das Militär hat sich inzwischen aus der Stadt zurückgezogen, hat den Ort aber weiträumig umstellt. „Was in Deraa passiert, das ist ein echtes Massaker. Wenn die Belagerung einmal vorbei ist, wird die Welt Unglaubliches entdecken.“
Der Propaganda des Regimes, dass die Sicherheitskräfte gegen bewaffnete Banden oder gegen radikale Islamisten kämpften, glaubt, laut Eissa, keiner in Syrien. Aber es gebe viele Syrer, die nicht das Regime unterstützen, aber Angst vor einer unbekannten Zukunft hätten. Das beträfe vor allem die religiösen Minderheiten, unter denen das Regime Angst vor einem Bürgerkrieg, ähnlich wie im Irak, geschürt habe. „Die Demonstranten antworten bei jedem ihrer Proteste mit dem Ruf nach nationaler Einheit, um dieses Spiel zu entlarven“, sagt er. Eissa hegt keinerlei Zweifel, dass die Proteste weitergehen werden. „Wenn es das Regime tatsächlich schaffen sollte, sie zu unterdrücken, dann wird das nur eine begrenzte Zeit klappen“, glaubt er. Danach würden die Proteste wieder zunehmen, „denn das Regime hat Blut an den Händen und damit jegliche Glaubwürdigkeit verloren“.
Über die Situation in Syrien interviewte dpa den Schriftsteller Rafik Schami:
Der Aufstand in seinem Heimatland Syrien hat den in Deutschland lebenden Schriftsteller Rafik Schami überrascht. Er habe gedacht, die Syrer würden nichts mehr gegen die Diktatur machen, sagt Schami in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa. Vom Westen verlangt der Autor mehr Engagement für die Aufständischen in den arabischen Ländern. Rafik Schami floh 1970 aus Syrien und lebt in Marnheim in der Pfalz. Zu seinen erfolgreichsten Werken zählen die Romane „Das Geheimnis des Kalligraphen“ und „Die dunkle Seite der Liebe“.
Herr Schami, wie informieren Sie sich über die Lage in Syrien?
Rafik Schami: „Fast stündlich. Heute ist es keine große Kunst mehr, direkt von einer Demonstration mit Handy, Youtube, Internet oder Facebook genau zu wissen, was passiert ist. Das ist übrigens das, was den arabischen Regimen das Leben schwer macht. Sie können nicht ewig morden und entführen, ohne dass die Weltöffentlichkeit das erfährt.“
Mit welchen Gefühlen beobachten Sie die politische Entwicklung dort?
Schami: „Die Revolutionen in Arabien haben die Welt überrascht. Sie sind etwas ganz Neues in der Menschheitsgeschichte. Die Zivilbevölkerung geht friedlich auf die Straße und führt einen friedlichen Aufstand gegen die ganze Gewaltmaschine der Diktatur, die nicht davor zurückschreckt, auf Kinder und alte Menschen mit Panzern und Scharfschützen zu schießen. Für mich persönlich kam das alles sehr überraschend. Ich habe gedacht, die Syrer machen nichts mehr gegen diese starke Diktatur, die auch vom Westen und Israel erwünscht ist.“
Würden Sie sich ein stärkeres Engagement des Westens wünschen? Und in welcher Form?
Schami: „Der Westen hat bisher nur mit den Diktaturen gearbeitet und das Leid der Millionen Entrechteten übersehen. Nicht einmal uns Intellektuellen und Schriftstellern im Exil hat man zugehört. Es funktionierte prima, das Erdöl so billig wie möglich zu bekommen, Waffen, das teuerste und verachtenswerteste Blech der Welt, zu verkaufen und dazu die Herrscher zu Polizisten für die Grenzen Europas zu degradieren, wie es Gaddafi für Berlusconi gespielt hat. Das ist nun zu Ende.“
Und was nun?
Schami: „Die westlichen Länder und China müssen selbst von dieser Revolution lernen, eine andere Beziehung zu diesen wichtigen Ländern aufzubauen. Sie müssen den Regimen zeigen, dass sie nicht länger zu den Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung schweigen. Sie müssen jetzt schon Kontakt zu der jeweiligen Opposition aufnehmen. Sie müssen sie in ihren Hauptstädten empfangen und damit aufwerten. Auch die Medien im Westen sind inzwischen so hintendran mit Informationen, dass ich den Eindruck habe, sie haben keine zuverlässigen Journalisten am Ort, sie verbreiten keine Informationen, sondern machen Politik. Sie setzen die Politik ihrer Regierungen fort und das ist bei Gott nicht die Aufgabe einer demokratischen Presse.“
Besteht die Gefahr, dass Islamisten die Revolution in Ihrem Heimatland missbrauchen? Dass wir bald ein islamistische Regierung in Syrien haben?
Schami: „Jede Revolution kann einen Rückschlag bekommen. Das auszuschließen wäre zu naiv, aber die Islamisten sind völlig gescheitert, und sie wissen das. Die Ziele der Revolution in Tunesien, Ägypten, Syrien, Libyen und dem Jemen sind Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und damit Bestandteile der westlichen bürgerlichen Revolution. Kein Wort vom Kalifat, kein Wort von Scharia. Deshalb war Bin Laden längst tot, bevor die Amerikaner ihn erwischt haben. Sein Modell ist in Arabien zusammengebrochen. Die Kaida wird da und dort noch Anschläge machen, aber die Völker haben historisch gegen sie entschieden. Sie haben friedlich ihre Herrscher gestürzt, was einen hohen Grad an Zivilisation zeigt.“
Und konkret in Syrien
Schami: „In Syrien haben die Islamisten keine Chance. Syrien ist eine offene Gesellschaft, in der viele sehr aktive Minderheiten leben: Christen, Alewiten, Drusen, Kurden, Tscherkessen, Yeziden, Assyrer und so weiter. Auch breite Schichten der Sunniten sind mit Europa verbunden und wollen keine Rückkehr zum Kalifat. Dazu kommt: Der Ruf der Fundamentalisten ist in Syrien ruiniert, weil sie durch Bombenlegen und Mordanschläge in den 80er Jahren das Assad-Regime dazu ermuntert haben, zum Polizeistaat zu mutieren. Dazu sind sie Diener des saudischen Hauses, das in Syrien keinen guten Ruf hat.“
Werden die Umbrüche im arabischen Raum auch in Ihr Werk einfließen?
Schami: „Sie haben das bereits gemacht. Zurzeit schreibe ich nicht, sondern höre und beobachte, was die Syrer erzählen. Sie, diese Tapferen, schreiben den besseren Roman. Ich lerne seit Januar wie ein kleiner Lehrling bei einem großen Meister, dem syrischen Volk.“
Reuters meldete heute aus Syrien:
Im syrischen Homs haben Sicherheitskräfte am Freitag einem Menschenrechtsaktivisten zufolge in die Menge Tausender demonstrierender Regierungsgegner geschossen. Sie hätten scharfe Munition eingesetzt, sagte der Aktivist, ohne Angaben über Opfer zu machen. Augenzeugen berichteten aus vielen Landesteilen von Protesten nach den Freitagsgebeten, unter anderem auch in der Hauptstadt Damaskus. In der Küstenstadt Banias habe es die größte Kundgebung seit Beginn des Volksaufstands vor rund neun Wochen gegeben. In Hama nördlich von Homs hätten sich insgesamt 20.000 Menschen den Protesten angeschlossen.
Wenig später meldete AFP aus Syrien:
Syrische Sicherheitskräfte sind nach Angaben von Menschenrechtlern am Freitag erneut gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen und haben dabei mindestens 17 Menschen getötet. Allein in der Stadt Homs, einer der Hochburgen der Proteste gegen Präsident Baschar el Assad, seien neun Menschen getötet worden, darunter ein Kind, sagten die Aktivisten. In verschiedenen anderen Städten habe es weitere Opfer gegeben.
Die syrische Protestbewegung hatte für Freitag auf der Facebook-Seite „Die syrische Revolution 2011“ zu neuen Protesten für die „Freiheit“ und die nationale Einheit aufgerufen. Tausende Männer, Frauen und Kinder gingen daraufhin in verschiedenen Städten des Landes auf die Straße. Die Proteste erreichten nach Angaben von Augenzeugen auch Gegenden nahe der größten Städte Aleppo und Damaskus, die bislang von den Demonstrationen weitgehend verschont geblieben waren.
Hunderte Demonstranten trugen nach Angaben von Augenzeugen Olivenzweige als Zeichen der Gewaltfreiheit. In der nordwestlichen Stadt Banias gingen Männer mit nacktem Oberkörper auf die Straße, um Behauptungen der Regierung entgegenzutreten, sie seien bewaffnet. Auch dort schossen die Sicherheitskräfte nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten auf die Menge. Ob es Verletzte oder Tote gab, war zunächst unklar.
Nach Angaben von Menschenrechtlern und der UNO kamen seit dem 15. März mindestens 850 Menschen bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften ums Leben, mehr als 8000 Menschen wurden festgenommen. Laut UN-Flüchtlingskommissariat flohen zudem bislang etwa 4000 Menschen in den benachbarten Libanon.
Die syrische Führung geht seit Wochen mit Gewalt gegen Demonstranten vor und ignoriert Aufforderungen der internationalen Gemeinschaft, die Protestbewegung nicht länger niederzuschlagen. Auch die USA hatten diese Woche den Ton verschärft und Sanktionen gegen Assad und sein Umfeld verhängt. US-Präsident Barack Obama forderte Assad am Donnerstag auf, einen politischen Übergang einzuleiten „oder aus dem Weg zu gehen“.
Aus dem Jemen meldete dpa heute:
Zehntausende Menschen haben am Freitag nach dem Mittagsgebet in zahlreichen Städten des Jemen den Rücktritt von Präsident Ali Abdullah Salih gefordert. In der Hauptstadt Sanaa marschierten Tausende Demonstranten hinter einem großen Banner mit dem Schriftzug „Freitag der Volkseinheit“. Aber auch der seit 32 Jahren amtierende Salih mobilisierte wieder seine Anhänger. Tausende von ihnen kamen am Freitag vor dem Präsidentenpalast in Sanaa zusammen. Im Jemen verlangen seit mehr als drei Monaten Hunderttausende den Rücktritt des Staatschefs, der sich an die Macht klammert. Sicherheitskräfte und bewaffnete Salih-Anhänger töteten rund 170 Demonstranten und verletzten tausende weitere.
Aus Jordanien berichtet dpa:
In Jordanien sind am Freitag erstmals seit fast zwei Monaten wieder tausende Menschen auf die Straße gegangen. Sie forderten den Rücktritt des unpopulären Ministerpräsidenten Maruf Bachit und Maßnahmen gegen die verbreitete Korruption. In der Hauptstadt Amman demonstrierten auch Hunderte für die Rechte der Palästinenser im israelisch besetzten Westjordanland und – nahe der israelischen Botschaft – für den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum jüdischen Nachbarn.
Demonstrationen wurden auch aus den Städten Sarka bei Amman, sowie ausTafileh und Karak im süden der Hauptstadt gemeldet.
Die Proteste im arabischen Königreich waren Ende März abgeflaut, nachdem bei blutigen Zusammenstößen mit Regime-Anhängern zwei Menschen getötet und 120 weitere verletzt worden waren. Ein von König Abdullah II. angestoßener Reform-Dialog verlief im Sand, weil der Monarch an dem eng mit den Sicherheitskräften verbundenen Regierungschef Bachit festhielt.
Neuen Impuls erhielt die Protestbewegung am vergangenen Sonntag, als Tausende Palästinenser – ähnlich wie auf den Golanhöhen und im Süd-Libanon – die Waffenstillstandslinie zum Westjordanland stürmen wollten. Jordanische Sicherheitskräfte hatten sie am Erreichen der Linie mit Gewalt gehindert. Bei den Zusammenstößen waren 25 Menschen verletzt worden, unter ihnen elf jordanische Polizisten.
Der Madrider Korrespondent der taz Reiner Wandler berichtete gerade auf Facebook über die Situation in Spanien:
Spaniens Zentrale Wahlkommission hat für Samstag und Sonntag alle Kundgebungen und Demonstrationen im Lande verboten. Nur so sei die freie Ausübung des Wahlrechtes zu gewährleisten. Am Sonntag wählen die Spanier ihre Kommunal- und Regionalvertretungen. Der Samstag ist der sogenannte Tag des Nachdenkens, an dem keine Wahlkampfveranstaltungen stattfinden dürfen.
Die Entscheidung wurde mit fünf Ja-Stimmen, vier Nein-Stimmen und einer Enthaltung nach mehr als sechs Stunden Debatte knapp angenommen wurde. Damit sind aber Mitternacht Freitag auf Samstag die Protestcamps, die seit den Großdemonstrationen für „Echte Demokratie jetzt!“ am vergangenen Sonntag in Dutzenden Städten Spaniens aus Protest gegen die als sozial ungerecht empfunden Krisenpolitik, Arbeitslosigkeit , Korruption und das aktuelle Wahlrecht errichtet wurden, illegal.
„Wir werden bleiben“, teilt ein Sprecher des größten Camps, das mittlerweile in Madrid fast den gesamten Platz Puerta de Sol in der Stadtmitte einnimmt, den Beschluss der nächtlichen Versammlung an der Puerta de Sol mit. 20.000 Menschen hatten im Zentrum Madrids das Urteil erwartet. Sie riefen immer wieder: „Sie repräsentieren uns nicht!“ In Barcelona nahmen die Versammelten das Urteil mit dem Ruf „No nos moverán“ – „Sie werden uns nicht bewegen“ auf. Der gleichnamige Song von Joan Baez spielte eine wichtige Rolle in Spaniens Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie.
Die Campierenden in Madrid fühlen sich von dem „Beschluss nicht angesprochen“. Sie würden schließlich „allgemeine Unzufriedenheit“ zum Ausdruck bringen, „und keinen Wahlkampf betreiben“. Das Camp sei spontan entstanden und damit keine Kundgebung. „Wir werden den Samstag und den Sonntag nutzen, um gemeinsam nachzudenken, ganz im Sinne dessen, was das Wahlgesetz 24 Stunden vor einer Wahl vorsieht“, gibt ein Sprecher wieder, was die Rechtsanwaltskommission auf dem Platz als Argumentation ausgearbeitet hat.
Die Regierung des Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero steht jetzt vor der schwierigen Aufgabe, dieser Lage Herr zu werden. Das Innenministerium werde „mit Intelligenz“ handeln, beteuerte Zapatero in einem Radioauftritt. Was das bedeutet, darüber schwieg er sich aus.
Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba hat nach dem Beschluss der Wahlkommission seine verbleibenden Wahlkampfauftritte abgesagt, um sich ganz den Protesten zu widmen. Er versicherte gegenüber der Presse, dass die „Polizei versucht, Probleme zu lösen und keine neuen zu schaffen“.
Die Protestierenden im Camp, das den ganzen Freitag über weiter wuchs, sind zuversichtlich. „Es ist Wochenende. Wenn sich unter der Woche schon weit über zehntausend Menschen versammeln, dann werden es heute viel mehr“, erklärte ein Sprecher. Im Falle eines Polizeiübergriffes wollen die jungen Menschen gewaltfreien Widerstand leisten.
Politiker der konservativen Partido Popular forderten Rubalcaba auf zu räumen. Die postkommunistische Vereinigte Linke spricht von einem „defacto Ausnahmezustand“ und legte Widerspruch gegen die Entscheidung der Wahlkommission ein.
Die Wiener taz-Kolumnistin Isolde Charim hat einen interessanten Gedanken zum Fall „Strauss-Kahn“ geäußert – in der taz v. 24.5.:
„…Bis in die 60er Jahre sollten Politiker moralische Autoritäten sein – sie sollten moralischen Ansprüchen genügen und taten es nicht immer. Der entscheidende Unterschied: Heute sollen sie das nicht einmal mehr. Denn das Bedürfnis, das Politiker früher befriedigen mussten, war das nach Sicherheit, Schutz und Versorgung. Das erforderte einen moralischen Typus. Das Bedürfnis, um das es heute vorwiegend auch in der Politik geht, ist ein anderes. Dieses wird von Politikern nur dann gestillt,
wenn sie auch Prominente sind. Wobei „prominent“ nicht ganz das richtige Wort ist. Die heutigen Ausnahmefiguren sind die Popstars.
Der Status Popstar beschränkt sich ja längst nicht mehr auf erfolgreiche Musiker. Popstar ist vielmehr das, was aus dem früheren Charisma geworden ist. War Charisma das Versprechen von etwas Außeralltäglichem, so ist der Popstar jener, dem man zuspricht, das pralle, volle, echte Leben zu leben. Jenes Leben, nach dem wir uns alle sehnen. Der Popstar lebt es an unserer Stelle. Er genießt für uns. Popstars dürfen nicht nur, was anderen verboten ist, sie sind dazu geradezu verpflichtet. Etwa zur Promiskuität. Das ist Teil ihrer Aura. Das, was dem Durchschnittsbürger bestenfalls verziehen wird, muss der Popstar – auch der Popstar unter den Politikern – erfüllen: unsere Imagination von ganzem Genießen. Nun gibt es diesen Status in unterschiedlichen Dosierungen, ja selbst Frauen können ihn erlangen (wenn auch meist nicht durch Macht). Das beste
Beispiel dafür ist pikanterweise Carla Bruni, die Frau von DSKs Gegenspieler, die der Inbegriff des sich selbst ermächtigenden Groupies war.
Der Popstar darf voll und ungeniert genießen. Einzig Zwang und Gewalt gehören da nicht dazu. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil wahres Genießen nur jenes ist, das dem Star zufällt. Vergewaltigung bedeutet das Ende des Popstar-Status, weil damit das Genießen nicht mehr glaubhaft verkörpert werden kann. Dann entzieht das Publikum die sexuelle Ausnahme und wendet sich ab. Das ist keine Frage der Sittlichkeit, sondern der Entzauberung. Und weil die Empörung keine
moralische ist, gilt unser Interesse meist nicht dem Opfer, sondern dem Täter. Das Zimmermädchen mag engagierte Feministinnen interessieren, dem großen Publikum geht es um DSK. Daher rührt auch die Aufregung über dessen „perp walk“: Der öffentliche Gang zum Haftrichter lieferte das Bild seiner „Kastration“, das sichtbare Ende seines Sonderstatus. Ob schuldig oder nicht – DSK ist entauratisiert. Danach kann er nichts mehr werden. Wir sollten diese Abwendung nicht mit Moral verwechseln.