vonHelmut Höge 15.02.2012

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Dichtung und Wahrheit in der neueren deutschen Arbeiterbewegung

„Erst seit der Vereinigung ist wieder Klassenkampf in Deutschland möglich.“  (Heiner Müller)

Wenn dieser Dichter so weiter macht,  gründe ich noch einen neuen Volker-Braun-Kultklub. Schon sein letztes (Schicht-)Buch „Machwerk“ hat mich derart begeistert. Es geht darin um die Arbeitsbeschaffungsmaßahmen (ABM/MAE) für den Havariemeister Flick aus Lauchhammer und seinen arbeitslosen jungen Enkel Ludwig, einem Heavy-Metall-Fan. Trotz der Verarschung durch das Arbeitsamt  (Ein-Euro-Jobs) kommen die beiden guten rum: von dem sich vergeblich gegen seine Abbaggerung wehrenden Dorf Horno in der Lausitz über die  „glücklichen Arbeitslosen“ in der Volksbühne bis zur polnischen Erntebrigade in der Toscana: 48 „Schwänke“ insgesamt – bis der alte Havariemeister schlußendlich in die Grube fährt („mit ihm ist eine Zeit zuendegegangen“) – und ein anderer „Experte ‚ganz ruhig‘ die Arbeitsagentur Nord“ betritt und den „Tisch der Sachbearbeiterin mit einem 5-Liter-Kanister Spiritus in Brand setzt. Die erleidet daraufhin einen Schock; aber auf dieses Mittel setzt Verf. nicht,“ wie Volker Braun abschließend bemerkt.

Volker Braun. Photo: apollosiegen.de

Bevor er Philosophie studierte, arbeitete er im Bergbau, heißt es. Zuletzt war er in dem Aufsatzband „Kaltland“ – über die Ausländerfeindlichkeit in der DDR und danach – mit zwei kurzen Beiträgen vertreten. Der eine handelt von der Vertreibung afrikanischer Asylbewerber aus Hoyerswerda durch Rechtsradikale: „hasskalte Fressen…Ich gehörte noch zu ihnen.“ Auch in seinem zweiten Text spricht der Autor noch von „Wir“. Darin geht es um Asylbewerber, die in „unserem 400 Seelen Ort mit Bahnanschluß“ untergebracht wurden, aber nicht bleiben wollen.

Und nun eine Erzählung mit dem an die verlorenen Bauernkriege gemahnenden Titel: „Die hellen Haufen“. Es geht darin vornehmlich um die Bischofferöder Kalikumpel, die sich 1993 vergeblich mit einem Hungerstreik gegen die Schließung ihrer profitablen Grube „Thomas Müntzer“ wehrten. Die ebenfalls in Brauns neuem Roman vorkommende Pastorin Haas, die sich an den Aktionen der Bergleute beteiligte, meinte 1995 mir gegenüber: „Während der Auseinandersetzungen, so anstrengend sie waren, ging es fast allen gut. Danach fiel alles auseinander. Viele wurden krank, vier starben sogar.“ Traurig sei auch,  „daß jetzt nach der Niederlage so viel rückwärtsgewandtes Zeug im Eichsfeld passiert: Schützenvereinsgründungen, Traditionsumzüge und sogar Fahnenweihen…“

Während der Arbeitskampfes der Bischofferöder. Photo: H.Höge

Einige Bischofferöder. Photo: igbce-blog.de

Die jungblonden Rezensenten der westdeutschen Intelligenzpresse haben Volker Braun nun übel genommen, dass er die Bischofferöder nicht aufgeben läßt. Ihren Protesten  schließen sich sogar noch andere von Privatisierung und Arbeitslosigkeit bedrohte Belegschaften an – u.a. die  Leuna- und Orwo-Arbeiter. Das Ganze nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an.

Das hatte es auch schon, als die Bischofferöder 1993 tatsächlich massenhaft Unterstützung fanden, u.a. von westdeutschen Bergarbeitern. Ihre „Bischofferode ist überall!“-T-Shirts gingen weg wie warme Semmeln. Der in der Treuhandanstalt für die Gruben-Schließung verantwortliche Manager Schucht erklärte im Spiegel: Der Hungerstreik in Bischofferode habe „eine gewaltige Wirkung auch auf die Betriebe im Westen“. Wenn man den nicht breche, „wie will man dann in Deutschland noch Veränderungen bei den Arbeitsplätzen durchsetzen?“ Als die Bischofferöder vor Schuchts Treuhandbüro in Berlin demonstrierten, mischte die Polizei Provokateure unter die Menge.

Der Dichter gibt zu, „die Geschichte, ginge sie ordentlich fort, erzählte Beschäftigungsmaßnahmen. Fortbildungen; Unnütze, damit ihr/unnütz bleibt, werden wir euch/umschulen.“ Das aber will er diesmal nicht. Nun geht es ihm um das „Nichtgeschehene“ (1994f) – um es „auszumalen braucht es Geduld und Genauigkeit.“ Daraus resultiert, dass alle Personen und Orte (nur unwesentlich verquatscht) vollkommen real sind und es auch bleiben. Seine  nichtgeschehene Geschichte läuft darauf hinaus, dass sie, die die ganze Zeit „Keine Gewalt!“ riefen, „begriffen, daß ihnen Gewalt geschah“: Es wurde dann sogar auf sie geschossen, die Einsatzkräfte setzten Hubschrauber ein, deren Rotoren die Menge „wie ein kochender Teig auf der Herdplatte wegschabte“.

Wir bekommen es bei dieser Erzählung erneut mit der problematischen Balance (?) zwischen  Literatur und Leben zu tun. Volker Braun schreibt abschließend: „Die Geschichte hat sich nicht ereignet. Sie ist nur, sehr verkürzt und unbeschönigt, aufgeschrieben. Es war hart zu denken, daß sie erfunden ist; nur etwas wäre ebenso schlimm gewesen: wenn sie stattgefunden hätte.“

Ebensowenig wie er sich wünscht, dass die Arbeitsämter abgefackelt werden, möchte er, dass nötig oder unnötig Blut vergossen wird – in Wirklichkeit. Die Alternative dazu wäre – wie bereits  von ihm verworfen: nur zu erzählen, was wirklich geschah. Dazu gibt es neuerdings zwei Ansätze, die dies aus Gewerkschaftsperspektive unternehmen  – von unten und von oben quasi: Für letztere klapperte die Publizistin Annette Jensen noch einmal die ostdeutschen Industriestandorte ab. In ihrem ungenauen und ungeduldigen Buch „Im Osten was Neues. Unterwegs zur sozialen Einheit“ berichtet sie, was aus den Betrieben wurde. Den anderen Erzählband stellten nach einer Tagung über diese Betriebe die Historikerin Ulla Plener und ihre Referenten zusammen –  darunter der ehemalige Bischofferöder Betriebsratsvorsitzende und PDS-Abgeordnete Gert Jütemann, der auch schon in Volker Brauns „Hellen Haufen“ eine Rolle spielt. In „Die Treuhand – der Widerstand in Betrieben der DDR – die Gewerkschaften (1990 – 1994)“, so der Titel von Ulla Pleners Buch, in dem neben weiteren Betriebsgeschehen auch noch „Dokumente“ veröffentlicht wurden – u.a. von der ostdeutschen Betriebsräteinitiative, die versuchte, einen betriebsübergreifenden Widerstand gegen die Massenentlassungen zu entwickeln. Sie spaltete sich nach Beendigung des Arbeitskampfes der Bischofferöder und löste sich auf – im Maße der Widerstand im Osten resignierte oder sich nationalistisch wendete. Auch Volker Brauns Roman „Machwerk“ hat inzwischen seine (journalistische?) Fortsetzung gefunden: mit „27 Reportagen aus dem Alltag“ von „1-Euro-Jobbern“, die von der ehemaligen Landtagsabgeordneten in Brandenburg, Esther Schröder, zusammengestellt wurden. Ihr Buch heißt „Vermittelt, Verwaltet, Vergessen“.

Das Kalibergwerk Bischofferode. Photo: de.wikipedia.org

 

P.S.: Bert Papenfuß versucht gerade eine Lesung mit Volker Braun in seiner Kneipe „Rumbalotte“ (Metzerstraße) zu organisieren. In der Jungen Welt fand ich neulich eine Erzählung von Volker Braun, der jedoch nicht der Dichter Volker Braun ist, sondern u.a. persönlicher Assistent für Schwerstbehinderte, er ist jünger als der Dichter (Jg. 1963) und lebt im Oderbruch. Während der Autor von „Die hellen Haufen“ 1939 geboren wurde und in Berlin lebt.

 

Die Eigentumsfrage

für Marie-Luise Noltebecker von Volker Braun (Jg. 1963)
Es war Mai geworden, am Morgen waren die Farben der Trauerweiden zart grüngelb. Jana Stancu, eine 38jährige Kellnerin aus Bukarest, ging langsam wie in Zeitlupe zum Briefkasten. Zurück in der kleinen Küche legte sie einen Brief auf den Tisch. Sie wohnte im Berliner Kunger-Kiez1, in der Kiefholzstraße 7, gegenüber dem alten Grenzstreifen. Der letzte Rest Treptow, bevor Kreuzberg anfängt.

Ihr Haus war das letzte mit alter Fassade bis Ecke Krüllstraße und das einzige, das mit seiner Umgebung verschmolz. Aus ihrem Küchenfenster blickte man auf einen alten Backsteindamm und auf ein zwanzig Jahre altes Mischwäldchen. Die wilden Birken waren, erst anfangs hager und elastisch, jetzt schon nicht mehr zu rütteln. Ihr Sohn Nicolaj, er war neun Jahre alt, teilte sich weiter die Kiefholz hoch ein verwildertes Bahngleisgelände mit zwei Freunden bei Terrainspielen. Mit seiner Favoritin Jenny aus dem Nachbarhaus baute er gerade eine Hütte in einer Baumgruppe. Auf der angrenzenden Betonbrücke rasten die S-Bahnzüge vorbei.

Dort hatte Jana mit Nicolaj vor drei Monaten abends bei Gaslicht im Schnee einen kleinen Film gemacht. Denn sie wußte, der Kunger-Kiez war im Verschwinden begriffen, aber er war eben auch noch da. Jana erklärte ihrem Sohn, daß sie hier Ökistan bauen wollen bis weit über die Elsenstraße rüber, ein Bio-Supermarkt war schon das Vorauskommando der ganzen Bande von Loftbauherren und Townhouseprivatiers.

Und im Rücken, wie praktisch, das BKA, die Torwächter der Stadt. Das ganze BKA-Gelände, von der Bouché- bis zur Elsenstraße, war ein großes Territorium der Angst. Davon sagte Jana ihrem Sohn lieber nichts.

*

Am Samstagmorgen hatte Nicolaj schon beim Aufstehen verschiedene Pläne für seine Naherholungskämpfe geschmiedet. Jetzt nahm er den Brief, hielt das Kuvert am Fenster gegen den stahlblauen Himmel und rief: »Der ist von Johanna!« Nicolajs fröhliche Worte sausten Jana um die Ohren, und sie freute sich auch. Nicolaj schwang den Brief hin und her wie eine Fahne. »Jetzt mach schon auf«, sagte sie, und er ritzte mit seinem Frühstücksmesser vorsichtig an den Rändern. Aus dem Kuvert fielen zwei Eintrittskarten für das Planetarium in Alt-Treptow, auf einer stand klein geschrieben: »11. Mai/12 Uhr im Garten der Denker«. Er fragte seine Mutter: »Was ist das für ein Garten?« Jana lachte: »Keine Ahnung« und dehnte ihren Oberkörper nach hinten. Nicolaj war froh, daß seine Mutter so schön war, aber noch schöner würde seine Frau sein, er würde alle Konkurrenten plattmachen.

Mit seinem Rad war er eine halbe Stunde später im Treptower Park. Der »Garten der Denker« war verschlossen. Nicolaj stieg auf seinen Gepäckträger und dann über den Zaun. Er umschlich das Gebäude, die Fenster waren unter den Dachsparren und ihm wurde mulmig. Er sah alte Rosenstöcke, die sich um leere Steinsockel rankten. Nur ein Sockel schien den Kopf eines Archenholds zu tragen. Auf zwei Granitquadern las er die Namen von Galilei und Galle, warum waren sie weg? Er sprang ein paar Stufen hoch und ein bronzener Riese von einem Archimedes mit einem kleinen Stab in der Hand fläzte sich im Schneidersitz vor ihm. Sein Wissensdurst war fürs erste gestillt. Er warf Archimedes einen eiligen Abschiedsgruß zu und haute ab.

Am Abend erzählte er seiner Mutter von der Sonnenuhr in diesem verblüffenden Garten, die einen schwarzen Strich auf die Zehn geworfen hatte. Aber wie funktionierte diese Uhr bloß? Jana sagte: »Mein Kleiner, mit diesem geschlossenen Gelehrtengarten beginnt für uns eine neue Geschichte. Ich rufe heute abend Huber an, wenn du schläfst.«

*

Natalie war 26. Sie wußte, daß sie schön war, aber öfters bemühte sie sich, daß es nicht so auffällt. Vor drei Wochen hatte sie beschlossen, aus ihrer Wohnung auszuziehen. Morgen sollte der Umzug sein. Sie wollte zu ihrer kleinen Schwester ziehen, wie schon zweimal in den letzten Jahren. Ein interessantes Wort, »Umzug«, dachte sie, früher war ihr die Welt erschienen als langandauernder Umzug bis ans Ende aller Möglichkeiten.

Sie war nicht mal traurig, fühlte sich eher wie die Verkäuferin eines leeren Supermarktes, in dem die Regale ausgeräumt worden waren. Der Typ war es nicht wert, seinetwegen Kummer zu haben. Zwei Stunden hatte sie ihren Zorn gebraucht, um sieben Kisten zusammenzupacken. Sie kämmte ihre langen, lockigen Haare, zog sich ihre Jacke an, knallte die Tür zu, ging zur S-Bahn und fuhr bis Sonnenallee. Natalie ging über die Straße und blieb vor einem Laden stehen, über dem stand »Schnitzophrenie«. Sie guckte ins Fenster und sah eine kleine Holzballerina. Wie teuer war die wohl? Das wollte sie nach ihrem Umzug den Holzschnitzer fragen. Sie lachte und wunderte sich, daß sie so vergnügt war.

*

Als Jana Huber anrief, weckte sie ihn. Er war ihr schlechter, aber lustiger Liebhaber seit ihrer Flußreise gegen den Autobahnbau vor sechs Monaten. Als sie ihm von Johannas Brief erzählte, hörte sie erst gar nichts mehr, schließlich einen Jubelschrei und dann ein Tuten in der Leitung. Eine Stunde später war er da, zehn Jahre jünger als vor drei Tagen. Später standen sie dann unter der Dusche und küßten sich überall.

*

Endlich sah man sich wieder. Johanna, ihr neuer Bräutigam, der alte Kapitän Kurt Schwederski, Jana, Nicolaj und Huber mit seinem Bruder Paul standen am Zaun des Gelehrtengartens, Paul hatte ihn vorher aufflexen müssen. Mit ihren 78 Jahren und ihren einmeterfünfundachtzig war Johanna Meusel eine Frau, auf die man aufmerksam wurde, wo immer sie auch auftauchte. Sie bat um Ruhe und sprach: »Ich bin froh, euch bei der Wiedereröffnung dieser kleinen Gelehrtenrepublik wiederzutreffen. Kurt und mir ist es gut ergangen. Es ist schwer, ein alter Mensch zu sein, und doch lebt die Leidenschaft bis in meine Fingerkuppen. Wir sprechen ab und zu über die letzte Seite unseres Lebens, aber immer sehe ich euch, träume ich von euch. Und sehe, wie ihr euch einbringt in den Weltenlauf. Da vorne im Kabinett haben sie Umlenkungsmaschinen für Sonnenstrahlen, hier hat Archenhold Sonnenflecken beobachtet. Durch das Fernrohr, die Riesenkanone, die hinter euch steht, entdeckte er einen Nebel im Sternenbild Perseus, den noch kein Auge vorher gesehen hatte. Wir gehen jetzt an seinen Gedenkort. Seine jüdische Frau Alice2 und seine Tochter wurden ins KZ Theresienstadt verschleppt und dort ermordet, er wurde als Direktor des Planetariums3 abgesetzt. Der DDR verdanken wir den heutigen Namen Archenhold-Sternwarte.«

Die Gruppe schwieg und Nicolaj strich Archimedes über den bronzenen Bart. Jetzt hatte er keine Angst mehr. Zu seinen Füßen hatte Paul das Essen vorbereitet, Tomatenschnitten mit Zwiebeln und portugiesischen grünen Wein. Sie saßen recht ruhig und horchten den Parkvögeln nach. Huber sagte leise: »Seit unserer großen gemeinsamen Zeit bin ich die A-100-Trassenführung entlang, jetzt NATO-Draht gesichert, habe mit den alten Leuten gesprochen, die zu Hunderten ihre Lauben räumen müssen, die Gartenkolonien ›Ruhleben‹, ›Ruhleben II‹, ›Rose‹ und ›Stadtbär‹, alle sind jetzt dabei umzuziehen.«

Johanna schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab: »Huber, du sprichst den Inhalt unseres Vorhabens an, ohne ihn zu kennen. Unsere Gruppe wird sich demnächst nomadisch durch Berlin bewegen. Eingreifmöglichkeiten ergeben sich dabei für uns bei den Umzügen in dieser Stadt. Davon finden jeden Tag Hunderte statt. Für die Umherziehenden resultieren sie aus Tod, Erbschaft oder Schulden, Liebe und verlorener Liebe, Arbeitslosigkeit oder Neuanstellung, Ankommen und Ausgrenzung.«

Sie nahm ihr Kopftuch ab, strich sich durchs Haar und steckte es fester. Kurt Schwederski kramte im Jackett nach seiner Pfeife. Er trat zurück unter das Laubwerk einer Buche. Er hatte ein halbes Jahr hinter sich mit Johanna. Früher wäre er nicht mal in der Lage gewesen, sich eine so großartige Zeit zu erträumen. Er war sein Leben lang zur See gefahren, das Mittelmeer in seinen Tausenden Stunden und Wellenkämmen war ihm vertrauter als Berlin. Doch das Leben mit dieser Frau zu teilen, trieb ihn an, sich vieler lästiger Gewohnheiten zu entledigen. So hatten sie die Zeitumstellung letztes Jahr ignoriert. Das Leben war weniger getrieben geworden. Sie hatten sich Zeit gelassen beim Lesen des Ramonet-Interviewbuches mit Fidel Castro und versucht, länger durchzuhalten, als Fidels Worte dauerten, aber manchmal schliefen sie einfach ineinandergesunken ein. Wie das Bauernpaar in der schattigen Mittagspause von Picasso.

*

Kuba. Schwederski war da gewesen. Ein Land, dessen Bewohner seit fast fünfzig Jahren den verheerenden Auswirkungen eines Wirtschaftsembargos Tag für Tag trotzten. Johanna war vor allem abgestoßen von der Verleumdung Kubas als Menschenrechtsverletzer bei gleichzeitiger Genehmigung von CIA-Foltergefängnissen in Osteuropa und der geheimen Verschleppung von arabischen Gefangenen dorthin. Die meisten Intellektuellen in Europa verabscheuten Kuba. »Warum machen sie das?« flüsterte Schwederski. »Es ist die einzige Möglichkeit, in einem Scheißleben nicht unglücklich, sondern zufrieden zu sein«, sagte Johanna.

Wir sind alt, wir können die Welt nicht mehr aus den Angeln heben«, stöhnte Schwederski. »Aus den Angeln heben nicht, aber reinhauen können wir schon noch, daß die Taler vom Tisch springen und auf der anderen Seite des Globus wieder runterfallen. Es ist die Eigentumsfrage, mit der die kubanische Doktrin der weltweiten Solidarität ausgehebelt wird.«

»Was meinst du, Johanna, was sollen wir tun?«

»Stehlen, klemmen, abziehen, das Eigentum wechseln wie du morgen, hoffe ich, deine Strümpfe!«

*

Dieser Wiedereröffnung des Gelehrtengartens wohnte alles inne, was Schwederski sich für ihr Wiedersehen erwünscht hatte. Johanna hatte nur Andeutungen gemacht, und alle hatten jetzt genug Platz, in die Geschichte gut reinzukommen. Später saßen sie in bequemen Planetariumssesseln und fast in der Horizontalen beobachteten sie den Nachthimmel der Nordhalbkugel. Hoch im Süden das Sonnendreieck aus den Sternen Deneb, Wega und Atair. Nicolaj probierte die Feder seines Stuhles aus, Schwederski knurrte wie ein hungriges Rind, als die freundliche Sternwartenprofessorenstimme den Himmelsäquator nach Süden überschritt.

*

Abends waren sie in Janas Wohnung. Huber bat Johanna um die Beschreibung des neuen Ziels. »Gut, Huber, daß du wieder dabei bist, Kurt und ich haben als Tatort die Lahnstraße ausgesucht, Oberhafengelände im weiten Neukölln.« »Warum da?« wollte Huber wissen. Johanna hielt eine Rede: »Die Hafenstraße grenzt hier an einen grandiosen Schrotthaufen, ein Kranfahrer sortiert die Teile in verschiedene skurrile Berge, ein Wahrzeichen Berlins. Weiter runter Autowaschstraßen, die Nanotechnologie gegen aggressive Verschmutzung anbieten, kaputte Kaffeemaschine beim Bäcker. Einkaufszentrum, Tierfutterladen, Tiefkühllogistik, Kunststoffspritztechnik. Lahnstraße ist Vorhölle: Produktionsstätte und Schattenwelt. Die Wirklichkeit ist kaum noch zu unterscheiden von der Simulation derselben. Man sitzt vor einer Fünfzig-Dezibel-Waschanlage und frühstückt. Nichts ist zu erkennen, erkennungswert. Wir sollten den Leuten eine Chance geben, eine Idee, daß sie nicht so lange dasitzen, bis sie ihre Wünsche vergessen haben.

Hier verslumt Berlin. Wenn der Mensch von der Simulation der Wirklichkeit darin gehindert wird, die eigenen Sinne beisammenzuhalten. Aber Lahnstraße ist auch keck. Das ist der uns zugewandte Teil und in seiner Dynamik uneinschätzbar. Eine farbige Frau sagte mir, daß sie jetzt öfter Liebesbriefe vom Präsidenten bekommt, aber keine Angst mehr hat vor den Bullen. Ein Obdachloser fragte mich nach einer Alibiwohnung, und seine Begleiterin setzte hinzu, vielleicht sollten wir hier lieber abhauen. Sie werden nicht abgehauen sein, irgendwo werden sie da sein und mit uns agieren, wenn wir loslegen.

Wir suchten nach öffentlichem Raum, fanden nur die Hafenkantine der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. In Betonwände eingeklemmt standen zwanzig von ihnen und rauchten. Einer sagte, die Armut wird hier verschwiegen, die Kantine ist wegen Wasserrohrbruch geschlossen. Sie schrauben seit Dekaden Plastikschläuche an Waschmaschinen. Wir werden dort als erstes den Umzugsladen unter die Lupe nehmen.«

Johanna umfaßte Nicolajs Schulter. Huber legte »Giant Steps« von John Coltrane auf. Morgen früh wollten sie aufbrechen.

*

Ben saß vor einer kleinen palästinensischen Bäckerei und trank einen Tee. Er wartete auf Yasmina, seine Frau. Sie hatten vor vier Wochen geheiratet. Ben war 25 und kam aus Algier, Yasmina hatte er schon als Siebenjähriger geliebt, und es schien ihm, als ob das Glück ein Pferd sei, auf dem er den verschiedensten Hindernissen ausgewichen war und ganz in ihre gemeinsame Kraft vertrauend die tiefsten Schluchten übersprungen hatte. Sie zogen heute um. Yasmina erschien im Blaumann. Darüber trug sie eine alte braune Lederjacke. Sie lachte, Ben musterte sie und faßte sie bei den Händen. Er bezahlte, und sie gingen Arm in Arm die Sonnenallee hinunter.

Nach und nach trafen die Mitglieder der Gruppe beim Umzugsdiscounter ein. Johanna stand da und sondierte. Schwederski und sein Pflegesohn Victor kamen in Monteursklamotten, Paul trug einen Netto-Kittel. Jana sah aus wie eine Carmen auf der Bühne der Mailänder Scala. Sie trug ihre langen schwarzen Haare offen, die Sonne ließ ihr buntes Kleid funkeln und Nicolaj dachte an die Sonnenuhr im Garten. Er trug eine Baseballmütze, auf der stand »Treptower Park – Platanenretter«. Huber kam wie immer als der in der Zeit stehengebliebene John Lennon, mit dem tranigen »Imagine all the people«-Blick stellte er sich in die lange Warteschlange vor die Containerbüros der Firma. Es war nur ein großer Raum, zusammengestellt aus drei Containern. Der vierte Container war eine Abstellkammer für Sackkarren und gleichzeitig der Aufenthaltsraum für vier Angestellte, mindestens vier dachte Huber, das würde schwerer als geplant, sie waren von höchstens drei Leuten ausgegangen.

*

Paul und Victor verteilten Einladungen beim Netto-Bäcker, bei Lidl, und vor der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Hier wanderte die Karte durch die rauchende Menge. Eine sehr kleine Frau mit rotem Mantel ging unruhig hin und her und sagte: »Es soll gefeiert werden für die Lahnstraße, heute nach Feierabend, wir gehen hin, ja? Vielleicht wird aufgespielt zum Tanz.« Einige nickten und schnell zerteilte sich die Gruppe, weil die Pause zu Ende war.

Nicolaj und zwei Asse aus seinem Eishockeyteam verteilten im Futterladen, beim Asia-Imbiß und bei Curry-Pelle. Dort vor dem Imbißwagen tippte ein Mann mit einer Plastikgabel gegen die Einladungskarte und las murmelnd:

»SIND WIR NICHT ALLE DER TAPFERE KLEINE ARTIST, DER AUF DEM SICH SCHNELL DREHENDEN BALL LÄUFT UND TRAMPELT? UND ER WEISS GANZ GENAU, IN JEDER SEKUNDE, DASS ER ABSTÜRZEN WIRD. ABER BIS DAHIN WIRD ER OBENAUF BLEIBEN!

WIR SIND DER NEUE LAHNSTASSENFREUNDESKREIS, DER SICH ZUM ZIEL GESETZT HAT, DEN ÖFFENTLICHEN RAUM IN DIESER UMGEBUNG ZU BELEBEN. WIR LADEN SIE ZU EINER TASSE KAFFEE UND SELBSTGEBACKENEN ZIMTSCHNECKEN EIN UND SORGEN FÜR EIN LUSTIGES BEISAMMENSEIN! HEUTE UM 17.30 VOR DEM UMZUGSDISCOUNTER, LAHNSTRASSE 36–40. WIE BELEBT DER ÖFFENTLICHE RAUM WIRD, LIEGT AN IHNEN!«

Der Mann sah sich das Foto einer Frau an, das neben dem Text war, es war ein Urlausfoto von Jana auf Rügen, ihre schwarzen, runden Augen geisterten durch seinen Kopf, und er sagte zu seinem Nebenmann: »Lies’ ma, Herrmann, ne dolle Braut. Det guck ick mir an, det kannste globen.«

*

Johanna hatte drei Musiker bestellt, mit denen sie befreundet war. Ein bulgarisches Trio – Trompete, Ziehharmonika und Perkussion. Paul schloß ein Mikro an einen kleinen Verstärker an, der über Baustellenbatterien lief, und spannte einen Sonnenschirm auf. Er stellte einen Campingtisch auf und davor einen ausgedienten Hocker.

Johanna, Schwederski und Nicolaj begrüßten die Ankommenden mit Zimtschnecken.

»Tja, da sind wir auch schon«, sprach Jana als erste, und Victor hämmerte mit der Faust auf den kleinen Tisch, bis Ruhe war. »Da sind wir, eine nomadische Gesellschaft mit erstaunlichen Mitgliedern. Wir wollen die Lahn-Community kennenlernen und auch die Leute, die heute hier sind, weil sie eine Karre brauchen für ihren Umzug.« Sie fragte jemanden: »Der wievielte Umzug ist das in Ihrem Leben?« Die Frau mit der roten Jacke aus der Werkstatt für Menschen mit Behinderung sagte leise vor sich hin, Jana mußte den Satz über das Mikrofon wiederholen: »Meine Großmutter hat gesagt, wer dreimal umzieht, ist einmal abgebrannt.« Jetzt ging das erste Gelächter los, und Ben hob den linken Arm. Jana ging zu ihm und Ben umfaßte Yasmina. Die nahm seinen Arm von ihrer Hüfte. »Wir sind munter aufgewacht in unserer beschissenen Wohnung und haben bald ein Zimmer mehr in der Karl-Marx-Straße.« Applaus kam auf.

*

Die Angestellten glotzten schon aus den Containerfenstern. Sie hatten wenig Zeit, acht Minuten für das Fest hatte Johanna gerechnet, dann würden die Bullen spätestens auftauchen. Jana aber sprach ruhig, als könnte nicht schon der nächste blöde Zufall der Aschermittwoch ihrer Arbeit sein. Ein Typ mit Chefgebaren ging an die gerade angekommenen Umzugswagen, kontrollierte ihren Innenraum und mit einem Scanner fuhr er am Fahrerhaus über den kleinen Fahrzeugcode. Er schnauzte eine junge Frau an, die ihm die Wagenpapiere gab, drückte ihr Besen und Schippe in die Hand und die Frau stieg auf die Ladeklappe. Viele pfiffen, nachdem Nicolaj einen Pfiff losgelassen hatte, der selbst die Möwen auf dem Dach der Müllfirma aufschreckte.

Die Check-in-Mann der Firma ging jetzt in die Nähe des Sonnenschirms und sprach Schwederski an: »Wat gibt’s denn heute zu feiern, junger Mann?« Allen mißfiel sein Ton. Der Alte machte langsam den Mund zu und wieder auf. »Darf ich mich vorstellen«, sprach Schwederski dann langsam, während Paul dem Kerl den einzigen Platz anbot, »ich bin ein alter Flußkapitän und frage Sie, ob Sie bereit sind, von meiner Tochter zu erfahren, wie lange Sie noch leben?« Dem Mann sackte die linke Schulter etwas weg, als hätte sich ein grünes, giftiges Reptil dorthin gesetzt.

Jana durchbohrte ihn mit ihrem Blick und plötzlich motzte er los: »Ja, aber dalli-dalli, da fährt schon der nächste Wagen rein!« Jana massierte seine Handinnenflächen und Helmut, der Mann, der eben bei Curry-Pelle gesessen hatte, rief: »Das soll sie auch bei mir machen« und erntete höhnisches Gelächter. Jana hielt ihrem Probanden die Hand vor die Augen und flüsterte ihm ins Ohr: »Verändern Sie ihr Leben, sonst ist es bald zu Ende.«

*

Natalie war in der Warteschlange nach vorne gerückt bis an die Theke, doch sie hatten sie zurückgeschickt zum Check-in-Mann. Der war vom Hocker hochgeschnellt, als sie ihn ansprach: »Entschuldigen se, mir ist jemand beim Parken links in den Blinker rein, ich kann nichts dafür, und Ihre Kollegen wollen mir die Kaution nicht wiedergeben.« »Was geht mich das an?« brüllte er sie an. »Ich brauche sofort mein Geld zurück!« schrie Natalie zurück. Auf ein Zeichen Johannas begann die kleine Kapelle, ihre beliebte Zirkusrevue zu spielen, und der Kontrollchef setzte sich wieder auf den Hocker, denn die vielen erwartungsvollen Gesichter, die nur ihn anblickten, taten ihm jetzt wohl. Die Frau in dem roten Mantel sagte: »Geben Sie der Frau die Kaution zurück, die Miete muß doch bezahlt werden von ihrer neuen Wohnung.« Diesmal sprach sie laut und klar, und Jana drückte den hochschnellenden Kontroller wieder auf den Hocker. Es waren jetzt vielleicht vierzig Gäste.

Die Menge schob sich aufgeregt Richtung Büro. Jemand rief plötzlich »Geld z-u-r-ü-c-k, Geld z-u-r-ü-c-k«, und einige fielen rhythmisch ein. Huber sah, wie zwei der Typen hinter der Theke hervorkamen, und der jüngere von beiden machte den ersten Fehler. Er drohte der Menge, wendete sich wie ein eitler Gockel hin und her, seine alte Duce-Nummer, aber er hatte vergessen, erst die Menge für sich zu gewinnen, bevor sie zu führen war. Sein zweiter Fehler war, daß er nicht mehr zurückging ins Büro. Und seine beiden Kollegen taten es ihm gleich und machten Fotos mit ihren Handys, die ersten und einzigen des Festes.

Natalies Verzweiflung schlug um in Wut. So hatte sie sich ihren ersten Unabhängigkeitstag nach neun Jahren nicht vorgestellt. Der Trompeter legte jetzt ein atemberaubendes Tempo vor, dem die beiden anderen Musiker nicht mehr folgen konnten. Victor schob die beiden Angestellten von der Tür weg und redete auf die Umzugsagenten ein. Jetzt nahm der Duce sein Handy und drückte die 110. Nicolaj bewegte sich im Entengang durch das Gedränge hinter die Theke, schnappte sich vom Schlüsselbrett alle Schlüssel mit Benz-Stern, die er erreichen konnte. Dann gab Nicolaj Victor ein Zeichen, der daraufhin zu Natalie lief und ihr salutierend wie ein Soldat des Volkes zwei grüne Hunderter überreichte. Natalie umarmte ihn, drehte sich dann langsam um und lächelte ungläubig, doch die Festgesellschaft applaudierte dankbar. Johanna bat die Kapelle um einen letzten Walzer. Jana flüsterte dem Kontrollchef zu: »Wenn du lächelst, siehst du richtig sexy aus!« Er griente und schwieg.

*

Hinter den Containern steckte Nicolaj Johanna die Schlüsselpaare auf ihre Finger der linken Hand als wären es kostbare Ringe. Paul schnitt neben ihr die Kärtchen mit den Autokennzeichen von den Schlüsseln.

In zwanzig Sekunden wußte Nicolaj, wo welcher Wagen stand und zeigte sie Johanna. Während sie die Autoschlüssel an das ausgesuchte Publikum verteilte, ging der Duce wieder rein und glaubte tatsächlich, er hätte die Stimmung herumgerissen. Natalie wurde von vielen die Hand geschüttelt, und Huber steckte ihr einen Zettel zu, den sie überrascht in ihre Innentasche steckte. Ben und Yasmina nahmen einen Schlüssel, die Frau mit dem roten Mantel ebenfalls. Den dritten Schlüssel gab Johanna der farbigen Frau, die sie beim Netto-Bäcker kennengelernt hatte. Sie begriff sofort alles, und Johanna nickte nur. Victor fing an, wie ein rasender Hausmeister die Menge vom Hof zu schieben.

*

Als sich die Leute zerstreuten, saß der Check-in-Mann immer noch rauchend auf seinem rostigen Hocker. Als die farbige Frau eine Minute später mit einem nagelneuen Mercedes-Sprinter an ihm vorbeikurvte, verstand er gar nichts und winkte gar, und die Fahrerin warf ihm einen Kuß zu. Als der erste Streifenwagen auf den Hof fuhr, verließ gerade der sechste Sprinter das Grundstück. Es fuhren auch schon wieder neue Karren ein und der Kontrollchef begann wie in Trance mit ihrer Abfertigung und sammelte die Schlüssel ein und scannte und scannte.

Das kleine Fest hatte keine zehn Minuten gedauert, die letzten Krümel der Zimtschnecken teilten sich drei Spatzen. Im dichten Verkehr fuhren die Transporter durch Neukölln, und in Höhe der Baumschulenstraße bogen sie die Sonnenallee rechts ab Richtung Arboretum, dem alten Baumgarten im Süden Treptows, und parkten an verschiedenen Ecken der Kleingärten.

*

Am Abend kamen Kollegen von Paul und holten die fünf Wagen ab. Ein KFZ-Mechaniker wartete schon in Weißensee in einer Lackiererei, um sie umzuspritzen. Ein Transporter wurde auseinandergeschraubt und bis auf die Karosserie in seinen Einzelteilen in den anderen Wagen verstaut. Die farbige Frau war mit ihrem Begleiter nicht hergekommen, aber das hatte Johanna geahnt. Schade, die Zeit des Kennenlernens war zu kurz gewesen.

*

Am nächsten Tag trafen sich alle gegen Mittag vor dem Arboretum wieder, direkt vor der alten, ehemaligen Villa des ehemaligen Gartenbaudirektors. Die Bäume warfen Schatten auf die Steingärten und deren verschlungene Pfade. Schwederski dachte bei der alten Krimlinde am Teich an orientalische Muster auf einem Markt in Aden, wo er die schönsten Menschen der Welt gesehen hatte, damals vor dreißig Jahren. Huber notierte in einem kleinen Block einige Namen, um sie später auswendig zu lernen – kaukasische Zeitlose, Zwerglärche, iranischer Samtahorn, Schwarzuferbirke und chinesische Sicheltanne. Die Früchte des Purpurapfels würde er im Oktober probieren.

Johanna holte alle in die Realität hinter dem Zaun zurück: »Sprechen wir über gestern, Ihr sollt jetzt wissen, wofür wir in der Lahnstraße waren. Dort im Lidl gab es auch Bäume, kleine serbische Apfelbäume. Ein Baum kostete 1 Euro und 99 Cent. Die NATO hat die Preise runtergebombt. Ich habe einen gekauft, um ihn hier heute zu pflanzen. Arbor ist lateinisch: der Baum. Damit wird dieses Arboretum zu einem Kulturerbe gegen den imperialistischen Krieg.« Huber hatte schon ein Loch gegraben, und da stand der Ex-Jugo auch schon, schief und fast ohne Blattwerk. Nicolaj goß ihn an mit einer Flasche Mineralwasser. Johanna sprach weiter: »Gut, das war nur so ein Schlenker. Von Symbolen wird die Menschheit nicht satt.

Vier Transporter kommen nach Kuba, einer davon in Ersatzteile zerlegt als Ladung. Die Kubaner brauchen die Autos beim Katastrophenschutz. Der fünfte Benz wird verkauft, der Erlös geht an uns, die Frau mit dem roten Mantel und an Yasmina und Ben. Kurt kennt einen alten Zöllner in Rostock, der uns dabei hilft, die Transporter in die Karibik zu schaffen.« Natalie stand neben ihr und gab Johanna ein Taschentuch. Yasmina sagte: »Wir müssen los, hier ist unsere neue Adresse. Wenn wir sparen, fliegen wir zum Neujahr von Algier nach Havanna, falls es da einen direkten Flieger gibt. Das war ein schöner Umzug, ich danke euch.«

»Bis bald«, rief Nicolaj auf der Krimlinde sitzend herunter und pfiff.

Krimlinde. Photo: shops.ricardo.ch

 

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2012/02/15/helle-haufen/

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