vonHelmut Höge 10.04.2012

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Ägyptische Kaninchen

 

Dürer-Hase

 

In Ägypten gibt es Kaninchenfarmen und Kaninchen-Fellexporteure, sie kommen jedoch nicht wie die Katzen von dort, sondern wurden angeblich vor 1500 Jahren zuerst in Frankreich domestiziert. Auch scheinen sie gegen den Kairo-Virus immun zu sein, nicht jedoch gegen den Myxomatose-Virus, mit dem man z.B. die vor rund 150 Jahren in Australien und Neuseeland eingeführten Kaninchen bekämpft.

Auf Wikipedia heißt es dazu: „Im Verlauf eines epidemischen Zyklus, an dessen Beginn meist ein hochvirulenter Virusstamm steht und eine Sterblichkeit von bis zu 100 % nach sich zieht, kommt es zunehmend zu milderen oder atypischen Verläufen durch Abschwächung und Anpassung des Virus an die Wirte. Das ursprünglich aus Südamerika stammende Myxomatosevirus ist in ganz Mitteleuropa verbreitet. Die nord- und südamerikanischen Kaninchenarten (Baumwollschwanzkaninchen) zeigen nur geringe oder gar keine Krankheitserscheinungen und stellen ein natürliches Erregerreservoir dar. Feldhasen sind für das Myxomatosevirus nur wenig empfindlich. Selbst bei hohem Infektionsdruck erkranken maximal 1 % der Feldhasen.“

Ich hatte als Kind zwei Kaninchen, die auf einer Insel im Moor lebten. Eines Nachts wurden sie von einem Marder getötet. Eine Freundin hatte – für ihre Kinder – bis vor kurzem drei. Als das ihnen liebste überraschend an einer Herzschwäche starb, war die Trauer groß.  Dabei handelte es sich ebenso wie bei den zwei anderen um Zwerg- oder Balkonkaninchen, die wie die Meerschweinchen immer puscheliger gezüchtet werden. In der Regel werden ihre Nachkommen von Kind zu Kind weitergegeben und dementsprechend gibt es sie in den kinderreichen Bezirken Berlins schon fast auf jedem Balkon. Die Kinder von Wladimir Kaminer halten ihre Kaninchen zusammen mit denen von einigen anderen Kindern im Haus auf dem Hinterhof in einem kleinen Gehege.

Bei einer Bekannten vermehrten sich die Balkonkaninchen ihres Kindes derart schnell, dass sich dagegen nicht genug Abnehmer im Freundeskreis des Kindes finden ließen, auch die Kinderbauernhöfe nahmen bald keine mehr an: „Wir wissen nicht mehr wohin mit den ganzen Kaninchen, die uns von den Müttern gebracht werden,“ hieß es. Auf ihren Wunsch hin nahm ich mehrmals einige der Tiere an mich und ließ sie auf dem riesigen Bahngelände zwischen Wedding und Prenzlauer Berg frei, ahnend, dass diese Haustiere in der dortigen Freiheit nicht lange überleben würden. Zuletzt überredete ich sie, die Kaninchen ihrer Tochter beim Zoo oder im Tierpark abzugeben, wo man sie verfüttert. Den ersten Schwung brachte ich selbst in den Zoo:

Am Zoobetriebshof fragte mich der Pförtner nur knapp: „Sie wissen, wo es lang geht?! Vorne links und dann auf die Rampe. Ich rufe durch, damit jemand die Tiere in Empfang nimmt.“ Mitunter bilden sich dort regelrechte Schlangen von Müttern, die die „Pets“ ihrer Kinder loswerden wollen, dabei handelt es sich meistens um Kaninchen, Hamster und Meerschweinchen.

Viele Mütter kennen sich bereits: „Na, auch wieder da – um den neuen Wurf zu entsorgen?!“ Die süßen Zwergnager gehören inzwischen zur Grundnahrung der Raubtiere und -vögel des Zoos. Auch die Schlangen und Krokodile greifen gerne auf sie zurück. Die meisten Kleintiere sind biologisch-dynamisch ernährt, jung und quasi frisch.

„Was soll ich machen?“ fragt eine Frau, die „alle sechs bis acht Wochen drei bis vier ,Balkonkaninchen'“ anliefert, „die Kinderbauernhöfe sind rappelvoll, sie beliefern selbst die Zoos, die Tierhandlungen nehmen schon lange keine Zwergnager mehr und sie im Winter auszusetzen, das bringe ich nicht übers Herz, die sind doch mit Zentralheizung groß geworden. Noch scheußlicher ist es, sie durchs Klo zu spülen – das machen auch viele. Diese ganze Qual rührt nur daher, daß meine Tochter sich standhaft weigert, ihren Kaninchenbock endlich kastrieren zu lassen“.

Die Zoowärterinnen, die die Tiere auf der Rampe in Empfang nehmen, kennen das Dilemma. Eine meint tröstend, als sie wieder drei Kaninchen in die riesige Box zu den Meerschweinchen sperrt: „Die gewöhnen sich schnell ein“, fügt dann jedoch leise hinzu: „aber bis sie sich eingelebt haben, sind sie längst weg!“ – d.h. verfüttert.

Das neue Tierheim in Falkenberg ist von der Ausdehnung her – es erstreckt sich „über 30 Fußballfelder“ – fast ein dritter Zoo in Berlin. Und tatsächlich tragen auch immer mehr Mütter ihre Kleintierbrut jetzt dort hin. Die Hundeabteilung des Tierheims ist besonders üppig dimensioniert. Und es ist schwieriger, dort einen Hund zu adoptieren als z. B. in Vietnam ein Kind zu kaufen. Auch bei der SFB-Abendschau heißen die Hunde seit 1968 stets „unsere vierbeinigen Lieblinge“, d.h. seitdem die Kommune 1 einmal an der Gedächtniskirche aus Protest gegen den Vietnamkrieg der Amis (USA – SA – SS) einen Dackel verbrennen wollte. Die Millionen Icke-Berliner gerieten wegen dieser Ankündigung sofort in Lynch-Laune – gegen die verfickten Hippies der Kommune, von denen einer auch noch Teufel hieß.

In Falkenberg – „der Stadt der Tiere“ – nehmen die Hundekäfige inzwischen das Zentrum ein. Links vom Eingang sind die Katzen untergebracht: Sie haben „einen unverstellten Blick auf die Falkenberger Feldflur“. Rechts neben dem „Service-Bereich“ befinden sich die Kleintiere: Meerschweinchen, Ratten, Chinchillas, Kaninchen, Goldhamster, Mäuse usw. Theoretisch könnte man diese nun ständig von hier nach da – das heißt in Zoo und Tierpark – tragen. Aber das macht man nicht.

Kürzlich besichtigte der indische Veterinär Putlab Majid das Falkenberger Tierheim. Dr. Majid leitet ein Altersheim für Tiere bei Bombay. In dieser für Indien nicht unüblichen Anstalt werden neben einer Anzahl alter Rinder und Hunde sowie Esel auch vier Kobras und sogar zwei Skorpionen ihre letzten Lebenstage versüßt. „Unser Haus ist von daher sehr gemütlich. Aber das hier ist natürlich auch sehr beeindruckend – vor allem seine Architektur und seine schiere Größe,“ meinte Dr. Majid nach der Besichtigung.

Interessant fand er am Konzept die Umdrehung der Sorge um Tier und Mensch – für letztere hat das neue Tierheim wenig übrig: Die so genannten Beratungsbüros, in denen es um die Vermittlung zwischen dem Tier und seinem neuen Besitzer geht, ähneln kalifornischen Knastzellen, und die Pausenräume, sogar die Bungalows der Bereichsleiter sind fensterlos! Damit habe man doch die Gleichberechtigung weit überschritten, fand Dr.Majid.

Beuys-Hase

…Das obige schrieb ich vor einigen Jahren in einer taz-Kaninchen-Kolumne. Nun – zu Ostern – hat Martin Reichert sich erneut des Themas angenommen – und wurde dafür auf der Redaktionskonferenz sehr gelobt:

Wer? Was? Wann? Wo? Wie? Ohne diese fünf Wörter geht im Journalismus gar nichts. Und genauso gilt dort, dass man einen Text mit einem Satz beginnt, der den Leser so in den Artikel zieht, dass er ganz sicher bis zum letzten Anschlag weiterliest. Bei diesem Text ist das der Satz: Ohne die Kaninchenzüchtervereine wäre der deutsche Journalismus am Ende.

Diese Geschichte handelt davon, dass Journalisten ihr Handwerk häufig bei Lokalzeitungen lernen und dort dazu verdonnert werden, über Ehrungen langjähriger Mitglieder von Kaninchenzüchtervereinen zu berichten, bevor sie – sagen wir – zum Spiegel gehen oder zur FAZ.

Wer? Der Autor dieses Textes fing als Freier Mitarbeiter beim Trierischen Volksfreund an.

Wann? Dies begab sich zu einer Zeit, in der Artikel mit elektrischen Schreibmaschinen auf Manuskriptpapier – mit vorgegebener Spaltenbreite – gehämmert und Fotos auf Schwarz-Weiß-Film gebannt wurde, bevor ein Bote beides in die Druckerei brachte. Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger.

Wie? Die Geschichte funktioniert so: Der Autor besucht zwei Kaninchenzüchtervereine, die gibt es nämlich immer noch, obwohl sie unter Journalisten längst zu einem Running Gag verkommen sind.

Wo? Besucht wird ein Kaninchenzuchtverein in der Hauptstadt des Hauptstadtjournalismus. In Berlin, also dort, wo man zunächst nicht mit Kaninchenzüchtervereinen rechnet. Der Fokus soll auf die „Frauengruppen“ des Vereins gerichtet sein, weil das unerwartbar ist und diskursiv gut einzubetten. In der Redaktion sagt man: Das ist der Dreh. Und dann noch einen in der Kleinstadt Wittlich, Rheinland-Pfalz, heute „moderne Provinz“. Der Autor hat dort einst sein Handwerk gelernt – er schrieb genau über den Verein, den er nun besuchen wird. Neunzehn Jahre alt war er damals. Genauso alt wie der junge Lokaljournalist, den er dort treffen wird, um mit ihm über Kaninchenzüchtervereine, Handwerk und die Zukunft des Journalismus zu sprechen. Aber nicht nur. Artikel müssen sich aufblasen, es darf nicht nur um Hasen gehen. Sondern auch um Frau und Mann, Heimat und Ferne, Leben und Tod.

Es fehlt nun noch ein sechstes Wort mit W: Warum? Weil Ostern ist und Journalisten Themen gerne aktuell aufhängen. Es ist dabei egal, ob der Osterhase ein Hase oder ein Kaninchen ist, weil den Unterschied kaum ein Mensch kennt – das wäre allerdings zu recherchieren. Die Recherche nämlich gilt als letzter Unique Selling Point des Journalismus in der Krise: Die Zeitungsauflagen sinken seit Jahren und eine ganze Branche brütet über der Frage, wie man mit Journalismus im Internet Geld verdienen, also Redakteursgehälter bezahlen kann. Journalisten beschäftigen sich gerne mit sich selbst, deshalb geht es in dieser Geschichte nicht bloß um Kaninchen, sondern auch um den Journalismus. Und nach diesem komplett unzulässigen Einstieg geht es jetzt richtig los mit der Geschichte, wieder mit einem tollen Einstiegssatz, und das alles – immer noch – auf Papier gedruckt:

In Berlin tätowiert man Kaninchen den Buchstaben D in die Innenseiten ihrer Ohren. (Gut, oder?) Das D steht unerklärlicherweise für den Landesverband Berlin-Brandenburg, in dem sämtliche Kaninchenzüchtervereine der Region vereint sind und ist ein Teil der Kaninchenkennzeichnung. Es sind nicht irgendwelche Kaninchen, sondern hochgezüchtete Rassekaninchen. Sie müssen perfekt gewachsen sein, sie müssen Wettbewerbe bestehen und Auszeichnungen gewinnen. Wenn sie zum Beispiel ein Doppelkinn haben, dann wird ihnen das Fell über die Ohren gezogen und sie kommen in den Kochtopf: So wird es in ganz Deutschland gemacht, und so macht man es auch in Berlin-Lichtenrade, einem Einfamilienhäuser-Viertel am Rande des alten Westberlin.

In einem dieser Häuser wohnen Karin Seipp, Jahrgang 1944, und Harald Seipp, Jahrgang 1941. Beide sind im Kleintierzuchtverein D 380 Buckow – und Karin Seipp leitet dessen Frauengruppe: „Wir sind vierzehn Frauen – der Altersdurchschnitt liegt allerdings bei 68 Jahren. Es ist schwer für uns, Nachwuchs zu finden – und das ist schade, weil so Know-how verloren geht. Man braucht Geschick. Und es ist eben Arbeit“, erzählt Karin Seipp am Esstisch, während ihr Mann den Kaffee macht.

Heute soll sie die Hauptperson sein, was eigentlich machen diese Frauengruppen? „Bei uns zum Beispiel Angorapullover. Das Fell der Angorahasen wird zu Fäden versponnen – das aber machen wir nicht selbst, in Westdeutschland gibt es noch Frauengruppen, die das können.“

Sie selbst kam durch ihren Mann zu den Kaninchen – der ehemalige Beamte hatte sich die Zucht zum Hobby für die Rente auserkoren, und Karin Seipp, sie arbeitete früher als Angestellte im Bezirksamt, klinkte sich im Jahr 2001 ein. „Eigentlich stamme ich aus Recklinghausen – zu Hause hatten wir keine Kaninchen, man hatte dort eher Tauben. Und das mit den Kaninchen, da ging es ja ursprünglich ums Essen, um die Gewinnung von Nahrungsmitteln. Kaninchen schmeckt auch sehr gut, in Sahne- oder Tomatensoße, man kann alles mögliche mit dem Fleisch machen.“

Stricken, braten, basteln – die Männer züchten und misten, die Frauen verarbeiten und kochen? „Nein“, sagt Frau Seipp, „es gibt auch Züchterinnen. In den Verbänden gibt es auch Frauen im Vorstand.“ Ihr Mann ergänzt: „In Brandenburg gibt es sogar einen Mann in einer Frauengruppe!“

Auch bei den Kaninchenzüchtern sind überkommene Rollenbilder anscheinend aus der Mode gekommen – doch leider auch die Kaninchenzüchter selbst: „Die Leute haben heute kleinere Grundstücke und Freizeitgärten. Die Nachbarn – Kaninchen sind zwar nicht so laut wie Hähne, sie klopfen aber. Und der Geruch, man muss streng darauf achten, dass es nicht zu Geruchsbelästigungen kommt. In Brandenburg, da ist es besser, die sind längst führend. Und in Westdeutschland, da ist noch mehr los“, erklärt Harald Seipp.“

Ob er bei Facebook ist? Könnte man doch zur Gewinnung neuer Mitglieder nutzen? „Nein, ich habe keine Freunde, und ich will dort nicht nur meine Kinder nerven.“ Apps? „Ich habe ein Handelsblatt-App für mein i-Phone, aber das ist so klein, ich kann es nicht gut lesen.“ Und berichten die Berliner Lokalzeitungen noch über Kaninchenzüchtervereine? „Ja, manchmal. Aber wenn, dann hauptsächlich an Ostern.“

Da macht man dann mal eine bunte Reportage. Schön mit Freistellern, also mit ausgeschnittenen Hasen ohne Bildhintergrund, die man irgendwo in den Text pappt, damit die Zeitung lebendig und nach Internet aussieht, aber draufklicken nützt dann gar nichts.

Herr Seipp ist nunmehr ganz unauffällig zur Hauptfigur des Gesprächs geworden, Gender-Alarm – wir verlassen die gemütliche Sphäre des Wohnzimmers und gehen zu den Kaninchen. Schwarze Fellhügel hinter grünen Gitterstäben. In seinem kleinen Stall erzählt Seipp, dass er nicht mehr gerne schlachtet: „Nach spätestens drei Stück wird mir komisch zumute.“

Im Garten der Seipps hängt überall Osterschmuck. All das – die Gartenmöbel mit den gepolsterten Auflagen, die Lesebrille neben der Zeitung auf dem Tisch – illustriert das Rentner-Glück zweier Kriegskinder, denen es am Ende doch noch gut gegangen ist. Ein eigenes Haus, Kinder, sie nennt ihn zärtlich „Dicker“. Sie erinnern mich an meine Eltern: Zwei liebenswürdige ältere Herrschaften, die ein Hobby haben. Einfach nur so. Es wird nicht so weit kommen, dass die beiden YouTube-Kaninchen-Videos drehen, um D 380 Buckow im 21. Jahrhundert zu verankern. Und wenn man es nicht besser wüsste, so fühlte man sich hier am Rande der Hauptstadt genauso wie in einer Kleinstadt irgendwo in Westdeutschland, dort, wo es den Kaninchenzüchtern angeblich noch gut geht, dort, wo noch immer meine Eltern wohnen.

Mit dem Zug braucht man fast acht Stunden von Berlin bis nach Wittlich in Rheinland-Pfalz. 15.000 Einwohner und ein Hauptbahnhof, der aussieht wie ein heruntergekommener Berliner S-Bahnhof. Die Stadt liegt in einem Tal, hinter dessen Bergen es an die Mosel, in die Eifel und in Richtung Hunsrück geht. Heimat. „Und du besuchst den Festus?“, fragt meine Mutter, als sie mich am Bahnhof abholt, sich womöglich darüber wundernd, ob Journalisten in Berlin nichts anderes zu tun haben. Über Wulff berichten, Eurokrise, die SPD und Angela Merkel.

Festus, so lautete der Spitzname des Hausmeisters an meinem Bildungsreform-Gymnasium, also einer Schule, an der man sich aussuchen konnte, ob man Latein lernen will oder nicht. Und er war und ist Vorsitzender des Wittlicher Kaninchenzuchtvereins RN 64. RN, das steht für Rheinland-Nassau und wird ebenfalls in Ohren tätowiert – was ich aber seinerzeit, als ich seinen Stallungen zum ersten Mal einen Besuch abstattete, noch nicht auf dem Schirm hatte. Es ging bei dem Artikel damals eher um Mitglieder als um Kaninchen, mehr um einen Bericht als um eine Geschichte. „Man muss bitte, bitte, bitte sagen, wenn der Volksfreund mal was schreiben soll“, sagt Wolfgang Zurgeißel, Festus, und ich habe fast ein schlechtes Gewissen, so wie damals in der Schule, wenn ich ordnungswidrig mit dem Fahrrad die Rampe zum Fahrradkeller hinunterfuhr, anstatt zu schieben.

Aber ich bin ja heute im Auftrag einer Zeitung hier, die damals von konservativen Lehrern misstrauisch beäugt in der Schulbibliothek auslag, während eher liberale oder linke Lehrer es degoutant fanden, dass ich für den Volksfreund schrieb, der als reaktionär und spießig galt, aber die Zeit suchte damals einfach keine freien Mitarbeiter im Einzeitungskreis Wittlich. Es ging darum, das Handwerk des Journalismus zu erlernen: Weinköniginnen interviewen, Bundesverdienstkreuzverleihungen, Schwimmbadbegehungen mit dem Bürgermeister. Und eine einzige Kaninchenzüchtergeschichte in all den Jahren: RN 64.

Damals mümmelten die Kaninchen im Garten der Dienstwohnung von Wolfgang Zurgeißel, direkt neben der Rampe des Fahrradkellers: „Wenn ich mal einen guten scheckigen Wurf hatte, habe ich dem Bio-Lehrer Bescheid gesagt, und der kam dann mit der Klasse – Mendel’sche Vererbungslehre!“ Heute ist Wolfgang Zurgeißel längst in Rente, er wohnt nicht mehr neben der Schule, in seiner Dienstwohnung werden nun „Mediationsräume für die Schüler“ eingerichtet, er sagt das so lakonisch, das man auch irgendwie gleich Bescheid weiß, was er davon hält.

„Man braucht Idealismus“, sagt der Züchter im Westen

Hat der RN 64 eigentlich eine Frauengruppe? „Nein, die wurde aufgelöst, keine Mitglieder mehr. Im Westerwald ist es besser, auch in Idar-Oberstein. Und natürlich in Baden-Württemberg und in Bayern. Wir haben Altersprobleme – ich selbst habe gesundheitliche Probleme und will den Vorsitz jetzt abgeben, ich mache das ja jetzt seit 1973. Seitdem ich nicht mehr so kann, fehlt der Leithammel. Wir brauchen Nachwuchs – und heißen deshalb jetzt Kleintierzüchterverein RN 64, damit mehr Mitglieder kommen. Die Kaninchenzucht, das macht Arbeit, die Leute haben weder Zeit noch Platz in ihren Freizeitgärten. Man braucht Idealismus.“

Seine Frau kommt und setzt Kaffee auf, geht wieder. Wir sitzen in der Küche – man darf rauchen – und ich will von dem Mann, der mir so vertraut vorkommt und den ich eigentlich gar nicht kenne, wissen, was es nun mit diesem Idealismus, dieser Leidenschaft für die Kaninchenzucht auf sich hat. „Es ist das Tier selbst. Wenn man sieht, die Jungen kommen. Und man ist stolz, dass man Frohwüchsige hat, die gut heranwachsen. Ein Krüppel, das ist nun mal so, ist ein Krüppel. Aber wenn man abends die gesunden Tiere sieht, die auf ihr Futter warten, dann geht einem das Herz auf. Kein Tier ist wie das andere.“

Als wir zu den Kaninchen im Stall gehen, hinten im Garten, erzählt er, wie alles angefangen hat. Damals, als 15-Jähriger, hatte er den ersten Deutschen Riesen gekauft, Mitte der Fünfziger: „Ich wohnte bei Pflegeeltern, mein Vater war im Krieg geblieben, meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben.“ Damals ging es noch nicht um die Rassezucht, sondern um Schlachttiere. Ums Überleben ging es: „Einen schlechten Ruf bekamen die Kaninchen ja erst, als man es nicht mehr nötig hatte, sie zu essen, das ging schon Mitte der Sechziger los. Arme-Leute-Essen! Aber noch heute kommt die ganze Straße an Weihnachten und will ein Kaninchen – andere rennen einem die Bude ein, weil sie ein Streicheltier für ihre Kinder wollen.“

Neulich war der Verein sogar zu Gast beim Eröffnungsevent eines Baustoffanbieters, es ging ebenfalls darum, Streichelmöglichkeiten für Kinder zu schaffen. Und je mehr er erzählt, desto mehr Geschichten tun sich auf: Wie sich das Leben nach einer Herzoperation und einem Hirnschlag anfühlt („da bekommste Schiss“), warum er das Internet verschlafen hat, wie Lehrer an einem Gymnasium in Wirklichkeit ticken („Oberstudienrat, Haus gebaut, will Ruhe“).

Wolfgang Zurgeißel baut gerade an einer Weihnachtskrippe, die dem Haus seiner Pflegeeltern nachempfunden ist – inklusive jenes Stalls, in dem er sich damals um den ersten Deutschen Riesen kümmerte. Ein ganzes Leben könnte man auffächern, aber der Platz für all die vielen Anschläge, die am Ende eine große Geschichte ergeben, er wird immer kleiner, auch in den Print-Zeitungen. Fotos, Infokasten, Weißraum sollen auf die Seiten. Und im Internet funktionieren sowieso nur kleine Textmengen, weil die Leser nicht weiterklicken oder zu viel scrollen wollen. Wolfgang Zurgeißel und ich müssen Abschied nehmen, weil kein Platz mehr in der Zeitung ist – der junge Kollege vom Volksfreund muss ja auch noch in den Text. Es ist nur noch Zeit für eine kurze Recherchefrage. Der Unterschied zwischen Kaninchen und Hasen?: „Kaninchen werden blind und nackt geboren, Hasen sind hingegen Nestflüchter.“

Der Kollege heißt Sebastian Gubernator, 19 Jahre alt, freier Mitarbeiter der Lokalredaktion Wittlich des Trierischen Volksfreunds und wie ich einst Student der Geschichte. Theoretisch könnte ich sein Vater sein. Schon mal was von Manuskriptpapier und Agfapan 400 gehört? „Die Texte schreibe ich in eine Word-Vorlage und das geht dann direkt ins System, ebenso die Digitalfotos, die Blattmacher in Trier machen den Rest. Die Texte werden dann automatisch auch online gestellt“, erklärt er.

Ich erzähle ihm Geschichten aus der Zeit vor dem Internet wie Opa aus dem Krieg. Von Telefonlawinen, Thermofaxpapier. „Ich glaube an die Zukunft des Journalismus, aber nicht mehr unbedingt an die Zukunft der Zeitung“, sagt er, der es trotzdem total schön findet, seine Texte gedruckt zu sehen, „ich habe schon mit vierzehn Krimis geschrieben, wollte eigentlich Schriftsteller werden. Aber es ist eigentlich viel interessanter, über das richtige Leben zu schreiben.“

Er tritt an in einer Zeit, in der alle irgendwas mit Medien machen wollen, denen es eigentlich schlecht geht. Viele in seiner Altersgruppe studieren gleich „Internetjournalismus“, während er darüber nachdenkt, sich eine größeres Objektiv zu kaufen, damit er bei Terminen ernst genommen wird: „Man braucht schon eine ordentliche Kamera – ich sehe einfach total jung aus, achte darauf, immer ein Hemd anzuziehen. Keinen Kapuzenpulli.“

Journalismus, das ist noch immer – theoretisch – ein offener Beruf. Es reichen ein Hemd, eine Kamera, ein Block und eine gute Schreibe. „Ich bin einfach ins kalte Wasser geworfen worden, und das war wohl auch gut so. Angefangen habe ich mit dem Redigieren von Polizeimeldungen. Der Rest war Learning by Doing – obwohl ich mir am Anfang gewünscht hätte, erst mal mit einem Kollegen mitzugehen bei einem Termin. Ich wusste ja überhaupt nicht, wie ich auf die Leute zugehen sollte.“ War er schon mal bei einem Kaninchenzüchterverein? „Ehrlich gesagt: Nein.“

Ja, er glaube an die Zukunft, sagt der junge Reporter

Stattdessen schrieb er neulich sogar über einen kleinen Skandal: Die Deutsche Bahn weigert sich, auf dem Hauptbahnhof Behindertentoiletten einzubauen. „Aber ansonsten glaube ich nicht, dass ich hier groß etwas aufdecken werde. Darauf ist der Lokaljournalismus nicht wirklich eingerichtet. Dennoch: „Der Artikel über den Bahnhof zum Beispiel wurde anschließend im Netz verlinkt, von Behinderten-Foren. Da gab es dann eine Resonanz über das Lokale hinaus“, sagt er begeistert.

Sebastian Gubernator macht einfach weiter, lernt, demnächst will er zusammen mit Freunden einen politischen Blog aufmachen, „obwohl ich gar nicht weiß, wie das geht“. Und genauso wird es wohl gelingen; einfach weiterschwimmen im kalten Wasser, in dem ab einem bestimmten Punkt Haifische herumschwimmen. Er träumt vom Besuch einer Journalistenschule, später würde er gerne mal bei der Süddeutschen arbeiten oder beim Spiegel – oder bei der taz.

Den Journalismus jedenfalls wird es auch in Zukunft geben, dafür steht Sebastian Gubernator, der junge Mann, der Geschichten erzählen möchte und dem es eigentlich egal ist, auf welchem Vertriebsweg diese publiziert werden. Er weiß längst, wie das geht mit dem Wer? Was? Wann? Wo? Wie? Aber noch eine Frage an Sebastian Gubernator: Darf man beim Volksfreund in Texten mit dem „Ich“ arbeiten? „Ja, einmal durfte ich das – es ging um eine Reportage über das Wittlicher Nachtleben. Regeln und Handwerk finde ich gut, aber sie sollten nicht zum Zwang werden.“

Fazit: Der deutsche Journalismus ist noch nicht am Ende, im Lokalen schon gar nicht. Aber um die Kaninchenzüchtervereine wird man sich in Zukunft Sorgen machen müssen.

Kaninchen in der Kunst

Die Sonntaz, wo der Autor Redakteur ist, brachte im vergangenen Jahr zu Ostern bereits eine Kaninchen-Geschichte:

Auch dieses Jahr wetteifern innovative Pädagogen wieder um den „Goldenen Zeigestock“. Und dieses Jahr gilt es, das drastische Kaninchenexperiment der César-Klein-Schule im ostholsteinischen Ratekau zu übertreffen. Dort wurde im Rahmen einer Projektwoche zum Thema Steinzeit ein Kaninchen vor den Augen der entsetzten Fünftklässler getötet und anschließend auf dem Schulhof gegrillt und verzehrt. Das Schlachten übernahm der Vater eines Schülers, ein beherzter Landwirt.

Pädagogische Beckmesser hätten sich selbstverständlich gewünscht, dass hier eine Schülerarbeitsgruppe zur Tat geschritten wäre, aber auch so war die Empörung nach dem schönen Experiment groß genug. Die „Karnickel-Causa“ (Solinger Tageblatt) hatte eine Anzeige gegen Schulleitung und Landwirt zur Folge. Die Reaktionen waren einhellig: von „inakzeptabel“ (Solinger Tageblatt) bis „wenig sinnvoll“ (Kinderschutzbund). Die Kinderpsychologin Dr. Ulrike Bowi mahnt im Gespräch mit dem Solinger Tageblatt besonnen: „Man kann Kinder ruhig mit der Realität konfrontieren und muss sie nicht in Watte packen. Aber man darf sie nach solchen möglicherweise traumatischen Erlebnissen keinesfalls alleinlassen, sondern muss sie gemeinsam aufarbeiten.“ Gute Anregung. Deshalb wurde das Grillgut ja dann gemeinsam verzehrt. In der Steinzeit dienten noch zusätzliche Höhlenmalstunden zur Aufarbeitung der kindlichen Traumata nach der Jagd.

Dieses Jahr hat sich im Bereich experimenteller Pädagogik erstaunlicherweise die Waldorfschule um einen Podestplatz beim Wettbewerb um den „Goldenen Zeigestock“ beworben. Wieder ist es eine Schule aus dem Norden, diesmal aus Lübeck. Dort hatte ein Waldorflehrer mit Schülern Schwarzpulver gemischt und zur Explosion gebracht. Die engagierten Schüler spürten beim Zünden der Böllerbombe sogar die Druckwelle. Wir brauchen eben einfach kompromisslose Pädagogen, die auch mal dahin gehen, wo es wehtut.

Vorbilder gibt es genug. Im aufregenden Fahrwasser der praktischen Pädagogik bewegt man sich denn auch nicht erst seit den 68er Jahren. Als Beispiel dienen soll eine schöne Rechenaufgabe aus der „Sammlung von Beispielen und Aufgaben aus der allgemeinen Arithmetik und Algebra“ von Dr. Eduard Heis aus dem Jahr 1894: „Bacchus fand den Silen neben einem vollen Weinfasse schlafend; er benutzte die Gelegenheit und trank während zweier Drittel der Zeit, welche Silen gebraucht hätte, um das ganze Fass zu leeren. Nachdem Silen erwacht war, trank er den von Bacchus übrig gelassenen Rest. Hätten beide gleichzeitig angefangen zu trinken, so wären sie um zwei Stunden früher fertig geworden, Bacchus hätte aber alsdann nur soviel getrunken, als er vordem dem Silen übrig gelassen hatte. In welcher Zeit hätte jeder allein das Fass geleert?“

Eine Aufgabe, die natürlich in einer pädagogisch wertvollen Arbeitsgruppe praktisch überprüft zu werden verdient. Am besten bei einem schön gegrillten Kaninchen, das mit einem genau berechneten Böller in die ewigen Jagdgründe expediert wurde!

Zuvor hatte die Sonntaz schon einen Erlebnisbericht von Günter Roßnagel abgedruckt, in dem es ebenfalls um Kaninchen ging:

Ursprünglich komme ich aus Heidelberg, nach Westberlin bin ich meiner Frau wegen gezogen und dann 1978 weiter nach Steinstücken. Da war es dörflicher, das mochte ich.

Die Mauer begrenzte elf Jahre lang unseren Garten und direkt daran stand ein Grenzturm, „unser“ Turm. Aus unserem Schlafzimmerfenster hat man in die Wachstube geblickt, Aug‘ in Aug‘ mit den DDR-Grenzern – wenn jemand Fremdes zu Besuch kam, waren die sofort mit der Kamera da. Wir hatten auch ein eigenes Mauerloch. Ein großes Stück Beton war dort herausgebröckelt.

Und an einem Sommertag ist eines meiner Kaninchen durchgeschlüpft. Ich habe zum Turm gerufen, und die Grenzer haben mich stumm in den Grenzstreifen hineingewunken. Da lief ich durch das Niemandsland und habe versucht, das Karnickel zu fangen. Ins Schwitzen bin ich da geraten, die Grenzsoldaten haben von oben zugesehen, und immer wieder ist mir das Kaninchen weggehoppelt. Aber die im Turm haben nur gelacht, bei jedem missglückten Fangversuch.

Am anderen Rand des Gartens verlief die Bahnlinie aus Potsdam, und eines Nachts, im tiefsten Winter, ist mir da ein junger DDR-Flüchtling in den Garten gesprungen, direkt vom Kohlenzug runter, der fuhr nicht so schnell. Geblutet hat der junge Kerl, erst mal ist er ins Krankenhaus gekommen. Aber eine Woche später war er mit seinem im Westen lebenden Großvater wieder da und hat ihm den Ort seiner Flucht gezeigt.

Heute ist hier nichts mehr los, aber damals war Steinstücken ein Touristenziel. Am Wochenende sind die Busse aus Berlin gekommen. Die Touristen sind überall herumgelaufen, sogar in meinem Garten. An dem Mauerloch hätte ich einen Münzguckkasten anbringen können, damit wär ich sicher richtig reich geworden!

Peinlich wurde es mir, wenn die Leute Beschimpfungen zum Turm gerufen haben. Da bin ich eingeschritten: „Die machen doch auch nur ihre Arbeit“, hab ich dann gesagt.

Oft haben Leute gefragt, wie ich hier wohnen kann. Und ich hab geantwortet: „Na was? Wir sind doch gut bewacht!“ Angst hatte ich nicht. Man gewöhnt sich so schnell. Aber wenn man diese Zeit nicht mitgemacht hat, hat man schon etwas verpasst.

Seit 20 Jahren feiern wir jetzt im Bürgerverein unsere Sommerfeste gemeinsam mit den Nachbarn aus Babelsberg. Die konnten früher immer nur die Bratkartoffeln riechen.

Während die Berlin-Redaktion eine Kaninchen-Meldung von dpa übernommen hatte:

122 Kaninchen hat ein Mann in Berlin-Lichtenberg auf dem Balkon seiner Hochhauswohnung gehalten. Teilweise hätten sechs große Kaninchen in einem Käfig gelebt, der für höchstens zwei Tiere geeignet sei, sagte Ursula Bauer von Aktion Tier Berlin. Insgesamt habe er auf dem im neunten Stock gelegenen Balkon 47 erwachsene und 75 Jungtiere gehalten.

Die Kaninchen hätten sich kaum bewegen können und weder Rückzugs- noch Beschäftigungsmöglichkeiten gehabt, sagte die Biologin. Aufgrund der Enge und frustrierenden Langeweile sei es häufig zu blutigen Beißereien gekommen. „Wir haben stark abgemagerte, verfilzte, verletzte und kranke Tiere festgestellt“, sagte sie. Außerdem hätten sich die unkastrierten Kaninchen permanent vermehrt.

Am vergangenen Freitag zeigte Aktion Tier nach eigenen Angaben die „völlig aus dem Ruder gelaufene Zucht“ beim zuständigen Veterinäramt in Lichtenberg an. Daraufhin habe der Amtstierarzt den gesamten Kaninchenbestand beschlagnahmt und in die Tiersammelstelle bringen lassen.

An den 45-Jährigen Besitzer erging ein Tierhalteverbot, sagte Bauer. Der Hartz-IV-Empfänger sei schon mehrfach negativ aufgefallen, als er mit Tieren um Spenden gebettelt habe.

Der immer wieder gerne nach Japan reisende Medienredakteur David Denk brachte derweil eine launige Kaninchen-Geschichte aus Tokio-TV mit, zu der ihn der großdeutsche Blödelfilm „Keinohrhase“ inspiriert hatte:

Es sind herzzerreißende Bilder, die mich da aus einem nordjapanischen Kaninchenstall erreichten: Ein schneeweißes Jungtier mümmelt an einem Grashalm, so dicht an den Käfigrand gepresst, als wollte es seine ausgewachsenen Artgenossen bloß nicht stören. Trotzdem wird das Kaninchen in dem knapp einmütigen Internetvideo zweimal überrannt – weil es behindert ist? Wir kennen uns in der Hierarchie von Kaninchenställen zwar nicht so aus, aber wenn wir einfach mal davon ausgehen, dass die auch nicht anders funktionieren als Schulhöfe, ist ein Tier ohne Ohren das geborene Opfer, ein prädestinierter Fußabtreter.

Mit den armen Schweinen vom Schulhof hatten wir nie auch nur annähernd so viel Mitleid wie mit diesem flauschigen Krüppel. Und das Mitleid würde sogar noch größer, wenn sich bewahrheiten würde, dass wir Menschen schuld sind an seinem Elend, keine Laune der Natur ihm die Löffel genommen hat, sondern die beim Reaktorunfall in Fukushima ausgetretene Radioaktivität, wir es also mit einem hoppelnden Strahlenopfer zu tun hätten, einem Vorboten weiterer Mutationen gar – womöglich auch bei Menschen.

Wie würden wir das unseren Kindern erklären?

Weil sie sooo niedlich ausschauen, sind domestizierte Kaninchen so beliebte Spielkameraden. Sollte ausgerechnet so ein Beschützerinstinkte weckendes Tier der erste Leidtragende einer hausgemachten Katastrophe sein, würde daraus ein Menetekel für die selbstzerstörerische Maßlosigkeit des Menschen.

Wenn nicht, wäre das Mitleid aber immer noch größer als mit dem einbeinigen Bettler in der Fußgängerzone, an dem wir achtloser vorbeigehen als an einer dreibeinigen Katze. Oder einem Karnickel ohne Ohren. Das arme Tier kann doch nun wirklich nix dafür – der Mensch ist im Zweifel selber schuld.

Noch launiger war dann eine Kaninchen-Meldung der taz-Hamburg:

Kurz vor Ostern konnte ein schändlicher Aufschneider enttarnt werden: das Kaninchen. Häufig täuschte der Hochstapler in Form von Naschwerk oder Kitsch vor, der Osterhase zu sein. Die Deutsche Wildtier-Stiftung hat jedoch gestern in einer Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass auf Abbildungen in alten Kinderbüchern deutlich zu erkennen sei, dass der Osterhase ein Feldhase und kein Kaninchen ist. Feldhasen sind etwa dreimal so schwer, haben lange „Löffel“ und sehr viel längere Hinterbeine. Von nun an wird also jedes Kind wissen, wem es für die schönen Ostergeschenke zu danken hat. Wie mit dem betrügerischen Kaninchen in Zukunft verfahren werden soll, ist noch unklar. Möglicherweise wird es nach Großbritannien abgeschoben, denn dort heißt der Osterhase „Easterbunny“, nicht „Easterrabbit“. Danke, Deutsche Wildtier-Stiftung.

Alice-im-Wunderland-Kaninchen (White Rabbit)

In Deutschland geht es nicht zuletzt auch deswegen durcheinander weil man einerseits Kaninchen in Notzeiten gerne mästet und ißt und andererseits aber die betenden Hände mit dem Hasen von Albrecht Dürer vermengt und dazu noch mit Joseph Beuys, dem zweiten großen deutschen Künstler, klar kommen muß, für den der Hase eine Art Totemtier war.

Die taz-Berlinredaktion begann die Kaninchenberichterstattung jedoch erst in der Wende – d.h. nachdem die Mauer gefallen war und zigtausende von Kaninchen, die friedlich im Todesstreifen gelebt hatten, plötzlich ihre Heimat verloren und sich anderweitig was Neues suchen mußten – noch vor den meisten Ostlern. Sie siedelten auf Verkehrsinseln und kleinen Grünstreifen, in Parkanlagen und Hinterhöfen Westberlins, wo die meisten früher oder später jämmerlich zugrunde gingen. Klaus Wagenbach widmete ihnen in seiner Zeitschrift „Freibeuter“ ein einfühlsames Porträt, aber ansonsten waren die Berliner-  Ostler wie Westler – damals mit anderen Dingen beschäftigt als mit dem Massensterben der Todesstreifen-Kaninchen. Immerhin gab es einige Filmemacher, die sich ihnen rechtzeitig gewidmet hatten – auf Youtube findet man mindestens einen Film über sie: „Mauerhase 1 bis 4“ z.B..

Die taz-Berlinredaktion also schrieb Ostern 1990:

Im Sommer fällt die Mauer /Gestern wurde die Debatte um die künftige Nutzung des Grenzstreifens losgetreten / Autobahn, Grünstreifen oder altes Stadtbild?
Berlin. Ob „Sojus“ oder „Challenger“ – die nächsten Astronauten werden auf den Anblick der Mauer aus dem Weltall verzichten müssen. Was nach Berichten amerikanischer Raumfahrtbesatzungen bei Wolkenlosigkeit sogar vom Mond aus identifiziert werden kann, soll eingeebnet werden. Auf einen konkreten Zeitpunkt wollten sich gestern weder DDR -Ministerpräsident de Maiziere, noch der Pressereferent im DDR-Innenministerium, Mechtel, einlassen. „In den nächsten Monaten“, hieß es.

Bereits am Mittwoch hatten die Innenminister der DDR und der BRD, Diestel und Schäuble, sich darauf verständigt, die innerdeutschen Grenzkontrollen bis zum Beginn der Sommerferien aufzuheben. Die damit überflüssig gewordenen Grenztruppen sollen dann „dem Bestand des Innenminsiteriums“ zugeschlagen werden, erklärte Mechtel.

Überflüssig werden dann nicht nur die grauuniformierten Grepos. Welcher Verwendung die über 200 Beobachtungstürme und 245 Bunker-und Schützenstellungen zugeführt werden sollen, war gestern von den zuständigen DDR-Behörden nicht zu erfahren. Mit dem Abriß der Mauer naht auch das Ende für 52 Aussichtsplattformen, diverse Imbiß- und Souvenirstände. Freaks wie der amerikanische Mauerläufer John Runnings und diverse Performance Künstler werden sich einen anderen Lebensinhalt suchen müssen. Abgesehen von der unermüdlichen Arbeit der Mauerpicker hatten DDR-Grenztruppen bereits am 16. Februar mit dem Abbau der Betonplatten am Reichstag begonnen. Bisher werden abgerissene Mauerteile durch Drahtzäune ersetzt – eine Praxis, die de Maiziere vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten als „reine Geldverschwendung“ bezeichnet hatte.

Während CDU (West)-Generalsekretär Landowsky Mauer und Grenzbefestigungen am liebsten gleich einreißen will, warnte die Berliner SPD (Ost)-Bezirksvorsitzende Anne-Kathrin Pauk vor überstürzter Eile. Bevor sich die Verwaltungen nicht auf die damit verbundenen Probleme wie zum Beispiel Drogenhandel eingestellt hätten, „ist eine Trennlinie weiter nötig“. Einen Grüngürtel anstelle des Schutzwalls, wie ihn Grüne und Alternative in Ost und West fordern, lehnte die SPD -Politikerin jedoch ab. „Die Stadtmitte muß pulsieren“, also müsse man die Straßen nach historischem Vorbild wieder zusammenführen. Um diesen Prozeß zu forcieren, will die West -Berliner SPD nach Angaben ihres Pressesprechers Christian Hossbach, Druck auf die Verkehrspolitiker machen. Mitglieder und Symphatisanten der Bauernpartei, der Grünen Partei und der im „Bündnis 90“ zusammengschlossenen Gruppen forderten gestern in einem offenen Brief an den Berliner Regionalausschuß, den Mauerstreifen durch Grünflächen und Erholungsbereiche mit durchgängigen Promenaden und Radfahrwegen zu ersetzen. Was aus den vielen Kaninchen werden soll, die sich auf dem ehemaligen Todestreifen eingerichtet haben, könnte eigentlich nur der Hasenexperte Joseph Beuys beantworten. Seine vor mehreren Jahren erhobene Forderung, die Mauer „aus ästhetischen Gründen“ um fünf Zentimter zu erhöhen, wird nun ins Gegenteil verkehrt: Vom Schutzwall bleibt allenfalls eine Bodenwelle.

Heute ärgern sich die Tourismus-Manager und -Profiteure schwarz, dass die Mauer fiel, d.h. geschleift und segmentweise ins In- und Ausland verkauft wurde – mit den Millionen Kaninchen zwischen Außen- und Innenmauer wäre sie ein Touristenmagnet ersten Ranges geworden – nach der Wende.

quicklebendige Todesstreifen-Kaninchen

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kommentare

  • Hasen werden in Deutschland immer seltener:

    Der Deutsche Jagdschutzverband vermeldet: „Im bundesdeutschen Durchschnitt hoppeln noch rund 23 Hasen über hundert Hektar, in Sachsen sind es gerademal noch drei. Mit Pestiziden belastete Raps- und Maismonokulturen bedecken immer größere Flächen, bereits ab Mai, und dann im Abstand weniger Wochen immer wieder, mähen große Maschinen das inzwischen artenarme Grünland, ohne Rücksicht auf die Nester der Bodenbrüter. Feldraine, offene Säume am Waldesrand und sonstige Rückzugsräume der ‚biologischen Vielfalt‘ verschwinden. Junge Feldhasen haben unter solchen Bedingungen nur geringe Überlebenschancen.“

    „Weitere mögliche Gründe für den Hasenrückgang liefert eine Untersuchung von WILD-Daten der Jahre 2004 bis 2009 zu Flächennutzung und Feldhasenzahlen in Rheinland-Pfalz: Demnach wirkt sich insbesondere der Anbau von Mais auf immer größeren Feldern negativ aus. Die andauernde Zusammenlegung von Äckern hat zudem zur Folge, dass Ackersäume und Brachflächen verloren gehen. Diese sind jedoch nachweislich positiv für den Feldhasen“, so heißt es zur Auswertung der Hasenzählung. „Immer größere Maisfelder, schwindende Saum-, Kraut- und Staudenfluren: Dieser Trend lässt sich auf Deutschland übertragen. Die Brachflächen sind bundesweit von 8.200 Quadratkilometer (2000) auf 2.300 Quadratkilometer (2011) geschrumpft. Gleichzeitig hat sich die Maisanbaufläche von 15.000 Quadratkilometer (2000) auf 25.000 Quadratkilometer (2011) erhöht. Insbesondere für die Erzeugung von Biogas wird Mais verstärkt angebaut.“

  • Man sagt, die Tierkunde/-forschung beginnt mit der Jagd – bei den Jägern…

    Der Zürcher Zoodirektor Heini Hediger war allerdings der Meinung, dass die Jäger wenig zum Wissen über die Tiere, die sie jagen, beitragen. In einem Text über Kaninchen schrieb er: “Das Freileben dieser interessanten Nager ist erst in den letzten Jahren erforscht worden. Auch hier hat es sich gezeigt, dass das Jagen im Grunde wenig Gelegenheit zum Beobachten bietet, die Kaninchenjagd schon gar keine. Ein Schuß, selbst ein Meisterschuß, ist eben niemals Beginn, sondern stets das Ende einer allzu kurzen und meist nicht sehr vielsagenden Beobachtung.”

  • News.at über Kaninchen:

    Das Versuchskaninchen hat seinen Namen zu Recht: In Österreich wurden im Vorjahr rund 20.000 Kaninchen für die Forschung getötet. Sowohl Labors als auch Pharmafirmen bedienen sich der billigen Häschen, um Testreihen durchzuführen.

    Die Eigenschaft, die Augen immer offen zu halten, machen sie zum idealen Tier für den so genannten „Draize-Test“ (Bild). Vorgeschrieben für alle Produkte – vom Waschmittel bis zu Medikamenten, die toxische Substanzen enthalten. Dabei wird das jeweilige Gift in das Auge des Kaninchens geträufelt, das dadurch verätzt wird.

    Der „LD-50-Test“
    Noch schlimmer und in Österreich zumindest offiziell verboten ist der „LD-50“-Test – LD steht für letale Dosis. Dabei werden den in Fixiergestellen eingespannten Kaninchen giftige Substanzen injiziert oder in die Haut eingeritzt. Dann wird dokumentiert, wie lange es dauert, bis 50 Prozent der Tiere gestorben sind. Tierversuchsgegner behaupten nach wie vor, dass diese Tests auch in Österreich durchgeführt werden. Darüber hinaus dienen einzelne Körperteile der Kaninchen als Grundstoffe bei der Herstellung von Kosmetika.
    20.3.2002 17:13

  • Der Wagenbach-Verlag hat sich mehrmals mit Kaninchen befaßt. Wolfgang Müller schrieb 2006 in der taz:

    Es empfiehlt sich ein Blick in den „Karnickelzirkus“, zum Verlagsjubiläum von Wagenbach wieder aufgelegt. Hier endlich wird Spannendes zur Geschichte des Kaninchens, seiner Verbreitung in Literatur und Natur, inklusive acht sizilianischer Kochrezepte ausgebreitet. Ein lehrreiches, amüsantes Kompendium, das uns vor allem auch umfassend über die Unterschiede zum Hasen aufklärt.

    Während sich die B.Z. zurzeit verzweifelt mit der Katzen-, äh … Vogelgrippe abmüht, warte ich nun noch darauf, dass der Kolumnist Cord Riechelmann in seiner allwöchentlichen B.Z.-Serie über Stadttiere namens „Berlin Safari“ nicht nur die Leser, sondern vielleicht auch die Redakteure endlich darüber informiert, wo eigentlich der Hase und wo das Kaninchen entlanghoppelt.

  • Hasen – Kaninchen!!!

    Schreibt da einer paar Sachen, Dinge, Verhältnisse, kommt zu seinem „ewigen“ Duktus der minima moralia und käut; kommt schließlich zur Beschreibung der Schlechtigkeit der Bedingungen des Hasen/Kaninchen……..
    und wird schließlich ein Tier der Perpetuierung von Sprache, die sich selbst erhält, und den Hasen außen vorhält.

    Den unterschwelligen Duktus der Kritischen Theorie kann man sich dabei sparen.!!!

    Ich plädiere für das reine Antlitz, sozusagen das Heideggersche dingen des Dings, dessen Wesen in der Schwebe zwischen Hasen und Kaninchen liegt.

    Als ich dies wunderschöne Porträt eines großartigen Feldhasen per DIN-A4-Seite des Barmer-Gek-Magazins sah, war mir zum Weinen zu mute;

    Ich war hocherstaunt ob der großartigen, gesammelten Ernsthaftigkeit im Ausdruck dieses wilden Hasen, ich
    empfand sozusagen die Aletheia des Hasen;

    und wünschte mir das alte Haus am großen Wannsee, als die Zivilmächtigkeit des linken Juste-milieu noch im
    Schweben war.

    Peter Kloss

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