vonHelmut Höge 20.08.2024

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

Mehr über diesen Blog

Anmerkung der taz Blogs Redaktion: Der vorliegende Beitrag möge gewisse Spiele mit dem Faktischen beinhalten. Lesende haften für ihre Fiktionen!

Die russische Elite scheint einen Atomkrieg zu befürworten, eine Atombombe auf Kiew, wobei man allgemein davon ausgeht, dass die Amerikaner wegen der Ukraine nicht mit Atomwaffen reagieren werden. Es reiche ihnen, dass das atlantische Europa die Ukraine weiterhin mit Waffen versorgt, wobei die amerikanischen Investmentfonds sich bereits am Boom der hiesigen Waffenfabriken beteiligen. Sollten die Waffenlieferungen an die ukrainische Armee die Russen in Bedrängnis bringen, steigt die Gefahr eines russischen Einsatzes von Atombomben.

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Geldbeschaffungsmaßnahmen (GBM)

Das haben wir nun aus den fast flächendeckenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), 
die in massenhafte Umschulungsmaßnahmen (UBM) mündeten, welche im Wesentlichen aus 
Computerkursen bestanden. Sie wurden flankiert von aufmunternden Zurufen diverser Politiker: 
„‘Heimat, Hightech, Highspeed’ – dafür arbeiten wir,“ sagte der grüne Ministerpräsident von 
Baden-Württemberg, während der bayrische CSU-Ministerpräsident tönte, „Hightech und Heimat“ 
seien in seinem Bundesland bereits „vereint“. Gelegentlich heiße es auch noch „Laptop und Lederhose, 
„Rosenkranz und Raumfahrt“, „Leberkäs und Laser“, „Gigabit und Gamsbart“, „WLAN und Weißbier“, 
„KI und Knödel“, ergänzte der Herausgeber des bayrischen „Unternehmer-Magazins“. 
Die rotgrüne Bundesregierung entschied sich unterdes für den Satz: „Das Leitbild der KI-Strategie ist ein 
europäisches KI-Ökosystem für Innovationen“.  

Im Endeffekt bringt dieser ganze Computerscheiß bloß neue Verbrechen hervor, die sogenannte „Cyber-Kriminalität“.

Gut, man kann das für einen Fortschritt halten, dass die Gangster nun keine Handarbeiter mehr sind, die mit Gewalt Geldschränke knacken oder mit einer Knarre barsch Bargeld fordern. Stattdessen sind es jetzt Kopfarbeiter, die sich zu Hause am Computer als Hacker versuchen oder Erpressungsmails verschicken. Solche z.B.:

Kriminalpolizei: Verwarnung Strafanzeige Nr. 20060024

Diese Nachricht ist die letzte Warnung in Bezug auf die sehr ernste Beschwerde, die gegen Sie vorliegt. Wir bitten Sie, sich innerhalb von 48 Stunden ausschließlich über die in der Strafanzeige angegebene E-Mail-Adresse mit uns in Verbindung zu setzen, damit wir Ihre Erklärungen zu den Ihnen vorgeworfenen Taten hören können. Nach Ablauf dieser Frist wird ein Haftbefehl gegen Sie ausgestellt und Sie müssen mit einer Gefängnisstrafe rechnen.

Anhang: Anklageordner“

Oder solche:

Schwerkraft-Spion: Letzte Warnung.

Ihr System wurde geknackt. Wir haben alle Informationen von Ihrem 
Gerät auf unsere Server kopiert. Außerdem haben wir das Video von 
Ihrer Kamera aufgenommen, in dem Sie einen Pornofilm ansehen.

Mein Virus hat Ihr Gerät über eine Website für Erwachsene 
infiziert, die Sie kürzlich besucht haben.

Ich kann Einzelheiten mitteilen, falls Sie nicht wissen, wie es 
funktioniert. Ein Trojaner-Virus gewährt mir vollständigen 
Zugriff und Kontrolle über Ihr Gerät. Dadurch kann ich Ihren 
Bildschirm sehen, die Kamera und das Mikrofon aktivieren, und Sie 
werden nicht einmal davon erfahren.

Ich habe ein Video von Ihrem Bildschirm und der Kamera 
aufgenommen und ein Video erstellt, in dem ein Teil des 
Bildschirms Sie beim Masturbieren zeigt und ein anderer Teil ein 
Pornovideo zeigt, das Sie zu diesem Zeitpunkt angesehen haben.

Ich kann die gesamte Liste Ihrer Kontakte auf dem Telefon und in 
den sozialen Netzwerken sehen.

Ich kann dieses Video mit nur einem Klick an alle Kontakte in 
Ihrem Telefon, per E-Mail und in den sozialen Netzwerken senden. 
Darüber hinaus kann ich die Daten Ihrer E-Mail und Ihrer 
Messenger an jeden senden.

Dies würde Ihren Ruf ein für alle Mal ruinieren. Falls Sie solche 
Konsequenzen verhindern möchten, gehen Sie wie folgt vor:
Überweisen Sie 4700 EUR (EURO) auf mein Bitcoin-Wallet.
(Wenn Sie nicht wissen, wie das geht, geben Sie in Google als 
Suchbegriff „Bitcoin kaufen“ ein.)

Mein Bitcoin-Wallet (BTC-Wallet): 
bc1qhax5rjay9vrtf8d3d38wndfu5mz87fyekw0r2e. Sofort nach 
Gutschrift der Zahlung werde ich Ihr Video löschen und Sie 
nicht mehr belästigen.

Sie haben 50 Stunden (etwas mehr als 2 Tage), um die Zahlung zu 
tätigen.

Ich erhalte eine automatische Benachrichtigung über das Lesen 
dieses Briefes. Der Timer wird auch automatisch gestartet, sobald 
Sie diese E-Mail gelesen haben.

Versuchen Sie nicht, sich irgendwo zu beschweren – mein BTC-
Wallet kann nicht zurückverfolgt werden und eine E-Mail, die 
Ihnen den Brief gesendet hat, wird automatisch erstellt – jede 
Antwort wäre sinnlos.

Sollten Sie versuchen, diese E-Mail mit jemandem zu teilen, 
sendet das System automatisch eine Anfrage an die Server und 
diese beginnen, die gesamten Informationen an soziale Netzwerke 
zu senden.

Das Ändern der Passwörter von sozialen Netzwerken, einer E-Mail 
und des Geräts wäre ebenfalls sinnlos. die gesamten Daten wurden 
bereits auf den Cluster meiner Server heruntergeladen.

Kontaktieren Sie mich per E-Mail ‚jafar_script@outlook.com‘ und 
senden Sie eine Kopie an ‚tbens091627652@gmail.commit dem
Betreff: *RESTOREKEYPC9273730*

Nach diesen Schritten erhalten Sie per E-Mail den Schlüssel und 
ein Entschlüsselungs-Tutorial.

Ich wünsche Ihnen viel Glück und machen Sie nichts Dummes. Denken 
Sie an Ihren guten Ruf.“

Bei manchen verbrecherischen Mails weiß man nicht einmal, ob sie  überhaupt verbrecherisch sind. Zum Beispiel diese:

mgdmh04@gmail.com

Hallo, ich sende Ihnen eine E-Mail bezuglich der Unterstutzung bei der sicheren Aufbewahrung einiger Pakete. Ich werde Ihnen weitere Einzelheiten mitteilen, sobald Sie mich uber meine personliche E-Mail-Adresse (siehe oben) kontaktieren.

Ihre Diensthabenden Generalmajorin Diana Holland“

Will sie wirklich helfen? Gewiß ist nur, dass die Tastatur der Generalmajorin keine Umlaute hat und dass ich Pakete nie aufbewahre, sondern bei Empfang sofort aufreiße und den Inhalt an mich nehme.

Der folgende Betrugsversuch ist nicht mehr neu – mails von scheinbar seriösen Banken. Eine von vielen (bei denen ich gottlob kein Konto habe) schreibt mir z.B.:

Guten Abend Helmut Höge wir müssen Sie davon in Kenntnis setzen, dass es zu 3 fehlgeschlagenen Anmeldeversuchen gekommen ist. Um möglichen Schaden zu vermeiden, haben wir ihren Kontozugang vorsorglich gesperrt. Damit Sie weiterhin im vollen Umfang die Vorteile des OnlineBankings müssen Sie sich anhand ihrer Daten verifizieren. Hier klicken. Mit freundlichen Grüßen Deutsche Bank Sicherheit“

Die bereits auf vielen Internetseiten als Betrüger bezeichnete „Fin Tech“ behelligte auch mich:

Lieber Freund, Hören Sie aufmerksam zu und ich werde Ihnen zeigen, wie Sie wirklich große Gewinne mit Hilfe des Internets machen können. Vor einigen Monaten rollten sich meine Freunde vor Lachen auf dem Boden als ich ihnen sagte, dass ich mir ein profitables Online-Geschäft aufbauen will. „Ja sicher, toll Gelegenheit“ sagten sie alle, da ich absolut keine Website-Design-Fähigkeiten hatte und auch nichts von HTML verstand und keine Programmierkenntnisse besaß… ich hatte in der Tat nicht viel Computer-„Know-how“ (das habe ich auch immer noch nicht). Ihr Lachen verwandelte sich schnell zu Erstaunen, nachdem ich FinTech beigetreten bin und die Gewinnflut nicht mehr endet. Sie könnten Monate (und Tausende Dollar) verschwenden, um zu versuchen, herauszufinden, was über das Internet tatsächlich funktioniert. Oder Sie könnten sich die Frustration, Zeit und die Fehler ersparen, indem Sie meinem Beispiel folgen. Hier ist der Link damit Sie einen Blick auf das neue Programm werfen können Sie werden es nicht bereuen! Mit freundlichen Grüßen Lukas Kolditz“

Hier ist eine Geldbeschaffungsmaßnahme, die mich mit ihrem Nachsatz ins Grübeln brachte:

Hallo, Finanzmittel von bis zu 650.730 Euro sind derzeit verfügbar, bitte bestätigen Sie Ihre Anmeldung hier, um loszulegen. Damit wird es Ihnen noch leichter fallen, in 3 Monaten zum Millionär zu werden. Steigen Sie jetzt ein, so lange die Finanzierung noch verfügbar ist. Grüße, Daniel. Unsere Daten zeigen, das Helmut Höge unsere Internetseite aufgerufen und darum gebeten hat, ihn zu kontaktieren.“

Das kann doch nicht sein, das wüßte ich doch!

Um ohne zu arbeiten an Geld zu kommen, muß man nur Mails wie die folgenden beantworten:

Der Fonds der Susanne Klatten Family investiert in ein breites Spektrum von Branchen, Kontinenten und Anlageklassen, darunter direktes Private Equity, Immobilien, alternative Energien, Finanzinstrumente und Start-ups der Grundstoffindustrie, die von der Familie zu Fundraising-/Investitionszwecken initiiert wurden. Deshalb wurden Sie für eine Spende/Investition von 7,5 Millionen Euro ausgewählt. Grüße Susanne Klatten Familienfonds“

Am Sichersten scheint immer noch der Geldbeschaffungsweg über das uralte sexuell konnotierte Menscheln – nun über Email an zigtausend Adressaten gleichzeitig gerichtet:

Hallo!!! Es tut mir Leid, dass ich Euch Schreibe, mit einer kleinen Verzögerung. Ich hoffe, dass ich dir interessant und du willst eine ernsthafte Beziehung? Ich hoffe, dass wir gemeinsame Interessen fur die Zukunft. Ich Suche einen ernsten Mann, der bereit ist an der Beziehung. Wenn du dann andere Interessen dazu, dann konnen wir uns besser nicht treffen. Ich brauche nur ein ernster und anstandiger Mann, der eine ernsthafte Beziehung haben mochtest. Mein name ist Elena, ich bin 29 Jahre alt und mit meinem Alter habe ich keine Zeit fur Spielchen! Ich die ernste und anstandige Frau, ohne schadliche Gewohnheiten. Wenn Sie Interesse an der Fortsetzung der Bekanntschaft, schreiben Sie mir bitte. Ich freue mich, dich kennen zu lernen! Warte auf deine Briefe. Elena!“

So geht’s aber auch:

Wollen Sie Ihre Niere für Geld verkaufen? Unser Krankenhaus ist spezialisiert auf Nierenchirurgie / Transplantation und andere Organ-Behandlung, werden dringend in der Notwendigkeit für O + ve, A + ve und B + ve Nierenspender mit oder ohne Pass und wir bieten Ihnen eine schöne Menge von maximalem Betrag $ 950.000 US Dollar. Jeder Interessierte sollte freundlich Kontaktieren Sie uns per E-Mail: ubth11@gmail.com oder WhatsApp +2347063061652“

Hier noch eine mail von wirklichen Herzchen, die damit die niedersten Instinkte von Scheißkerlen wecken wollen:

„Grüße vom Welteliteimperium der Illuminaten. Möchten Sie Teil einer Gruppe netter Menschen sein, die danach streben, Ihr Wissen zu erweitern, um persönliches Wachstum zu erreichen? Möchten Sie reich sein?, mächtig und berühmt. Brauchen Sie Schutz in Ihrer Arbeit oder Ihrem Geschäft, um mehr Aussichten für das zu haben, was Sie tun? Falls JA! Dann können Sie Ihre Träume verwirklichen, indem Sie Mitglied des großen Illuminatenimperiums werden. Sobald Sie Mitglied sind, können all Ihre Träume und Herzenswünsche vollständig erfüllt werden. Wenn Sie daran interessiert sind, Mitglied der großen Illuminatenbruderschaft zu werden, melden Sie sich von Ihrem privaten E-Mail-Konto aus bei uns, um weitere Informationen zum Beitritt zu den Illuminaten zu erhalten.

Bitte antworten Sie nur auf unsere direkte Rekrutierungs-E-Mail an: info@contactilluminati.online Bitte beachten Sie: Stellen Sie sicher, dass alle Ihre Antworten direkt und ausschließlich an die oben angegebene E-Mail-Adresse gesendet werden: info@contactilluminati.online Weitere Anweisungen zu unserem Mitgliedschaftsprozess folgen. Die Illuminaten

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Helden/Heldinnen (1)

Unglücklich das Land, das Helden nötig hat,“ schrieb Bertolt Brecht. Jetzt ist das deutsche Land endlich unglücklich, mit so ziemlich allem – von der Stationierung amerikanischer Raketen und den eskalierenden Ukraine-Gaza-Yemen-Kriegen über die Fußball-EM und die vielen Starkregen bis zu den zu hohen Mieten und der rotgrünen Regierung mit ihrem Wärmepumpengesetz, verbunden mit dem Wechsel von billigem russischen Erdgas zu teurem amerikanischen Frackingscheiß.

Und da kommen uns auch schon quasi wie bestellt ein paar Eventkanonen mit einer fetten Ausstellung samt Katalog über „Helden“, d.h. mit einem ganzen Fächer voller Held*innen. Es ist selbstverständlich eine „kritische“ Ausstellung, diachronisch und synchronisch sowieso, zudem legt sie nahe, dass die Wahrheit des Heldentums heute vielfältig ist, eine Multitude geradezu: Helden für jeden und in jeder Lebenslage. Solch eine Vielfalt verdanken wir, als Habenichtse, der angloamerikanischen Globalisierung (während ihre neoliberalen Profiteure allerdings eher die Einfalt preisen).

Die einen aus dem Prekariat schwärmen nun für ihre Helden im „Dschungelcamp“, für den Fußballer Lionel Messi oder für den Hitlerattentäter Stauffenberg, die anderen für einen schwulen Formel-1-Fahrer, für Donald Trump oder für den ermordeten Martin Luther King, und wieder andere für Greta Thunberg Carola Rackete oder Taylor Swift. Für kurze Zeit auch für drei junge Männer von einer freiwilligen Feuerwehr in Sachsen, die mutig alle Brände löschten, aber dann als Brandstifter entlarvt wurden. Wir wollten als Helden dastehen, entschuldigten sie sich vor Gericht.

All diese Vorbilder und noch viele mehr werden von der Ausstellung auf dem ehemaligen französischen Flugplatz in Berlin-Gatow, der nun ein „Militärhistorisches Museum“ ist, ins Feld geführt. Drumherum befindet sich auf dem Freigelände die weltweit größte Sammlung von militärischen Großgeräten. Sie umfasst Flugabwehrsysteme (Flugabwehrkanonen und Flugabwehrraketen), Radargeräte, aber auch andere Erfassungssysteme und Zielhilfen, Transport-, Schlepp- und Wartungsfahrzeuge, Fernmeldesysteme und ortsfeste Anlagen.

Für die Ausstellung sind die Veranstalter tiefschürfend in die Geschichte des Heldischen eingestiegen: Angefangen mit dem mythischen Helden Herakles, der Griechenland einst löwenfrei machte, und dem biblischen Helden David, der den Riesen Goliath besiegte, wenn man dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ glauben darf.

Aber wer ist das, der nun diese ganzen Helden derart ins Spiel bringt? Das ist zum Einen der „Sonderforschungsbereich 948 der Universität Freiburg“, von dem ich immer dachte, dass da knallharte Militärforschung betrieben wird, aber nein: doch eher weiche. Denn mit Geld von der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ wurde in diesem „DFG-Projekt Nummer 181750155“ zwölf Jahre lang über „Helden. Heroisierungen. Heroismen“ geforscht, d.h. gegrübelt und Material gesammelt – bis entweder das Geld ausging oder man sich sagte: Nun ist genug. Vielleicht meinte aber auch das mitbeteiligte „Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr“ in Potsdam (wo man statt in weißen Kitteln in olivfarbenen Uniformen forscht und der Leiter ein forscher Oberst ist, zusammen mit einem englischen Militärhistoriker): Jetzt müssen wir endlich mal Nägel mit Köpfen machen!

Eben eine Ausstellung. Der „Sprecher“ des Sonderforschungsbereichs, ein „klassischer Archäologe“, bekam einen neuen Job: als Sprecher des „Direktoriums des Freiburg Institute for Advanced Studies“. Und für die Gestaltung der Ausstellung gewann man (mit viel Geld?) die linke, aufklärerische „Künstlergruppe Rimini Protokoll“, wie Wikipedia das dreiköpfige Berliner Autoren-Regie-Team“ nennt, das normalerweise eher die „Anti-Helden“ feiert/featured, denn „die Helden wurden inzwischen von Antihelden verdrängt, da diese wesentlich attraktiver zu sein scheinen. Dies liegt daran, dass sie verletzlich, unglücklich und größtenteils das Produkt einer gescheiterten Gesellschaft sind,“ wie es auf „gedankenwelt.de“ heißt und wie die Uni Kiel sie erforscht. Also eher Don Quichotte als Manfred von Richthofen.

Der sowjetische Schriftsteller Alexander Goldstein will diese Verdrängungsleistung allerdings nicht hinnehmen. In seinem Roman „Denk an Famagusta“ (2016) fragt er sich deswegen, ob „die Kultur“ nicht am Ende ist, „wenn fette, Operettenballetteusen beweihräuchernde Börsenspekulanten die Helden sind“? An anderer Stelle bedauert Goldstein: „Der Familienvater ist der heutige Held.“ Also wenn es um „Helden des Alltags“ geht – wird dann nicht das „Prinzip Held“ ausgehebelt? Der Polnische Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth meint in seiner erzählten Autobiographie „Nach vorn“ (2013), dass die ungeheuerlichen Naziverbrechen eine „Entindividualisierung des Helden“ bewirkt habe, verbunden mit einer „Entindividualisierung der Situation“. An anderer Stelle spricht er dafür von einem „Heroismus des Aufhörens“, dazu erwähnt er verschiedene Theaterkollegen, die, wenn es am Schönsten war, etwas anderes unternahmen.

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Helden und ihre Geliebten

Zwei Mal hatte ich mit Redakteuren zu tun, die immer wieder von ihren Freundinnen kritisiert wurden, wenn sie lasch und luschig wurden, also es ohne Not an radikalem Denken fehlen ließen. Sowohl die Redakteure als auch ich, wenn ich es denn mitbekam, begrüßten diese Kritik. Dabei ging es um männigliche Kopfarbeit (Textbearbeitungen). Es gibt aber auch Fälle, wo eine Frau ihren Freund aus Liebe zur Handarbeit (zur Tat) drängte.

Im Gegensatz zum slowakischen Widerstand gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, der in einen blutigen Partisanenkrieg gipfelte, war der tschechische Widerstand kurz: Er begann am 5. Mai 1945 und endete mit einem Waffenstillstand sowie mit dem Abzug der deutschen Wehrmacht aus Prag am 8. Mai 1945. Er dauerte also drei Tage, am nächsten Tag zog die Rote Armee in die befreite Stadt ein. Bei den Widerständlern kämpfte der Gymnasiast Josef Skvorecky. Seine Beteiligung geschah, weil er seiner Freundin imponieren wollte, wie er später in seinem Buch „Feiglinge“ (1986) berichtete. Es erschien zunächst in seinem Verlag „68 Publisher“, nachdem er mit seiner Frau ins Exil nach Kanada geflohen war, als die Rote Armee den „Prager Frühling“ 1968 mit Waffengewalt beendete.

In der amerikanischen und westdeutschen Studentenbewegung in den Sechziger- und Siebzigerjahren gab es ebenfalls etliche Linke, die militant wurden, um ihrer Freundin zu imponieren, vermute ich jedenfalls stark. Aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und der KPDSU sowie der KPD weiß man von einigen Genossen sogar, dass sie ihrer Freundin bzw. Ehefrau in den Untergrund bzw. den bewaffneten Kampf folgten, nachdem diese sie zum Mitmachen gedrängt hatten.

2006 erschien auf Deutsch ein Bericht des Genfer Informatikers und Schriftstellers Daniel de Roulet mit dem Titel „Ein Sonntag in den Bergen“. Dazu hieß es auf dem Umschlag: „An einem schönen Sonntag im Kalten Krieg habe ich oben auf einem Schweizer Berg Axel Caesar Springers Chalet in Brand gesteckt. Wie und warum, das will ich hier erzählen.“ Weiter heißt es dort: „Zuvor aber möchte ich schildern, was mich dazu getrieben hat, diese Tat zu gestehen. Auslöser war nur eine Bemerkung, die mich im Innersten berührt hat: ‚Ich weiß nicht, ob es Ihnen so geht wie mir, Tag für Tag bekämpfe ich das, wofür ich mich als junger Mann engagiert habe‘.“

Die Bemerkung stammt vom Bundeskanzler Gerhard Schröder 2003. Daniel de Roulets erfolgreicher Brandanschlag geschah 1975, die Tat war gemäß Schweizer Gesetz nach 10 Jahren verjährt. Seinen Bericht danach widmete der Autor seiner Jugendliebe, die 2005 an Krebs gestorben war. Er wurde 1944 geboren, sie vier Jahre später. Während ihrer Beziehung kritisierte sie ihn immer wieder: „Sie fand mich zu zögerlich, warf mir vor, ich hielte Sonntagsreden und trüge nichts dazu bei, unsere prachtvollen Schweizer Berge von den Mistkerlen zu säubern, die sich dort verkrochen.“

Mit der Zerstörung des Springerschen „Adlernestes“ oberhalb des noblen Gstaad, wo man im Winter nur mit dem Hubschrauber hinkam, wollte er ihr „beweisen, dass sie sich irrte“ – ihr zeigen, dass er „zur Abwechslung auch mal ein Held sein konnte“ – als „Sonntagsterrorist“, den sie einen „Textualtäter“ nannte. Sie beteiligte sich an der Tat. Als „Weihnachtsgeschenk“ für sie mietete er eine Nacht im Gstaader „Palace Hotel“ – unter falschem Namen, mit windfesten Perücken und einer gestohlenen Kreditkarte. Zuvor hatte er an der TH Zürich einen „Kurs über Dynamit“ mit praktischen Übungen und einem Zeugnis am Ende belegt. Die Brandstiftung führte er jedoch mit zwei Weihnachtskerzen und einer Tube Brennpaste im Living-Room des Chalets aus, während sie draußen „den Luftraum überwachte“.

Das Schlimmste war früh Morgens von Palace Hotel aus der Aufstieg zum Chalet. Sie brauchten dazu fünf Stunden in Eis und Schnee. „Lächelnd übernahm sie die Führung.“ Die Zerstörung des „Adlernests“ von Springer, dem vermeintlichen „Nazischwein“, nannte er „Operation Berchtesgaden“ – in Anspielung an Hitlers Alpen-Refugium. Für die Presse hatte er ein Bekennerschreiben verfaßt und in frankierten Umschlägen bereit gelegt. Der Anschlag hatte internationale Ermittlungen zur Folge, „auf unseren Kopf wurde ein Preis ausgesetzt“. Zunächst richtete sich der Verdacht natürlich (!) auf einen Russen und dann auf deutsche Terroristen. Jahre später besuchte Daniel de Roulet den Tatort noch einmal, ohne seine Freundin: Vom Springerschen Chalet keine Spur mehr, der Berg war wieder „rein und weiß“.

Es gab noch einen anderen Multimillionär, der eine ähnliche Berghütte – allerdings auf einem Kärtner Berg – besaß: den linksradikalen Verleger Giangiacomo Feltrinelli. Die Hütte war sein „geheimer Zufluchtsort, zwischen den Bäumen versteckt hielt der fortschrittliche Verleger all die alten schikanösen Herrenrechte aufrecht. Man bezahlte ein Wegegeld, um passieren zu dürfen und die Wachen mit Federhut nahmen Frauen, die Holz sammelten, fest und übergaben sie der Polizei. Es war ein Gärtner, der ihn später zur Revolution bekehrte,“ schreibt der Neoavantgardist Nanni Balestrini in seinem Buch „Der Verleger“ (2020), in dem es um Feltrinellis Versuch ging, 1972 einen Strommast bei Mailand in die Luft zu sprengen, bei dem er umkam.

Balestrini und mit ihm einige „Experten“ legen nahe, dass an dem Sprengstoffattentat „mindestens drei, wenn nicht sogar vier Personen, darunter auch eine Frau“ beteiligt waren. „Es gibt Gerüchte über eine ausländische Freundin des Verlegers, die Schmiere gestanden haben soll“. Am Ende seines Buches über Feltrinellis Tod erwähnt Balestrini einen Koffer, in dem sich ein Tonband befindet, das aus einem Versteck der „Roten Brigaden“ stammt, und „auf dem ein Mitkämpfer Feltrinellis mit dem Kampfnamen ‚Gunter‘ den Ablauf der Aktion erzählt.

Die Roten Brigaden hatten eine eigene Untersuchung des Todes von Feltrinelli durchgeführt. ‚Gunter‘ war ein Mitglied der GAP (der 1970 von Feltrinelli gegründeten ‚Gruppo d‘Azione Partigiana’), das parallel zu dem Anschlag auf den Strommast von Segrate eine zweite Aktion gegen einen weiteren Strommast ausführen sollte, um Mailand in Dunkelheit zu hüllen und dort geplante Aktionen militanter Gruppen zu erleichtern Angeblich ist ‚Gunter‘ mit einem ehemaligen Partisan namens Ernesto Grassi, der 1977 verstorben ist, identisch.“ Dieser ist nicht mit dem Mailänder Philosophen Ernesto Grassi identisch, der 1991 in München starb.

Feltrinelli besaß neben vielen anderen Immobilien auch eine „Jugendstilvilla am Gardasee mit einem Garten aus Tausendundeiner Nacht und einem Kilometer Privatstrand“, wo er seine „prunkvollen und verrückten Partys mit Hunderten von Gästen, intellektuelle Anarchisten, Extremisten, Abenteurer jeder Couleur, und vielen schönen Frauen…“ feierte. Und wenn er nicht am Gardasee Hof hielt, dann war er auf Kuba, als großer Verehrer von Ernesto „Che“ Guevara und Freund von Fidel Castro, deren Bücher er verlegte.

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Helden/Heldinnen (2)

Es gab neben dem rechten Hamburger Verleger Axel Caesar Springer noch einen anderen Multimillionär, der eine Berghütte in den Alpen besaß. Aber während Springer ein eher trauriger Idiot war, der seltsame Partys in seinem Haus auf Sylt feierte und seinen Astrologen befragte, wann der günstigste Zeitpunkt für ein Geheimgespräch mit Nikita Cruschtschow wäre, dem er dann das Angebot machte, die DDR zu kaufen, war der Mailänder Multimillionär Giangiacomo Feltrinelli ein linksradikaler Verleger. Er veröffentlichte zwar das Buch „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak im Westen, was ihm von der CIA zugespielt wurde. Ansonsten verlegte er jedoch keine antisowjetischen sondern antikapitalistische Werke. Überhaupt ähnelte er eher dem Genfer Schriftsteller Daniel de Roulet, der „oben auf einem Schweizer Berg Axel Caesar Springers Chalet in Brand steckte,“ wie Roulet schrieb (siehe Junge Welt v. 9.7.).

Feltrinellis Berghütte in den Kärtner Bergen war sein „geheimer Zufluchtsort, zwischen den Bäumen versteckt hielt der fortschrittliche Verleger all die alten schikanösen Herrenrechte aufrecht. Man bezahlte ein Wegegeld, um passieren zu dürfen und die Wachen mit Federhut nahmen Frauen, die Holz sammelten, fest und übergaben sie der Polizei. Es war ein Gärtner, der ihn später zur Revolution bekehrte,“ schreibt der Schriftsteller Nanni Balestrini in seinem Buch „Der Verleger“ (2020), in dem es um Feltrinellis Versuch geht, 1972 einen Strommast bei Mailand in die Luft zu sprengen, bei dem er umkam.

Balestrini und mit ihm einige „Experten“ legen nahe, dass an dem Sprengstoffattentat „mindestens drei, wenn nicht sogar vier Personen, darunter auch eine Frau“ beteiligt waren. „Es gibt Gerüchte über eine ausländische Freundin des Verlegers, die Schmiere gestanden haben soll“ (so wie auch die Freundin von Roulet bei seinem Brandanschlag Schmiere stand. )

Am Ende seines Buches über Feltrinellis Tod erwähnt Balestrini einen Koffer, in dem sich ein Tonband befand, das aus einem Versteck der „Roten Brigaden“ stammte, und „auf dem ein Mitkämpfer Feltrinellis mit dem Kampfnamen ‚Gunter‘ den Ablauf der Aktion erzählte.“

Die Roten Brigaden hatten eine eigene Untersuchung des Todes von Feltrinelli durchgeführt. ‚Gunter‘ war ein Mitglied der GAP (der 1970 von Feltrinelli gegründeten ‚Gruppo d‘Azione Partigiana’), das parallel zu dem Anschlag auf den Strommast eine zweite Aktion gegen einen weiteren Strommast ausführen sollte, um Mailand in Dunkelheit zu hüllen und dort geplante Aktionen militanter Gruppen zu erleichtern Angeblich ist ‚Gunter‘ mit einem ehemaligen Partisan namens Ernesto Grassi, der 1977 verstorben ist, identisch“ (dieser ist nicht mit dem eher rechten Mailänder Philosophen Ernesto Grassi identisch, der 1991 hochgeehrt in München starb.)

Wikipedia hat sich für eine andere Erklärung des Todes von Feltrinelli entschieden: „Nach 2010 ans Licht gekommene Indizien bestärken Zweifel an der Unfalltheorie, so die Verletzungen an der Leiche Feltrinellis, die – einem damals unterdrückten Gutachten zufolge – auf einen ‚Angriff von hinten‘ und nicht auf eine selbstverschuldete, versehentlich zu früh ausgelöste Bombenexplosion hindeuten. Auch Staatsanwalt Guido Viola will heute eine Verwicklung von Geheimdiensten in den Tod Feltrinellis nicht mehr ausschließen. Zu Feltrinellis 50. Todestag, 2022, war zumindest klar, dass er sowohl vom italienischen Geheimdienst als auch von der CIA beobachtet worden war.“

Die Familie Feltrinelli war mit Immobilien reich geworden. Giangiacomo Feltrinelli besaß neben vielen anderen Immobilien auch eine „Jugendstilvilla am Gardasee mit einem Garten aus Tausendundeiner Nacht und einem Kilometer Privatstrand“, wo er seine „prunkvollen und verrückten Partys mit Hunderten von Gästen, intellektuelle Anarchisten, Extremisten, Abenteurer jeder Couleur, und vielen schönen Frauen…“ feierte. Wenn er nicht auf seiner Yacht war oder am Gardasee Hof hielt, dann war er auf Kuba – als großer Verehrer von Ernesto „Che“ Guevara und Freund von Fidel Castro, deren Bücher er verlegte.

Den Verlag hatte Giangiacomo Feltrinelli 1954 gegründet. Nach seinem Tod übernahm seine Frau Inge Feltrinelli (1930–2018) die Leitung des Verlags, der heute von ihrem Sohn Carlo Feltrinelli geführt wird. Der Verlag hat ab 1957 in die Bereiche Buchhandel (122 Läden bis heute) sowie in den Onlinehandel und in Fernsehen investiert. Zur „Gruppo Feltrinelli“ gehört das Verlagshaus mit einer von Giangiacomo Feltrinelli gegründeten Forschungs- und Kulturstiftung, die laut Balestrini eine einmalige Sammlung linker Schriften beinhaltet.

Daneben unterstützte er auch einige linksradikale italienische Gruppen finanziell und besorgte laut Wikipedia die Pistole, „mit der am 1. April 1971 in Hamburg der dortige bolivianischen Konsul Roberto Quintanilla möglicherweise von der Deutschen Monika Ertl erschossen wurde. Quintanilla war führend an der Polizeiaktion zur Aufspürung und Ermordung Che Guevaras beteiligt gewesen.“

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Kofferworte

Das sind zusammengesetzte Wörter – „Jein“ zum Beispiel, bestehend aus Ja und Nein. Mir geht es hier aber darum, ein paar Worte über Kofferprobleme zu verlieren. Einer Ghanaesin war ihr Koffer auf dem Mailänder Flughafen beim Umsteigen in ein Flugzeug nach Berlin nicht mitgekommen. Sie bat mich, ihr zu helfen. Für solche Fälle gibt es das „Montrealer Übereinkommen“. Es legte fest, dass der kofferlos da stehende Reisende Anspruch auf Ersatzkleidung und Hygieneartikel hat, deren Kosten die Airline erstatten muss. Wenn der Koffer ganz weg ist, wie bei der Ghanaesin, kann man eine Entschädigung (bis zu 1574 Euro) verlangen. Die Fluggesellschaften zahlen jedoch oft weniger als gewünscht. Im Falle der Ghanaesin gar nichts.

Umgekehrt war der Fall bei einer Bekannten aus Hongkong, die ich in Berlin zum Flughafen fuhr: Sie hatte ihren Koffer derart voll mit Geschenken für ihre große Familie gepackt, dass er viel zu schwer war. Und als „Übergepäck“ weder von ihr noch von mir zu bezahlen war, deswegen bot ich ihr an, die Hälfte des Inhalts ihres Koffers als Paket nach zu schicken. Auch das war dann nicht billig.

Ebensowenig mein jüngstes Koffererlebnis: Ich war in Basel, wo ich übernachten mußte. Am nächsten Tag gab ich für 12 Franken meinen Rollkoffer bei der Gepäckaufbewahrung auf dem Hauptbahnhof „Basel SBB“ ab, weil ich noch in der Stadt spazieren gehen wollte. Danach holte ich meinen Koffer ab und stieg in den Zug nach Berlin, wo ich nach einiger Zeit im „Bord-Bistro“ ein Buch aus dem Koffer holen wollte. Dabei stellte ich fest, dass es nicht mein Koffer war, denn es befand sich darin eine rumänische Bibel. Ohne Lektüre aß und trank ich stattdessen für 38 Euro.

Die zwei männlichen Zugbegleiter meinten zu mir dienstlich gestimmt, ich solle den falschen Koffer in Berlin zum Basler Hauptbahnhof zurückschicken und im Internet eine Verlustmeldung bei der Deutschen Bahn ausfüllen. Eine weitere Zugbegleiterin hatte jedoch Mitleid mit mir und telefonierte nach hierhin und dorthin. Heraus kam schließlich, dass sie den Koffer des Rumänen beim nächsten Halt in Karlsruhe zum Bahnhof „Basel SBB“ zurückschicken würde. Seinen Besitzer hatte man bereits auf den nächsten Tag vertröstet. Meinen Koffer, den man dort schon mit meinen Namen versehen hatte (wenn auch auf Schweizerisch: mit „Högge“) würde man zum „Badischen Bahnhof Basel“ bringen, der zu Deutschland gehöre. Von dort gehe alle zwei Wochen ein DHL-Transport ab, mit dem mein Koffer dann für 20 Euro nach Berlin käme.

In Berlin erhielt ich am nächsten Tag eine Mail von einer Frau, die bei der Gepäckaufbewahrungsstelle am „Badischen Bahnhof Basel“ arbeitete: Sie hätte Nachtschicht gehabt, schrieb sie, und da nur wenig los war, hätte sie meinen Koffer schon mal versandfertig gemacht. Er würde deswegen bereits in den nächsten Tagen mit DHL zu mir unterwegs sein.

Im Internet erfuhr ich dann 1. dass ich über eine „DHL-Sendungsverfolgung“ herausbekommen konnte, wo sich mein Koffer gerade auf der Strecke Basel-Berlin befand und 2. dass es sich bei der DHL um die Anfangsbuchstaben von drei cleveren Amis handelt, deren Geschäftsidee 1969 darin bestand, dass sie die Warenbegleitpapiere schon vor dem eigentlichen Warentransport versendeten und die Verzollung der entsprechenden Schiffsladungen damit bereits vor dem Eintreffen der Schiffe beginnen konnte. Bei den Waren handelte es sich zumeist um Versorgungsteile für Ölbohrstellen und Bohrinseln.

2002 kaufte die zuvor privatisierte Deutsche Bundespost für viel Geld den weltweit tätigen Expressdienst DHL. Die Deutsche Post AG besitzt heute laut Wikipedia fünf Airline-Tochtergesellschaften, die für DHL tätig sind. Sie verfügt über 250 Flugzeuge und weitere 21 Flugzeuge auf Bestellung.

2011 arbeitete ein TV-Journalist drei Wochen „Undercover als Paketsklave“ für einen Service-Partner von DHL. Der Film übte massive Kritik an den Arbeitsverhältnissen der Zusteller. 2012 trennte sich DHL von dem Subunternehmer. 2023 erhielt die DHL Group zum zweiten Mal den Datenschutz-Negativpreis „Big Brother Award“ in der Kategorie Verbraucherschutz, weil „sie die Technik ihrer Packstationen so umgestellt hatte, dass man dort kein Paket mehr abholen kann ohne Smartphone und die Nutzung der Post & DHL App“. Die Jury begründete ihre Entscheidung überdies damit, dass die „Post & DHL App“ ungefragt Daten an Tracking-Unternehmen sendet und dass die Ersetzung von Postfilialen durch Paketstationen einen „Versuch, sich den Pflichten der Grundversorgung bei der Briefzustellung zu entziehen“ darstelle.

Ich konnte anhand der DHL-Sendungsverfolgung feststellen, dass mein Koffer tagelang in Karlsruhe lagerte. Aber dann ging es doch weiter – bis ich ihn schließlich vom Zusteller gegen Zahlung von 20 Euro wieder bekam. Indem ich hier nun darüber berichte und dafür ein Honorar bekomme, habe ich unterm Strich aber sogar noch einen kleinen Gewinn gemacht.

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US-Idiotismen

Über 80% aller US-Biologen sind Eigentümer oder Teilhaber von Firmen, die ihre Forschungsergebnisse vermarkten, so die US-Biologiehistorikerin Lilly E. Kay. Vor dem Zweiten Weltkrieg haben die Biologen noch „„ohne jegliches kommerzielles Interesse geforscht,“ meint die US-Mikrobiologin Lynn Margulis. Ihre Kollegen „interessieren sich heute nicht mehr für die Geschichte des Lebens auf der Erde, sondern vor allem dafür, bessere Tomaten zu machen,“ kritisierte sie.

Gleichzeitig versprechen uns die angloamerikanischen Naturwissenschaftler mit ihren albernen Erkenntnissen das Blaue vom Himmel. So tönt z.B. der Biologe Semir Zeki in seinem Buch „Glanz und Elend des Gehirns“ (2010): „Mein Ansatz ist von der Wahrheit bestimmt, von der ich denke, dass sie unumstösslich ist: dass jede menschliche Handlung von der Organisation und den Gesetzen des Gehirns bestimmt ist und dass es deshalb keine wahre Kunst- und Ästhetik-Theorie geben kann, außer wenn sie auf Neurobiologie beruht“ – also auf einem höchst fragwürdigen Forschungsansatz.

Dieser Schwachsinn ist unter aller Kritik, ebenso die folgenden Gedanken des US-Physikers Michio Kaku. In seinem Bestseller „Wettlauf um die Zukunft“ (2023) geht es ihm darum, „wie der Quantencomputer die Probleme der Menschheit lösen wird“. So einen kindischen Unsinn will man doch nicht lesen!

Ebensowenig den US-Bestseller für den sich das „manager-magazin“ erwärmt: „Die digitale Revolution: Verheißungen einer vernetzten Welt – die Folgen für Wirtschaft, Management und Gesellschaft“ (1996) von Don Tapscott, den Vorsitzenden der wirtschaftsstrategischen Denkfabrik „nGenera Insight“. Tapscott prophezeit in seinem Buch: Die neuen Medien werden eine völlig neue Ökonomie hervorbringen, die die alten Wertschöpfungsketten durch -netze ersetzt und eine neue Unmittelbarkeit erlauben. Zudem werden in den Unternehmen Kommandohierarchien obsolet, wobei „zunehmend Kapital durch Geist geschaffen wird“ – Kreativität, die nicht mehr von oben „beaufsichtigt und befohlen“ wird. „In der modernen Wissensökonomie sind Lernen und Arbeiten hundertprozentig identische Aktivitäten“, deswegen werden die neuen „Unternehmen die zukünftigen Universitäten sein“. Als Beispiel erwähnt Tapscott die Universität des Konzerns McDonalds, in der 2006 „eine Million Menschen lernten“, er nennt sie die „Net-Generation“.

Diese hier zitierten Ami-Wissenschaftsutopien sind grauenhafte Dystopien. Manchmal ist so ein nach Ruhm, Ehre und Reichtum gierender Dumpfbeutel aber ohne es zu wollen, ehrlich genug, um das selbst zu sehen. Z.B. der Genetiker und Berater von Biotech-Unternehmen, William Bain in der Zeitschrift „Nature Biotechnology”: „Die meisten Anstrengungen in der Forschung und in der biotechnologischen industriellen Entwicklung basieren auf der Idee, dass Gene die Grundlage des Lebens sind, dass die Doppelhelix die Ikone unseres Wissens ist und ein Gewinn für unser Zeitalter. Ein Gen, ein Enzym, ist zum Slogan der Industrie geworden…Kann das alles so falsch sein? Ich glaube schon, aber ich bin sicher, das macht nichts. Denn die Hauptsache ist, dass es funktioniert: Manchmal funktioniert es, aber aus den falschen Gründen, manchmal wird es mehr Schaden anrichten als Gutes tun…Aber die beobachtbare Wirkung ist unbestreitbar…Wir müssen nicht das Wesen der Erkenntnis verstehen, um die Werkzeuge zu erkennen…Inzwischen führen die Genom-Datenbanken, die geklonten Proteine und anderes Zubehör der funktionalen Genetik zu Werkzeugen, Produkten, Einsichten, Karrieren und Optionen an der Börse für uns alle.”

Ironischerweise nennt sich die mit Computern und anderen Hightech-Geräten operierende Biologie heute „Life Sciences“, obwohl sie mit dem „Leben“ so gut wie nichts zu tun hat. Das Wort „Leben“ taucht in den Biologiebüchern schon so gut wie gar nicht mehr auf. Die Lebenswissenschaftler erforschen heute „nicht mehr das Leben, sondern die Algorithmen des Lebendigen“, stellte der französische Genetiker und Nobelpreisträger Francois Jacob klar.

Der kürzlich verstorbene französische Wissenssoziologe Bruno Latour hielt dagegen die ganze Genetik für einen ärmlichen „Reduktionismus“, räumte allerdings ein, dass sie in der Industrie durchaus Sinn ergebe, d.h. Gewinne verspreche. Mit „Industrie“ ist in gewisser Weise die nahezu weltweit angloamerikanisierte Biologie gemeint, die mit ihren Geräten „objektiv verwertbare Erkenntnisse“ liefert. Ähnlich wie Latour sieht das auch der deutsche Philosoph Gregory Fuller: „Mit der Gentechnik erreichen wir den Höhepunkt unserer Verachtung gegenüber allen natürlichen Wesen,“ schrieb er in „Das Ende – von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe“ 1993.

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In der taz wurde neulich die Preiserhöhung bei Butter begrüßt, weil dadurch die Konsumenten mehr Margarine kaufen. Butter wird aus Milch hergestellt und Margarine aus Pflanzen gewonnen. Milch ist also ein Produkt von Kühen und da es zu viele Kühe auf der Welt gibt, die mit ihrem Pupsen und Rülpsen wesentlich mit zur Klimaerwärmung beitragen, wird den Konsumenten nahe gelegt, sich von pflanzlichen Produkten zu ernähren und also auch Margarine statt Butter zu verwenden, die überdies auch gesünder sein soll.

Das leuchtet alles ein. Allein, diese Logik ist sozial blind wenn nicht gar sozialfeindlich, denn sie bedeutet, dass fürderhin nur noch die Besserverdienenden sich Butter leisten können, während die Geringverdiener auf Margarine umsteigen müssen. Grob gesagt handelt es sich bei diesen beiden Konsumentenschichten um Kopf- und Handarbeiter. Und noch gröber: Einerseits um Leute, die den ganzen Tag am Bildschirm im Büro oder im Home-Office arbeiten und andererseits um Leute, die sich, teilweise draußen, körperlich betätigen müssen.

Erstere joggen oder gehen ins Fitnesscenter nach Feierabend, um nicht zu verfetten und letztere knallen sich Abends müde vor den Fernseher oder treffen sich mit ihren Freunden auf ein oder mehrere Biere. Sie müssten also wegen ihrer schweren Arbeit Butter (Fett) essen und die anderen, die nicht körperlich arbeiten, sollten besser Margarine essen, sich vegan ernähren. Es müßte also genau umgekehrt sein als es nun ist: dass die Butter billiger wird und die Margarine teurer – wenn es schon darum gehen soll, dass ein Lebensmittel im Preis steigen soll oder muß. 

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Folgenreiche Anfänge

„Das Prinzip des Privateigentums, des Warentauschs, ist die Negation von Gesellschaft.“ (Alfred Sohn-Rethel) Der von Herodot so genannte „Demokratie-Begründer“ Kleisthenes mußte – im 6.Jhd. v.Chr. in Athen – von den unteren Klassen gezwungen werden, zuzulassen, dass auch vermögenslose Bürger in Staatsämter gewählt werden durften. Für den Altphilologen George Thomson zeigte dies bereits „den Mittelstandscharakter der Revolution“, zudem war die neue Verfassung dem früheren „Stammesmodell“ nachgebildet – und verbarg so die Tatsache, dass mit ihr die „letzten Überreste der urtümlichen gesellschaftlichen Verhältnisse hinweggefegt worden waren,“ d.h. die Warenbesitzer traten sich nunmehr in der „‚Freiheit‘ des offenen Marktes als Gleiche gegenüber.“

Diese allgemeine „Gleichheit vor dem Gesetz“ (isonomia) bezeichnete bereits Diodoros aus Agyrion im 1. Jhd.v.Chr. als Mogelpackung, da sie ohne „Gleichheit des Eigentums“ (isomoiria) durchgesetzt wurde. Infolgedessen hatte sich laut Thomson „der Klassenkampf, weit davon entfernt, beendet zu sein, noch verschärft.“ Es standen sich nun nicht mehr Adlige und Bürger, Mitglieder einer menschlichen Gesellschaft, gegenüber, sondern Sklavenhalter und Sklaven, wobei letztere „aus der Gesellschaft Ausgestoßene“ und zugleich „Schöpfer ihres Wohlstands“ waren. Dadurch entstand eine Spaltung zwischen Konsumtion und Produktion, zwischen Theorie und Praxis. Die „Ersten Philosophen“, von denen nicht wenige Kaufleute waren, mithin Sklavenhändler, verdanken dieser Trennung von Hand- und Kopfarbeit ihre Existenz.

Das beginnt mit Parmenides: „Er ist der Mann, der unveränderliche und rein begrifflich formulierte Gesetze anstelle anschaulicher Ereignisfolgen setzt und der so Wirklichkeit und Welterfahrung, Denken und Anschauung, Wissen und Handeln entschieden voneinander trennt,“ wie Paul Feyerabend in seiner „Naturphilosophie“ (2018) schreibt. Parmenides begründete damit unsere westliche Wissenschaft – mit ihm beginnt die Philosophie, wie Hegel meint.

Als nächster politischer Reformer trat im 6.Jhd.v.Chr. der Kaufmann Solon auf den Plan. Seine Leistung bestand laut Thomson darin, „die Gesellschaft von der Natur geschieden und als ein sittliches Ordnungsgefüge erklärt zu haben“. Die „isonomia“ ohne „isomoiria“ tastete er nicht an, wiewohl er erkannte, dass der Reichtum „kein Maß“ hat und die „Geldgier der Bürger die Stadt zerstören“ könnte. Gleichzeitig sprach er jedoch davon, dass einer, der sich alles leisten kann, nicht reicher ist als ein anderer, der nur genug zu essen hat. Deswegen wollte er Reichtum und Gerechtigkeit nicht gegeneinander ausspielen, „da diese niemals zu erschüttern ist, während das Geld beständig von einem Menschen zum anderen hinüber wechselt.“

Mir drängte sich dieser ganze Demokratie-Widersinn erstmalig als einkommensloser 18jähriger auf, als ich wegen abgefahrener Reifen an meinem alten VW 160 DM Strafe zahlen mußte, die ich nicht hatte. Während z.B. mein beim Staat angestellter Vater eine solche Summe aus seiner Brieftasche hätte bezahlen können – abgesehen davon, das die Reifen an seinem Auto nie abgefahren waren, weil er immer genug Geld hatte, um sie rechtzeitig zu wechseln. Anders gesagt: Die gerechte – für alle gleiche Strafgebühr – war (und ist) eine schreiende Ungerechtigkeit.

Es kam aber noch dicker: 2001 schlenderte ich die Einkaufsstraße der mongolischen Hauptstadt entlang. Als ich an einem Terrassencafé vorbeikam, sah ich in nächster Nähe von mir ein Pärchen vor zwei Cocktails sitzen: eine junge Mongolin und ein etwa 22jähriger amerikanischer Volontär des Konzerns „Ivanhoe Mines“, wie ich etwas später erfuhr. Ivanhoe ist der Titel eines Kreuzritter-Romans von Sir Walter Scott. Der Bergbaukonzern gleichen Namens hat eine Goldmine in der Mongolei ausgebeutet. Weil er glaubhaft machte, dass er dazu 15 Jahre benötigte, gewährte die Regierung ihm 5 Jahre Steuerfreiheit. Er benötigte jedoch nur viereinhalb Jahre, um alles Gold aus der Mine zu lösen – und weg war er. Dieser „Betrug“ erboste die Mongolen derart, dass es zu gewalttätigen Auschreitungen in der Hauptstadt kam. Inzwischen gehört der Konzern dem noch größeren Bergbaukonzern „Rio Tinto“, der in der Wüste Gobi eine riesige Gold- und Kupfermine ausbeutet.

Zurück zum mongolisch-amerikanischen Pärchen auf der Caféterrasse: Während die junge Mongolin auf der Caféterrasse etwas gelangweilt die Passanten betrachtete, hatte er sich in ein Buch vertieft. Ich spinne nicht: Es war „The White Man’s Burden“ („Die Bürde des Weißen Mannes“ 1899) – ein Poem von Rudyard Kipling, in dem er die Amerikaner zur Kolonisierung Kubas und der Philipinen aufrief, was er als einen humanitären Akt darstellte. Ausgerechnet diesen „Klassiker“ las nun dieser Amischnulli in der Mongolei, während gleichzeitig einen Steinwurf davon entfernt drogenkranke Straßenkinder in der Kanalisation hausten, Frauen an der Landstraße ihre Muttermilch verkauften und die US-Botschafterin in Ulaanbaatar der mongolischen Regierung sagte, was diese als nächstes tun muß.

Sprung – April 2014: Um Russland wie weiland 1918 von White Man’s Nations zu umzingeln, besuchte der US-Verteidigungsminister die Mongolei und bat die Regierung, eine Militärbasis im Land errichten zu dürfen. Der mongolische Verteidigungsminister bedauerte, dass er das nicht genehmigen könne, die Verfassung gäbe das noch nicht her. Aber westliche Experten sind sich sicher: „Wir werden die Mongolei bald nicht mehr wiedererkennen.“ Ja, denn schon werden aus reichen Nomaden seßhafte „Farmer“, die für das Hüten ihres Viehs arme viehlose Nomaden beschäftigen. Für sie ist nun der weiße Mann mit seiner Privateigentumsidee die Bürde.

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Nashörner

Die Klimaforscher Werner Krauß und Hans von Storch warnten ihre Kollegen 2013 im Buch „Die Klimafalle“, sich der Politik anzudienen. Die Wissenschaft, die den Staat unterstützt, wird mit diesem vom Markt geschluckt. Die Politiker sind zudem gar nicht in der Lage, etwas gegen die Klimaerwärmung zu tun, denn sie sind verpflichtet, dem Wohle des Volkes zu dienen, höchstens können sie sich für solche Ökoprojekte engagieren, die ökonomisch profitabel sind oder das versprechen. Aber „wenn sie die Ökologie ökonomisieren, fügen sie bloß einer schwindelerregenden Vielfalt eine weitere hinzu,“ gibt der Wissenssoziologe Bruno Latour in seinem Buch „Kampf um Gaia“ (2017) zu bedenken.

Und die Wirtschaft? Der Chef von Shell z.B., Wael Sawan, ist den Anteilseignern verpflichtet, deswegen muß er genau prüfen, ob sein Konzern in diese Richtung „weiter aktiv bleiben“ will. „Wir wollen unbedingt weniger Kohlenstoff emittieren, aber der Weg dahin muss profitabel sein.“ Investitionen im fossilen Bereich bringen „mindestens 15% Rendite“, aber solche in „erneuerbare Energie nur 5-8%“.

Shell ist wie so viele andere große Konzerne ein „global Player“, Nutznießer der von Reagan und Thatcher angestoßenen „Globalisierung“. Diese wollen manche Linke und NGOs (Greenpeace z.B.) auch für sich reklamieren, was sich etwa in der Parole „Lokal handeln – Global denken“ zeigt oder in der Idee einer „Weltregierung“. Aber, sagt Latour, „genau dieser Utopie dürfen wir nicht auf den Leim gehen. Wir stoßen hier wieder auf die Figur des ‚Globus‘, die nicht nur unmöglich, sondern moralisch, wissenschaftlich und politisch tödlich istSollten sie sich wundern, dass man den ‚Wald‘ sprechen läßt [wie u.a. der Anthropologe Eduardo Kohn in: „Wie Wälder denken“ – 2023], dann müssen Sie sich auch darüber wundern, dass ein Präsident als Vertreter von ‚Frankreich‘ spricht.“

Zwar müssen wir dem Staat „die Flötentöne beibringen“, aber wichtiger noch ist, wenn die „Demokratie neu beginnen soll“, dass dies „von unten her“ geschieht. Und das trifft sich laut Latour gut, denn „es gibt nichts Niedrigeres als den Boden“. Und der ist für uns „Erdverbundene“ (im Gegensatz zu den zum Mars flüchtenden Ami-Milliardären) unabdingbar. Alle Bodenforscher sind sich darin einig. (Siehe dazu den Überblick von Christiane Grefe und Tanja Busse „Der Grund“ – 2024): „Wie wir mit dem Land, mit den Flächen umgehen, ist die zentrale Zukunftsfrage.“

Die Vernachlässigung dieser „Grundlage“ zeigt, dass wir nie materialistisch genug gedacht haben. Und wenn doch einmal, dann wurde es ganz idealistisch – furchtbar falsch. 2016 veröffentlichten der Journalist John Mbaria und der Ökologe Mordecai Ogada eine Kritik des Naturschutzes in Kenia („The Big Conservation lie“). In einem „Geo“-Interview sagte Ogada: „Man muss nicht nach Afrika gehen und Elefanten retten. Naturschutz in Afrika ist eine Form von Selbstverwirklichung geworden. Gott sei Dank hat Jeff Bezos, der reichste Mann der Welt, noch kein Interesse an der afrikanischen Tierwelt gezeigt. Er würde uns den Rest geben.“

Immer wieder werden Dorfbewohner als Wilderer erschossen. Geld aus Anti-Terror-Budgets, u.a. von den Amerikanern, fließt in den Naturschutz. So viel, dass private Sicherheitsunternehmen nach Afrika kommen. Typen, die vorher für das amerikanische Militär im Irak oder in Afghanistan gearbeitet haben. Keiner dieser Leute ist in Polizeiarbeit ausgebildet. Alles, was sie können, ist töten. Sie kommen nach Afrika, um Menschen zu töten. Weil es zu viel Geld gibt. Schutzgebiete sind ein unglaublich primitives und gewaltsames Mittel des Naturschutzes“.

Als Beispiel erwähnt Ogada eine NGO, die in Kenia ein Schutzgebiet für Nashörner eingezäunt hat: „Dort gibt es gutes Weideland und dauerhaft Wasser. Wegen des Zauns können aber die Menschen dort ihre Herden nicht mehr tränken. Sie zerschneiden den Zaun und werden verhaftet. Das ist ein Konflikt, den es ohne Zaun nicht gäbe. Naturschutz ist nicht nur Biologie. Er ist Soziologie, Geschichte, Politik, Anthropologie. Diese Nashörner leben nicht auf einer einsamen Insel. Und somit trägt die Wissenschaft zur Apartheid bei. In den Anzeigen sieht man weiße Touristen, Savanne bis zum Horizont und sonst keine Menschen. Sie lassen mit Photoshop Dörfer verschwinden und preisen ein Produkt an, das nicht existiert. Naturschutz ist der neue Kolonialismus. Früher nahm man den Afrikanern das Land mit Gewalt ab. Heute ist das nützlichste Werkzeug, um an Land zu kommen, ein Nashorn.“

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Politikerschellen und -schelte

Es gibt ein DDR-Satiremagazin „Eulenspiegel“ (obwohl es die DDR nicht mehr gibt) und ein BRD-Satiremagazin „Titanic“ (obwohl es auch die BRD nicht mehr gibt, weil sie sich über ganz Deutschland ausgedehnt hat).

Ein Humorvergleich – aus Platzgründen an einem Beispiel. In beiden Heften werden in ihren Juni-Ausgaben Angriffe auf Politiker und Wahlhelfer aus den Parteien thematisiert.

Politikerdresche“ heißt der zweiseitige Text im „Eulenspiegel“, in dem die Angegriffenen „Backpfeifengesichter“ genannt werden. Über die Angreifer heißt es da, dass die einen ihren „Unmut über den Zustand der Welt“ verbalisieren (schimpfen), während andere eher zuschlagen: „Die Bevorzugung eines dieser beiden Talente erscheint willkürlich und ungerecht.“ Wenn es um die Teilhabe am politischen Geschehen geht, sollte Deutschland die Kritik, „die im Vollkontakt zum Volksvertreter ihren Ausdruck findet, nicht pauschal als unangemessen verurteilen.“

Allerdings gibt der Autor den „Prügelverächtern“ Recht: Die handfeste, gleichsam proletarische Kritik sollte den „richtigen Adressaten“ treffen. Zu oft greifen die „Schläger“ noch „weithin unbekannte Kommunalpolitiker an – arme Seelen mit Geltungsdrang und sogenanntem Gestaltungswillen, deren Handlungsspielraum meist gegen Null geht“. Darauf folgt eine lange Aufzählung von allen wichtigen Politikern – bekannt aus Funk und Fernsehen.

Der Autor unterscheidet beim „Kontakt“ also zwischen Kopf- und Handarbeitern. Da scheint noch die Old Klassenkampf-School durch, denn er fährt fort: „Wer beim Lesen all dieser Namen nicht ein einziges Mal innerlich die Faust geballt hat, werfe den ersten Stein.“

So weit die „Pro“-Handarbeiter-Seite, die 2. Seite soll dazu „Contra“ geben, ihr Autor hebt jedoch bloß auf die intellektuellen Mängel der Handarbeiter ab, die „zu selten den Wirtschaftsteil der Tageszeitung lesen und sich häufiger auf die eher schlicht gehaltenen Informationen aus Whatsapp-Nachrichten, Tiktok und Spiegel Online verlassen“. Als Demokrat sollte man aber „immer die Sichtweise jeder Seite betrachten“.

Das BRD-Satiremagazin „Titanic“ geht das Thema pragmatischer als die DDR-Satire an, indem sie einen „großen Politiker-Prügel-Planer“ veröffentlicht, ausgehend von dem Eindruck, dass mit den Angriffen die „Politikverdrossenheit“ wohl endgültig überwunden ist. Damit das auch so bleibt hat der Autor Ort und Zeit von 10 Parteitreffen recherchiert und gibt dazu jeweils Prügel-Tipps. Bis auf das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) und die FDP sind dies jedoch alles Parteien, die nach den Wahlen unter „Sonstige“ rangieren, also eher „Underdogs“, zudem „Single Issue“-Gruppen (Tierschützer z.B.), die wohl kaum Angriffe gewaltbereiter Wähler fürchten müssen.

Dazu sind die „Titanic“-Prügelvorschläge alle mehr dichterischer Natur. So schlägt sie z.B. bei der FDP vor: „Auf nach Eckernförde zum fröhlichen Liberalen-Wämmsen“ und beim BSW: „Es lechzt nach Knüppelsuppe mit Königsberger Kloppe – in Radolfzell“. Bei den acht „Sonstigen“ geraten dem Autor seine „affrond action“-Vorschläge vollends zu Lyrismen: Da wird einer Partei „Senge bis der Poppen glüht“ versprochen, für eine andere „saftige Schellen“ empfohlen, und eine dritte darf „frische Blessuren in Bitburg“ erwarten.

Beim Ost-West-Vergleich fällt auf, dass gerade die größeren Parteien und ihre Wortführer den Handarbeitern von den „Eulenspiegel“-Autoren nahegelegt werden, während die „Titanic“ CDU, AfD, SPD und Die Linke unberührt läßt, erst recht deren „Zugpferde“. Ihr „Prügel-Planer“ nimmt vor allem die Kleinen, nahezu Selbstlos-Aktiven ins Visier. Bei ihr im Westen (Frankfurt/M) hat man sich also wohl vom Klassenkampf abgewendet, mehr noch: Seit die Frankfurter Lederjacken-Fraktion von Joschka Fischer in die große Politik aufrückte, und er den Ritterschlag in Harvard bekam, wird auf die weiterhin auf Straßenpolitik beschränkten Prekären eingedroschen, wobei die „Schläger“ einen Sinn für lyrisches Haudrauf mitbringen sollen. Der „Eulenspiegel“ gefällt sich dagegen in parteiischem Abwägen eines angemessenen Zorns beim Wahlvolk in einer „gelebten Demokratie“.

Was ist für diese beiden „Printmedien“ erfolgreicher? Während die „Titanic“ laut FAZ „vor der Pleite steht“, gehören zur „Eulenspiegel Verlagsgruppe“ schon acht Buchverlage. Auch die Personalpolitik ist aufschlußreich: Während die „Titanic“ sich vom berühmt-berüchtigten DDR-Publizisten Karl-Eduard von Schnitzler („Sudel-Ede“) schnell wieder verabschiedete, stellte der „Eulenspiegel“ den proletarischen Westberliner Kaufhauserpresser Arno Funke bis heute als seinen wichtigsten Karikaturisten an. Als der noch im Freigänger-Knast saß, bekam er schon einen Arbeitsplatz in der Redaktion und dazu ein Fahrrad, das ihm allerdings bereits am 1.Tag im Gefängnis (!) geklaut wurde.

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Jammerossis

Zum ersten Mal fiel mir auf, dass es in der Leipziger Innenstadt keine öffentlichen Plätze mehr gab. Dass all die Orte, an denen man sich einst versammeln konnte, verschwunden waren…Der Osten ist überschrieben worden, schreibt Jana Hensel in „Achtung Zone“ (2009). Ähnliches geschah auch in Berlin mit dem Alexanderplatz.

2004 wurde im Osten gegen die Einführung von Hartz IV demonstriert. Diese Montags-Demonstrationen waren laut Hensel „ein jämmerliches Bild, das sich bot. Es war kein Platz mehr für sie da.“ Immerhin kamen in Leipzig noch 10.000 Demonstranten zusammen (in Hamburg waren es 30). Der Spiegel schrieb über die demonstrierenden Ostler: „Sie klagen, sie jammern. Viele hängen der Bequemlichkeit der DDR nach und haben sich an das Prinzip der Eigeninitiative nicht gewöhnt.“ Für die Schnullijournalisten der Westpresse waren die einzigen positiven Momente in der Geschichte der DDR zwei Aufstände gegen die SED-Diktatur: die der Bauarbeiter 1953 (mit Westunterstützung) und des Wir-Volkes 1989, der schon 1990 von der Kohlschen „Allianz für Deutschland“ (AfD) nachhaltig beeinflußt wurde.

Für Jana Hensel sind die Straßenproteste nach 1989 (wo es 220 gab) bis heute viel wichtiger: 1990 wurden sie zunächst weniger, aber 1991 waren es bereits 291, 1992 waren es 268 und 1993 noch mehr, nämlich 283. Die Studie, auf die sich die Autorin beruft, endet in jenem Jahr, das auch durch eine zunehmende Härte in der Auseinandersetzung mit der Unverschämtheit der BRD charakterisiert war. In Bischofferode und u.a. in der Berliner Batteriefabrik Belfa fanden Hungerstreiks statt, bei Demonstrationen gegen die Treuhand-Politik wurden Spitzel und Provokateure vom Westen eingesetzt.

Es war eine reine „Spiegelfechterei“ meinte die Narva-Justitiarin über den langen erfolglosen „Kampf“ des Berliner Glühlampenwerks gegen dessen Abwicklung durch die Treuhand. Ähnlich gingen auch die meisten anderen Widerstandsaktivitäten der anderen Ostbelegschaften aus. Die am Streik der Kalibergarbeiter in Bischofferode beteiligte Pastorin Christine Haas meinte anschließend über ihre resignierten Mitkämpfer: „Während der Auseinandersetzungen, so anstrengend sie waren, ging es fast allen gut. Danach fiel alles auseinander. Viele wurden krank, vier starben sogar. Nach der Niederlage passierte fast nur noch rückwärtsgewandtes Zeug im Eichsfeld: Schützenvereinsgründungen, Traditionsumzüge und sogar Fahnenweihen.“ Neben dem Eingang zum Kaliwerk stand noch 1996 die Büste Thomas Müntzers mit dem eingemeißelten Spruch „Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Mann”. Dies sei leider zu wörtlich genommen worden, erklärte mir der letzte Betriebsratsvorsitzende Walter Ertmer: “Die allergemeinsten haben jetzt die Macht!”

Zwischen 1991 und 1993 gab es die „Ostdeutsche Betriebsräteinitiative in die so ziemlich alle zu dem Zeitpunkt noch halbwegs existierenden, aber von gänzlicher Abwicklung bedrohten DDR-Großbetriebe ihre Betriebsräte entsandten. Die Initiative war branchenübergreifend und wurde deswegen von den Branchengewerkschaften IG Metall und IG Chemie bekämpft, gleichzeitig jedoch vom DGB materiell unterstützt: Eine typische infantilisierende „Double-Bind“-Strategie der Westgewerkschaftsorganisationen.

Aus dem „rückwärtsgewandten Zeug“ mendelten sich an vielen Orten im Osten dann die „Pegida-Montagsdemonstrationen“ heraus (20.000 Teilnehmer allein in Dresden), und diese Bewegung ging dann in der „Alternative für Deutschland“ (AfD) auf, deren Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit sich mit ähnlichen Rechtsentwicklungen in vielen anderen, nicht nur europäischen Ländern verbindet. Didier Eribon hat in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ (2016) nachgezeichnet, wie aus den Linken Rechte wurden. Bei der Bundestagswahl 2017 verlor die Linke laut Hensel 400.000 Wähler bundesweit an die AfD.

2018 veröffentlichte sie zusammen mit Wolfgang Engler eine Diskussion über die bisherigen Erfahrungen von Ostdeutschen: „Wer wir sind“. Engler meint darin, „dass diese Bundestagswahl vielleicht das Ende der Nachwendezeit markiert – so wie das Jahr 1968 das Ende der Nackriegszeit markiert“ (die 68er-Bewegung hatte damals ebenfalls viele Länder erfaßt). Der Erfolg der AfD stellt für Engler, „erst einmal gänzlich wertfrei gesagt, die bisher größte Emanzipationsleistung der Ostdeutschen dar“. Eine „Emanzipation“ vom Denken der verfluchten „Besserwessis“. Bei der Europawahl 2024 war das Ergebnis noch einschneidender: Die Linke kam auf 2,7% der abgegebenen Stimmen, die AfD dagegen auf 15,9%.

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Paddeln

Ruder sind fest verankert und Paddel werden in der Hand gehalten. Man rudert im Ruderboot und paddelt in einem Kanu, was sich auf alle Paddelboote bezieht. Aber in der Alltagssprache werden die beiden Begriffe gerne synonym verwendet“, heißt es auf „decathlon.de“.

In Kunst und Werbung haben immer Frauen das Paddel in der Hand, aber in Wirklichkeit paddeln immer die Männer, jedenfalls ich und alle, die ich kenne. Wie oft saßen wir schon mit einer oder mehreren Frauen in einem Boot – mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und paddelten. Die Frauen guckten dagegen nach vorne und sahen alle Augenblicke etwas Interessantes. Seltene Wasservögel zum Beispiel. Wir Männer konnten aber nie den Kopf so weit und schnell herumdrehen, dass wir sie auch sahen. Und sowieso mußten wir uns aufs Paddeln konzentrieren, damit wir nicht ans Ufer stießen und gleichmäßig paddelten, so dass es das Boot nicht zur Seite zog und es nicht spritzte. Schwierig wurde es, wenn uns auf schmaler Fahrrinne ein Paddelboot entgegen kam. Auch darin paddelte ein Mann, während eine Frau, die mit im Boot saß, ihm zurief: „Vorsicht, es kommt uns jemand entgegen!“

Noch erschwerender war der kritische Blick der Frauen von Achtern, mit dem sie uns beim Paddeln vorne beobachteten, besonders wenn das Boot mal wackelte. „Hoffentlich kentern wir nicht,“ dachten sie, „viel Paddelerfahrung hat er jedenfalls nicht“. Und das stimmte ja auch. Ich bin höchstens mit Mutter und Kind öfter mal auf dem Neuen See im Tiergarten gepaddelt, genauer: gerudert, weil die Tochter die ersten geschlüpften Enten sehen wollte. Ähnlich war es auch auf der Spree bei der Insel der Jugend im Treptower Park.

Dort hatte man einst an der Inselbrücke entlang ein Wasserrohr verlegt, das Löcher hatte, aus denen immer mal wieder Wasser spritzte. Die Boote mit den paddelnden oder rudernden Männern fuhren unter der Brücke durch und mit Glück kam ein Schwall Wasser von oben. Die Frauen kreischten und eine, die eine weiße Bluse trug, sagte zur Freundin neben ihr leicht entsetzt: „Du, Schantal, isch glaub, isch werd durchsischtisch“. Als ich das erste Mal mit einer Kollegin unter der Brücke durchfuhr, war diese Spritzanlage aber schon lange außer Betrieb, das Bezirksamt hatte sie aus Spargründen abgestellt.

Neben dem Ruderbootsverleih vis à vis der Insel sprangen bei Bandauftritten auf der Insel die Fans ins Wasser und schwammen rüber, um das Eintrittsgeld zu sparen. Während ich hinter der Brücke das Boot treiben ließ – „mit ruhenden Rudern“ (Pasternak), zitierte meine Kollegin (aus dem Osten) – wohl um mich anzuspornen – Majakowski: „Solange in dieser Newa-Tiefe/Die rettende Liebe Dir nicht begegnet/Irre weiter durch die Kanäle/Rudere!”

All das wäre mir nicht seltsam erschienen, wenn ich nicht seit einiger Zeit Bilder von Menschen mit Paddel sammeln würde – alles Frauen! Das reichte von vielen Plastiken nackter sowjetischer Frauen mit Paddel in der Rechten (im Gorki-Park z.B.) über das berühmte Denkmal für die Fischerfrau „Tine“ auf dem Husumer Marktplatz, die ein Paddel in der Linken hält, bis hin zu Mädchen aus Porzellan oder auf Ansichtskarten mit Paddel und Werbefotos für Bademoden am Strand: Mit einem Paddel in der Hand einer sportlichen jungen Frau.

Es hat da allerdings im Zuge des die Globalisierung begleitenden Individualismus und Feminismus eine Veränderung stattgefunden: Nun wollen mehr und mehr Frauen auch mal paddeln (nicht rudern)! Und dafür bietet sich das neumodische „Stand-up-Paddle-Board“ – inzwischen gewerblich so verbreitet wie die E-Scouter – an. Wenn man auf dem Inselort Wannsee an einem der Verbindungskanäle sitzt, sehen diese Frauen mit ihren langen Paddeln von weitem aus wie „Nordic Walker“.

Die ersten Frauen, die das Paddel selbst in die Hand nahmen, waren aber gar nicht diese „Stand-up-Paddlerinnen“ sondern die Lehrerinnen in den Internatsschulen der amerikanischen Evangelikalen im Amazonasgebiet, die die jungen Indianerinnen bei Verfehlungen mit kleinen Paddeln schlugen, wie ehemalige Internats-Schülerinnen berichten.

Diese kleinen Paddel für schlagende Frauen gibt es noch heute zu kaufen: als SM-Utensil. Sie kosten zwischen 19 und 64 Euro und werden „Spanking-Paddle“ genannt. Für Männer, die sich nicht in SM-Studios trauen oder denen die Bestrafung dort zu teuer ist, gibt es „Home-Spanking-Machines“, bei denen man die Paddelschläge auf seinen Arsch mit der Hand oder mittels Elektromotor auslöst.

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Weltretter

1982 hatte Joseph Beuys anläßlich der 7. Kassler „documenta“7000 Eichen und 7000 Basaltstelen gepflanzt. Man sah darin eine lokale Begrünungsaktion, denn Beuys sprach von „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“. Sie zielte aber aufs große Ganze. Der Anthroposoph Beuys war ein Weltretter bzw. –verbesserer.

Zu seinem 100. Todestag 2021, finden an vielen westdeutschen Orten Beuys-Feiern statt, die wahren Erben der Beuysschen Eichen-Basaltstelen-“Pflanzaktion“ in weltrettender Absicht sitzen jedoch in angloamerikanischen Laboren. Sie nennen sich „Geoengineers“, es geht ihnen darum, das Klima erwärmende CO2 zu reduzieren. Zum Einen drängen sie darauf, anderthalb Milliarden „Eichen“ zu pflanzen, die CO2 aufnehmen. Und zum Anderen zur Nutzung von Basalt-Bergwerken, die abgesaugten Stickstoff aufnehmen und durch Versteinerung binden sollen.

Schon gibt es auf Island und in der Schweiz solche Anlagen, die zum Teil mit dem in der Luft gesammelten Stickstoff Gemüsegewächshäuser betreiben. In Deutschland machte das die Stickstoff produzierende Chemiefabrik SKW vor. Anlässlich des 500. Jahrestags des Anschlags der 95 Thesen durch Martin Luther an die Tür der Schloßkirche in Wittenberg präsentierte das im Wittenberger Ortsteil Piesteritz ansässige Stickstoffwerk 2017 eine „Luther-Tomate“, die es in den Werksgewächshäusern mit Stickstoff aufzieht. Hier deutete sich die Erweiterung der von Beuys in Kassel „gepflanzten 7000 Eichen und 7000 Basaltstelen“ ins Globale an.

Die für den „New Yorker“ arbeitende Journalistin Elizabeth Kolbert hat diese Geoengineers für ihr 2021 auf Deutsch erschienenes Buch „Wir Klimawandler. Wie der Mensch die Natur der Zukunft erschafft“ besucht – und auch gleich die „Schwachstellen“ ihrer Weltrettungsprojekte benannt. In ihrem Buch geht es „um Menschen, die Probleme zu lösen versuchen, die Menschen beim Versuch, Probleme zu lösen, geschaffen haben“.

Der „Gruppe von Negativ-Emissions-Technologen“, die vorschlägt, anderthalb Milliarden „Eichen“ zu pflanzen, „was 200 Milliarden Tonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre binden könnte“, wird von ihr entgegen gehalten: „Bäume sind dunkler. Wenn wir z.B. die Tundra aufforsten würden, würde es die von der Erde absorbierte Energiemenge erhöhen“ – also sogar eher zur „Erderwärmung“ beitragen. „Eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen, wäre, mit der CRISPR-Technologie genmodifizierte hellere Bäume zu schaffen.“ Also sie künstlich zu albinisieren. „Soweit ich weiß, hat das bisher niemand vorgeschlagen, doch es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein,“ meint Elizabeth Kolbert.

Eine weitere Gruppe von Geoengineers will zwecks Verlangsamung der Erderwärmung Kalzit-, Sulfat- oder Diamant-Partikel in der Stratosphäre versprühen, die das Sonnenlicht zurückstrahlen. Dafür hat sie schon mal ein Flugzeug, den Stratospheric Aerosol Injection Lofter, kurz SAIL genannt, konstruiert. Mit dem will man im ersten Jahr 100.000 Tonnen Schwefel versprühen. Leider würde dies „das Erscheinungsbild des Himmels verändern. Er wäre nicht mehr blau, sondern weiß.“

Wenn man jetzt auch noch das Anthropozän-Phänomen der zunehmenden Zahl von quasi-natürlichen Albinogeburten bei Wildtieren und -pflanzen quer durch alle Arten – von der Eidechse bis zum Elefanten und vom Hanf über Mammutbäume bis zum Ahorn – dazu zählt, kann man sich in etwa ein Bild machen: Kein Schnee im Winter mehr, aber ganzjährig weisse Mischwälder mit weissen Tieren unter weißem Himmel.

Der „documenta“-Erklärer Bazon Brock hat es vielleicht schon geahnt, als er in einer Diskussion mit Joseph Beuys über das Konzept „Gesamtkunstwerk“ diesem vorwarf: Ihr könnt so viele Konzepte vertreten wie ihr wollt, sobald ihr uns zwingt, diese Konzepte eins zu eins in der Wirklichkeit zu realisieren, wird es totalitär.“

Bei dem Künstler Beuys bestand dazu keine Gefahr, auch wenn er später mit der Rockgruppe BAP einen Wahlkampf-Spot für die Grüne Partei aufnahm – mit dem Titel: „Sonne statt Reagan“. Aber mit den technischen Weltrettungs-Projekten der amerikanischen Geoingenieure würde diese Gefahr Wirklichkeit werden.

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Deutsche Dunkelheit“

1943 erschien in den USA ein Buch mit dem Titel „Ist Deutschland unheilbar?“, zuvor hatte der Autor, ein Psychiater namens Richard M. Brickner, bereits einen Aufsatz über die deutsche „Paranoia“ veröffentlicht (die später auch als „German Angst“ bezeichnet wurde). Deutschland war für Brickner „ein Kind, das sein Gefühl des Versagens, das mittelalterliche ‚Reich‘ durch Reform oder Revolution in die Gegenwart zu transformieren und damit zu eigener Identität zu kommen und Staat zu werden, durch Aggressivität gegen sich und andere zu kompensieren versuchte,“ schreibt der Leipziger Künstler Lutz Dammbeck in seinem Buch „Seek“, das der Entstehung und Ausweitung der militärischen Elektronik in das zivile und künstlerische Leben der USA bis zur „Pax Americana“ nachgeht.

In seiner Ferndiagnose für Deutschland stellte Brickner den „friedlichen und auf Kooperation bedachten Balinesen“ (die 1935 von der mit Brickner zusammenarbeitenden Anthropologin Margaret Mead studiert worden waren), ferner den „Indianern und anderen ‚Naturvölkern‘ den preußischen Junker gegenüber: das Schreckgespenst einer Kaste, die mit ihrer Aggressivität, Arroganz und Militanz die deutsche Kultur dominierte und von klein auf erzogen und trainiert wurde, Krieg zu führen.“

Schon seit langem hatte man das von den Junkern beherrschte Ostelbien mit der Plantagensklaven-Ökonomie der Südstaaten verglichen. Und bis heute hat sich der Süden der USA nach dem Sieg des Nordens und seiner „Reconstruction“ nicht wieder ökonomisch erholt.

Ähnlich in Ostelbien: Nach Auflösung der DDR wurde ihr deindustrialiertes Territorium mit einem gigantischen „Umschulungsprogramm“ überzogen: „Sie müssen lernen, sich besser zu verkaufen,“ hieß das Erziehungsziel in ihrem zu einem „Marktstaat“ umgebauten Sozialismus. Gleichzeitig erhielten die Junker bzw. ihre Erben preisgünstig ihre Ländereien und Gebäude im Osten zurück, einschließlich vieler volkseigener Wälder.

1944 diskutierte eine Konferenz in New York die Bricknersche „These von einer kollektiven Paranoia der Deutschen“, dabei wurde ein großes Programm zu ihrer Umerziehung („Reeducation“) entworfen. Die meisten Teilnehmer (Psychiater, Psychoanalytiker, Soziologen und Pädagogen) „waren dem psychoanalytischen Konzept Freuds verpflichtet, vor allem seiner im englischsprachigen Raum dominierenden Definition von Paranoia,“ schreibt Lutz Dammbeck, der an anderer Stelle seines „Seek“-Buches nachweist, dass Freuds Paranoia-Definition „schlicht falsch“ war. Obwohl die Brickner-Konferenz „mit einem in der Sache falschen Begriff arbeitete, den sie den Reeducation-Rezepten zugrunde legte, hatten die Konzepte der USA für eine Reeducation der Deutschen nach 1945 langfristig gesehen einen scheinbar großen Erfolg“. Scheinbar.

Der Geist des Rationalismus“ sollte nach dem Sieg der Alliierten „die deutsche ‚Dunkelheit‘ ersetzen, der Geist des Kalküls die deutsche ‚Unberechenbarkeit‘, der Geist der Toleranz den deutschen ‚Radikalismus‘, der Geist des Liberalismus die deutsche ‚Despotie‘ und der Geist einer humanitären Brüderlichkeit den deutschen ‚Rassenwahn‘.“ Dabei wollte man die Demütigung der Deutschen, wie nach dem Ersten Weltkrieg geschehen, vermeiden. Nach ihrer „Genesung“ sollten sie „Partner Amerikas in einer neuen Weltordnung“ sein, dazu musste das Land ein „Marktstaat“ werden. „Die Eigenkräfte der Wirtschaft und deren normative Kraft des Faktischen würden dann zum Anschluss Deutschlands an das westliche System einer liberalen Marktwirtschaft und eines unteilbaren freien Weltmarktes führen.“

Heraus kam dabei jedoch, dass die Westdeutschen servile Nachäffer der Amis wurden und ihre Paranoia sich im Kollektiv erneut bei „Corona“ und „Putin“ zeigte und zeigt. Schon in den Siebzigerjahren, hatte der nach Amerika ausgewichene und 1955 zurückgekehrte deutsch-jüdische Sozialphilosoph Ulrich Sonnemann dafür plädiert, Westdeutschland auf einer 870-Kilometer-Couch zu therapieren. Ich habe vorweg gegriffen.

Um für das nicht billige Projekt der Umerziehung aller Deutschen zu werben, kam Ende 1944 ein Film in die amerikanischen Kinos: „Morgen, die ganze Welt!“ Darin reist ein Hitlerjunge als Waisenkind in die USA, wo er gegen Juden, Frauen und Schulkinder von Einwanderern agiert. An ihm wird mit Hilfe einer Mischung aus Psychoanalyse und Reflextheorie/Behaviorismus „das Experiment der deutschen Umerziehung erprobt“. Er bekommt auch Prügel – von einem polnisch-stämmigen Klassenkamerad. Aber am Ende erhält er „durch den Akt eines ‚Reinforcement‘ [einer Verstärkung] die Uhr, die er sich zu Beginn des Films so sehnlich gewünscht hat. Danach bricht er zusammen. Er weint. Nun kann er neu aufgebaut werden. Der deutsche Hitlerjunge wird in die amerikanische Familie aufgenommen und amerikanisiert. Schaut her, so werden wir das machen. ‚Auch ihr könnt so wie wir sein!‘“ Ihr Deutsche!

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Tiger

Kürzlich begleitete ich meinen Philosophenfreund Anselm in den Ostberliner Tierpark. Er wollte sich u.a. die zwei jungen Sumatra-Tiger Luise und Lotte ansehen, aber man hatte sie gerade in den Westberliner Zoo verbracht. Anselm schimpfte: „Dieser verdammte Doppeldirektor von Zoo und Tierpark. Er packt auf Drängen des Zoo-Aufsichtsrates alle interessanten Tiere, und Tiger sind die philosophisch interessantesten, in den Zoo. Zurück bleiben in Ostberlin nur solche Tiere, die der Zoo nicht haben will. Eine Riesensauerei, denn der Tierpark ist der größte Europas und hat viel Platz, aber seit der Wende immer weniger Tiere, während der Zoo einer der kleinsten ist, aber von Knieriem wird er immer mehr mit Prestigebauen und Gehegen zugeballert. Dabei sollte man das Gelände besser verkaufen, es ist die wertvollste innerstädtische Immobilie, und die Tiere in den Tierpark umsiedeln. Stattdessen wird dort das Gelände Stück für Stück an Immobilienentwickler verkauft und die Tierpfleger demotiviert. Ach, diese verbrecherische Wiedervereinigung und dieser unselige Doppeldirektor.“

Anselm kritisierte dann auch mich: Ich hatte in einem Tiertext geschrieben: „Im indischen Sundabardelta wurden vor einiger Zeit mehrmals Menschen von Tigern getötet. Da die Raubtiere stets von hinten angeschlichen kamen, setzten sich die Waldarbeiter Halloweenmasken verkehrt herum auf, so dass es aussah, als hätten sie hinten Augen: Nach Einführung dieses Maskentricks wurden keine Maskenträger mehr angegriffen.“

Das stimmte zwar, meinte Anselm, aber nur zur Hälfte, denn nach einiger Zeit kamen die Tiger hinter diesen Trick, der damit nicht mehr funktionierte. Auch meine Bemerkung, dass Putin den vom Aussterben bedrohten Amur-Tiger unter seinen persönlichen Schutz gestellt habe, sei Unsinn, meinte Anselm, denn das sei doch bloß eine blöde Propagandaaktion. Ich widersprach ihm: Tiger können unterscheiden. Naturforscher, die im Fernen Osten Russlands arbeiten, behaupten, dass die Amurtiger sie nicht angreifen sondern tolerieren, weil sie ihnen wohlgesonnen seien, während sie Jägern bzw. Wilderern mitunter tagelang auflauern würden. Anselm bezweifelte das: Wenn sie sich dabei man nicht irren…

Ich erzählte ihm von einer indischen Zoologin, die einen Tiger groß zog, nicht die einzige, und ihn dann in einem Nationalpark auswilderte. Dazu mußte sie dem Tier, ein Weibchen namens Jenny, das Jagen beibringen. Zunächst übte Jenny das Fangen und Töten an kleinen Amphibien. Bei ihrem ersten richtigen „Riß“ tanzte sie noch um den Kadaver herum. Die Zoologin mußte ihn ihr mit einem Messer quasi mundgerecht zubereiten, aber dann kam die Tigerin langsam auf den Geschmack – und wurde sogar ungehalten, wenn die Zoologin hinter ihr durch den Wald stolperte und der Lärm die Beute von Jenny verscheuchte.

Anselm hatte ein Gegenbeispiel parat – vom Leipziger Zoodirektor Karl Max Schneider, der meinte, dass die Jagdfähigkeit angeboren sei: In seinem Buch „Tiere im Zoo“ habe er einen viereinhalb Monate alten Tiger aus Indonesien erwähnt, der im Wirtschaftshof aufgezogen wurde und dort eine kleine Antilope, die noch die Flasche bekam, „kunstgerecht“ riß – mit den Zähnen am Hals und den Krallen im Rücken: „Dabei hatte der Racker noch nie gesehen, wie erwachsene Tiger Beute schlagen! Und wie überhaupt in ihm das Gefühl dafür aufdämmerte…“

Ich erzählte ihm daraufhin von der amerikanischen Tigerdompteurin Mabel Stark. Sie lebte mit dem von ihr großgezogenen Tiger „Rajah“ in ihrem Wohnwagen zusammen, er schlief auch in ihrem Bett, ebenso wie ihr dritter Ehemann, der Löwendompteur Louis Roth. In der Manege bestand ihre berühmteste Nummer darin, dass sie ihren 20 Tigern den Rücken zukehrte und Rajah sie plötzlich von hinten ansprang, zu Boden warf und mit ihr rang. Mit der Zeit entwickelte sich daraus bei dem Tiger ein Paarungsakt. Weil sein Samen auf ihrem schwarzen Lederkostüm unschön aussah, wechselte sie in ein weißes Kostüm, das sie bis zum Ende ihrer Karriere 1968 trug.

Mable Stark wollte irgendwann mit ihren geliebten Tigern keine albernen Kunststücke mehr einüben, stattdessen wollte sie deren Schönheit präsentieren: Sie liefen herum, sprangen von Postament zu Postament – und taten alles wie im Fluß. Sie erwartete großen Applaus, er war aber nur verhalten „respektvoll“. Ganz anders die darauffolgende Löwennummer eines Dompteurs: „Die Tiere fletschten die Zähne, schlugen mit den Tatzen durch die Luft, der Dompteur mußte mehrmals seine Schreckschußpistole einsetzen. Als sie von ihren Postamenten runtersprangen und auf ihn losgingen „konnte er sich nur mit einem Hechtsprung durch die auffliegende Käfigtür retten.“ Das Publikum johlte und klatschte stehend.

Die Löwendompteurin beim Zirkus Busch, Tilly Bébé schrieb über ihre abendlichen Auftritte: „Diese unverkennbare Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit, zwischen Leben und Tod ist im Grunde die Stelle, die das Publikum interessiert.“ Aber das interessiert nicht die Tiger.

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Tiger (2)

Was ist denn nun aber so philosophisch an den Tigern, die der Katzenforscher Paul Leyhausen übrigens trotz ihrer Größe zu den „Kleinkatzen“ zählt, weil sie nicht brüllen und Streifen haben? Das hat die Kulturschaffenden jedoch nicht davon abgehalten, in dieser größten Raubkatze eine geeignete Metapher für die den Menschen gefährliche aber auch verführerische „Natur“ zu sehen. Der Dadaist Walter Serner behandelte 1921 dieses vormoderne „Spannungsverhältnis“ in seinem Roman über eine Verführerin, die er schon im Titel „Die Tigerin“ nannte.

Der Zirkushistoriker Werner Philipp behauptet: „Tiger riechen angenehm, ihr Geruch sei erotisierend, sagen manche Frauen.“ Meinen sie damit einen kraftvollen männlichen Geruch oder sind diese Katzen ihnen eher „Gleichnis für die Femme fatal“? wie der Ökologe Josef Reichholf vermutet. Die Männer scheint ansonsten nicht so sehr das Geschlecht, sondern eher die Gefährlichkeit der Tiger zu interessieren. So bezeichnete Mao tse Tung die USA mit ihren Atombomben einst als „Papiertiger“ und Noam Chomsky kürzlich Russland – allerdings mit Fragezeichen.

Der Philosoph Theodor W. Adorno dachte 1951 über die echten Tiger in den Zoos nach (in: „Minima Moralia“): „Der Tiger, der endlos in seinem Käfig auf und ab schreitet, spiegelt negativ durch sein Irresein etwas von Humanität zurück, nicht aber der hinter dem unüberspringbaren Graben sich tummelnde.“

Solche „Freianlagen“ stellen laut Adorno einen humanitären Fortschritt dar. Weniger fortschrittlich ist dagegen, dass allein in den nordamerikanischen „Freianlagen“ mehr Tiger als in wirklicher Freiheit leben. „Verderblich ist des Tigers Zahn, / Jedoch der schrecklichste der Schrecken, / Das ist der Mensch in seinem Wahn,“ hieß es 1799 in Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“, im Jahr, als Napoleon die Revolution für beendet erklärte.

Die Russische Revolution nahm dann einen neuen Anlauf. Leo Trotzki schrieb 1924 in „Literatur und Revolution“: „Der sozialistische Mensch will und wird die Natur mittels der Maschine beherrschen. Natürlich bedeutet das nicht, dass der ganze Erdball liniert und eingeteilt sein wird. Es werden bleiben Dickicht und Waldungen und Auerhähne und Tiger, aber dort, wo der Mensch ihnen den Platz angewiesen haben wird. Und er wird dies so geschickt anstellen, dass sogar der Tiger den Hebekran nicht merken und sich nicht langweilen und so leben wird, wie er in Urzeiten gelebt hat. Das Bestreben, die Not, den Hunger, den Mangel zu besiegen wird eine Reihe von Jahren die herrschende Tendenz sein. Später wird der Gegensatz von Technik und Natur in einer höheren Synthese seine Lösung finden.“

Und damit den Tigern posthum Gerechtigkeit widerfahren lassen? Angesichts der aktuellen „Krisen“ kann man mit Walter Benjamin von einem „Tigersprung in die Geschichte“ sprechen, insofern nicht das Nächstliegendste (Klimakatastrophe, Artenschwund, Armut…) „angesprungen“, sondern sich erneut in Nationalismus und Rassismus verbissen wird. Im Kern des „Tigersprungs“ ging es ihm 1940 um eine Fortschrittskritik.

Der Menschenfreund Benjamin ging dabei tigermäßig nicht so weit wie der Tierfreund Arthur Schopenhauer, der 1851 in Parerga und Paralipomena II“ schrieb: „Der Mensch ist das einzige Tier, welches Andern Schmerz verursacht, ohne weiteren Zweck, als eben diesen. Die andern Tiere tun es nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen, oder im Zorn des Kampfes. Wenn dem Tiger nachgesagt wird, er töte mehr, als er auffresse: so würgt er alles doch nur in der Absicht, es zu fressen.“

Es gibt eine alte chinesische Redewendung: „Fasse einen Tiger nicht am Hintern an“. Die heutige chinesische Regierung „reitet“ gar „auf dem Tiger“ (bei ihrer Taiwan-Politik), wie der Philosoph Cajo Kutzbach meint. Während der Philosoph Peter Reiter eine „neue globale Ökonomie“ visioniert, die er „Den Tiger reiten“ nennt, will der Philosoph Julius Evola mit seinem Buch „Den Tiger reiten“ eine „Revolte gegen die moderne Welt“ anzetteln. Die Metapher stammt in allen Fällen von Friedrich Nietzsche, der 1873 in „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ schrieb: „Verschweigt die Natur dem Menschen nicht das allermeiste, selbst über seinen Körper!“ Aber wer hinter das „Bewußtseinszimmer“ blickt, der ahnt, „dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit!“

Dazu heißt es auf der Plattform „uni-stuttgart.de“: „Spätestens seit dem Einzug des Internets ist klar, dass wir alle auf einem Tiger reiten“. Meinen die Studies damit etwa das Apple-Betriebssystem „Mac OS X Tiger“?

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