vonImma Luise Harms 25.04.2022

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Das ist Jeanne d’Arc, die heilige Johanna. Sie stützt sich auf ihr Schwert. Ihr Gesicht ist zum Boden geneigt, in ihrem grünen Auge versinkt die Welt. Die Hände ruhen auf dem Rubin-geschmückten Knauf, grazil, in einer Leichtigkeit, die Entspannung oder Erschöpfung ausdrücken. Müde vom vergeblichen Kampf, nachdenklich, ihrem Schicksal noch nicht ganz ergeben. Ihr schwerer, blauer Mantel zieht mit seinem Gewicht die leicht nach vorn gebeugte Gestalt in die Aufrechte. Die Mantelspange ist verloren gegangen. Linda meinte, ich könnte ein Stückchen Acrylstab verformen und einsetzen. Ich hab‘s probiert und nicht hingekriegt. Stattdessen habe ich eine Schnur durch die beiden Ösen gezogen, eine Art Strick, der ein Omen für das auf sie Zukommende hätte sein können. Unpassend, zu deutlich. Ich habe ihn wieder entfernt. So hängt der Mantel an ihren Schultern und sie hängt im Mantel wie in einem Geschirr.

Ich habe Johanna auf einer Ausstellung 2002 in der Generali Foundation in Wien kennengelernt. Die Ausstellung hieß „Die Gewalt ist der Rand aller Dinge“ und wurde von meinen KünstlerfreundInnen Andreas Siekmann und Alice Creischer kuratiert. Ich hatte auch etwas beigesteuert, eine unbedeutende Audio-Installation zur Militanz der Revolutionären Zellen. Jeanne d’Arc stand als eine ein Meter hohe Plastik aus dreidimensional verformtem Acryl auf einem hohen Sockel in der Ecke des Raums. Der scharf sich abzeichnende Schatten der angestrahlten Figur dehnte sich als blau umwölktes Menetekel über die Betonwand. Ich war hingerissen. Gewalt als eine sich über den Raum ausbreitende Emanation, deren Ursprung ein an sich selbst zweifelndes einsames Wesen ist. Ich wollte diese Johanna gerne haben, bei mir haben.

Nach dem Ende der Ausstellung  wurde alles ordentlich eingepackt. Meine Installation nicht, die musste nur abgestellt werden. Beim Einpacken hat sich die Johanna anscheinend gesperrt. Das Acryl ist nicht sonderlich elastisch: Oberschenkelhalsbruch. Linda Bilda, die Künstlerin, stellte es fest, als sie mir die Figur noch einmal vorführen wollte. Ich hatte 700 Euro für meine Beteiligung an der Ausstellung bekommen. Linda wollte 900 für ihre Jeanne d’Arc  haben, unter Listenpreis, weil das Bein ja kaputt war. „Das kannst du mit Acryl-Kleber wieder ankleben“, meinte sie. Ich wollte die Figur auf jeden Fall haben, mit dem kaputten Bein noch lieber, weil ich sie mir dadurch leisten konnte. Ich würde das schon irgendwie zusammenkriegen.

Linda wurde eine Freundin, die ich ab und zu in Wien besucht habe. Gemeinsam haben wir merkwürdige ethnologische Ausflüge in die Wiener Anarcho-Szene gemacht. Hinterzimmertreffen, bei denen zauselige Köpfe zusammengesteckt und in verschrobenem Anarchistenstil Anschlagspläne ausgeheckt wurden. Heraus kam eine Bestrafungsaktion für den Vorsitzenden der KPÖ – ich weiß nicht mehr genau, weswegen. Ich glaube, die KPÖ wollte ein Haus räumen lassen, dass ihr gehörte und in dem sich ein soziales Zentrum befand. Jedenfalls wurde eine „Tortung“ des KPÖ-Vorsitzenden beschlossen; er sollte eine dicke Sahnetorte ins Gesicht kriegen, und das kriegte er auch. Der Begriff „Tortung“ war mir neu. Er klingt nach „Tortur“ und ist doch eher das Gegenteil.

Eine Tortur musste Jeanne d’Arc erleiden. Sie hatte siegreich einen Feldzug gegen die Engländer angeführt und wurde nach ihrer Gefangennahme, wie es damals üblich war, so lange gefoltert, bis sie zugab, nicht von Engeln, sondern von Dämonen dazu angestiftet worden zu sein. Das Geständnis hat sie später widerrufen und wurde, wie bekannt, als gerade 18Jährige verbrannt.

Warum stand die Skulptur überhaupt in der Ausstellung? Ging es um ihr Bekenntnis zur Militanz gegen die Engländer, oder ging es um die Gewalt, die ihr angetan wurde? Ich kann es nicht rekonstruieren und kann auch niemanden mehr fragen.

Die heilige Johanna reiste also im Holzverschlag mit mir nach Berlin. Das Bein habe ich provisorisch mit einem durchsichtigen Paketklebeband fixiert und ihr einen Platz in meinem großen Wohnzimmer frei geräumt. Das Provisorium hielt ungefähr 15 Jahre! Johanna zog mit nach Reichenow um, bekam eine andere Ecke als Standort, wo es auch Raum für den Schatten gab. Wenn ich sehr niedergeschlagen war, hat ihr Anblick mich getröstet. Dabei standen nicht mehr Johannas Zweifel im Vordergrund, sondern ihre traurige Gewissheit, dass sie nicht anders handeln konnte, um dem Preis der Vergeblichkeit, der Isolation und letztlich der physischen Vernichtung. Man neigt dazu, die eigene Einsamkeit als Preis für eine große Sache sehen zu wollen. Wir waren Schwestern über die Jahrhunderte hinweg.

Wenn es mir besser ging und ich die tragische Selbstüberhöhung für eine Weile vergessen hatte, betrachtete ich Johanna eher mit praktischen Erwägungen. Steht sie da sicher? Sollte ich das Paketklebeband nicht endlich mal durch eine etwas fachgerechtere Reparatur ersetzen? Nachdem mir Linda bei einem Besuch in Wien Acrylkleber mitgegeben hatte, nahm ich es nach meiner Rückkehr wirklich in Angriff, entfernte das Paketband und klebte das Bein an. Natürlich knickte es bei der leichtesten Belastung ein und die Figur brach in sich zusammen. Klar, kleben allein genügt nicht, man muss eine Dauerschiene einsetzen. So wie in meinem linken Handgelenk, da wird der gebrochene Handwurzelknochen auch seit Jahren durch zwei Titanstifte zusammengehalten.

Titan ist hier nicht nötig. Einfache kopflose Schrauben tun es auch. Ich bohre die etwa 1 cm dicke Acrylschicht von Bein und Rumpf an den Bruchstellen an, versenke Stifte in den Löchern und drücke die Teile mit dem Klebstoff dazwischen fest zusammen. Aber Acrylglas ist kein Holz; das Material gibt unter dem Druck nicht nach, sondern splittert rund um die Bohrstellen. Wie kleine inwendige Explosionen umgeben Risse die beiden Stifte. Johanna hat nun zwei hochentzündliche Fremdkörper im Oberschenkel. Ich kann den Anblick schwer ertragen. Ich lege ihr aus einer Mullbinde einen kaschierenden Beinverband an, halte das für eine angemessene Verfremdung der kriegsverletzten Kämpferin. Aber ach, dieses mutwillig Drollige nutzt sich ab und wird peinlich. Außerdem wird der Platz knapp. Mein Gefährte zieht ins Haus; es muss umgeräumt und ausgebaut werden. Wo wäre jetzt die Ecke für die heilige Johanna? Die martialische Beinverdübelung erinnert mich ständig an mein Versagen, mit einem doch recht eleganten und gar nicht auffälligen Provisorium nicht gelebt haben zu können. Aber es ist nicht wieder herzustellen. Vielleicht nach draußen mir ihr? Als Gartenkunst? Das hat sie nicht verdient, so abgeschoben zu werden.

Linda Bilda, die Freundin aus Wien, stirbt 2019 einen tragischen frühen Tod. Weil ich die Johanna erworben habe, werde ich von Freunden, die zu ihrer Beerdigung fahren, als eine der wenigen „Sammlerinnen“ der Künstlerin adressiert. Das verpflichtet irgendwie, aber ich habe die Skulptur nun mal verpfuscht. Fürs erste steht sie draußen an der Hauswand auf ihrem gebogenen, massiven Acrylglassockel, auf dem die Füße festgeschraubt sind. Sie bilden mit dem großen Schwert ein Dreibein. Ich muss überlegen, was weiter werden soll.

Sie steht und steht dort an der Hauswand; sie kann ja auch nicht weg.  Sie denkt weiter nach über göttliche Aufträge, über unabwendbare Gewalt, über die Faktizität der Verhältnisse. Ich vergesse sie. Sie ist allein.

Dann kommt ein Sturm; danach liegt Johanna ausgestreckt an der Hauswand. Das brutal gedübelte Bein hat Stand gehalten, aber der rechte, auf der Platte festgeschraubte Fuß ist im Gelenk abgebrochen. Nun liegt sie da. Was soll mit ihr geschehen? Doch reif fürs Wegwerfen? Erstmal bleibt sie liegen. Ich kann mich nicht entscheiden. Keine weitere Operation der neuerlichen Verletzung. Aber ich bin die Sammlerin; ich habe eine Verantwortung für diese Skulptur, die Hinterlassenschaft der früh verstorbenen Wiener Künstlerin.

Die dicke Weide vor unserem Kücheneingang wurde schon vor ein paar Jahren gefällt. Bis vor kurzen ist der Baumstumpf immer wieder ausgetrieben. Wir haben beharrlich die Triebe abgeschnitten, auch den Rest der Rinde abgepellt. Irgendwann haben die Wurzeln aufgegeben und der Stumpf begnügte sich damit, interessanten Pilzen Nahrung zu geben. Ihn ganz zu entfernen, kommt nicht infrage, dazu wären schwere Erdarbeiten erforderlich. Was tun mit dem Baumstumpf?

Ah, ein Platz für Johanna, ein würdiger Sockel! Ein guter Grund, auch den Fuß noch einmal zu schienen, und zwar mit einem Metallwinkel. Sehr vorsichtig setze ich diesmal die Schräubchen ins Acryl − man lernt dazu. Ich richte die Figur auf ihrer Platte und die Platte auf dem Baumstumpf. Dann verspanne ich sie mit fast unsichtbaren Plastikfäden nach allen Seiten. Dies ist keine Gartenkunst, sondern ein Denkmal! Fast unmerklich bewegt sich Johannas Körper im Wind. Auf ihr Schwert gestützt, wiegt sie sich hin und her. Wenn es stürmisch ist, mache ich mir Sorgen. Aber sie hält Stand. Wenn die Sonne scheint, bildet der Ultramarin-farbene Mantel einen blauen Fleck im Gras, den man für eine Fläche aus winzig-kleinen blauen Blumen halten kann.

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