Der amerikanischen Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez geben sie den nötigen Schub Selbstbewusstsein, sie sind in ihrem ersten Wahlkampf ihr signature look geworden. Der Journalistin Senka Kurtovic gelang es mit ihnen, den Anschein von Normalität während der Zeit der Belagerung von Sarajevo in den 1990ern aufrechtzuerhalten. Und die Schriftstellerin Herta Müller behauptete in den Verhören des rumänischen Geheimdiensts mit ihnen ihre Würde. Rote Lippen. Widerstand, Subversion, Verwandlung, Selbstbehauptung, Macht, Verführung. Dafür können sie stehen. Der Lippenstift ist das meistverkaufte Kosmetikprodukt der Welt. Von jeher vieldeutig. Man kann sich bei ihm nie ganz sicher sein. Darin liegt sein Reiz.
Seine Geschichte ist lang, sie reicht bis ins Altertum zu Nofretete. Für die Farbe gaben einst Cochenille-Schildläuse ihr Leben. Im Barock machte Elizabeth I. den Look populär. Als Gefahr für das Patriarchat und das bestehende System deutete 1602, ein Jahr vor Elizabeths Tod, Tommaso Campanella rote Münder. Geschminkte Frauen wollte der italienische Philosoph am liebsten hinrichten lassen. Und im 18. Jahrhundert erließ das britische Parlament ein Gesetz, das Männern erlaubte, eine Ehe zu annullieren, wenn sie behaupteten, sie seinen heimtückisch von den rotgefärbten Lippen einer Frau hinters Licht geführt und um ihre Freiheit betrogen worden.
Die Geburtsstunde des Lippenstifts fällt in das Jahr 1883. Zur Weltausstellung in Amsterdam stellt ein Parfümhersteller den bis dahin gefärbten Balsam als in Seidenpapier gewickelten Stift vor. Die Innovation hatte ihren Preis, ihr Ruf war zweifelhaft. Anfänglich kam der Lippenstift nur bei Kurtisanen und Schauspielerinnen gut an. Neunundzwanzig Jahre später marschierten die Suffragetten durch New York und forderten das Frauenwahlrecht – auf den Lippen trugen sie demonstrativ Rot. Spätestens mit den Filmen der 1920er Jahren trat der Lippenstift seinen weltweiten Siegeszug an. Seither galt: Sind die Zeiten hart, steigen die Verkaufszahlen. Die Pandemie nun stört diese Logik, der Lippenstift hat es seit über einem Jahr schwer. Besser als auf den Lippen der Großstädter:innen kann man ihn im Frühling 2021 im Museum sehen.
Audienz im Lippenstiftmuseum
In Schöneberg zeigt der Visagist René Koch seine stattliche Sammlung. An den Wänden im Eingangsbereich der Privatwohnung hängen signierte Lippenstiftabdrücke. In verspiegelten Glasvitrinen liegen liebevoll drapiert Schminkutensilien, Lippenstifthüllen und Lippenstifte. Geordnet nach Jahrzehnten vom Art Deco bis zum Viva Glam Lipstick von Mac, aus dessen Erlös seit den 1990ern Projekte gegen HIV/AIDS gefördert werden. Schwarze Hüllen, glitzernde, glänzende, bunte. Aus Metall, aus Plastik, aus Holz. Etuis, die Lippenstift, Puder und Spiegel kombinieren, oder sogar für ein paar Zigaretten Platz bieten. Fotos und Bücher reichern die Sammlung dekorativ an, Kleidungsstücke und Accessoires repräsentieren jede Epoche stellvertretend. Es gibt ein Schminkzimmer mit Schachbrettboden und großen Spiegeln. In dem langen Flur dorthin hängen Plakate von Stars vergangener Zeiten. Ich kenne nur noch wenige, viele hat René Koch für Auftritte und Preisverleihungen einst zurechtgemacht, oft im Team mit Udo Walz. Vorbei führt der Weg auch an einer Vitrine, in der der Visagist die Auszeichnungen zeigt, die er im Laufe seines Arbeitsleben erhalten hat.
Ein bisschen aus der Zeit gefallen wirkt das Museum. Wie ein Fenster in eine Zeit, die vorbei ist. Über die Ausstellungsstücke in den Glasvitrinen hat sich eine leichte Staubschicht gelegt. René Koch, in einem Zeitungsbeitrag als freundlichster Berliner beschrieben, ist sperriger als erwartet. Wir sitzen an einem großen Tisch, in dessen Zentrum überdimensionierte Lippenstifte stehen. Er zeigt mir Videoausschnitte aus den 1990er Jahren, regelmäßig trat er damals im Fernsehen auf. Die Rolle des Strahlemanns scheint nicht mehr so recht zu passen.
Der Lippenstift ist für René Koch vielleicht so etwas wie ein Symbol seines eigenen Aufbruchs aus dem piefigen Schwetzingen der 1940er und 1950er Jahre. Dass es noch mehr gibt auf der Welt, verspricht die Anwesenheit der amerikanischen Alliierten. Im Gegensatz zu den meisten deutschen Frauen machen die Amerikanerinnen etwas her. Sie faszinieren ihn, und sie sind freundlich. Mit 18 zieht René Koch nach Berlin. Der Anfang ist schwer, dann folgt die große Freiheit samt Auftritten als Travestiekünstler. Später wird René Koch Kosmetiker, geht nach New York und wird Chef-Visagist. Im Laufe der Jahrzehnte schminkt er viele Weltstars und befreundet sich mit Hildegard Knef.
Von ihr soll er den Lippenstift geschenkt bekommen haben, der seine Sammlung begründet. Seit den 1980ern sind unzählige Lippenstifte und Etuis hinzugekommen. Zum 125. Geburtstag des Lippenstifts stellte René Koch seine Sammlung im Lafayette Berlin aus, kuratiert von seinem Lebensgefährten Dieter Stadler. Die Ausstellung zog weiter nach Wittenberge, Radebeul und Jena. Interesse hätte es auch aus entfernteren Ecken der Welt gegeben, doch der Aufwand war ihm zu groß. Die Sammlung blieb fortan in Berlin.
Sein Museum verbindet Generationen, sagt René Koch. Häufig werden hier Geburtstage und Junggesellinnenabschiede gefeiert. Ich kann mir zwar vorstellen, wie der Visagist die Damenrunden unterhält, Beautytipps gibt, mit Sekt anstößt und aus seinem Leben berichtet. Von Begegnungen mit großen Diven. Heute jedoch ist er nicht in Erzähllaune. Manchmal, da blitzt etwas in seinen Augen auf, da wird die Stimme leidenschaftlicher. Das Chez Nouz, ein Travestietheater, das 1958 in Charlottenburg eröffnet hatte, das sei sehr schick gewesen. Claudia Schiffer, wunderbar. Dann verweist er mich wieder auf seine Bücher. Da könne ich ja alles nachlesen. „Happy Lips“ und „Abgeschminkt. Mein Leben, meine Sünden, meine Zeit“ liegen schon vor mir, seine Autobiografie wird kurzerhand ungefragt signiert. Sein Assistent bringt einen USB-Stick mit Fotomaterial und Dieter Stadler zeigt mir die Vitrinen und Exponate etwas genauer.
Die Ambivalenz des Lippenstifts
Das Lippenstiftmuseum wirkt auf mich wie die Selbst-Versicherung eines gelebten Lebens. Die Fotos, die signierten Kussabdrücke, das Bundesverdienstkreuz, die Urkunden, die Briefe von der Knef. Wie weit trägt Emanzipation? Diese Frage wird mich in den kommenden Wochen beschäftigen. Denn ein bisschen verwundert mich, dass das Museum so betulich wirkt. Camp und Glam Rock spielen keine Rolle, die kämpferischen Suffragetten sind nicht mehr als eine Randnotiz. Im Lippenstiftmuseum erscheint der Lippenstift nicht als Sand im Getriebe, als Gegenkultur.
Neben Revolte und Selbstbestimmung repräsentiert der Lippenstift auch ein konventionelles Schönheits- und Frauenbild. Das besondere am Lippenstift sei, so Rene Koch, dass Frauen mit kleinem Geld verschiedene Stimmungen ausstrahlen könnten: von Rosa wie Mädchen bis Rot wie Vamp.
Der Lippenstift entpuppt sich als Januskopf mit Drehmechanismus. Ihm wie der Kulturtechnik des Schminkens eigen ist eine noch unaufgelöste Ambivalenz bestehend aus Macht und Erniedrigung, Anziehung und Verachtung.
Die meisten Frauen haben schon als Mädchen gelernt, wie wichtig es ist, schön auszusehen und den Idealen zu entsprechen. Dass der eigene Wert, die Liebenswürdig- und Zugehörigkeit in einem nicht zu unterschätzenden Maß vom Aussehen abhängen. Es gibt Studien die belegen, dass ungeschminkte Frauen sogar weniger Gehalt bekommen.
Gleichzeitig schützen auch Anpassung und das Befolgen der Konventionen nicht vor Ablehnung und Herabsetzung. Im Falle des britischen Gesetzes aus dem 18. Jahrhundert wird Frauen mit roten Lippen ein fast unheimlicher, magischer Einfluss zugesprochen. Ein Bann, dem Männer sich kaum entziehen können und der zur Gefahr des freien Willens wird. Folglich muss diese Macht per Gesetz ausgehebelt, unterbunden werden. Von der Überhöhung ist es nur ein kleiner Schritt zur Herabsetzung. Die Mächtige wird zu Betrügerin, der Mann zum Opfer. Ein paar Jahrhunderte später ermöglicht diese Logik zwar nicht mehr die Annullierung einer Ehe, sie dient jedoch dazu, Frauen die Schuld an Sexismus und sexueller Gewalt zu geben. Ein Übergriff sei doch kein Wunder, so aufreizend wie sie aussähe.
Schnell gelten geschminkte Frauen als – nicht gut – zu weiblich, werden abgewertet oder im Beruf nicht ernst genommen. Eine falsche Nuance oder ein Hauch zu viel und ihnen wird Unprofessionalität unterstellt. Oder dass sie ihre Position durch ihr Aussehen erschlichen hätten. Eine weitere, 21.-Jahrhundert-Variation des britischen Gesetzes.
Der Welt gegenübertreten
In einem Video, aufgenommen für die amerikanische Vogue, führt Alexandria Ocasio-Cortez auf youtube durch ihre Beauty-Routine. Fast 3,5 Millionen mal wurde das Video aufgerufen. Man sieht darin die Kongressabgeordnete, wie sie Foundation, Contouring und Eyeliner aufträgt. Dabei spricht sie über Schönheitsnormen, Pink Tax, das Patriarchat, Kapitalismus und das Schminken als Selbstbehauptung. „Some people are born in bodies that are just taken more seriously, you know?“, sagt sie an einer Stelle. Auch sie hat erfahren, wie schwer es sein kann, ernst genommen zu werden. Darüber zu bestimmen, wie man aussieht, wie man der Welt gegenübertritt, wird bei Alexandria Ocasio-Cortez zum Akt der Selbstbestimmung. Die roten Lippen, „a nice little shock“.
Der Ambivalenz trotzend können rote Lippen sehr deutlich sagen: Ich bin da und ich bin nicht zu unterschätzen. Vielleicht ist der Lippenstift in prekären Zeiten nicht in erster Linie der kleine Luxus, den sich Menschen noch leisten, vielleicht ist seine Funktion existentieller. Vielleicht hilft ein klein bisschen Rot auf den Lippen, sich in einer Welt, die wankt oder sich auflöst, zu verorten. Oder ihr mutig gegenüberzutreten.
Lippenstiftmuseum
Helmstedter Straße 16
Besuch nach vorheriger Absprache möglich