Vor ein paar Tagen saß ich im Restaurant – es war eins von den gehobenen, in denen es leise zugeht, die Gäste sich kultiviert geben und sich keinesfalls den Genuss neckischer Speisen durch das Besprechen grob unappetitlicher Themen verderben lassen wollen. Und hörte dennoch vom Nachbartisch plötzlich einen Mann krähen, dass selbst die CDU kommunistisch sei und die einzige wirklich demokratische Partei die AfD. Auch das Versteinern seiner Tischgenossen war zu hören, das Aufklappen ihrer Münder und das leise Klirren des hilflos niedergelegten Bestecks. Es war ein schrecklicher Moment, Alices Brüder sind überall, die gediegenste Atmosphäre verschlägt ihnen so wenig die Sprache wie jede andere.
Selbstverständlich entzieht sich das Gekrähe des Mitessers vom Nachbartisch jeder Analyse, die sich an den verwendeten Wörtern, insbesondere an den Adjektiven abarbeitet. Aber es ist schon klar, was der Mann meinte. Kommunistisch ist jeder, der auf die Schwachen und Schwächsten nicht so wild entschlossen einprügelt wie ein Supermann Musk. Und demokratisch ist niemand, der solche Supermännlichkeit nicht rückhaltlos unterstützt. Demokratie, Volksherrschaft, erscheint hier als Diktatur der nützlichen Mehrheit – gegen die unnütze, in ihrer Nutzlosigkeit schädliche Minderheit. Lässt, wie es unvermeidlich kommen wird, ein Kanzler Merz sich auf die eine oder andere Weise weiter auf Alices Brüder ein, denen er politisch, ideologisch, aber auch charakterlich, in seiner psychischen Prägung und Struktur unverkennbar nahesteht, dann wird sein leicht zu ergänzender Name wohl Programm: Ausmerz. Und wehe den Besiegten, den Armen, Alten, Kranken, gleich welcher Nation, wenn sie als dem Land Nutzlose markiert werden! Wie aber ticken diejenigen, die die vielen Unnützen triezen, verfolgen, entrechten, festsetzen oder verjagen möchten, wie sieht das Personal aus, das sich hier in jeder Hinsicht nützlich machen will? Seit Jahren beobachte ich seine Formierung:
16.09.2016
Der Faschismus der Versehrten ist vielleicht nicht der wirklich gefährliche. Er liefert vor allem Kanonenfutter. Das wirklich Gefährliche liegt in der bewussten und aggressiv betonten Kaltherzigkeit halbwegs besser Gestellter, die sich vor sich selbst als Realismus rechtfertigt. Und mit einem Schuss Yolo gewürzt auf Spaß aus ist, wobei – man muss es sich nur leisten können – die Kosten anderer nicht gescheut werden. Aber im Gegensatz zu den Grausamkeiten früherer oberer Klassen, in denen sich Raffinement und Verschwendungssucht als Merkmale von Überlegenheit finden ließen, ist der „Faschismus der Realisten“ durch und durch kleinbürgerlich, kleinkariert, rechnerisch, selbst dort, wo er in Gemeinheiten schwelgt; ihn beseelt die Möglichkeit, gegen Schwächere Härte zu zeigen und nebenbei ein Schnäppchen zu machen.
20.09.2016
Gefährlich dürfte auch der Typ des Blockwarts sein, derjenige, der einen vom Fahrrad schubst, wenn man gezwungenermaßen auf dem Bürgersteig fährt, der einen fast umbringt, wenn man als Fußgänger eine rote Ampel ignoriert hat, oder dieser lächerliche Busfahrer gestern, der mir an der letzten Haltestelle der Linie die hintere Tür nicht öffnen wollte, weil ich nicht zuvor schon den Knopf mit dem Haltewunsch betätigt hätte. Einer also, der die Regel nimmt, um sich an ihr zum Richter und Henker aufzurichten – auch das ein sehr kleinbürgerliches Motiv.
Weniger als um geliehene Größe geht es hier um geliehene Autorität, aus Buchstabentreue und Obergenauigkeit, unter die aggressiv Unterwerfung gefordert wird; das in den Regeln angeblich verteidigte Miteinander wird durch die Art der Intervention sehr viel stärker in Mitleidenschaft gezogen durch die Regelwidrigkeit selbst. Todhass auf den Ungehorsamen spricht sich darin aus, eine Überidentifikation mit einem Gemeinwesen, dem sich anzuschließen genau die Frustration hervorbringt, die sich gegenüber dem Ausscherenden entlädt. Was mich wundert, ist, dass dieser Typ, den ich als überall sich einmischenden Nörgler und Schimpfer aus meiner Kindheit in der Frontstadt Westberlin ganz genau kenne, unter jungen Leuten wieder auftaucht, die meine Kinder sein könnten. Von Eltern und Kindern also werde ich aufgefordert, dem Vaterland stur und gegen jede Vernunft, nämlich blind regelkonform zu dienen – es gab vielleicht nur einige wenige Jahrzehnte ein wenig mehr Gelassenheit. Rollback completed.
20.07.2019
Ein Begriff über den ich neulich nachts angefangen habe, nachzudenken: die Entrechtung. Klanglich unschön das Wort bzw. die Wortgruppe, nur bei Robin Hood, dem Rächer der Entrechteten, klingt es vertraut und eingängig. Anknüpfpunkt war die Berichterstattung über eine Untersuchung der Wähler und Mitglieder der AfD, unter denen ein besonders hoher Anteil von Staatsdienern ausgemacht wurde: Die AfD ist demnach ganz wesentlich eine Partei der Verwaltung und des Apparats. Aus dieser Perspektive betrachtet, wird manches klarer, schärfer. Die AfD ist die Partei der Verteidigung der Vorrechte der Stärkeren gegen die Ansprüche der Schwächeren – das habe ich bereits anderswo ausgesprochen oder aufgeschrieben. Aber jetzt ist das Soziotop umrissen, in dem der Einzelne eine solche Haltung nicht nur entwickeln sondern auch praktisch einüben kann, im bürokratischen Apparat, der für sich selbst existiert und dem es immer darum geht, Ansprüche, die ein Dahergelaufener, ein Unberechtigter an ihn stellen könnte, abzuschmettern, ihm sein Recht darauf ein für alle Male zu entziehen. Das uralte, wilhelminische Da könnte ja jeder kommen!, das aus all den gelblichen Papieren spricht, die Antragstellende hierzulande für jedes kleinste Krümelchen Hilfe auszufüllen haben, schwingt sich zur politischen Deutungsmacht auf und genießt es, an der Stelle zu stehen, an der sich bestimmen lässt, wer leben darf und, falls überhaupt, wie ausgefuchst kümmerlich.
So weit zum Personal, das Gewalt ausübt. Aber was hat sich grundsätzlich so verändert, dass sich weltweit (fast) alle Regierenden darüber einig sind, sich nie und nimmer leisten zu können, Minderleister und Dahergelaufene, also: Schwache, Verwundbarte, Arme, Alte, Kranke zu alimentieren? Obwohl es dafür nicht nur genügend allgemeinen Reichtum, sondern selbst noch Staaten genug gibt, deren öffentliche Haushalte eine andere Politik jederzeit gestatten würden. Was bewegt die Mileis, Merzens und Trumps, worum geht es ihnen in ihrer Angriffslust? Ich fürchte seit längerem, gesellschaftlich geht es ihnen um nichts, sie haben diesen Planeten und alles, was auf ihm lebt und Gesellschaften bildet, längst aufgegeben. Sie träumen sich auf den Mars, der Rest kann verrecken:
01.10.2015
Ich halte es für sinnlos, mich auf das Kleinklein gewerkschaftlicher Arbeit zu konzentrieren, für moralische Punktsiege, die ich insgesamt als perspektivlos empfinde, da sie doch nur Blüten des Herumdokterns an einer Leiche sind: Dass im globalen Kapitalismus ein Umdenken der ökonomischen Eliten einsetzen und Dienstleistungen am Menschen geschätzt und angemessen vergütet werden könnten, diese Vorstellung ist geradezu absurd. Die Besitzenden befinden sich auf einem manisch-panischen Raubzug gegeneinander, schlagen sich um alles, woraus irgendwie noch Geld zu schlagen ist, und nach ihnen die Sintflut. Sie fürchten die Zerstörung der Lebensgrundlagen nicht einmal mehr in Form der Zerstörung ihrer eigenen ökonomischen Basis. Sie sind einen ganzen Schritt weiter und packen ab, wo sich nichts mehr retten lässt. Dass wir uns von unten in ihre Verteilungskämpfe einmischen, ihnen wirtschaftlichen Spielraum und planerische Sicherheit unterstellen, die bescheidene Verbesserungen unserer Lage gestatten würden, das ist völlig unangemessen, da es „oben“ schlicht um Leben oder Tod geht. Die Härte der Konkurrenz der Besitzenden beim Zusammenraffen des noch verbliebenen disponiblen, verwertbaren Eigentums macht aus ihrer Sicht Forderungen sozialer Körperschaften wie Parteien oder Gewerkschaften nach Verteilungsgerechtigkeit zu einem Fliegengesumm über dem Schlachtfeld voller Leichen und damit irrelevant; sie wollen sich eigentlich nicht einmal mehr die Mühe machen, die Fliegen zu erschlagen. Denn die summen sich aus und fertig.
Ich kann dazu nur bereits Gedachtes zitieren:
„Im Kapitalismus nehmen die Habsucht und das parasitäre Mehrhabenwollen, das die antiken Griechen als Pleonexie bezeichneten und als zerstörerisch für eine Gesellschaft ansahen, die sich aus der Geldwirtschaft ergebende Form der »Bereicherungssucht« an. Diese ist die dem Kapitalismus gemäße Form der Pleonexie.
Zweck kapitalistischer Prozesse der Produktion und Akkumulation ist keineswegs der Konsum oder eine Wohlstandsvermehrung. Zweck ist die Kapitalverwertung, bei der Geld in Kapital verwandelt und aus Kapital mehr Kapital gemacht wird. Die damit verbundenen Bereicherungssucht ist das Treibmittel des Kapitalismus. Somit gehört es zur Funktionslogik des Kapitalismus, dass er die Minderheit der Besitzenden rigoros vor den Veränderungswünschen der Mehrheit schützen muss. Der Kapitalismus ist auf den autoritären Schutz seiner Eigentumsordnung angewiesen und kann sich daher aus sich heraus niemals eine demokratische Legitimation verschaffen.
Der Kapitalismus erzeugt zwangsläufig extrem asymmetrische Macht- und Besitzverhältnisse und damit extreme soziale Ungleichheit sowie daraus resultierende gesellschaftliche Spannungen.“
Rainer Mausfeld, Hybris und Nemesis – Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren, S. 275