Was sich schon 2015 beobachten ließ, zeigt sich nun wieder: Die Regierenden, so überrascht und überrollt sie von Ereignissen sein mögen, sind immer doch vorbereitet und wissen die nicht oder nur halb vorhergesehene Lage gut für sich zu nutzen. Das erfolgreich durchgeführte, wenngleich kaum geplante Sozialexperiment 2015 war, herauszubekommen, wie viel ehrenamtliche Sozialarbeit sich aus der Gesellschaft herausquetschen ließe, während der Staat sich vornehm zurückhält. Es war beeindruckend viel. Aber damit war das Experiment nicht beendet. Die Kaltschnäuzigkeit, mit der der Staat die vielen ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen erschöpft im Regen stehen ließ, war gleichzeitig ein Signal an die Gegner der Aufnahme von Geflüchteten, in die Offensive zu gehen. Und mit dem Rückenwind der spätestens zum Jahresbeginn 2016 einsetzenden rassistischen Medienkampagne wurden ordnungspolitische Maßnahmen gegen Asylsuchende durchgesetzt, die in ihrer offen unmenschlichen Radikalität zuvor völlig undenkbar gewesen wären. Wie sich bei der Seenotrettung verfolgen ließ, ist das Menschenleben eines Geflüchteten seither deutlich weniger wert – wenn es gerettet werden muss, dann ehrenamtlich, aber auch das nur so lange, wie die Polizei es erlaubt.
In der sogenannten Corona-Krise scheint nun etwas ganz Ähnliches zu passieren, wieder ein Sozialexperiment. Es ist einerseits völlig klar, dass die Regierenden planlos handeln, improvisierend, auf Verdacht und ins Blaue hinein. Sie sagen es selbst, das Bild des auf Sicht fahrenden Fahrzeuglenkers wird dafür gern bemüht. Niemand weiß, ob die getroffenen Maßnahmen wirklich sinnvoll sind oder nur ein Notbehelf, weil sinnvollere Maßnahmen aufgrund von Material- und Personalmangel einfach nicht ergriffen werden können. Andererseits, die Lust, die zersplitterte Gesellschaft autoritär in ein großes Wir zu überführen, das keine Einzelinteressen mehr kennt, sondern sich willig dem von den Anführern als notwendig Erkanntem beugt, ist bei den verantwortlichen Politiker:innen mit den Händen zu greifen. Ihre Körpersprache sagt es, das ist ihr Ding, klare Ansagen, Pochen auf Gehorsam (in ihrer Sprache: Vernunft), Simulation von Geschäftigkeit und das Beschwören heilbringender, großer Zahlen in Euro. Endlich sind sie einmal die „Bestimmer“. Es ist ihnen anzusehen, dass sie es genießen wie zu Kinderzeiten.
Dieses Verhalten der Politiker:innen lässt ahnen, was auf die Notschreie noch folgen wird – die natürlich zwangsläufig erklingen, sobald wirtschaftliche Aktivitäten und damit die Möglichkeiten, Geld zu verdienen, eingeschränkt werden. Denn nur anfänglich waren sie willkommen. Weil sie den Politikern ein Feld eröffneten, auf dem sie sich beweisen konnten. Aber es ist nicht zufällig, welche Notschreie die Regierung zuerst hört und erhört und welche erst später. Und es gibt ein Muster, wie auf Schreie reagiert wird, die die Politik zu spät erreichen, weil sie schlechter zu ihr durchdringen: Sie nerven. Denn man tut ja und hat ja schon so viel getan. Und es sind immer dieselben, die das Schreien trotzdem nicht lassen, die sich gesundstoßen wollen, die nicht vorgesorgt haben, die Bittsteller, die Looser. Auf die Frage, was solchem Personal zukommt, gibt es eine traditionelle Antwort, zuletzt unter dem Schlagwort Hartz-IV aus der Gesinnung zum Gesetz erhoben: Demut und Gehorsam. Der persönliche Egoismus habe in der allgemeinen Not zurückstehen, das Opfer sei zu bringen, kein Anspruchsdenken, „die Wirtschaft“ verdiene ebenfalls Schutz, ja, sogar viel mehr. Und Kusch.
Das ist das Experiment, von einem Virus auf dem Silbertablett serviert: Wie viele Opfer, Einschränkungen, Verluste sind den Leuten zumutbar? Und wie willig werden sie auf sich genommen? Wie gut gehorcht die Bevölkerung? Kann man sie auf Verzicht und Stillhalten einstimmen? Wie inszeniert man das? Die Kampfrethorik floriert, Süß schäkert bereits verstohlen mit Ehrenvoll, Parteien kennt der Kaiser bald keine mehr. Wäre nicht die medial erzeugte Stimmung nicht genau so, Urteile von Verwaltungsgerichten, die Versammlungen untersagen – obwohl deren Veranstalter alle Umständlichkeiten eines bestehenden Distanzgebotes gewissenhaft zu beachten versprechen – würden in ihrer offensichtlichen Unverhältnismäßig- und Verfassungswidrigkeit sonst wohl kaum gefällt. Aber in der neuen, wirgefühligen Lage ist eine Demonstration auch für Richter offenbar der genaue Ausdruck dessen, was es jetzt nicht geben kann, weil es nicht geben darf: Dissens. Wer noch meckert, setzt sich ins Unrecht. Da ist niemand, den die Regierung vergisst, der es nicht wert wäre – so wie die Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen – vergessen zu werden. Für das große Uns ist gesorgt, das große Wir ist einverstanden. Zusammenhalten. Und Kusch. Polizeibeamte, lese ich in der Zeitung, hätten Teilnehmer an Protesten mit der Bemerkung vom Platz verwiesen, ein Recht auf freie Meinungsäußerung existiere unter den augenblicklichen Gegebenheiten nicht. Das ist selbstverständlich sachlich falsch, aber umso wahrer ist es als Empfindung.
Ich gehöre zu einer Gruppe von Erwerbstätigen, die bei der Planung der Nothilfen übersehen werden musste. Die Zahlen der Künstlersozialkasse könnte die Politik immerhin noch zur Kenntnis nehmen, dann wüsste sie, dass diejenigen, die dort einzahlen, überwiegend bettelarm sind. Aber was die gesellschaftliche Wertschätzung für Kunst angeht, ist man längst, schon vor vielen, vielen Jahrzehnten, auf den Aus- und Spitzweg gekommen, die Armut der Kunstschaffenden für die Voraussetzung von Kreativität und für entzückend romantisch zu halten. Die Lage anderer Gruppen im Prekariat wird von Vornherein durch keinen Radar erfasst. Wer sich wo, wie und mit welchem Ertrag durch die Tagelöhnerei schlägt, fällt statistisch wie politisch seit Langem unter den Tisch. Selbstverständlich ist der wirtschaftliche Schaden durch den Corona-Shutdown bei diesen Gruppen Erwerbstätiger total. Ebenso selbstverständlich passen alle Nothilfeprogramme der Bundes- und Landesregierungen auf sie nicht oder nur mit Ach und Krach. Ich, wie viele andere mit mir, hätte Gründe genug, demonstrieren zu gehen.
Vor einigen Jahren habe ich geraume Zeit ein Seminar angeboten und manchmal auch durchgeführt: Wie finden wir (selbst als winzig kleine Gruppe) eine Aktionsidee und setzen sie wirksam um? Über mögliche Protestformen denke ich also schon aus beruflichen Gründen immer wieder nach. Im Verlauf von nur wenigen Tagen hat sich meine Aufgabe radikal verändert. Entweder habe ich eine Organisation hinter mir, sowohl standfest genug, sich gegen einen wachsenden, sich selbst bestärkenden gesellschaftlichen Konsens zu stellen, als auch dazu bereit, gegen ein Demonstrationsverbot durch sämtliche Instanzen bis hin zum europäischen Gerichtshof zu klagen. Oder ich kann schlicht nicht zu einer Demonstration bzw. einer demonstrativen Aktion aufrufen. Meine Aufgabe müsste nunmehr lauten: Wie demonstriere ich, ohne zu demonstrieren, nämlich möglichst, ohne dass es überhaupt erkennbar Demonstrant:innen gibt?
Was den meisten einfällt, die ich danach frage, ist das Internet, sprich: virtuelle Fotowände. In Stadtteilen mit einem hohen Anteil von renitenter Wohnbevölkerung stehen als alternative Flächen für Protestinschriften auf Plakaten oder Transparenten auch die Hausfassaden, Fenster und Balkone zur Verfügung. Flugdrohnen können es erleichtern, Inschriften sogar über die Straße hinweg zu spannen. Das ist alles nicht verkehrt und man soll es machen. Aber das Füllen von Plätzen im öffentlichen Raum ist selbst dann noch unverzichtbar, wenn über diese Plätze kaum noch Passanten gehen. Protest muss im Weg stehen. Wenn er zur Seite tritt, sich auf die Hauswand oder ins Internet verkriecht und Platz macht, anstatt ihn einzunehmen, wirkt er nicht.
Das erste, das mir in den Sinn kam, war die Krinoline, der Reifrock: Kann ich mir etwas anziehen, das mich auf 1, 50 m in jede Richtung unnahbar macht? Und wenn, wo ziehe ich es an? Ich muss es in fußläufiger Entfernung zum Protestort tun und keine Tür, kein schmaler Flur oder Durchgang dürfen zwischen mir und ihm liegen. Ein ultraleichtes Wurfzelt mit Löchern zum Überziehen? Etwas Aufblasbares? Eine Art Tisch auf Rädern, den ich, in einem Loch in seiner Mitte laufend, mit mir mitschiebe? Es muss außerdem etwas sein, das vielen Leuten ohne Aufwand zur Verfügung steht. Denn nur so kann ich organisieren, dass dieses Triadische Ballett wie von ungefähr, ohne Demo-Aufruf und Anmeldung, auf einem Platz zusammenläuft und zu einer großen, sichtbaren Menge wird. Aber würde nicht jede Person, die sich in diesen Zeiten so aufwändig gewandet auf die Straße begibt, von der Polizei (oder eifrigen Mitbürger:innen, vulgo: Denunziant:innen) angehalten und gefragt werden, was denn der vertretbare Sinn und Zweck ihres Aufzuges wäre?
Wenn Demonstrant:innen sich nicht auf den Platz stellen dürfen, wie wäre es, wenn sie etwas anderes hinstellten und still und leise fortgingen? Der Protest der hingestellten Dinge. Sie müssten groß genug sein, um ins Auge zu fallen (Schuhe, zeigen die Erfahrungen der letzten Aktionen der Seebrücke, sind wahrscheinlich nicht groß genug). Sie müssten standfest sein, sie dürften nur so viel kosten, dass diejenigen, die sie hinstellen, ihren Verlust verschmerzen könnten. Sie müssten sich ähnlich, gleicher Art sein. Und sie müssten sich unauffällig zu transportieren lassen. Fahrräder, zum Beispiel, würden die Bedingungen nur halb erfüllen. Sie sind sichtbar groß und vollkommen diskret heranzuschaffen. Aber Wind wirft sie zu leicht um und ihr Verlust täte weh. Außerdem wirken sie auf einem Platz abgestellt zu normal.
Die Liste für den Protest der Dinge geeigneter Gegenstände dürfte aber leicht länger werden, wenn man nur anfängt, in diese Richtung zu denken. Mir fallen ein: Umzugskartons, gegen den Wind, innen mit einem Pflasterstein beschwert (was sinnbildlich eine Drohung enthält, wie eine Faust in der Tasche, weshalb dieses allereinfachste Demo-Ding vielleicht nicht zu früh zum Einsatz kommen sollte); Plasteputzeimer mit etwas Sand gegen Wind gesichert; alte Klappstühle; große braune Papiereinkaufstüten, wie die Eimer mit Sand gesichert; aufgespannte, kaputte Regenschirme („Schutzschirme“) mit Schnur an Pflastersteinen oder Sandsäckchen festgebunden; kräftig farbig blühende, billige Topfpflanzen; Plastegießkannen mit etwas Wasser; drei am oberen Stielende zusammengebundene alte Besen; mit Papier ausgestopfte und einem Stein beschwerte Einkaufsbeutel; dasselbe mit Baumwollbeuteln; dasselbe mit bunten Tieschörts; dasselbe mit alten Hosen usw. usf. Möglicher Ausdruck großen Ärgers gepaart mit großer Friedfertigkeit: Pflastersteine nackt, an sie angebunden ein mit Helium gefüllter Luftballon, ein unmittelbar verständliches Bild.
Alle diese Dinge ließen sich mit etwas Vorkehrungen vollkommen unauffällig transportieren und mittels eines in gemessenen Tempo agierenden Flashmobs ebenso unauffällig und zügig deponieren. Die Aktion und ihr Ergebnis müsste selbstverständlich gefilmt, die Veröffentlichung des Films mit einer Pressemitteilung begleitet werden. Auch um die demonstrierenden Dinge herum sollte der Antiinfektionsabstand eingehalten werden, damit klar wird, dass sie für Menschen auf dem Platz stehen, aber auch, damit sich die Akteure nicht versehentlich zu nahe kommen. Fünfhundert zurückgelassene Einkaufsbeutel brauchen fünfhundert Menschen, die sie im Vorbeigehen zurücklassen, die Größe der vollgestellten Fläche würde Auskunft über die Mobilisierungsfähigkeit der Organisator:innen geben. Deshalb muss der Prostest der Dinge, wenn er klein beginnt, möglichst mit den größeren Gegenständen beginnen, da abgestellte kleinere Dinge optisch erst wirken, wenn sie sehr viele sind. An den jeweiligen Gegenständen festgemacht lässt sich die Geschichte erzählen, die man erzählen will: Stühle – auf die Straße gesetzt; Einkaufsbeutel – kein Geld mehr für das Nötigste; Tieschört – das letzte Hemd; Eimer – alles im und so weiter.
Organisator:innen müssten damit rechnen, von der Stadtreinigung eine Rechnung wegen der Platzreinigung und Abtransport des hinterlassenen Mülls zu erhalten, wenn die protestierenden Dinge einfach stehen gelassen werden. Deshalb dürfte es besser sein, die Demonstrationen nicht länger als für eine halbe Stunde auszudehnen und den deponierten Protest in einem zweiten Durchgang auf die gleiche Weise wieder einzusammeln, wie er hingestellt worden ist. Mit der Pressemitteilung würde man in diesem Fall warten, bis der Platz wieder geräumt ist, um nicht unnötig Aufmerksamkeit auf die Transporteure zu lenken. Am besten wäre, als Verantwortliche:n eine bildende Künstlerin oder einen bildender Künstler zu nehmen. Denn was ich hier skizziere, könnte mit einigem Recht den Namen Performance tragen. Wo die Versammlungsfreiheit eingeschränkt ist, kann so die Kunstfreiheit helfen.